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6. TEIL
DAS ENDE DER WELT,
WIE WIR SIE KANNTEN
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601
Als Android ist man natürlich im menschlichen Sinne nicht zu schockieren, und doch: Im Rahmen meiner Möglichkeiten war ich schockiert – über das, was sich auf VIÈVE zugetragen hatte (obwohl ich als einziger dort aus direkter persönlicher Erfahrung vor der – zumindest nach herkömmlichen Maßstäben – bösen Natur der Echwejchs hätte warnen können). Ich war auch schockiert über die herrschende Situation (obwohl meinem Model for Emotional Response ein Übermaß an Mitleid, namentlich mit dem gefangengesetzten König, durchaus abging). Vor allem aber war ich schockiert über die von Serpentina, meiner Quasi-Schwester und zugleich Geliebten, begangene Mordtat.
Was musste sich in den Schaltkreisen dieses mir so ähnlichen und vertrauten, dann aber doch auch wieder so fremdartigen und geheimnisvollen Wesens abspielen, wenn eine solche eklatante Verletzung der Direktive, die es verbot, biohumanoiden Personen Schaden zuzufügen, ohne weiteres möglich war? Befand ich mich unter diesen Umständen in weiterer Konsequenz vielleicht selbst in Gefahr – denn wer vermochte die Wahrscheinlichkeit dafür vorauszusagen, dass Serpentina inmitten einer neuromechanisch-erotischen Vereinigung mit mir den verborgenen Schalter betätigte, mit dem ich deaktiviert werden konnte: Ich, der unverwechselbare, zu einer hohen androidischen Entwicklungsstufe vorgedrungene und mittlerweile vom Status logico-philosophicus zum Passus speculativo-theologicus gelangte Vangelis Panagou – mit einem Mal bloß ein Homunkulus mit gelöschter Zentraleinheit, die gerade noch die Spuren einiger elektromagnetischer Schwingungen aufwies?
Wäre wohl unsere Konstrukteurin imstande, meine bange Frage nach der Ursache jener offenkundigen Fehlleistung zu beantworten? Hatte es womöglich mit dem Schlangenhaften in Serpentina zu tun? Wie aber wäre es zu erklären, wenn die Konditionierung einer bestimmten – noch dazu natürlichen und auf einem fernen Planeten lebenden – Reptilienart zum Töten von Echwejchs Eingang in das Programm eines hochentwickelten ortsunabhängigen Rechners gefunden hätte: dort auf der Erde, wo Anastacia ihre Wunderwerke baute. Mochte gut sein, dass die Panagou beim Sammeln wesensspezifischer Partikel, ohne es zu wissen, eine bisher unbekannte allgemeine Aversion von Schlangen gegenüber Geflügel aufgelesen hatte – ja, nur so konnte es abgelaufen sein, denn dann würden die Schwanenwesen selbstverständlich nicht unter den Schutz der bewussten Direktive fallen.
VOLOKUZO NUNGUA:
Männer tragen ihr Herz auf der Zunge (und männliche Androiden bilden hier keine Ausnahme, ungeachtet ihrer gegenüber den biologischen Artgenossen größeren Rationalität). Daher erzählte mir Vangelis sofort von seinen Überlegungen in Bezug auf seine kleine Freundin und auch von seiner Angst, abgeschaltet zu werden. Gerade weil ich glaubte, dass Serpentina gar nicht wusste, wie sie ihn aus dem Verkehr ziehen konnte, beruhigte ich ihn, ließ ihm jedoch so viel Misstrauen, dass meine Chancen, ihn mir zurückzuholen, intakt blieben – das konnte allerdings ohne weiteres warten, vorerst standen größere Dinge auf meiner Agenda!
Ich war Volokuzo dankbar dafür, dass sie mich aus dieser Denkschleife herausholte, die noch dazu dadurch gefördert wurde, dass ich mich seit der Machtübernahme der Echwejchs in meiner Unterkunft aufgehalten hatte und mich dort weitgehend mit mir selbst beschäftigen musste. Immerhin war ich aber dadurch bis dahin unentdeckt geblieben. Serpentina befand sich ebenfalls in ihrem Versteck, wo sie mehr denn je ihrer früheren Existenz nachhing, bestärkt durch die Ansicht, mit ihrem Angriff (für den Gila Graven zur Verantwortung gezogen wurde) wie eine richtige Schlange gehandelt zu haben. Die Nungua ihrerseits bewegte sich ungehindert auf der gesamten Station, ging auch bei mir aus und ein, wiewohl sie stets darauf Bedacht nahm, dass niemand sie dabei beobachtete und die Spur zu mir aufnahm.
Warum sie von den Besatzern nicht behelligt wurde, die doch sonst jeden, der sich auf offener Straße zeigte, drangsalierten und dabei oft genug vor den Zugängen der Behausungen nicht halt machten, konnte ich zunächst nicht einmal ahnen. Erst als sie mir erzählte, dass sie sogar die Erlaubnis hatte, ihr kleines Raumfahrzeug zu betreten (was de facto bedeutete, dass die Echwejchs ihr freien Abzug gewähren würden, wenn sie dies wünschte), dämmerte mir, dass sie viel dafür gegeben haben musste – Informationen über den König vielleicht, über seine zahlreichen, vor allem vergangenen Verstrickungen, die ihn in den Augen der Schwanenhalsigen zu einer nicht eben ehrenwerten Figur stempelten, mit der man nicht besonders zimperlich umgehen musste. Jetzt rächte es sich, dass Keyhi sich ihr, als sie noch unter dem Deckmäntelchen einer Therapeutin aufgetreten war, rückhaltslos mit all seinen komplizierten seelischen Deformationen anvertraut hatte.
VOLOKUZO NUNGUA:
Gut kombiniert, alter Freund, aber daran magst du erkennen, dass das richtige Leben ein ständiger Kampf ist, nicht nur zwischen Welten und Imperien, sondern vor allem auch zwischen einzelnen Menschen. Wer nicht oben ist, ist automatisch unten, und wenn er nur irgendwie kann, wird er versuchen, sein Blatt zu wenden. Du kennst bloß einen Teil meiner Biographie, aber glaube mir, ich war lange genug unten – ich kann mir keine Skrupel leisten, dafür habe ich weder Lust noch Zeit.
Ich spürte Zorn in meinem Nacken aufsteigen. Wieder einmal jemand, der behauptete, ich wüsste nichts vom sogenannten richtigen Leben – der mich von meiner Grundausstattung her glattweg als ungeeignet für die Komponenten und Parameter einer normalen Existenz erklärte: und das, obwohl ich Volokuzo immerhin drüben eine recht schöne Zeit beschert hatte! Nach all dem, was sie mit mir erleben durfte – und man weiß ja, dass unseresgleichen sich als recht einfühlsamer Sexualpartner erweisen kann –, maß sie mir offenbar keinen größeren Stellenwert zu als den eines besseren Vibrators!
VOLOKUZO NUNGUA:
Nun sei doch nicht gleich aufgebracht, mein elektronischer Ritter! Immerhin weiß ich deine Qualitäten so sehr zu schätzen, dass ich (respektive die Gruppe, die ich repräsentiere) dich zum neuen Tyrannen der jenseitigen Völker erhöhen will, und das ist doch kaum ein Beweis dafür, dass wir dich geringschätzen!
[ 2 Zeilen Durchschuss ]
Nicht lange danach drängte sie uns zum Aufbruch, in aller Heimlichkeit, wie sie behauptete, aber da unterschätzte sie mein Sensorium: Ich merkte nämlich sehr wohl, dass sie nur so tat, als ob wir uns wegschleichen müssten, während wir tatsächlich das Raumschiff der Nungua unter den wachsamen Augen und offenbar mit Billigung der Echwejchs bestiegen.
