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NOSTRANIMA

Über Abenteuer, Erotik, Weisheit und Utopie

EINLEITUNG – ALLGEMEIN

Man muss das nicht alles selbst erlebt haben, was in diesem Buch erzählt wird. Es würde auch reichen, durch die zahllosen Fernsehprogramme zu surfen – da ein wenig Abenteuer, da ein wenig Erotik, da ein wenig Weisheit und da ein wenig Utopie zu naschen, jeweils aber nur kurz zu verweilen, um dann weiterzuziehen und allenfalls nach einer Weile wieder zurückzukehren und noch ein wenig vom Fortgang einer früheren Sendung mitzubekommen. Eigentlich müsste man theoretisch gar nichts mehr selbst erleben, sondern könnte sich bloß der Motivverschwendung in einer virtuellen Welt hingeben und quasi aus zweiter Hand die Erlebnisse anderer nachvollziehen. Und derer gibt es genug: die Drehbuchautorin, den Großen Regisseur und den Filmproduzenten. Die Gräfin Geneviève von B. und ihre Tochter, die wunderschöne Komtesse Clio. Sir Basil Cheltenham,der an vielen Rädern dreht, und seine ihm ergebene Truppe, allen voran die Agentin Tyra, die viele fiktive Biografien durchlaufen hat, sowie Lieutenant Murky Wolf aus der Bronx und Master Sergeant Brian Thomson aus White Rock, Minnesota. Dessen Schwester Charlene, die diesem Kaff entfloh und früher in den besten Kreisen Washingtons verkehrt hat (unter anderem als PR-Beraterin von Senator Hawborne, der ein so unrühmliches Ende nahm), bevor sie dann die Chance bekommt, nach England zu heiraten. Hierher gehören auch Charlenes Freundinnen Amy, Pussy und Trudy, alle drei blond und neonfarben gekleidet, jedenfalls solange sie überhaupt etwas anhaben. Ein wenig länger verweilt man vielleicht bei der australischen Schamanin mit dem Ehrentitel Walemira Talmai, die sich im Westen Berenice nennt und eine renommierte Therapeutin wird: mit einer kleinen Gruppe von Landsleuten (darunter einer, dessen unaussprechlicher Name mit Chicago transkribiert wurde) lebt title= sie auf dem Anwesen der verstorbenen Lady Pru, die ihren tiefschwarzen Aborigines-Freunden alles, was sie besaß, vererbt hatte. Da sind aber noch mehr: die US-Generalin H. H. Skelton, ihr Mann Gus und ihre Tochter Alex, die sensationelle Entfesselungskünstlerin. Colonel Dan Kendick, der tief fällt, und Major Ray Kravcuk, der hoch steigt. In China der alte Hong Wu Zhijian und seine junge Mitarbeiterin Dan Mai Zheng, die mehr auf sich zieht als nur begehrliche Blicke. In Spanien Don Julio Sanchez-Barzon, Gynäkologe und als solcher auch Kenner vieler Frauen, und seine Gemahlin Margharita, deren Leben eine ganz beson-ders überraschende Wendung nimmt. Das japanisch-amerikanische Paar Seiji und Sharon Sakamoto. Der Hualapi-Häuptling Sherman Yellowhawk, der ganz harmlos erscheint, aber in Wahrheit die alten Tugenden pflegt und sich sogar in einen Falken verwandeln kann. Der seltsame arabische Geschäftsmann Ahmed Al-Qafr. Die Professoren Schreiner, Ivanovich, Kouradraogo und Migschitz, wahre Koriphäen wissenschaftlicher Scharlatanerie. Die viel seriösere griechische Forscherin Anastacia Panagou und ihre bemerkenswerten Geschöpfe. Ganz bestimmt erwähnenswert ist natürlich der Pulitzer-Preisträger Leo Di Marconi, dem sie die Schneid abgekauft haben, und wenn wir mit ihm diese Liste beenden, haben wir bestimmt noch jemanden vergessen, vielleicht sogar einige ganz wichtige Personen. Nur angedeutet wird hier außerdem das hartnäckige Gerücht, außer dem unseren gäbe es auch noch ein anderes, ebenso reich bevölkertes Universum. Manche sagen übrigens, dieser ganze Bericht bestehe aus Trash – wenn ja, ist es genau die wirre Substanz, die man uns heutzutage als unser Dasein vorsetzt.

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1. TEIL: DER ORDEN DER ORANGENBLÜTE UND DESSEN MÄCHTIGE FEINDE

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Zur Einführung: Zunächst kommt der Erzähler, der selbst eine Romanfigur ist, zu Wort. Er unterhält sich mit Brigitte, einer Jugendfreundin, über eine gemeinsame Bekannte.

