KALEIDOSKOP – Leseprobe 7
Kapitel 19
Und dann, es war Frühling, ging es mit dem Boot an die bewusste Stelle. Da fühlten sich Anneliese und Waltraud sicher. Da konnten sie ihre Bikinis ablegen – übrigens war es ewig schade darum, denn es waren Stücke, die sich sehen lassen konnten: Goldig der eine (der Waltrauds), silbrig der andere (der Annelieses), beide waren braungebrannt (und gut in Form), sodass diese Farben perfekt zur Geltung kamen. Sie hatten noch Bikinis eingepackt, die sie wechselseitig benützten: Pink, orange, blau, grün, violett und schwarz. Eine Orgie an Farben – die hatten sie sich in einem Anfall von Kaufrausch zugelegt.
Dabei zeigten sie sich ohnehin am liebsten hüllenlos, was ihren Körpern wohltat. Waltraud sagte: „Genauso wie heterosexuelle Aktivität mehr als nur Penetration ist, sondern auch Streicheln, Lecken, Fingern, Reibung, Analsex, Oralsex und mehr, so ist auch der Sex bei lesbischen Frauen vielfältig. Ich mag besonders Rollenspiele und Vibratoren!“
Anneliese ergänzte: „Dass Frauen sich besser zum Höhepunkt bringen können, weil sie wissen, was der anderen gefällt, mag zwar in der Theorie stimmen, aber wir alle wissen: Jeder Mensch ist beim Sex anders und hat andere Vorlieben. Insofern ist auch der Sex zwischen zwei Frauen immer wieder völlig neu und ein Austesten, was gefällt und anmacht und was nicht. Ein Plus haben Frauen jedoch: Sie können multiple Orgasmen haben und brauchen nicht unbedingt eine kurze Erholungspause nach dem Orgasmus.“
Anneliese, weiter: „Ich habe das Gefühl, die meisten heterosexuellen Menschen dort draußen haben keine Ahnung, wie zwei Personen mit Vulven wirklich Sex haben. Die meisten denken: Das muss ungefähr so aussehen wie in Mainstream-Pornos – dort praktizieren Personen mit Vulven beinahe ausschließlich die Scherenstellung genannt. Das sieht dann so aus: Die beiden Personen legen sich so hin wie ineinander geschobene offene Scheren. Die Beine sind verhakt, die Vulven berühren sich. Was einfach klingt, erweist sich in der Praxis allerdings als kompliziert.“
Waltraud weiter: „Wenn Du Dich erinnerst: Wir räkelten uns auf dem Bett, auf dem Boden, versuchten vergebens, uns wie Scheren ineinander zu verheddern. Diese anstrengende Gymnastik war vor allem eins: frustrierend. Irgendwie klappte es bei uns nie, dass sich unsere beiden Vulven berührten. Oder: Es war nahezu unmöglich, dass sie sich auf eine Weise berührten, die sich besonders gut anfühlte. Einige Zeit später fand ich es heraus. Ich saß auf ihrem einen Oberschenkel und rieb mich an ihm. Es war ziemlich heiß, die Bewegungen wurden schneller, nur manchmal berührten sich unsere Vulven. Ich kam. Und stellte fest: Es geht gar nicht darum, dass sich die Vulven die ganze Zeit berühren! Es ist überhaupt nicht wichtig, die ganze Zeit zu versuchen, Scheide an Scheide zu drücken. Es geht nur um die Reibung selbst: Die kann überall stattfinden, nicht nur am Geschlechtsteil der anderen. Manchmal braucht es vielleicht nur ein Umdenken von stark besetzten Porno-Klischees, um sich selbst und seine Vorlieben zu finden.“
Und von der Theorie zur Praxis – unter Wasser!
Da probierten sie gleich einmal die Scherenstellung. Sie waren ausgeatmet, daher sanken sie rasch auf den Grund, der eine Tiefe von circa fünf Metern aufwies. Sie hakten sich ineinander und waren glücklich.
Kapitel 20
Aus Glücksgefühl probierten es die beiden Mädels wieder mit ihren Eltern – Emma war ausgehöhlt, die kam sowieso immer heimlich dabei. Aber sie spielte die Komödie mit, um des lieben Friedens Willen. Es folgte eine hochoffizielle Einladung. Dabei saßen Anneliese und Waltraud ganz brav und gesittet ihren Erzeugern gegenüber.
Anneliese begann: „Wenn Jugendliche mit ihren Eltern über ihre sexuelle Orientierung sprechen, ist das alleinschon ein enormer Vertrauensbeweis. Das Coming-out gegenüber den Eltern ist wie ein Geschenk. So viele Ängste und Gedanken damit auch verbunden sind, ist doch bei den Eltern meist eine große Dankbarkeit zu spüren, dass sie als Gesprächspartner hinzugezogen worden sind und die Kinder sich öffnen.“
Waltaud setzte fort: „Wenn das eigene Kind einem schließlich sagt: ‚Ich bin lesbisch!‘, kann das neben der Dankbarkeit für das Vertrauen auch widersprüchliche Gefühle auslösen.“
Franz und Margaretha waren perplex, dass es so eine sachliche Diskussion gab – Emma war sowieso über jeden Verdacht erhaben. Nur Manfred sträubte sich gegen jedes vorurteilsfreie Argument – er beharrte nach wie vor darauf, dass es völlig „unnatürlich“ sei, wenn sich zwei Frauen mehr als nur freundschaftlich verbunden waren.