Serpentina versuchte, eine Menge Kleider, die sie aus Diaxus Fundus erhalten hatte, mitzunehmen, aber nur ein kleiner Teil davon wurde ihr zugestanden – alles, beschied sie Volokuzo, was man so bräuchte, könne auch drüben beschafft werden. Ich selbst nahm nicht viel mehr mit als mein Astrolabium, und das erwies sich als schwierig genug bei all dem Getue mit unserem angeblich unbemerkten Abgang. Womöglich hatte Volokuzo das Gerät sogar den Schwanenleuten versprochen, aber ich blieb hart. Mein eigenes Fahrzeug ließ ich zurück – ich hatte es bereits bei meiner Ankunft auf VIÈVE mit einem Code versiegelt, der mit hoher Probabilität nicht zu knacken war.
Bald nach Antritt unserer Fahrt – die uns zu einer weit draußen im All liegenden Passagemöglichkeit führte – begann ich mich unbehaglich zu fühlen: ein bei Androiden nicht sehr verbreitetes Gefühl, das allerdings angesichts der Irrationalität meiner Lage nur zu verständlich war. Meine beiden Reisegefährtinnen hatten diesen Zustand ausgelöst und taten in der Folge nichts, um ihn zu mildern. Sie dachten offensichtlich nicht im Geringsten daran, sich zu vertragen, pflegten im Gegenteil ihre subtilen und zum Teil an den Haaren herbeigezogenen Querelen, wobei Serpentina die aus ihrer Schlangenexistenz mitgenommenen Grundlagen des Sarkasmus am Beispiel der richtigen Menschenfrau laufend vervollkommnete. Die Nungua, die ich von dieser Seite noch nicht kennengelernt hatte, erwies sich als kongeniale Partnerin bei diesem Lehrstück an Dissonanz, bei dem die Interpretinnen es noch dazu andauernd für nötig hielten, mich zum Schiedsrichter darüber zu ernennen, wer denn die größeren Misstöne von sich gäbe.
Ich zog mich mehr und mehr in die Kajüte zurück, in der ich das Astrolabium untergebracht hatte, unter dem Vorwand, Sternbeobachtungen und berechnungen durchzuführen, hing aber statt dessen meinen Gedanken über Religion und Philosophie im menschlichen und im androidischen Kontext nach. Merkwürdigerweise gelang es mir schließlich, meine Überlegungen an dem alten menschlichen Streit in puncto zufällige Evolution versus schöpferisches Design festzumachen. Tatsächlich wäre ja das Leugnen der Evolution durch Biohumanoiden so unsinnig wie umgekehrt das Leugnen des Design durch uns Androiden. Wenn allerdings wie in meinem Fall (und bei den meisten Panagou’schen Hervorbringungen) ein selbstlernendes Programm als wesentliches Element des Zentralsystems eingesetzt wird, kommt es auch bei uns zum Qualitätssprung in Richtung Evolution – unschwer ersichtlich an der Überraschung, die selbst unsere Konstrukteurin mit manchen unserer Daseinsäußerungen erlebt hat.
Hier schloss sich für mich der Kreis (und das war ja mein Quod erat demonstrandum): Per saldo stand die künstliche Serpentina der natürlichen Volokuzo um nichts nach – zu meinem persönlichen Leidwesen, muss ich sagen, aber auch zu meiner tiefen Befriedigung in wissenschaftlicher Hinsicht, bedeutete es doch, dass wir längst mehr waren als simple Maschinen, die man menschlicherseits mit einer Handbewegung abtun konnte. Selbst die Tatsache, dass wir bei aller physisch-technischen Überlegenheit unserer Körper nach wie vor einfach per Knopfdruck terminiert werden konnten, war ja im metaphysischen Sinne als eine Annäherung an die Maßstäbe unserer Vorbilder zu verstehen: mitten im Leben des Todes zu sein und vor allem den Zeitpunkt nicht zu kennen.
VOLOKUZO NUNGUA:
Direkt darauf angesprochen (hier waren Serpentina und ich ausnahmsweise einig, denn unser beider Interesse ging dahin, ihn nicht völlig auf seinen Esoterik-Trip abfahren zu lassen), behauptete er, sogar, für Androiden gäbe es ein Jenseits, und zwar nicht dadurch, dass sie für immer klaglos funktionierten, denn das war wohl völlig unrealistisch, sondern dadurch, dass, ein geeignetes Speichermedium vorausgesetzt, die Signatur ihres virtuellen Geistes aufbewahrt werden könnte.
Auch die Menschen behaupten ja, dass ihnen dieses Medium im Rahmen der Verheißungen der Religion (gleich welcher) gegeben sei, und nennen das die Unsterblichkeit der Seele, obwohl niemand in der Lage ist, diese Hypothese zu verifizieren!
VOLOKUZO NUNGUA:
Für meinen Geschmack beschäftigte er sich ein wenig zu intensiv mit religiösen Fragen, aber Serpentina beruhigte mich: Aus Gründen, die ihr offensichtlich naheliegender erschienen als mir, konnte seine Verstiegenheit ein bestimmtes Ausmaß nicht überschreiten. „Was schadete überdies ein wenig Irrsinn”, meinte sie salopp, „wenn er den wiederauferstandenen Tyrannen der jenseitigen Völker mimen soll?”
Seien wir uns doch ehrlich (denn wenn ich mich auch nicht sehr lange in der jenseitigen Realität aufhielt, habe ich doch etwas Wesentliches mitbekommen): Da drüben sind eigentlich alle auf verschiedenste Weise befremdlich, bizarr oder sonderbar, jedenfalls würde ein richtiger Mensch das so ausdrücken – meinerseits ziehe ich ja die Formulierung vor, dass die Standardabweichung in der Grundgesamtheit aller individuellen Verhaltensweisen jener Population sich zum Mittelwert wie 2,19734 : 1 verhielt…
VOLOKUZO NUNGUA:
… und das soll wohl (wenn auch in völlig nutzloser Genauigkeit) bedeuten: Es gab praktisch niemanden, der im landläufigen Sinn normal war. Das wussten wir Jenseitigen aber ohnehin alle schon lange!
Was aber in dieser Deutlichkeit vielleicht nicht bekannt war, und sei es auch infolge unzureichender soziologischer Grundkenntnisse, scheint mir die auffallende Polarisierung zu sein, da nämlich die einzelnen Verhaltenspartikel zwischen einem autoritären und einem anarchistischen Kräftepunkt aufgespannt waren. Folgerichtig ermöglichte es die breite Streuung der Individualitäten einmal dem einen, einmal dem anderen der beiden Pole zu erstarken (wodurch auch immer induziert) und die dominante Position in dieser Gesellschaft einzunehmen.
VOLOKUZO NUNGUA:
Und wie es schon kam – bereits zur Zeit der größten Machtentfaltung des Tyrannen der jenseitigen Völker, lange bevor dieser das Duell mit seinem Pendant aus der Alpha-Welt, Sir Basil Cheltenham, austragen musste und dabei zugrunde ging, lange also bevor dieses sklavenhalterische, feudalistische und extrem repressive System zu Ende ging, trat, damals noch unentdeckt (oder soll ich besser sagen: unbeachtet), der Philosoph der Anarchie auf, Herg Vegnbo. Auf ganz abenteuerliche Weise – denn niemals hätte er es wagen dürfen, auf gewöhnlichem Weg ein Buch zu veröffentlichen –, aber dafür wie ein langsamer und doch kontinuierlich sich ausbreitender Schwelbrand griffen seine Theorien um sich, bei allen Rechtlosen der diversen Paria-Klassen ebenso wie bei den deutlich weniger unterdrückten Bürgern, die sich ihre ökonomische Bewegungsfreiheit mit strikter politischer Enthaltsamkeit erkaufen mussten, und sogar der eine oder andere aus der Oberschicht, die der Diktator gleichwohl völlig entmündigt hatte, ließ sich von Vegnbos Gedankengängen anstecken.