Ich denke, ich sollte selbst beschreiben, wie das alles gekommen ist. Ich hoffe, es ist der Leserin oder dem Leser bewusst, dass ich ihr oder ihm alles Mögliche vorflunkern könnte, denn bis dato weiß sie oder er ja nicht mehr, als dass ich in meinem schon etwas vorgerückten Leben eines Tages plötzlich in jenes Gebäude verschlagen wurde mit dem Auftrag (oder dem Wunsch, genau weiß ich das auch nicht), mich selbst zu finden. Ich hoffe also, die Leserin oder der Leser werden es mir hoch anrechnen, wenn ich hier nicht phantasiere, sondern einfach die Wahrheit sage.

Die Wahrheit ist, dass ich, als ich etwa zwanzig war, ein Rendezvous mit der Komtesse von B. hatte, und ich sage euch zunächst nur soviel, Leute – sie war schön wie eine Madonna: mit ihrem leicht ins Kupferne gehenden Haar, dem makellos blassen Teint, der schlanken, von Edelsportarten trainierten Gestalt – ach was, ich komme ins Schwärmen, aber man muss akzeptieren, dass sie dahin ist, und das schon seit langem. Aber ich wollte den Anfang erzählen und nicht das Ende.

Ich war als Kind einfacher Leute fürchterlich gehemmt angesichts der aristokratischen Erscheinung der Komtesse, und obwohl sie genug tat (in allen Ehren selbstverständlich: bewunderte meine Gedichte, bat mich um Hilfe bei unserer gemeinsamen Studienrichtung) wagte ich mich doch nicht vorwärts. Ich weiß gar nicht, wie ich diesen Zustand beschreiben soll, zumal nach jenem hellen Moment, in dem ich begriff, dass es ihr genauso ging wie mir, nur mit geändertem Vorzeichen. Es waren keineswegs die Klassenschranken (nennen wir es immerhin so), aber dennoch ein – wie ich plötzlich wusste: beiderseitiges – Gefühl der strukturellen Unerfüllbarkeit.

Frauen (selbst adeligen Standes) sind initiativer. Entgegen ihrem Kodex der Dinge, die sich nicht ziemten, legte die Komtesse ihre Hand auf meinen Arm, und anders als beim distanzierten Händeschütteln durchfuhr mich der Blitz der Erkenntnis.

BRIGITTE:
Später hat’s dann ja noch öfter geblitzt. Das wurde geradezu eine Gewitterinvasion bei dir. Ich frage mich, wie sie wirklich war, die Komtesse.

Da muss ich dich enttäuschen. In männlicher Sprache hat es keinen Sinn, dir mein Erleben zu erklären, und mein Weiblich ist zu schlecht dafür.

BRIGITTE:
(leise, nur für den Leser / die Leserin wahrnehmbar) Ich brauche seine Erläuterungen gar nicht, denn ich habe mich damals, ohne dass er es wusste, mit der von B. angefreundet – schließlich lässt frau nicht den Mann, mit dem frau ein wenig Spaß hat, einer anderen, ohne der Sache auf den Grund zu gehen. Für mich bestand dabei kein Risiko, denn dass er mich ihr gegenüber erwähnte, stand nicht zu befürchten, und die Komtesse selbst pflegte ihre Beziehungen in monadischer Grenzziehung, eine neben der anderen und ohne jemals Bekanntschaften herzustellen. Jedenfalls versuchte ich unauffällig, mich auch in der Form in ihr Leben zu drängen, dass ich sie manchmal einlud, bei mir zu übernachten. Solches lehnte sie strikt ab mit der Begründung, ihr erschiene es nicht standesgemäß, am Ende des Tages woanders als zu Hause einzukehren – es sei denn, sie befände sich auf Reisen und wohnte im Hotel. Das hören und bei nächster Gelegenheit einen gemeinsamen Wochenend-Einkaufs-Ausflug nach Mailand vorzuschlagen, war für mich eins – und darauf ging sie ohne weiteres ein, auch darauf, dass wir uns eine gemeinsame Suite im Hotel Four Seasons in der Via Gesù nehmen würden, was in jedem Fall bequemer wäre als zwei Einzelzimmer. – Ich überspringe jetzt unseren Aufenthalt als solchen, der hier gar nichts zur Sache tut, sondern steuere direkt auf das Ziel zu: – Sie war – sen-sa-ti-o-nell! Sowohl das, was ich schon wusste, aber im nahen Zusammensein noch eindringlicher wurde wie Sprache, Gestik und Verstand, als auch das, was sie erst jetzt wirklich offenbarte – ihren Körper, den unvergleichlichen, der zu mir unter die Bettdecke kam: kühl wie Marmor, ganz anders als meiner (der bürgerliche!). Sie und ich in einem perfekten Schwebezustand, einander gleichermaßen anziehend wie abweisend, insgesamt aber auf genau richtiger winziger Distanz, geborgen in einem trotz Unterschiedlichkeit uns umgebenden Gleichklang, den kein Mann uns in dieser Weise geben konnte. Ich liebte sie für das, was sie mir tat und mich für das, was ich ihr tat, und sie liebte mich und sich in gleicher Weise und im gleichen geheimnisvollen Rhythmus, den niemand Außenstehender ergründen könnte.

