KALEIDOSKOP – Leseprobe 10
Kapitel 28
Julian (korrekt: Herr Lennard) wurde noch mehr mit Arbeit eingedeckt. Er wurde damit fertig – zumindest vorläufig. Er arbeitete und arbeitete, nahm sich Arbeit mit nach Hause, arbeitete bis weit über Mitternacht und oft bis zum Morgen – nur um Waltraud zu gefallen. Allein – sie lohnte es ihm nicht. Sie malträtierte Julian bis auf‘s Blut. Nichts konnte er ihr Recht machen – sie bekrittelte alles und jedes an ihm. Es war zum Verzweifeln!
Sie überlegte in einer stillen Stunde, dass sie mit ihm in die Kiste gestiegen wäre, wenn es sich dabei um eine einmalige Angelegenheit gehandelt hätte, wie beim Besuch im „Milieu“ der Prostitution, damit er Ruhe gab. Aber das war nicht zu erwarten – bei Vollzug wollte er voraussichtlich weitermachen. Das kam für Waltaud gar nicht in Frage. Wirklich nicht? Liebte sie ihn auf ihre Art doch?
Und Anneliese? Hatten sie sich nicht „ewige Treue“ geschworen? Und so war‘s auch!
Sie gingen in‘s Spielzimmer, wo schon wieder eine Novität wartete. Waltraud hatte sich zwei Häs‘chenmasken gewünscht und auch bekommen. Der Gag dabei war (sowie bei den Affenmasken), dass sie bis auf den Gesichtsvorhang nackt sein mussten. Uns so hüpften sie wackelten mit dem fiktiven „Blumen“ hin und her, bis sie einander wieder in den Armen lagen und sich über die „Löffel“ strichen. Wilder und wilder ging‘s zu! „Zum Teufel mit Lennard!“, riefen Anneliese und Waltraud, während sie sich durch die Masken küssten, beeinträchtigt nur durch die merkwürdige, aber fraglos angenehme Konsistenz des Stoffes. Und dann versanken sie wieder in‘s Nirwana ihrer Beziehung in Form einer Löffelstellung – das hatte sich als die wirkungsvolle Position herausgestellt, um die Befriedigung zu steigern. Sie schliefen erschöpft ein.
Als sie wieder aufwachten, hatten sie beide ein schlechtes Gefühl gegenüber Julian. Was hatte er schon getan außer dass er Waltraud angehimmelt hatte? Und sie hatten ordentlich davon profitiert. Sonst war – zumindest vorläufig – nichts passiert.
Und so kam es, dass Frau Dr. Anneliese Borner und Frau Dr. Waltraud Wiener sich bei nächster Gelegenheit abends überraschend vor Julian Lennards Tür in Wien-Floridsdorf in der Prießnitzgasse standen (ihre eigene Wohnung war tabu). Julian war trotz dieses Überfalls nicht böse, im Gegenteil, er freute sich, die Damen begrüßen zu dürfen. Er bat sie in die gute Stube, die tadellos aufgeräumt war.
„Was sonst?“, sagte Anneliese, auf den adretten Zustand der Behausung anspielend, während Julian sich in der Küche zu schaffen machte.
„Wir sind nicht hier, um Kaffee zu trinken!“, sagte Waltraud, nachdem er aus der Küche zurückgekommen war. Und eröffneten sie das einmalige Angebot: Dass sie mit ihm schlafen wollten! Unter einer Bedingung – dass dies das einzige Mal und unwiderruflich das letzte Mal sein würde! Danach sollte Julian sich eine Frau suchen und sie Beide würden aus dem Schneider sein. Dafür würden sie ihm das einmalige Erlebnis eines Dreiers bieten!
Sie zogen sich aus – sie hatten „Casual Chic Outfit“ gewählt, ergänzt durch einen G-String und einen raffinierten BH. Julian konnte seinen Blick von ihnen wenden. Er vergaß sogar, seine Kleidung abzulegen. „Jetzt stell‘ Dich nicht so an! Erst verschlingst Du mich und Dr. Borner mit den Augen und dann, wenn Dein Wunsch zum Greifen nahe ist, versagst Du!“
Das Versagen war deutlich zu sehen, nachdem er sich auch ausgezogen hatte. Sein Schwanz blieb klein und ließ sich durch keine Maßnahme, die von den Beiden gesetzt wurde, wieder aufrichten.