Noch, so schließe ich daraus, assoziierte niemand Anarchie mit Chaos, noch gab sich jeder der Illusion hin, es sei nur eine friedliche Veränderung oder vielmehr Abschaffung der Herrschaftsverhältnisse angedacht. Diese Vorstellung blieb ja bekanntlich zu allen Zeiten und an allen Orten auffallend frei von jeglicher Komponente physischer Unzukömmlichkeit, denn wenngleich die Phantasie dazu reichte, um zu begreifen, dass Gewalt, und zwar brutale Gewalt, mit Anarchie symbiotisch verbunden ist, mochte immerhin der einzelne beharrlich daran glauben, dass ihm selbst dabei kein Haar gekrümmt werde.
Ihr richtigen Menschen seid Träumer, und so kommt keiner von euch auf die Idee, der an sich schöne und edle Gedanke, dass der Staat als solcher sinnlos und dessen Gewaltmonopol eo ipso überflüssig sei, könnte bei seiner Realisierung ein Meer von Blut auslösen. Anstelle der erhofften Idylle von der theoretischen Anarchie als Herrschaftslsogkeit, in der die Menschen gleichberechtigt und ohne Standesunterschiede miteinander leben und sich frei entfalten, kehrt die Gesellschaft in Wahrheit zur praktischen Anarchie der Pflanzen- und Tierwelt zurück, die einen unerbittlichen und jenseits aller Moral angesiedelten Kampf um Ressourcen darstellt.
VOLOKUZO NUNGUA:
Glaub nur ja nicht, dass Serpentina und ich jetzt ehrfurchtsvoll an deinen Lippen hängen – deine Freundin weiß es und ich ahne es, dass du rezitierst und lediglich den Anschein erweckst, Argumentationsnetze vor uns auszubreiten, während du offensichtlich nichts anderes tust, als Stichwort um Stichwort in den Datenspeichern aufzurufen, die dir direkt oder indirekt zur Verfügung stehen!
Mein MER verbreitete das Gefühl der Kränkung über meine neuro-elektroni-schen Verbindungen in meine ganze Persönlichkeit: Warum nur hatte ich schon wieder meinen selbstgewählten Elfenbeinturm hier an Bord verlassen und mich dieser fruchtlosen Diskussion gestellt? Warum sagte Serpentina nichts zu meiner Verteidigung? Die Befriedigung darüber, dass ich nunmehr die Gefährlichkeit der Nungua – die in der Geringschätzung meiner Existenz lag – klar durchschaut haben musste, war ihr deutlich anzumerken: Meine Geliebte, von Anfang an skeptisch in Bezug auf dieses ganze Abenteuer, nahm wohl zurecht an, ich würde jetzt selbst erkennen, hier tatsächlich als nichts anderes zu gelten denn als simples Werkzeug.
Aber bedeutete das nicht umgekehrt die große Chance, mich in all diesen Widrigkeiten durchzusetzen und am Ende meinerseits jene zu manipulieren, die mich zu manipulieren gedachte. Serpentina wusste nicht, dass sie mir gerade durch ihre an der Echwejch-Kriegerin begangene Schreckenstat (die nicht wie bei den anderen Androiden als Verteidigungshandlung akzeptiert werden konnte, sondern aus blanker Mordlust geschehen war) die Möglichkeit aufgezeigt hatte, mich über die Arglosigkeit unserer Gattung zu erheben. Nüchtern analysiert, konnte die Tatsache, dass Serpentina nach ihrer eklatanten Entgleisung nicht übergeschnappt und völlig außer Kontrolle geraten war, nur eines bedeuten: Ein genügend großer Impuls des MER – wenn man ihn nur zuließ – setzte genau jene Normen außer Kraft, die uns daran hinderten, die letzte Stufe des Bewusstseins zu erklimmen, die darin besteht, an die Stelle von Naturrechten Ideologien zu setzen, sprich: Politik zu machen! Wenn wir den richtigen Menschen ebenbürtig werden wollten (und ich persönlich strebte das mit der Kraft meines gesamten Wesens an) mussten wir wie sie imstande sein, Dissimulationen der Wirklichkeit herzustellen – einfacher ausgedrückt: zu lügen, zu täuschen, falsches Zeugnis abzulegen, zu verleumden und was es da sonst noch in diesem reichhaltigen Instrumentenkasten gab.
Sorry, Anastacia, vielleicht lag es nicht in deiner Absicht, dass deine Geschöpfe als solche (oder wenigstens einzelne ausgesuchte Exemplare) sich so weit entwickeln, aber du musstest dir darüber im Klaren sein, selbst den Keim dazu gelegt zu haben, so wie du mit uns mehr erschaffen wolltest als bloße Automaten. Bei mir selbst ist es durch logisches Schließen passiert, bei Serpentina eher durch die Nachahmung weiblicher Intuition, und wie weit unser aller Vorbild, Quasi-Schwester Anpan, vielleicht schon ist – und mit welchen Methoden –, vermag ich gar nicht abzuschätzen.
Nein, Volokuzo, dachte ich bei mir, ich habe (zu deinem Unglück!) nicht nur eingebunkerte Daten abgerufen, sondern ich verstehe das Wesen der Anarchie, und ich bin so weit, mich ohne Scheu auf diese einzulassen. Mein MER hält mich jetzt nicht mehr zurück, wie es das wohl ursprünglich sollte, sondern treibt mich geradezu voran.
Serpentina signalisierte mir wortlos, dass sie meine Gedanken aufgefangen hatte – eine sehr effiziente Art der Kommunikation, die meiner Freundin zwar nicht ganz geheuer war, uns aber gegenüber Volokuzo in dieser Situation einen nicht zu unterschätzenden Vorteil verschaffte, ohne dass unsere Begleiterin dessen überhaupt gewahr wurde. Wie alle richtigen Menschen (mit Ausnahme jener wenigen Exemplare, die über das verfügten, was man paranormale Fähigkeiten nennt) wartete die Nungua selbstverständlich auf konventionelle hörbare oder sichtbare Zeichen, aber wenn Serpentina und ich uns des Rapid Data Transfers bedienten, dann blieben diese logischerweise aus.
VOLOKUZO NUNGUA:
Was ist mit euch beiden los – hat es euch die Sprache verschlagen?
Wir lächelten angesichts dieses ungewollten Eingeständnisses ihres Defizits. Längst hatten wir gelernt, dass man solche Fragen nicht mit naiver Ehrlichkeit (zu der es uns Androiden stets drängte) beantworten durfte, sondern besser dazu schwieg.