Woran denkst du, Brigitte? Du bist ja richtig ins Träumen gekommen! Es ist direkt anheimelnd, dir als Unbeteiligter dabei zuzusehen.

BRIGITTE:
Ich habe nur versucht mich zu erinnern, denn Erinnerungen sind fast alles was geblieben ist in einer Ehe mit einem eigenbrötlerischen Egoisten (was er, wie ich heute weiß, schon immer war, nur hatte er sich gut verstellt) und mit zwei Kindern, die heute noch immer bei mir wohnen, obwohl sie erwachsen sind, und mich wie eine Hausangestellte behandeln. Eigentlich wird es da immer schwerer, Gefühle zu rekonstruieren, und es ist besser, sich gleich den Luxus neuer Gefühle zu leisten.

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5. TEIL: ANDROIDEN UND ANDERE MENSCHEN

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Zur Einführung: Ich hoffe, hier vor mir sitzt eine Generation, die weiss, was ein Android ist. Im konkreten Fall geht es um ein weibliches Modell, eine Androidin mit der Serienbezeichnung AP 2000, die lieber Anpan genannt werden will. Sie unterhält sich mit ihrer Konstrukteurin. Es stellt sich heraus, dass sie verliebt ist und einschlägigen Rat benötigt.

AP 2000 ®:
Ich habe gelernt, bestimmte spontane Informationsäußerungen zu unterdrücken, weil dies auch bei richtigen Menschen so üblich ist. Agent Pif arbeitet mit mir, und er sagt, wenn ich seine Ratschläge befolge, sollte eines Tages eine ganz normale Frau aus mir werden – seine Frau!

Sie stellte sich das offenbar so vor, als würde sie ihr Androidendasein abstreifen können wie eine zweite Haut, und darunter würde ihr wirkliches Selbst als meine Zwillingsschwester zum Vorschein kommen. Ich war hin und her gerissen zwischen Ärger und Stolz – Ärger über so viel Unsinn, Stolz über mein Meisterwerk, das tatsächlich kaum mehr zu unterscheiden war von mir, seinem Vorbild, oder dem, was die AP 2000 ® selbst als richtigen Menschen bezeichnete: Sie liebte offensichtlich diesen Pif, liebte ihn über alles, liebte ihn mit allen Mitteln, die ihr zur Verfügung standen (und mehr können ja auch wir Wesen aus Fleisch und Blut nicht tun), liebte ihn mit aller Kraft ihres Maschinenlebens.

Da werdet ihr sicher eines Tages auch Kinder haben wollen? fragte ich zynisch. Kaum war es gesagt, wollte ich es schon wieder zurücknehmen, aber die AP 2000 ® war arglos: Zynismus zu erkennen, war ihre Stärke nicht.

AP 2000 ®:
Sicher doch, denn welch schönere Bestätigung gäbe es für ein einander zugeneigtes Paar als ein Kind ihrer Liebe…

Man musste sich immer mit Gewalt daran erinnern, dass solche Sprüche bei ihr keine Poesie waren, sondern lediglich aus eingespeicherten Informationsmassen geschöpft wurden.

AP 2000 ®:
Pif –

… sie blickte ganz verklärt, wenn sie nur seinen Namen nannte.

AP 2000 ®:
Pif ist ganz meiner Meinung, wenn es um die Frage der Definition des Lebens geht: das Entscheidende ist die Fähigkeit der Reproduktion, und die habe ich dank deiner Voraussicht! Und statt der Zeugung hilft er mir bei der Konstruktion unserer Nachkommen!

Weil alles an ihr künstlich war, war sie in gewisser Weise sehr natürlich. Und wenn sie ihre neckischen Spielchen mit dem Geliebten trieb, war das in keiner Weise peinlich, so perfekt machte sie es: der leicht ins Lächerliche abgleitende häusliche Striptease der Ehegattin geriet bei Anpan zum Ereignis, weil sie es schaffte, zugleich bühnenweit entrückt und doch ganz nah zu sein. Wenn sie dabei ihren Leib zurückbog, geschmeidig wie ein Raubtier in ihrer vollkommenen Körperbeherrschung, musste jede Frau sie beneiden – das war ihr im Vollgefühl ihrer Makellosigkeit wohl bewusst. Ihre Haut zeigte die sanfte Farbe heller Bronze, und ihr original schwarzes Haar hatte sie neuerdings bis weit über den Rücken hinab verlängert, was ihr die exotische Aura von Jahrtausenden verlieh.