Kapitel 29
Dann flogen Anneliese und Waltraud zu einem Kongress nach Japan. Julian Lennard würde derweil die Stellung halten – er war sanft wie ein Lamm, seit der für ihn unliebsamen Vorkommnisse in seiner Wohnung. Er war dem Rat gefolgt und hatte sich eine Frau jenseits der Bank gesucht – ein liebes, unschuldiges Ding, das nicht bis Drei zählen konnte, so der ätzende Kommentar von Waltraud. Immerhin klappte das mit dem Geschlechtsverkehr problemlos – er hatte sich zuviel vorgenommen mit Dr. Wiener und Dr. Borner, gleich im Doppelpack, was ein harter Brocken war. Er arbeitete künftig weniger und wenig intensiver, und es ging auch so.
Annelieses Vortrag war ein voller Erfolg, trotz der Tatsache, dass der (männliche) Chauvinismus einer ordentlichen Debatte entgegenstand. Aber die jungen Damen im Publikum fühlten sich aufgestachelt durch eine Geschlechtsgenossin, die nicht nur zu einem Referat eingeladen wurde, sondern in der anschließenden Diskussion den nötigen Kick gab. Waltraud beteiligte sich am Gedankenaustausch rege, warf auch Manches, was die anwesenden Männer nicht ganz goutierten, in das Gespräch ein.
Anneliese und Waltraud besichtigten Tokio, ein scheußliches Konglomerat aus kleinen Häusern und Wolkenkratzern, an das man sich erst gewöhnen musste. Sie wohnten im ANA InterContinental Hotel, das mit allen Schikanen ausgestattet war, die das Leben so angenehm wie möglich machten, inklusive dem hoteleigenen kleinen Park. Andrerseits führte eine Autobahn auf Stelzen direkt neben dem Gebäude mit dem entsprechenden Geräuschpegel vorbei, und das Tag und Nacht.
Sieben Minuten waren es zum Kaiserpalast, der selbstverständlich nicht zu besichtigen war, aber allein von der Größe her beeindruckte, und dann ging es abends nach Kabukicho, einem Stadtteil im Tokioter Bezirk Shinjuku, der vor allem als Rotlichtviertel bekannt ist. Kabukicho bietet eine Vielzahl von Unterhaltungsbetrieben, neben Hostessenbars, Izakayas, Nachtklubs, Restaurants, Kinos, Karaokebars, Spielhallen und vor allem zahlreiche für Japans Großstädte typische Love Hotels. Bekannt ist der Stadtteil insbesondere durch die Hausfassaden voller Neonreklame. In der Nähe befindet auch Nichome, ein Schwulen- und Lesbenviertel.
Zwei europäische Mädels – das war natürlich ein gefundenes Fressen für die japanischen Zuhälter, die mit noch brutaleren Mitteln zur Sache gingen wie die abendländischen Pendents. Sie verdrückten sich rasch, so lange es noch Zeit war.
Heimflug – sie lernten das Captain Girl (das ist die Chefin des Kabinenpersonals) kennen. Der Flug war zu drei Vierteln leer, und so kamen sie in‘s Gespräch. Sie erfuhren, dass sie aus dem Tessin gebürtig war – es handelte sich die seinerzeitige Swissair. Sie erkannte sofort, dass sie lesbisch waren, und das aus guten Grund – sie war auch homosexuell. Sie machte Anneliese und Waltraud Avancen, sie sagte: „Das trifft sich gut, nämlich die Maschine halbleer ist, und wir zehn Stunden Zeit hätten, uns zu vergnügen!“
Sie stellten das in Abrede – wie sollte sich abspielen!
„In einer der Galley‘s, da sind haben wir unsere Ruhe! Ich sage den übrigen Crewmitgliedern, dass wir nicht gestört werden – meine Mitarbeiter wissen von meiner Veranlagung!“, sagte sie. Ihr Name war Franca Caravalligiolo…
Kapitel 30
Daheim erwartete sie Emma schon sehnsüchtig. Sie saß seit Längerem auf einer Bank gegenüber der Wohnung von Anneliese und Waltraud, als die Beiden aus dem Taxi stiegen. „Ich warte schon auf Euch!“, sagte sie und fiel ihnen um den Hals, länger als nötig und mit obszönen Handbewegungen.