VOLOKUZO NUNGUA:
Und übrigens – Herg Vegnbos Theorien in allen Ehren, aber sie erwiesen sich später als völlig irrelevant für die konkrete historische Entwicklung, die das Tyrannenreich nahm: Das Chaos brach nicht auf der politischen Ebene über die Spiegelwelt herein (etwa weil anarchische Kräfte die Gesellschaft zerstört hätten), sondern auf der ganz banalen Ebene des ökonomischen Unterbaus! Es ist ja kein Geheimnis, dass es nach einer Phase exzessiver Misswirtschaft sowie sozialer und ökologischer Ausbeutung zum Zusammenbruch nahezu jeglicher Infrastruktur und damit fast aller Produktionssparten kam. Als Attentäter die ersten Bomben zündeten, markierten diese nicht den Beginn einer stolzen Revolution, sondern waren Ausdruck bestialischer Verzweiflung – und die Elite, meine lieben Androiden, die wurde bei uns nicht gestürzt, sondern entzog sich durch Flucht jeder weiteren Konsequenz, indem sie sich auf den Planeten Jifihikxli zurückzog und den Heimatstern samt den dort kämpfenden eigenen Truppen sich selbst überließ. Und der Diktator selbst konnte ja am Ende durch äußere Einwirkung beseitigt werden!
Wie alle menschlichen Denker hatte Vegnbo Recht und Unrecht zugleich! sagte ich, an die Nungua gewandt (ich leistete mir diesen künstlich erzeugten Zynismus – dank Anastacias Bemühungen hatte ich den Duktus dieser Sprachfigur erlernt, wenn ich auch die Sinnhaftigkeit einer solchen Aussage bis heute nicht begreife). Der Philosoph erkannte eine der wesentlichen Lehren der Geschichte, dass nämlich Herrschaft niemals sich selbst aufgibt und Freiheit deshalb immer nur aus Anarchie entstehen kann. Er irrte jedoch, wenn er annahm, dass Individuen, die keine äußere Schranke ihres Tuns und keine äußere Macht über ihrem Ich dulden, imstande sein können, ein organisiertes Gemeinwesen aufrechtzuerhalten.
Serpentina grinste breit. Volokuzo blickte erstaunt von einem zum anderen, fing sich aber rasch.
VOLOKUZO NUNGUA:
Genau deshalb bringe ich dich rüber, mein Kleiner, deiner neuen Aufgabe entgegen!
601-A
BRIGITTE:
(ganz im Sinne einer verantwortungsbewussten Co-Erzählerin) Nun schürzt sich also der Knoten!
Nein! Keineswegs! Wir sind es, die den Knoten schürzen, indem wir die vielen herumliegenden Fäden aufnehmen und verknüpfen, weil wir es nicht ertragen können, dass alles beziehungslos dahindümpelt, ein wenig durcheinanderwirbelt oder auf- und abschwillt, wobei alle Ordnungsmuster bestenfalls schöner Schein sind. Denn vielleicht haben wir doch nur Geschichten erzählt, wie sie uns gerade in den Sinn gekommen sind (und es behaupte in diesem Zusammenhang nur ja niemand, der Mensch an sich würde grundsätzlich zielorientiert denken!).
BRIGITTE:
Aber es macht doch Spaß, und vielleicht würde es noch mehr Spaß machen, wenn sich in einer Fiktion eine Clusterung ergäbe, die unserem offenkundigen Bedürfnis nach einem sinnvollen und womöglich ästhetischen…
… oder sogar glücklichen Ausklang entgegenkäme. Ich versteh’ schon, meine Liebe, aber erstens möchte ich mich (und du als Co-Erzählerin solltest dich nicht) einschränken lassen durch einen solchen Bedürfnisbefriedigungskult – und zweitens, wer denkt denn jetzt ans Aufhören, wenn doch noch einiges mehr an Erzählmasse geplant ist.
BRIGITTE:
Willst du die Leserinnen und Lesern beunruhigen?
Natürlich nicht, doch wenn wir es geschafft haben, ihre Gier zu wecken, werden sie noch mehr haben wollen, denn meines Erachtens neigen wir ja deshalb dazu, Literatur zu lesen, weil wir dort Symbole erwarten, und erst wenn wir wirklich auf solche stoßen, stillt das unsere Lust. Wir Künstler operieren auf einem von vielen anderen Künstlern im Lauf der Zeit geschaffenen künstlichen Feld, auf dem bereits massenhaft Kunstwerke herumstehen. Wir formulieren die ewigen, immer gleichen Fragen und geben Antworten, die nichts anderes sein können als mehr oder weniger neue, mehr oder weniger originelle Verdichtungen des bestehenden Materials, aber dennoch ist es reizvoll – selbst das Schildern des Bösen!
BRIGITTE:
Veritable Symbole kann man schließlich immer wieder verwenden, ohne dass es langweilig wird!
Man braucht sie ja nicht zu erklären, sie behaupten sich gut und gerne von allein – das ist das Tolle an ihnen!
BRIGITTE:
Aber Vorsicht – auch außerhalb der Kunst (in der sie quasi ihre unbestrittene Existenzberechtigung haben) treten Symbole auf, mehrheitlich solche, die man keineswegs goutieren kann: vor allem in der Politik, wie unser kluger Vangelis Panagou richtig erkannt hat. Dort ist es nur noch ein kleiner Schritt zu jenem Dummkopf, der eine in der Kunst, namentlich in der Literatur, zum Symbol allen Übels gebrandmarkte Person ohne zu zögern real demütigt, misshandelt, vielleicht sogar tötet.
Allein die Tatsache, dass vermutlich der überwiegende Teil der Menschheit gefühlsmäßig lieber in einer Rechts- als in einer Linksdiktatur leben würde (selbst jene, die bisher weder–noch erlebt haben) spricht für deine Befürchtung. Immerhin haben ja die rechten respektive extrem rechten Kräfte – das muss man ehrlich gestehen – die besseren Symbole: besser im Sinne von eindringlicher, deckungsgleicher mit dem, was man als die Chiffren unserer Natur bezeichnen könnte. Geschickte rechte Demagogen waren immer wieder in der Lage, ihre Symbolik so sehr als ein System von Sachzwängen zu verkaufen, dass ihnen die Leute in Scharen nachliefen; dass von einer Minderheit beinharter Aktivisten plötzlich aus jenen unzähligen Mitläufern eine Mehrheit gebildet wurde, die sogar die Frage nach einer demokratischen Legitimation des Grauens nicht zu scheuen brauchte.
BRIGITTE:
Aber es gibt de facto auch Linksdiktaturen!
Vielleicht ist es einfach falsch, sich der herkömmlichen Gattungsbegriffe zu bedienen. Was nützte es schließlich einem Opfer des Stalinismus, dass dieser ein linkes politisches Mäntelchen umhängen hatte? Setzen wir daher die Kategorien anders, stellen autoritäre, den Pluralismus der Meinungen rabiat bekämpfende Ideologien der – wenn auch recht und schlecht funktionierenden und aus den genannten Gründen von innen her schwächelnden – Demokratie gegenüber.
BRIGITTE:
Dann ginge es wohl letztlich darum, dafür zu sorgen, dass diese Demokratie sich nicht eines Tages selbst als tief verfault, in all ihren Parteiungen bis ins Letzte korrumpiert entpuppt – dass nicht mit einem Schlag klar wird, wie all diese braven Bürgerinnen und Bürger bereits irgendwo versteckt das Emblem des Faschismus mit sich führen und nicht im Entferntesten daran denken, etwas zur Verteidigung ihrer bisherigen, angeblich heiligen Werte zu tun.
Und diese Gefahr wird zunehmen, da all diese Leute aus der Ökonomie gewöhnt sind, Symbole zu kaufen: Waren, die über symbolische Werbung verkauft werden, weil sie selbst den werbewirksamen Symbolkörper darstellen. Wenn wir schon bereit sind, für ein banales Produkt ein Vielfaches seines materiellen Wertes zu bezahlen, nur wegen des enormen Symbolcharakters, was sollten wir da nicht einem Politiker nachlaufen, dessen symbolträchtige Phraseologie die Inhaltsleere seiner Aussagen ins Unermessliche überhöht?