Pif hatte so etwas mit Sicherheit noch nicht gesehen, geschweige denn berührt, und dass er ihr völlig verfallen zu sein schien, fand ich im Prinzip nicht sehr verwunderlich. Was mich in Erstaunen versetzte, war eine gewisse Naivität seinerseits gegenüber der wahren Natur seiner Geliebten. Wenn er (wie mir die AP 2000 ® berichtete) zum Beispiel besonders begeistert darüber war, wie gut sein Schwanz in ihre Möse passte, so hatte er es hier natürlich mit keinem Zufall zu tun, sondern Anpan konnte ihr primäres Geschlechtsorgan präzise auf seine Maße und Bedürfnisse als Liebhaber kalibrieren. Ich riet ihr leichthin, es ihm keineswegs je zu verraten – jede Frau, meinte ich, sollte ein kleines Geheimnis haben.

Anpan (so musste ich sie jetzt tunlichst nennen, denn AP 2000 ® verschmähte sie plötzlich) hatte in diesem Zusammenhang mitgekriegt, dass so ein männliches Menschenwesen unheimlich gerne seinen Penis betrachtete, ihn anfasste, darüber sprach – und vor allem den gleichen Enthusiasmus auch von seiner Partnerin erwartete. Ich bestätigte ihr diese Beobachtung: ich hatte sie zuletzt beim verschwundenen Kouradraogo gemacht (wie lange das schon her war, und seither war kein Nachfolger aufgetaucht!).

Während die Androidin mir gegenüber saß und darauf wartete, dass ich weitersprach, schweiften meine Gedanken zu meinen eigenen Wünschen und Träumen. Ich ging im Geist die auf Cheltenham House anwesenden Männer durch: Sir Basil selbst – könnte mir gefallen; man munkelte ja etwas über seine hochentwickelten und in Asien kultivierten Liebeskünste. Romuald – seltsam, dass ich an ihn als Zweiten dachte, obwohl er ohnehin vielfach vergeben schien, aber irgendetwas musste wohl an ihm dran sein, und das interessierte mich. Und dann war da noch Pif – nein, verbot ich mir sofort die Idee: das konnte ich der AP 2000 ® nicht antun.

AP 2000 ®:
Was hast du? Du wolltest mir doch noch einige Tipps über Männer geben!

Ja, mein Kind, sagte ich betulich-gluckenhaft, um meine innere Bewegung zu verbergen. Dann wechselte ich gleich wieder in den zwischen uns vorherrschenden schwesterlichen Ton: eigentlich hatten wir wenig Geheimnisse voreinander. Unser Gespräch hat mich ziemlich erregt, verriet ich ihr, und ich habe große Lust, mich selbst zu befriedigen.

AP 2000 ®:
Aber wenn du magst, kann ich’s dir doch besorgen wie früher auch – du brauchst nur ein Wort zu sagen, das weißt du!

Und Pif? fragte ich verblüfft.

AP 2000 ®:
Da gibt es nichts auszusetzen – Männer sind nun einmal Männer, und Frauen sind Frauen: Ich habe keineswegs die Absicht, meine alte und intensive Beziehung mit dir auf Null zu fahren, nur weil eine neue, ganz andere begonnen hat.

Erstaunlich! Bemerkenswert! Eine Maschinenexistenz, deren frei gestaltbare Programme und Programmelemente im Lauf der Zeit zu derlei Aussagen fähig wurden, war tatsächlich ein Meisterwerk!

Als sie sich an mich drückte, ohne mich spüren zu lassen, dass sie gut doppelt so schwer war wie ich, und ihre sanfte Massage begann, unterhielten wir uns trotzdem weiter. Anpan hatte – wie so üblich bei Androiden – einen durch und durch logischen Vorschlag. Woher sie wusste (oder besser mit ihren Sensoren erspürte), in welche Richtung meine Überlegungen gegangen waren, blieb selbst mir als ihrer Konstrukteurin rätselhaft.

AP 2000 ®:
Warum nimmst du dir nicht Giordano Bruno? Ich bin ganz sicher, er will dich auch, und er ist weiß Gott ein zeitlos hübscher Bursche, findest du nicht auch?

Wenn sie gewusst hätte, wie intim ich mit ihm bereits war, ohne dass wir ein einziges Mal miteinander geschlafen hatten!

