Liebe Zweite Republik!
Werner Schicklgruber
Manche wenden sich von Dir ab – Ältere, die Dich möglicherweise gar nie wollten, und Jüngere, die vielleicht nur aufgehört haben, an Dir etwas zu finden. Ich aber bin mit Dir älter geworden und – na ja, ich kann nicht sagen, dass ich Dich bis in jede Einzelheit so mag wie Du bist, aber gegen eine andere möchte ich Dich nicht eintauschen.
Dabei bin ich nicht auf Dich vereidigt wie der Herr Bundespräsident, die Damen und Herren der Bundesregierung, die Damen und Herren Abgeordneten und eine Fülle anderer politischer Mandatare sowie die ganze Beamtenschar. Sie alle müssten Dir treu ergeben sein, denn ohne Dich gäbe es ihre Positionen nicht. In dieser speziellen Weise bin ich Dir nicht verpflichtet, und doch ist mein Leben auf das Vielfältigste mit dem Deinen verwoben.
Der Anfang war schwieriger als man es sich heute vorstellen kann, aber gegen jeden Augenschein haben wir daran geglaubt, dass es mit uns funktionieren wird. Mir war klar, worum es geht, und ich lernte, dass es zu Zeiten besser ist, nichts zu heizen und nicht viel zu essen zu haben, dafür aber frei zu sein.
Das ist, glaube ich, eigentlich auch heute das Problem: Wir dürfen nicht die absolute Qualität Deiner Idee mit der relativen Unzulänglichkeit so mancher Deiner praktischen Erscheinungsformen verwechseln. Konstruktive Kritik am (laß mir bitte diese Bezeichnung durchgehen) Zeitgeist sollte sich nach den katastrophalen Erfahrungen unseres Jahrhunderts nicht an der pluralistischen Demokratie als solcher entzünden, sondern an den Personen, die sie mißbrauchen, bzw. an den Handlungen, mit denen sie mißbraucht wird. Dazu bedarf es vor allem des guten alten ethischen Maßstabs in uns, denn wir können die Grauzone zwischen Recht und Unrecht, wo das persönliche Gewissen gefordert ist, nicht ausschließlich den Gerichten überlassen.
Dieser ethische Maßstab hat einige unverrückbare Perspektiven:
#? Die Freiheit, wie gesagt, ist noch immer etwas wert, denn es hat nicht gereicht, dass die faschistischen und die kommunistischen Diktaturen in Europa zusammengebrochen sind. Freiheit ist auf diesem Planeten weiterhin Mangelware. Wir sind aufgerufen, die Welt diesbezüglich (im besten Sinne des Wortes) zu missionieren, und nicht unser Ziel darin zu sehen, die Freiheit bei uns zu Hause einzuschränken.
#? Die Gleichheit ist einer der am meisten mißdeuteten Begriffe der Demokratie. Sie besagt keinesfalls, dass alle Menschen von vornherein gleich (also identisch) sind, sehr wohl aber, dass sie alle unter dem gleichen Rechte– und Pflichtenschema geboren werden und existieren – so selbstverständlich, wie es in unserer Verfassung steht.
#? Die Brüderlichkeit (ganz Korrekte sagen neuerdings die Geschwisterlichkeit) ist sozusagen die humane Zuwaage unseres demokratischen Systems. Sie erlaubt uns zwar, in geordneten Bahnen zu konkurrieren, mahnt uns aber zugleich, dass wir in keiner Weise verpflichtet sind, unsere Konkurrenten in diesem Wettbewerb vollständig zu vernichten – schließlich sind wir auf der Grundlage unseres Menschseins mit ihnen untrennbar verbunden.