„Nicht hier auf der Straße!“, befahl Waltraud. „Was sollen die Leute denken!“
Emma kriegte sich wieder ein folgte ihnen in ihre Unterkunft, happig auf einen Zweier oder sogar auf einen Dreier. „Es ist früh am Morgen, wir sind abgekämpft, vom Jet Lag ganz zu schweigen. Da von uns Turnübungen zu verlangen, grenzt an Tortur!“ Waltraud war echt böse! „Außerdem müssen wir gleich zur Arbeit, sowie wir uns frisch gemacht haben! Jetzt geh‘s schön nach Hause!“
Und Emma ging – zögernd zwar, doch immerhin! Sie wagte nicht zu widersprechen…
Wieder zurück in der Renngasse (das war ihre Dienststelle), setzten sich Frau Dr. Borner und Frau Dr. Wiener mit Herrn Lennard zusammen, um das Neueste zu besprechen. Da gab es wieder Einiges: Der Vorstand hat sich unter anderem irrsinnig darüber aufgeregt, dass man das nicht so schreiben dürfte:
„WILLKOMMEN
Dr. Anneliese Borner
Das hier abgdruckte Gedicht wurde vor vielen Jahren im Zuge der damals aktuellen Dialektwelle geschrieben. Es handelt sich um eine Neudeutung des Pink Floyd-Klassikers „Welcome to the Machine“. Es lautet:
Seavas in da maschin
Seavas, bua, seavas in da maschin!
Wo woast’n? Is scho guad,
mia kennan uns scho aus:
Woast aufm weg zu uns mid a boa extraturn,
wäu a zeidlaung deaf a jeda glaum,
das’s bei eam aundas sei wiad!
Owa jezd kumm eina:
Seavas, seavas in da maschin!
Seavas, bua, seavas in da maschin!
Wos hosd’n dramd? Is guad,
mia wissn, wos des woa.
Hosd dramd am weg zu uns mid fantasie,
dasd schee und reich und gscheid sei wiasd,
das’s bei dia aundas sei wiad!
Owa jezd kumm eina:
Seavas, seavas in da maschin
Ich begrüße damit die heurigen Schulabgängerinnen und Schulabgänger im Berufsleben mit der Aufforderung, den kritischen Kopf oben zu behalten.
Die Entwicklung der realen Welt läuft der intellektuellen Interpretation derselben davon: es handelt sich dabei offenbar um ein Zeichen gravierender Spannungszustände der bestehenden Gesellschaftsordnung. Charakteristisch für die Situation scheint vor allem zu sein, daß die politischen Gruppierungen im engeren Sinn – selbst solche, denen eine unzweifelhafte Redlichkeit unterstellt werden darf – hinsichtlich ihrer Fähigkeit zur Welterklärung an einem Tiefpunkt angelangt sind. Für das einzelne Wirtschaftsunternehmen, das nicht zuletzt auch als Mitspieler in der sozialen Arena agiert, hat diese Diagnose tiefgreifende Konsequenzen: Neben die übliche ökonomische Unsicherheit, in der die betriebswirtschaftlichen Entscheidungen für die Zukunft getroffen werden müssen, tritt die neue Dimension einer ausgeprägten metaökonomischen Unsicherheit. Das bedeutet die Beschäftigung mit Themen, die bis jetzt normalerweise nicht Gegenstand der betriebsinternen Diskussion waren.
Und so weiter…“
Anneliese Borner wurde zum Rapport bestellt, sowie sie wieder aus Japan zurück sei. Und so trat sie den Canossagang bei den Obergöttern an, diesmal ohne die Unterstützung durch Waltraud – die musste sie „zu Hause“ lassen. Man machte ihr klar, dass 1. Gedichte für ein seriöses Bankinstitut nicht in Frage kämen und 2. ketzerische Ansichten zu unterblieben hätten. Besonders die „metaökonomische Unsicherheit“ wurde vom Vorstand ausdrücklich verurteilt!