Er war aufgrund seiner spezifischen Situation ohnehin jemand, der mit großer Einfühlsamkeit auf andere zuging, und ganz ohne diese Sensibilität war ich schließlich auch nicht. Dazu noch die gemeinsame Beschäftigung mit komplexen Materien, die den Verstand gar mancher meiner Zeitgenossen extrem überfordert hätte: wo die Quantität der Diskussion in die Qualität des Begriffsvermögens umschlagen konnte, sodass wir beide von einem Rausch der Erkenntnis fortgetragen wurden, der vieles, was ich rein physisch erlebt hatte, in den Schatten stellte und eine ungeahnte Nähe zwischen uns beiden erzeugte.

Ich erzählte Anpan, dass ich gemeinsam mit dem von ihr vorgeschlagenen Bettkandidaten an einem gigantischen Projekt arbeitete, das sämtliche Produkte künstlicher Intelligenz bei weitem übertreffen würde…

AP 2000 ®:
… und das will schon etwas heißen, denn, wie wir wissen, bist du die Beste auf diesem Gebiet!

Ich überging das unüberhörbare Eigenlob ihrer Bemerkung und deutete nur noch an, dass es sich darum handelte, die Gefahren des Spiegeluniversums für unsere Zivilisation zu bannen. Anpans momentane Beziehungskiste ließ sie an dieser Stelle ihr Interesse verlieren. Eine Frage von brennender Aktualität hatte sich ihr aufgedrängt.

AP 2000 ®:
Ich möchte jetzt wirklich wissen, was mich von richtigen Frauen unterscheidet, ich meine, abgesehen von der ganz anderen physisch-technischen Struktur?

Richtige Frauen sind – obwohl du mit deinem Emotional Response Model bemerkenswerte Fortschritte gemacht hast – ständig auf einer Hochschaubahn der Gefühle unterwegs: kalt, gereizt, witzig, bissig, weinerlich, schrill, still, dann wieder kuschelweich oder geil. Weibliche Lust ist fragil. Wir nehmen im Kopf alles mit ins Bett, was uns den ganzen Tag vereinnahmt hat: den Hass, die Kränkung, die Angst – und dann sagen wir dem Nein, der uns so sehr will und den wir sonst auch wollen, nur allerdings nicht in diesem Augenblick.

Wenn Pif bei früheren Verhältnissen diese Erfahrung gemacht hat, dann ist er hin und gerissen zwischen der Faszination deiner stets präsenten Willigkeit und seiner Sehnsucht nach diesem irrationalen Verhalten, das er sich nicht erklären kann, weil es aus dem Dschungel der Hormone kommt, das er aber als typisch weiblich erlernt hat und das vor allem sein Begehren wachhält. Wenn du erst einmal so weit bist, auch irrationale Handlungen zu setzen, ohne deren Konsequenzen bis in jede Verästelung der Möglichkeiten durchzukalkulieren, und nicht nur rational zu entscheiden, sondern oft auch einfach spontan, wirst du ihn ganz fest an dich binden können. Die Voraussetzungen dafür habe ich dir gegeben, aber es braucht Zeit, diese Synapsen zu bilden, in denen Impulse ohne Einschaltung deiner Zentraleinheit einfach von einem Subsystem in das andere überspringen können, solcherart Erregungen und Stimmungen zulassend, wie es auch bei richtigen Menschen der Fall ist.

Sie sah mich an: ratlos hätte man es nennen können, hätte man nicht gewusst, dass sie nicht – jedenfalls nicht mehr in diesem Stadium ihrer individuellen Entfaltung – imstande war, ratlos zu sein. Sollte ich ihr sagen, dass die allergrößte Kunstgattung der Zufall ist, mit Hilfe dessen wir, die Natur nachahmend, zu den phänomenalsten artifiziellen Hervorbringungen fähig sind?

Nicht ganz überraschend tauchte eines Tages Pif bei mir auf, nicht um meine Hoffnung auf ein Liebesabenteuer mit ihm zu befriedigen, sondern um sich schlicht zu erkundigen, ob man die AP 2000 ® abschalten könne. Meine bis dahin verleugneten Beschützerinstinkte überschlugen sich: Haben Sie schon genug von ihr? Und was passt Ihnen denn eigentlich nicht an ihr, Agent Pifsixyl Xifu? Nein, nein, versuchte er mich zu beruhigen, das ist es nicht – es war nur grundsätzlich gefragt!

Ich antwortete grundsätzlich: Sie könnten die Androidin deaktivieren, wenn ich Ihnen verriete wie. Aber dann wäre auch für Sie alles vorbei, Mann! Die wieder eingeschaltete AP 2000 ® würde Sie nicht mehr kennen, geschweige denn lieben. Sie wäre ein unbeschriebenes Blatt, müsste langsam aufbauend Erfahrungen sammeln. Sie würde sich mit einem Wort zu einem völlig neuen Menschen entwickeln…

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6. TEIL: DER TOD UND SEINE FLINKEN GESELLEN

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Zur Einführung: Wir haben schon von einer Spiegelwelt gehört, man könnte das auch ein Paralleluniversum nennen, denn es gibt dort zu jedem Menschen unserer Realität ein Pendant. Und es gibt dort einen Diktator, der in seiner Sprache Iadapqap Jirujap Dlodylysuap genannt wird.