Ebensogut könnten wir aber auch privat in die Symbolfalle tappen – wenn du nun etwa eine Androidin wärst, und mit einem Mal würde dein echtes Sein hinter der schönen, nämlich menschlichen, aber falschen Maske zum Vorschein kommen? Wenn mir klar würde, dass du dich nicht aus freien Stücken mir zugeneigt hast, sondern programmiert wurdest, meinetwegen sogar auf einem fortgeschrittenen Niveau androidischen Bewusstseins dich selbst so kalibrieren konntest, dass du perfekt zu mir passt. Wenn du keine Seele im herkömmlichen Sinne hättest, sondern eine von der Art, wie sie der AMG beschrieben und für sich (vermutlich mit gutem Recht) postuliert hat!
BRIGITTE:
Und wenn du ein Monster wärst, das mit seiner äußeren Hülle all die guten und liebenswerten Eigenschaften ablegen würde, derentwegen ich mich ein Leben lang zu dir hingezogen fühlte. Wenn es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen fiele und ich sähe, dass jene kleinen und größeren Unzukömmlichkeiten, die mich stets an dir gestört haben, Teile deines wahren Ich sind; dass die eine oder andere Taktlosigkeit deinerseits kein Betriebsunfall einer an sich funktionierenden Persönlichkeit gewesen sein kann, sondern deiner eigentlichen Natur entsprach. Und wenn wir schon von Seelen sprechen, dass die deine nicht aus Koketterie tiefschwarz ist, sondern weil du mein ureigener böser Dämon bist!
Satan selbst womöglich, zu dem ein überspannter Autor seinen in die Geschichte hineinreflektierten Stellvertreter, genannt Erzähler, hochstilisieren könnte!
BRIGITTE:
Nun sitzen wir gequält in einem lichtlosen Raum, und unsere Nackenhaare sträuben sich ob dieser Vorstellung – oder vielleicht nicht?
Abgesehen davon, dass deine Nackenhaare entzückend sind, wenn sie sich leicht kräuseln (sei es jetzt wegen einer Horrorfiktion, sei es ein andermal aus tiefer Befriedigung mitten in einem gediegenen erotischen Abenteuer), kann ich nichts erkennen.
BRIGITTE:
Und warum bist du dann so weit weg von mir, anstatt mich schleunigst von der einen in die andere Situation zu befördern?
Weil ich an die Macht von Symbolen glaube – im Wissen, dass alles, was wir haben, und desgleichen alles, was wir wollen, nur über Sprache, das heißt Symbolik vorhanden ist. Wie wir es immer tun, mussten wir erst eine Situation aufbereiten, die dann danach ruft, dass wir einander in die Arme sinken, nicht wie Maschinenwesen oder sonstige Monstrositäten, die unter dem Befehlsnotstand ihres Erfinders stehen, sondern in aller Freiheit.
602
Chicago empfand seine spezifischen Koori-Fähigkeiten (die natürlich nicht so weit reichten wie jene der Walemira Talmai, aber dennoch für einen westlichen Verstand verblüffend waren) in der technischen Umgebung von VIÈVE selbst als seltsam unwirklich und damit auch ziemlich wirkungslos, denn ein entscheidendes Moment bei der Ausübung solcher Talente ist es, fest daran zu glauben. Wie anders war es an Bord eines anderen künstlichen Objekts, der NOSTRANIMA, gewesen, aber die hatte er selbst mit telepathischen Strukturen ausgestattet, sodass der Raumkreuzer für Chicago sozusagen Seelenverwandtschaft besaß und dessen Können nicht behinderte, sondern sogar unterstützte. Zwar hatte die Station infolge der Empire-Stil-Attitüden Keyhis große Veränderungen erfahren, aber dabei handelte es sich im Sinne der Koori-Mentalität lediglich um Äußerlichkeiten – Schnörksel quasi, mit denen die unverändert maschinelle Nüchternheit verziert worden war.
Von Anfang an lief die Aktion so ab, als hätte ich das Drehbuch verfasst und mein Großer Regisseur dieses in Szene gesetzt: Ohne nämlich auch nur an irgendeine Art von Gegenwehr denken zu können, hatte sich Sir Basils Expeditionsteam inmitten einer Gruppe bewaffneter Echwejchs materialisiert, die ohne größere Verblüffung die beiden Männer sofort gefangennahm. Clio allerdings schaffte es, sich wegzuducken und, indem sie sich an die Metallwand des Versorgungsganges mit all den Röhren und Drähten drückte, optisch zu verschwinden – dank ihrer hervorragenden und, wie sich nun herausstellte, von Berenice und Idunis wohldurchdachten Tarnung. Demgegenüber erwiesen sich die Bemalungen Cheltenhams und Chicagos als geradezu herausfordernd grell und auffallend.
Darüberhinaus konnte auch Sir Basil sein durch den Magierstrick gegebenes spezifisches Potential nicht nutzen, denn wie von einem gezielten Instinkt geleitet nahmen die Schwanenwesen ihm das kostbare Stück sofort ab. Glücklicherweise wussten sie jedoch nichts über den tatsächlichen Wert dieses Artefakts aus dem Paralleluniversum, sahen es vielleicht als bloßen Schmuck, den sie als Beute betrachteten.
CLIO, IN GEHEIMER MISSION AUF VIÈVE:
Meine beiden Begleiter wurden abgeführt. Ich selbst glühte geradezu vor Zorn: Warum hatten diese Feiglinge nicht gekämpft? Der Nimbus des stets alerten Koori-Kriegers ebenso wie jener des angeblich so schlachterprobten Baronets lösten sich für mich in Luft auf. Sicher – wir sind denkbar ungünstig gelandet, und der Worst Case, den wir angenommen hatten, ist prompt eingetreten. Aber wir waren schließlich drei und die anderen auch bloß fünf, und dazu besaßen die Echwejchs offensichtlich keine High Tech-Waffen, sondern eine Ausrüstung, die eher an die Legionen des alten Rom erinnerten. Jetzt begriff ich übrigens auch, warum Basil diesen Centurio und seine Männer bei sich haben wollte – allein, sie waren offensichtlich nach wie vor nicht auf Lady Pru’s Anwesen erschienen und auch Berenice hatte sie nicht aufspüren können, denn andernfalls wären sie uns wohl nachgesandt worden.
Clio blieb regungslos, bis das Geflügel mit seinen Gefangenen in einiger Entfernung um eine Ecke bog und verschwand. Ihr erster Gedanke war gewesen, nachzuschleichen und zu sehen, wohin Sir Basil und Chicago gebracht wurden, sie beschloss allerdings dann, zunächst lieber ein sicheres Versteck zu suchen, bis sie im Schutz der Dunkelheit (die ja, wie sie annahm, auch auf einer Raumstation den Lebensrhythmus mitbestimmen müsste) erste Nachforschungen anstellen könnte.
