Heimito von Doderer
Die Strudlhofstiege
„Ein Werk der Erzählkunst ist es um so mehr, je weniger man durch eine Inhaltsangabe davon eine Vorstellung geben kann.“
Heimito von Doderer
Inhalt
Die Strudlhofstiege ist ein Gesellschafts- und Großstadtroman über Wien im Zeitraum 1923–1925 mit Rückblenden vor allem in die Sommer 1910 und 1911. Die Handlung besteht aus einer Vielzahl raffiniert ineinander verflochtener, von Zeitsprüngen durchbrochener, beim ersten Lesen schwer zu überblickender Erzählstränge. Zusammengehalten wird das Buch von einer erstaunlichen Einheit des Orts: Die meisten Szenen spielen in einem eng begrenzten Raum innerhalb des 9. Wiener Bezirks, Alsergrund, zwischen dem Althanplatz (heute Julius-Tandler-Platz) am Franz-Josefs-Bahnhof (im Buch entgegen Wiener Brauch „Böhmischer Bahnhof“ genannt) und dem Schottentor. Entscheidende Begegnungen ereignen sich auf der Strudlhofstiege, die die volkstümliche Vorstadt Lichtental mit der höher gelegenen Waisenhausgasse (seit 1913 Boltzmanngasse), Sitz der k.u.k. Konsularakademie, verbindet. Rückblenden und Erinnerungen führen ins Gebiet der Rax (Prein, Reichenau), in Wiener Vororte und verschiedene Städte der Donaumonarchie (einschließlich Bosniens).
Die sich in diesem Raum bewegen, sind überwiegend Angehörige des gehobenen Bürgertums, teils mit adeligem Hintergrund. Hauptfiguren sind der im Untertitel genannte Melzer, 1910 / 1911 in Bosnien stationierter Infanterieleutnant auf Sommerurlaub, nach dem Krieg als Major verabschiedet und mit dem Posten eines Amtsrats in der staatlichen Tabakregie versorgt, sowie René (von) Stangeler, 1911 Maturant, 1925 nach Kriegsdienst und Gefangenschaft gerade erst ausstudierter Historiker.
Andere, die man streckenweise ebenfalls für Hauptfiguren halten könnte, treten bald wieder zurück, um womöglich erst Hunderte von Seiten später wieder aufzutauchen: so Mary K., deren im ersten Satz angekündigter Straßenbahnunfall eine Klammer um das gesamte Buch bildet; Renés Schwester Etelka Grauermann, deren Lebensgeschichte perspektivisch auf ihren Selbstmord hin erzählt wird; Grete Siebenschein, ausgebildete Pianistin, die sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit allein in Oslo (Doderer war im Zweiten Weltkrieg Besatzungssoldat in Norwegen) durchbringt und nach ihrer Rückkehr 1923 mit Réné verlobt; Editha Pastré, 1911 verzweifelt auf Männerjagd, 1923 geschiedene Frau Schlinger.
Ein Hauptstrang des Romans ist die Entwicklung von Melzer, der als Soldat, obwohl im Krieg vielfach selbständig handelnd – was blieb ihm auch anderes übrig –, lange Zeit eine selbständige Art zu existieren überhaupt noch nicht besessen hat. Das zeigt der Rückblick in die Sommer 1910 und 1911: Die Verlobung mit Mary kommt nicht zustande, weil er die Konsequenz, dann den Dienst quittieren zu müssen (unausgesprochen: Mary ist demnach Jüdin), nicht einmal ansatzweise weiterdenkt und erwägt. Eine Verbindung mit Editha bleibt ihm nur erspart, weil er die Einmaligkeit der sich bietenden Gelegenheit nicht erkennt. Seine hoffnungslose Liebe zu Asta Stangeler bleibt unausgesprochen. Erst 1925 wird er in entscheidenden Augenblicken dann alles richtig machen.
Der gemeinsame Nenner der handelnden Personen ist äußerlich der historische Bruch des Ersten Weltkriegs, den sie auf verschiedene Weise erleben, verarbeiten oder als Trauma verdrängen (wobei Doderer mit äußerster Präzision die zivilisatorischen Umstände, vom Gaslicht zur elektrischen Lampe, vom Fiaker zum Autobus, von der k.k. Tabakregie zur Österreichischen Tabakregie mit ihren Zigaretten- und Zigarrenmarken, die Umbenennung von Straßen, den Neubau und Abriss von Gebäuden berücksichtigt, ohne dass ihm ein Anachronismus unterläuft); der innere gemeinsame Nenner der meisten Personen ist hingegen eine Schnitzler’sche Gebrochenheit und Fragilität der Charaktere, die zu äußerster Gefährdung führt, als ginge es um einen Wettlauf zum Tode, – bei dem Etelka als erste ankommt.
Übergreifende Handlungsstränge füllen jedoch nur den kleinsten Teil des Buches aus. Weitaus charakteristischer sind eingeflochtene kleine Erzählungen: die fliegende Umverlobung der Grete Siebenschein und wie René von seinem Vorgänger E. P. lernt, ohne Hosenträger zu leben; eine Bärenjagd in Bosnien; ein Skandal im Badezimmer – wo es, horribile dictu, zu einem Kuss (!) gekommen war.
Noch charakteristischer sind vielleicht Dialoge und kurze Szenen, die gesellschaftliche Realitäten vor Augen rufen: hochgestochene Gespräche junger Konsular-Akademiker, ein Abendessen unter dem erdrückenden Vorsitz des Vaters Stangeler, wie René von einem Mädchen aus dem Volk angesprochen wird, wie Etelkas angehender Verlobter bei heimlichen Besuchen die Hausmeisterin entlohnt.