Was wollen Sie denn da?

IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
Ich lege Wert auf die Feststellung, keineswegs so dumm und überheblich zu sein, wie die feindliche Propaganda es glauben machen möchte.

Als Drehbuchautorin ist man gewissermaßen immun gegen die ansteckenden Folgen von phantasiegeborenen Überraschungen, seien es nun solche, die man selbst anrichtet, oder jene, die uns das Eigenleben unserer Figuren beschert. Da sah er heraus aus meinem Fernseher, der plötzlich ein interaktives Instrument geworden war: Alles sprach dafür, den Tyrannen der jenseitigen Völker vor sich zu haben, zumal er Sir Basil wie ein Ei dem anderen glich: in Aussehen, Stimme und Gestus vor allem, weniger im Inhalt seiner Aussagen. Ich ergriff meine Chance und thematisierte das Doppelgängertum.

IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
Er hat mehr von mir und ich mehr von ihm als Sie sich vorstellen können! Wir beide sind, ob wir es nun wollen oder nicht, synonym zu etwas, wenn schon nicht synonym zueinander. Man könnte das unsere Ambiguität nennen.

Das sei meinem Gefühl nach die mildeste Form der Deutung, belehrte ich ihn. Wesentlich präziser erschien mir für die Spiegelmenschen im allgemeinen und für diese beiden im besonderen der Begriff der Ambivalenz: Es war ja nicht Doppeldeutigkeit, sondern vielmehr Doppelwertigkeit, was sie auszeichnete. Es war ein Phänomen, das man in extremer Form bei Schizophrenen antrifft, es kann aber auch bei normalpsychologischen Problemlagen auftreten.

In seiner Reaktion zeigte er zu meiner Überraschung eine bemerkenswerte Differenzierungsfähigkeit, die man tatsächlich eher bei Sir Basil angesiedelt hätte, aber der Mann aus der anderen Realität besaß sie offenbar auch – er entsprach eben tatsächlich nicht dem Klischee.

IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
Die irrige Vorstellung von unserer deutlichen und vor allem eindeutigen Verschiedenheit wird vor allem dadurch genährt, dass man den üblichen Kampf Gut gegen Böse unterstellt, so als würde Cheltenham die demokratisch legitimierte Anständigkeit und ich einen unehrenhaft motivierten Despotismus repräsentieren. Nun habe ich ja da drüben durchaus eine Gewaltherrschaft aufgerichtet (und stehe zudem noch dazu), aber die geheimsten Gedanken meines Pendants gehen genau in die gleiche Richtung. Vielleicht erliegt er der Illusion, dass er ein aufgeklärter Herrscher wäre (was aller Erfahrung nach in der Praxis niemals umzusetzen ist), aber abgesehen davon lautet seine zentrale Intention genau wie meine: Niemand soll neben ihm etwas zu sagen haben!

Ich fragte ihn nach dem Sinn dieser Auseinandersetzung zwischen zwei extremen Welten, die über ihre Ambiguität (meinetwegen!) doch wieder irgendwie ähnlich waren.

IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
Systeme können nicht für sich bleiben, weil sie sich ständig fortbewegen oder fortbewegt werden. Dann passiert es, dass Fenster sich auftun, durch die man in benachbarte Realitäten eindringen kann, vorübergehend oder dauerhaft, wie es mittlerweile bei unseren beiden Universen der Fall ist. Hier besteht schon eine ganze Reihe von Nahtstellen oder Verknüpfungspunkten, vergleichbar der Brücke, die unsere beiden Gehirnhälften verbindet: erst dadurch wird dieses bemerkenswerte Organ zu der paradoxen Denkmaschine, als die wir es kennen. Und genau einem solchen Modell folgt die Interaktion zwischen hüben und drüben.

Wobei wir langsam Ihre Geheimnisse kennen, will sagen: eine wachsende Zahl von Informationen nimmt der Situation viel von ihrer Paradoxie!

IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
Bestenfalls kennen Sie die Geheimnisse der Geheimnisse, die über die wirklichen Geheimnisse erzählt werden. Allenfalls könnte ich Sie um einen Grad näher rücken lassen und Ihnen die Geheimnisse der Geheimnisse enthüllen.

Er blickte mich lüstern an.