CLIO, IN GEHEIMER MISSION AUF VIÈVE:
Ich hatte weiter Glück. Nach nur einigen Schritten bemerkte ich eine kaum sichtbare Linie, die in der Wand das Oval einer Türe zu markieren schien. Als ich dagegen drückte, gab diese nach und eröffnete mir den Zugang zu einer Kammer, deren merkwürdiges Interieur mir sofort ins Auge sprang, weil dieses nicht unbedingt auf eine menschliche Behausung hindeutete: mit all den Seilen und Netzen, die von der Decke herabhingen. Nachdem ich festgestellt hatte, dass man den Raum von innen versperren konnte, fühlte ich mich vorerst vor Entdeckung sicher und legte mich mangels irgendwelcher Möbel auf dem Boden zur Ruhe, unbequem genug, denn der kalte, schuppenartig raue Belag bot meinem nackten Körper keinerlei Annehmlichkeit.
Wir erraten unschwer, dass die Komtesse in Serpentinas früherem Refugium eingekehrt war, in dem die Androidin ihrer Schlangen-Nostalgie gefrönt hatte. Da nickte nun Clio für einen kurzen Schlaf der Erschöpfung ein, ehe sie wieder hochfuhr, weil Unruhe, Kälte und vor allem Hunger sie plagten. Dennoch musste sie sich gedulden, denn erst nach einiger Zeit, während der sie mehrere Male vorsichtig hinausspähte, wurde die Beleuchtung in den öffentlichen Bereichen der Station bis auf ein leichtes Glimmen gedrosselt.
CLIO, IN GEHEIMER MISSION AUF VIÈVE:
Ich schlich langsam – immer bereit, mich mit meiner Camouflage eng an die Wand zu drücken und mich solcherart unsichtbar zu machen – den Gang entlang. Ich begegnete vorerst niemandem, und das stimmte mich fast optimistisch, obwohl es für eine positive Einschätzung meiner Lage an und für sich keinen Grund gab: Ich musste in absehbarer Zeit etwas essen, aber wenn diese Schwanenhalsigen als neue Herren der Station nicht ganz sorglos vorgingen, kontrollierten sie sämtliche Ressourcen, und ich hatte keine Ahnung, wie ich dieses Problem lösen sollte. Neuerlich stieg eine ungeheure Wut auf meine Begleiter in mir hoch – hatten sie doch überhaupt nicht daran gedacht, irgendwelche Vorräte mitzunehmen. Fast schien es, als habe Basil mit seinen Kleidern auch seine angeblich so herausragenden Fähigkeiten als Truppenführer abgelegt, und was Chicago betraf, war seine Koori-Sorglosigkeit hinsichtlich des Überlebens beim Walkabout hierorts ganz offenkundig völlig unangebracht.
Der Komtesse schwindelte, da sie schon für ihre ganz trivialen Schwierigkeiten keinen Ausweg fand. Wie sollte sie es dann unter diesen Umständen überhaupt schaffen, die Gefangenen zu befreien, um mit deren Unterstützung dem ursprünglichen Hilferuf des Königs – dessentwegen sie ja an und für sich hier waren – nachzukommen?
Clio überlegte ihre Optionen, während sie sich vorsichtig umsah. Der Platz, auf dem sie sich eben befand, war der Ausgangspunkt für mehrere sternförmig wegführende Wege, darunter jener, den sie gerade gekommen war. Gab es eine andere Möglichkeit, als jeden der Gänge zu untersuchen und dort jeweils jede Türe zu probieren? Aber das war natürlich ein zeitraubender, riskanter und damit wenig verheißungsvoller Ansatz.
CLIO, IN GEHEIMER MISSION AUF VIÈVE:
Ich kehrte entmutigt in mein Versteck zurück und beschloss zu meditieren, um mich über meine missliche Situation hinwegzuheben. Ich gab dabei der Versuchung nach, in eines der Netze zu klettern, mich mit den Füßen in zwei der Gittermaschen einzuhaken und kopfüber herabzubaumeln – es schien mir, als würde ich damit dem Genius loci Tribut zollen, der von mir vehement ein solches Verhalten einforderte. Meine Empfindungen dabei waren wesentlich wohltuender als erwartet, aber dennoch fiel es mir nicht leicht, meinen Geist zu leeren und frei zu spielen für eine Reise in das Unsagbare, fernab von hier, aber auch weit weg von dort, wo ich herkam. Meine Gedanken ließen sich nicht zähmen und schweiften immer wieder zu konkreten Personen und deren Charakteren.
Sie dachte an Dirk, den Verschmähten und längst ad acta Gelegten, der nun plötzlich in geradezu unsinniger Verklärung vor ihr stand und die Lösung in Händen zu halten schien, die Clio selbst vergeblich suchte. Fast bedauerte sie es, seine sämtlichen Annäherungsversuche strikt verweigert zu haben (anders als er von ihr hatte sie ja von ihm nicht einmal den leisesten Traum, der ihr jetzt das Festhalten wenigstens an einem Phantom ermöglichen würde).
Sie dachte auch an Romuald, der unverschämt eine Menage à trois gemeinsam mit ihrer Mutter, Gräfin Geneviève, angeregt hatte, und daran, wie ihr dieser rohe Mensch in jener Szene, nicht wahrnehmbar für die anderen, obszöne Worte zuflüsterte, die sie nicht einmal vom Tyrannen der Spiegelwelt je zu hören bekommen hatte. Sir Basil jedoch erkannte auch so, was da ablief, und ehe sie ihre Entscheidung treffen konnte (denn ganz tief drinnen war sie trotz aller äußerlich zur Schau getragenen Arroganz unschlüssig, ob sie diesem wollüstigen Drängen nicht vielleicht doch nachgeben sollte), setzte der Baronet einen klaren Schritt, indem er Romi kurzerhand aus dem Verkehr zog.
CLIO, IN GEHEIMER MISSION AUF VIÈVE:
Und, was soll’s, ich dachte wieder einmal, wie in letzter Zeit öfter, an Iadapqap Jirujap Dlodylysuap, meinen jenseitigen Geliebten – allerdings nicht an die durch ihn erlittenen Demütigungen (die sich übrigens rasch abwechselten mit Phasen der Courtoisie, von der man jedoch leider annehmen musste, dass sie im höchsten Maß zynisch war), sondern daran, was wohl er hier und jetzt unternehmen würde. Mein idealisierter Augustus Maximus, war ich überzeugt, hätte ohne zu Zögern gewusst, was zu tun sei. Rätselhaft schien mir plötzlich der Triumph Cheltenhams über sein Pendant vom Paralleluniversum, und mein damaliger Wunsch, vor dem Diktator zu meiner Maman zu fliehen, verlor irgendwie seine Folgerichtigkeit. Monseigneur! flüsterte ich, und mir war, als ob die Erinnerung an ihn mich nährte und wärmte.
Aber in diesem Moment war es die couragierte Gräfin selbst, die neben sie trat, und sie erkannte, dass die angenehmen Gefühle ausschließlich von jener ausgingen, während sich das Trugbild Dlodylysuaps zu Unrecht zwischen sie beide geschoben hatte. Vergessen schien jede Dissonanz, die aus dem wirklichen oder auch nur eingebildeten Konkurrenzverhältnis zweier Frauen, namentlich einer älteren und einer jüngeren, entstanden war. Mit einem Mal gab es da nur noch mütterliche und töchterliche Gefühle, ganz wie bei der flüchtigen Begegnung, die vor langer Zeit von der Walemira Talmai durch den Kraftakt einer Synchronisation der beiden Universen (als diese noch nicht dauerhaft aneinander angedockt hatten) ermöglicht worden war, und dann wie unmittelbar nach der Rückkehr der himmlisch schönen Prinzessin aus der Spiegelwelt (als sie wunschlos glücklich in Genevièves Arme sank).