Aber Anneliese ließ nicht locker: „Lesben kaufen sich eine Semmel, fahren Rad, gehen zur Arbeit und zur Uni, lesen Zeitung, haben gelegentlich Rückenschmerzen, besuchen das Schwimmbad, stöhnen über ihre Steuererklärung, stöbern nach Sonderangeboten und fliegen nach Rhodos. Nur ihre Liebe und Sexualität unterscheidet sie von den meisten anderen. Lesben interessieren sich mehr für Frauen. Deswegen erfahren sie noch allzu oft negative Reaktionen und erleben Diskriminierungen oder homophobe Gewalt.“
Aber Waltraud sagte, an ihren Vater gerichtet: „Ich würde es noch verstehen, wenn Du diesbezüglich in Sorge wärst! Wenn Du Bedenken hättest, dass ich wegen meiner sexuellen Neigung Probleme im Leben haben könnte, und dass ich weiter glücklich durchs Leben gehen würde!“
Aber Manfred verließ grußlos den Ort. Er verweigerte weiter jede Kommunikation.
Auch Eltern, die sich als tolerant und weltoffen einschätzen, können nach dem Outing des Kindes verunsichert sein und sich fragen, was das für ihr Kind bedeutet. Das dürfen sie auch – wichtig ist, seinem Kind ungebrochene Liebe und Unterstützung zu zeigen. Schließlich hat sich Ihr Kind nicht verändert, nur weil es eine gleichgeschlechtliche Partnerin liebt.
Kapitel 21
Jetzt stürzten sich Anneliese und Waltraud auf ihre gemeinsame Dissertation, wie gesagt mit dem endgültigen Titel „Die Verflechtung der Wiener Großbanken mit der Wirtschaft Österreich-Ungarns und der späteren Nachfolgestaaten“. Sie betrieben zuerst die Grundlagenforschung für die „Feldstudie 1913“ und die „Feldstudie 1935“ mit einer Betrachtung der Österreichisch-Ungarischen Monarchie beziehungsweise der Nachfolgestaaten derselben. Die Wiener Großbanken 1913 waren: die Creditanstalt für Handel und Gewerbe, der Wiener Bankverein, die Österreichische Länderbank, die Anglo-österreichische Bank, die Niederösterreichische Eskomptegesellschaft, die Allgemeine Bodencreditanstalt und die Unionbank. 1935 waren (nach zahlreichen Fusionen) der Creditanstalt-Bankverein, die Österreichische Länderbank und Österreichische Credit-Institut übriggeblieben.
Bei jeder der Großbanken waren nun abhängige Bankinstitute, Versicherungen, Industriebetriebe und Verkehrseinrichtungen einzutragen und zwar nach den späteren Nachfolgestaaten. Es stellte sich heraus, dass rund ein Drittel der wirtschaftlichen Kapazitäten sÖsterreich-Ungarns im unmittelbaren Einflussbereich von nur sieben Großbanken standen. Das ist im Einklang mit dem sogenannten Gerschenkron-Effekt, wonach die Wirtschaft Großbritanniens im 18. und am Beginn das 19. Jahrhunderts originär durch die Industrie getragen wurde, während im Deutschen Reich oder in Österreich-Ungarn im der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Fortschritt durch große Banken gewährleistet wurde – in Russland (respektive der späteren Sowjetunion) musste der Staat einspringen (Anfang des 20. Jahrhunderts).
Grundlagenforschung – und nicht so, wie ein bekannter Ökonom (sein Name sei hier verschwiegen) freihändig die Behauptung aufgestellt hatte, dass es eben so war, wie es war. Facts and Figures, das war es, worauf es zunächst ankam. Wie bei Alexander Pavlovich Gerschenkron (geboren 1. Oktober 1904 in Odessa, Russisches Kaiserreich — gestorben 26. Oktober 1978 in Cambridge, Massachusetts) war Ökonom und Wirtschaftshistoriker. Er war rund 25 Jahre lang Professor für Volkswirtschaftslehre (Wirtschaftsgeschichte) an der Harvard University. Er hat Annelieses und Waltraud Interesse für Tatsachen besonders beflügelt.
Und noch eins: Practicing History (Selected Essays) von Barbara W. Tuchman. Die Rezensionen waren euphorisch: „Persuades and enthralls. I can think of no better primer for the nonexpert who wishes to learn history.” — Chicago Sun-Times. „Provocative, consistent, and beautifully readable, an event not to be missed by history buffs.” — Baltimore Sun. „A delight to read.” — The New York Times Book Review.
Und die Dissertation ging voran. Und wenn die Mädels genug davon hatten besuchten sie eine Aussellung: Frauen im Zentrum (in der Windmühlgasse in Wien 6) veranstaltet in Kooperation mit den Vereinen Medias In Res unter der Leitung von Katerinja Teresidi und LichTraum by Sonja Siblik die Ausstellung „Arte Misia“ und versucht sich in der Vielzahl der vorgestellten künstlerischen Positionen den divergierenden Ausdrucksweisen der weiblichen Natur in der Welt anzunähern. Die sehr interessanten Kunstwerke sollen dabei zur gemeinschaftlichen Diskussion über den Anfang und die Grenzen der weiblichen Identität anregen.