Es hieße, mich an Sie wegzuwerfen, nahm ich die Antwort auf eine zu erwartende direkte Frage vorweg: denn Sie kennen zwangsläufig nur die Mysterien der einen Hälfte, ich aber auch die der anderen. Als Mitgestalterin dieses Berichtes habe ich nämlich sowohl Sie schon nackt gesehen, als auch Sir Basil Cheltenham, und ich weiß, dass ihr Doppelgänger imstande ist, aus Gründen der Geheimdienst-Raison (pardon!) zwei Nummern hintereinander zu schieben, genauso wie ich von Ihnen weiß, dass Sie Ihr minimalistisches Magierkostüm oft nur deshalb tragen, weil Ihre Damen gleich erkennen sollen, was da so läuft. Demnach bin ich glücklich zu schätzen, Sie hier mit Anzug und Krawatte zu sehen!

Sein innerer Wutausbruch war deutlich zu erkennen, aber er kontrollierte sich gut. War dieser Kerl tatsächlich nur zu dem einen Zweck hier aufge-taucht, um sich an mich heranzumachen? Einerlei, Stoff des Lebens, oder als was man das Ganze schon bezeichnen möchte – Stoff für Dramen – Stoff für Drehbücher – genug zu tun für Drehbuchautorinnen und angehende Regisseurinnen, die keinen großen Regisseur mehr brauchen, um ihre Ideen zu verwirklichen: allenfalls einen reichen Produzenten.

IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
(begreifend) Was könnte Ihnen so ein reicher Produzent geben, was ich Ihnen nicht zu bieten imstande wäre, und was könnte ein solcher von Ihnen abverlangen, was nicht auch ich gerne konsumieren würde?

Einem unwiderstehlichen Zwang unterworfen, folgte ich ihm, der sich langsam zurückzog, stieg durch das Portal, zu dem der Fernseher geworden war und stand in einem düsteren Saal, dessen Decke, Wände, Fußboden und Säulen eine matt glänzende schwarze Oberfläche aufwie-sen. Die nähere Umgebung war von hunderten Kerzen auf kunstvollen Kandelabern erleuchtet.

Der Anzug Iadapqap Jirujap Dlodylysuaps war bei näherem Hinsehen noch antiquierter als zuvor vermutet. Ich selbst trug ein bodenlanges karmesinrotes Abendkleid, das Schultern und Arme freiließ. Alle, die mich üblicherweise burschikos herumlaufen sehen, werden wissen, wie unwohl ich mich in meiner Welt darin gefühlt hätte, aber dort bei Iadapqap machte es mir Spaß, und auch die Tatsache, dass sich mein Haar zu einer komplizierten Frisur auftürmte und ich überdies aufwendig geschminkt war, fand ich völlig in Ordnung. Ich musste unvermittelt an Jill Ireland denken – einen Typ Frau, mit dem mich zu identifizieren ich noch nie auf die Idee gekommen war.

Musik setzte ein.

IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
(verneigt sich knapp) Darf ich Sie um diesen Tanz bitten?

Obwohl er nun seine eigene Sprache benützte, verstand ich ihn ohne weiteres. Die Frage, wie ich ihn wohl anreden sollte (immerhin war ich hier zu Gast und an die Regeln der Höflichkeit gebunden), bedrängte mich. Ich entschied mich schnell und stellte mit Verblüffung fest, dass ich sein Idiom auch sprechen konnte: Mit Freude, Resdyafsyiw – Monseigneur!

Ich hatte offenbar das Richtige getroffen. Er trat fast behutsam, wie gegen einen schlechten Ruf ankämpfend, auf mich zu, legte meine Hände an seinen Nacken und umfasste seinerseits mit beiden Armen meine Taille. Schon ging’s dahin in einer Art Walzer, einem merkwürdigen Musikstück der Spiegelrealität, das von irgendwoher zu kommen schien. Ich hatte das Gefühl, mich selbst zu beobachten: Diese Dame, die so weit hergekommen war, sie schien mit dem Diktator dahinzuschweben, bis sie ein leichter und wohlig anmutender Schwindel umfing, in dessen Nebel es sie auch nicht mehr störte, dass sie die Körperkonturen ihres Partners deutlich spüren konnte und ihrerseits auch ihm ihre Formen praktisch hautnah darbot.

IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
Der schönste Tanz, den ich kenne, Jixijo – Madame. Er gaukelt uns vor, uns zu vereinigen, ohne dass tatsächlich noch irgendetwas passiert ist. Er bleibt in jedem Fall Verheißung und manchmal auch einzige Erfüllung eines Traums, der niemals ewig währen kann auf der Grundlage der Urverschiedenheit der Geschlechter. Ich suche und suche und suche, und in jenen langen Phasen vergeblichen Strebens vollziehe ich meine Machtposition, aber diese erzeugt nicht mehr als Ersatzbefriedigung und hinterlässt einen immer schaler werdenden Nachgeschmack.