GRÄFIN GENEVIÈVE VON B.:
Im Gegensatz zu den anderen, derer du eben gedacht hast, mein Kind, bin ich allerdings keine reine Fiktion, denn über jene merkwürdige – sagen wir einmal seelische – Verbindung zu Mango Berenga auf der Station bin ich auf eine konkretere Weise gegenwärtig, allerdings beeinträchtigt durch die Tatsache, dass meine Schwester im Geiste gerade in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt ist, was auch mich daran hindern dürfte, dir direkt beizuspringen, es sei denn durch die Vermittlung dieses gewissen Wohlbefindens, das dich soeben erfüllt hat, ma petite.
Und das ist schon viel, Maman! dachte Clio liebevoll, und ihre karge Bleibe, die sie insgeheim ihre ??????? nannte, wies mit einem Mal nicht mehr diese tiefe Einsamkeit auf, die diesen archaischen Namen evoziert hatte. Sie fasste den Mut, der Gräfin mitzuteilen, dass ihre gemeinsam mit Cheltenham und Chicago vorgetragene Kommandoaktion kläglich gescheitert war; dass sie selbst sich zwar noch in Freiheit befand, allerdings ohne jede Chance, das Ruder wieder herumreißen zu können; dass sie über die Besatzer der Station, jene seltsamen schwanenartigen Wesen, zwar praktisch nichts wusste, aber allein bei deren Anblick von ziemlich widersprüchlichen Reflexen erfasst worden war: einerseits von vordergründiger Furcht, andererseits jedoch von einer fast unbezähmbaren erotischen Attraktion, was sie aber erst jetzt so richtig wahrhaben wollte, als sie’s der Mutter eingestand.
CLIO, IN GEHEIMER MISSION AUF VIÈVE:
Fast wäre ich den Fremden nachgeeilt und hätte mich aus bloßer Neugier in ihre Hände begeben!
GRÄFIN GENEVIÈVE VON B.:
Tu bloß nichts Unüberlegtes, denn wer weiß, welche der beiden Facetten ihrer Persönlichkeit sozusagen die echte und welche die Tarnung darstellt!
CLIO, IN GEHEIMER MISSION AUF VIÈVE:
Aber ihre sexuelle Ausstrahlung ist so heftig, Maman, dass man kaum widerstehen kann – zumal man nicht glauben möchte, dass irgendeine und sei es die fremdartigste Rasse des Universums diese Potenz lediglich vorzuspiegeln ver¬mag. Ich habe sie ja beobachtet, während ich reglos stand, wie sie den Gang entlang stolzierten, auf eindeutig laszive Art, unter unmissverständlichen Berührungen, die selbst die beiden Gefangenen miteinschlossen. Fast dachte ich, die beiden Gefährten wären sogar ohne Fesseln ihren Bewachern gefolgt, nur um deren elektrisierende Nähe nicht entbehren zu müssen.
GENEVIÈVE GRÄFIN VON B.:
Aber woher willst du das so genau wissen, mein Kind? Vielleicht ist einfach in dieser Stress-Situation deine Phantasie mit dir durchgegangen!
Die Komtesse protestierte energisch: „Diese sogenannten Echwejchs”, schilderte sie plastisch und laut, als ob die Angesprochene tatsächlich anwesend gewesen wäre, „männliche wie weibliche Exemplare, tragen ihre – pardon, Maman! – Geilheit offen vor sich her, da ja ihre Geschlechtsmerkmale blank liegen, bei einigen ausgespart aus dem restlichen Federkleid, bei den völlig Federlosen aus ihrer Rüstung. Und das besonders Merkwürdige ist”, vergaß Clio nicht hinzuzufügen, „dass man sich uneingeschränkt zu beiden Geschlechtern hingezogen fühlt.” Wenn sie ihre Emotionen richtig einschätzte, schien ihr der Sog zum femininen Typ womöglich um eine Spur stärker.
GENEVIÈVE GRÄFIN VON B.:
Immer langsam mit den Aliens! Keinesfalls stellen sie sich als das heraus, was sie scheinen, denn wir ordnen schließlich alles Unbekannte den in uns gespeicherten Archetypen zu, und da kann es zu mehr oder weniger umfangreichen Fehleinschätzungen kommen, von der kleinen Ungenauigkeit in der Eigenschaften-Deckung bis hin zum totalen Versagen unserer Urteilskraft.
Die Gräfin hatte zu ihrer Tochter nie im Detail über den alten Grafen von B. gesprochen – aus purem Taktgefühl, denn es schien klar, dass Clio nicht begeistert gewesen wäre, jenen als falschen Vater Genevièves bezeichnet zu sehen, da er doch ihr eigener richtiger Vater war. Jetzt aber schien es an der Zeit, das Thema aufzugreifen, und obwohl die Komtesse erfuhr, dass dieser Mann sie ihrer Mutter entzogen, in die Spiegelwelt verfrachtet, dort irgendwelchen Verwandten anvertraut und damit am Ende als himmlisch schöne Prinzessin dem Tyrannen anheimgegeben hatte, mochte sie dennoch von ihrem besonderen, wenngleich ziemlich nebulosen, aber im Grunde positiven Andenken an ihn nicht lassen.
GENEVIÈVE GRÄFIN VON B.:
Immerhin kann er nun als Demonstration dessen dienen, was ich vorhin meinte: dass ich nämlich eher diesen spektakulären Inzest für möglich hielt, als auf die Idee zu kommen, dass er ein aus der anderen Realität stammender Doppelgänger des richtigen Grafen war!
Sie versuchte, die Tochter mit all diesen Geschichten hinzuhalten und zu verhindern, dass diese womöglich doch noch freiwillig in den Gewahrsam der Invasoren lief (sinn- und zweckloserweise, und ohne selbst etwas davon zu profitieren, denn das Zärtlichkeitsgeklingel der Schwanenwesen hätte sich wohl auch bei ihr schon bald als reines Machtinstrument entpuppt, mit dem man sie zuverlässig domestizieren konnte). Was Geneviève der Komtesse allerdings auf ewig vorzuenthalten gedachte, war die Tatsache, dass ausgerechnet Sir Basil – damals noch Stabschef des dahinsiechenden Ordens der Orangenblüte – den Befehl erteilt hatte, Clios Vater zu liquidieren: Diese Information nämlich würde voraussichtlich unabsehbare Folgen zeitigen, vor allem in der gegebenen heiklen Situation auf der Station.
GENEVIÈVE GRÄFIN VON B.:
Jetzt aber zum Wesentlichen, ma plus ardemment aimée petite! Hilfe ist unterwegs! Es gibt noch eine zweite irdische Expedition, die VIÈVE ansteuert, denn Anastacia Panagou wird – wenn schon nicht gezielt, so doch auf der Suche nach ihrem Androiden AMG – hoffentlich bald die Station erreichen. Anpan (die dir wohlbekannte AP 2000 ®) wird, denke ich, imstande sein, zu erkennen, was dort bei euch läuft, und zusammen mit den anderen sieben Maschinenmenschen, die sie begleiten, sollte sie wohl das Zeug besitzen, euch zu helfen!
Clio war vollends erleichtert – sie fragte nicht einmal, wann es wohl so weit sein würde. Obwohl die Mutter ihr dringend empfahl, ab sofort zu bleiben, wo sie war, und obwohl sie, als sie jetzt noch einmal in Ruhe den ganzen Raum absuchte, sogar Lebensmittelvorräte entdeckte (Notrationen offenbar, wie sie in jedem Bereich der Station systematisch gelagert waren), die es nicht mehr notwendig machten, ihr Versteck zu verlassen, unternahm sie dennoch den einen oder anderen Ausflug.