Ich hörte ihm bewundernd zu. Plötzlich erschien er mir ungeheuer begehrenswert (nicht zuletzt auch wegen seiner frappierenden Ähnlichkeit mit Sir Basil, für den zu schwärmen und dem mich hingeben zu wollen ich mir endlich eingestand). Meine Augen schwammen in Tränen. In ihre Tiefen tauchte Iadapqap ungehindert ein.

IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
Wozu an ihn denken, wenn Sie in meinen Armen liegen, meine Liebe? Aber ich verzeihe Ihnen – ich, der blutrünstige Tyrann der diesseitigen Völker verzeihe Ihnen, denn ich weiß, wie schwierig es für Sie ist mit uns Doppelmenschen. Warum auch immer Sie sich entschließen, Ihre Heiligtümer für mich zu öffnen, es wird mir eine Ehre sein, die Hohepriesterschaft zu übernehmen, als wen auch immer Sie mich akzeptieren wollen.

Auf seine Handbewegung hin passierte Mehreres: die Musik wechselte in eine leise, fast nicht mehr identifizierbare Hintergrunduntermalung, eine Landschaft aus dicken Teppichen und bunten Kissen tat sich auf, kaum erkennbare dienstbare Geister stellten auf kleinen Tischchen leichte Speisen, Obst und Getränke ab. Am schemenhaft erkennbaren Eingangstor bezogen zwei riesige martialische Gestalten ihre Posten. Ich vollführte eine Demutsbezeugung, für die ich mir in meinem anderen Leben wie eine billige Kokotte vorgekommen wäre, aber hier schien’s hinzupassen: Myal Syqlo Mfiupul, Resdyafsyiw – Pour votre plaisir, Monseigneur.

Er wählte nicht den einfachsten Weg. Während ich bei unserem Tanz durchaus schon einen Beweis seiner Standhaftigkeit erhalten hatte, behauptete er nun – während er sich auf einen Stapel Decken hinstreckte und sich gegen einen wahren Berg von Kissen lehnte –, diese sei ihm mittlerweile wieder völlig abhanden gekommen. Man würde sich mit einem geistvollen Plauderstündchen zufrieden geben müssen – bei einigen kulinarischen Leckerbissen und einem Glas Wein (ohnedies sündhaft teure Vergnügungen, vergaß er nicht hinzuzufügen, angesichts des desolaten Zustands seines Reiches).

Einmal darauf eingestellt, mit Iadapqap zu schlafen (Sir Basil war vergessen, anders als bei ihm leuchtete in den Augen des Tyrannen tierische Glut), ließ ich die Misere nicht auf mir sitzen. Ich beugte mich über ihn und wurde erst jetzt gewahr, dass ich zu meinem luxuriösen Outfit auch das passende schwere Parfum abstrahlte, das seine Wirkung nicht verfehlte. Mein Partner ließ sich widerstandslos entkleiden, und ich bat ihn, die Insignie seiner Magie, den Strick, den ich neben uns entdeckt hatte, anzulegen: ein starker zusätzlicher Zug in seine Nähe entstand.

Ich legte nun ebenfalls mein Kleid ab und löste meine Frisur. Wie ein fernes Echo aus längst vergangener Zeit hörte ich die sarkastische Be-merkung der Stimme aus dem Hintergrund des Sets: Ausgerechnet sie, die Kumpelhafte, legt in diesem Film die heißesten Strips hin! – Ja, lieber Sid, antwortete ich ihm lautlos, es ist also doch auch eine Frage des Ambientes und nicht ausschließlich des Geldes oder der Machtverhältnisse der handelnden Personen, ob der Zauber wirken kann. Note in Phantasie: mangelhaft, wenn du bei mir nicht zum Zug gekommen bist und mich normalerweise immer nur in Pullover und Jeans zu Gesicht bekommen hast.

Ich lebte, ich spürte deutlich, wie ich lebte und wie ein äußerst lebendiger Iadapqap sich in mir tummelte. Was sollten mir da irgendwelche Anspielungen? Vielleicht – ja vielleicht, wenn er sich mit mir ebenso wohl fühlte wie ich mit ihm – würde er mir trotz der katastrophalen Situation seiner Realität den Start in eine selbständige Regisseurszukunft ermöglichen…

Das blieben Wunschträume. Ich fand mich über kurz oder lang wieder dort, woher ich gekommen war, auf der anderen Seite des Fernsehers, und dessen Bildschirm war schwarz. Mir ging durch den Kopf, dass ich im Team der Berichterstatter ein Sicherheitsrisiko für Cheltenham geworden war.