CLIO, IN GEHEIMER MISSION AUF VIÈVE:
Mutig geworden angesichts der erwarteten Rettung und im Vertrauen auf die Qualität meiner Tarnung (nicht zuletzt aber auch mit der verstohlenen Hoffnung, Echwejchs zu sehen) zog ich dann und wann eine Runde durch die nähergelegenen Bereiche der Station: Wenn es mir wider alle Wahrscheinlichkeit gelänge, meine Begleiter zu finden oder sogar zu befreien, dachte ich, wäre mir die Bewunderung aller gewiss, und zwar einmal aus einem ganz anderen Grund als wegen meiner ausgeprägten Schönheit.
Sie fand nichts. Cheltenham und Chicago blieben trotz aller Bemühungen verschwunden.
603
Eines Tages war Dirk wieder ganz allein auf seinem Anwesen. Seine ungebetenen Echwejch-Gäste waren wie vom Erdboden verschluckt. Was sie zurückließen, war ein komplett renoviertes Herrenhaus, instandgesetzte Nebengebäude, gepflegte Wiesen und Felder – ja, es gab unter den Schwanenwesen schon sehr geschickte Leute, die ihren Aufenthalt auf E. zu nutzen gewusst hatten. Was Dirk noch vorfand, war ein Säckchen voller Edelsteine bester Qualität (ein Vermögen, wie er überschlagsmäßig taxierte) und ein Begleitschreiben dazu, in dem es hieß: Wir erobern Welten und Reiche, Privatpersonen entschädigen wir für ihr Ungemach.
Für den Freiherrn eröffnete sich somit eine ganz neue Episode seines Lebens, wie er mir bei unserem ersten Kontakt „post profectionem Echwejchium” in geschraubt-aristokratischer Formulierung mitteilte. Er lud mich umgehend zu einem persönlichen Besuch ein, und ich war naturgemäß hochgradig interessiert.
DIRK VON E.:
Wenn auch, mein lieber Herr Dobrowolny, das Gros der Besatzer durchaus nicht das gehalten hat, was ich mir aufgrund meiner allerersten Begegnung mit ihnen, da unten am Weiher (zeig’ ich Ihnen übrigens gerne, ist ein ganz reizendes Fleckchen!) versprach – als ich nämlich von der Vorausabteilung des Geflügels mit Zärtlichkeiten und anderen sexuellen Leckerbissen überhäuft wurde… Also kurz gesagt, wenn es auch anders gekommen ist, erscheinen mir die vergangenen Monate nun in einem rosigen Licht. Mit einem Mal bin ich viel zu reich, um mir künftig etwas dreinreden zu lassen. Frisches Personal ist aufgenommen, der Besitz nach außen quasi neu geöffnet, die Landbevölkerung ringsum verliert langsam ihr Misstrauen, und die Standesgenossen der näheren und weiteren Umgebung beginnen wieder, mit mir Umgang zu pflegen.
Wir gingen währenddessen die Gänge des Schlosses entlang. In der Tat war überall alles neu – „Wie aus dem Ei gepellt!” bemerkte der Freiherr. Selbst der Ostflügel, wo zu der Zeit, als ihm das Trugbild seiner widerspenstigen Braut, der Komtesse von B., hoch zu Ross erschienen war, noch der Himmel durch das desolate Dach hereingesehen hatte, präsentierte sich außerordentlich geschmackvoll restauriert. Jetzt würde sich Clio vielleicht nicht mehr so abweisend zeigen, dachte ich bei mir, verwarf aber diesen unsinnigen Gedanken gleich wieder: Eine so edle Stute lässt sich, wenn überhaupt, immer nur durch den Hengst und niemals durch den Zustand seines Stalls becircen!
Haben Sie eigentlich die Komtesse je wiedergesehen, Boysie? Ich versuchte das intime Wort seiner Mutter, einfach aufs Geratewohl, um festzustellen, wie vertraulich er den Umgang mit mir empfand.
DIRK VON E.:
(ohne auf den Kosenamen besonders einzugehen) Hab’ die Kleine fast vergessen, mein Freund, ich meine: vergessen als Person, die sich in meiner physischen Reichweite befindet…
… als Person, mit der Sie schlafen könnten?
DIRK VON E.:
Ja, Max, das trifft’s genau – abgelegt unter den Erinnerungsstücken, die man zwar aufbewahrt, aber nicht mehr täglich mit sich herumschleppt! Seit der Zeit, da ich sie intensiv begehrte (zu Unrecht vielleicht, wenn ich mein damaliges Angebot mit ihren Ansprüchen vergleiche), hat sich mein sexueller Horizont beträchtlich erweitert. Ich habe begriffen, dass es sinnlos ist, in rebus Veneris eindimensional zu agieren: Man kann Zärtlichkeiten austauschen, ohne zu lieben, und, was mehr bedeutet, man kann miteinander schlafen, ohne Zuneigung zu empfinden, und man kann den Fährnissen einer simplen Ja-Nein-Beziehung entfliehen, indem man einfach im rechten Winkel abbiegt, zu einem anderen Objekt seiner Triebe, losgelöst vom Abgewiesen- oder Erhörtwerden durch einen ganz bestimmten Menschen.
Wir waren inzwischen auf die Terrasse getreten, die in das fliederfarbene Licht eines Sonnenuntergangs getaucht war. Lesefrüchte drängten sich auf, die Erinnerung an Bücher, in denen man manche gepresste Rose finden mag, wenn auch niemals jene blaue Blume, die hinter dem Horizont blüht – und, falls man sich zu nähern versucht, hinter immer neuen und weiteren Horizonten. Dirk hatte längst aufgehört zu sprechen. Ich umarmte ihn, und er erwiderte meine Annäherung deutlich: Wir standen eng umschlungen da, wie es Eichendorff und Friedrich von Schlegel getan haben könnten.
DIRK VON E.:
Das, mein innigst geliebter Max, habe ich – bei allen Einwänden gegen sie – den Echwejchs zu verdanken!
Dann ertönte die Glocke zum Abendbrot, und der Bann war gebrochen. Den Spaziergang zum Weiher hoben wir uns für ein andermal auf.
BRIGITTE:
Diese Idyllen, zu denen ihr Männer fähig seid! Man möchte es nicht für möglich halten, dass derlei Gedöns in der Regel extremen Sublimationsvorgängen entspringt, in denen sich der klobige und ziemlich brutale steinzeitliche Naturbursche als Schöngeist zu stilisieren versucht!
ERZÄHLER:
Was Dirk und Max nicht ahnen konnten, wissen wir natürlich: Die Invasion von VIÈVE verlief für die Echwejchs nicht nach Plan, und man hatte daher das sogenannte Erkundungskommando Erde zurückbeordern und in die Nähe der Station verlegen müssen, Lichtjahre entfernt und ein gutes Säkulum in der Zukunft.
BRIGITTE:
Wobei ich gemäß Einstein meine Zweifel habe, ob man in einem von Relativität geprägten Raum-Zeit-Kontinuum wie dem unseren Weg- und Terminangaben in einem Atemzug nennen darf, so als würde man sie absolut nebeneinander stellen können. Vielleicht ist aber – dieser Gedanke sei gestattet, wenn auch für den Fortgang unserer Geschichte müßig – VIÈVE gar nicht so weit weg, wie wir denken, dafür aber in jener anderen Zeit: Denn dass dort eine Epoche herrscht, die für uns Zukunft ist, wissen wir ja mittlerweile sicher.
ERZÄHLER:
Wie auch immer, die Echwejchs versammelten sich jedenfalls dort und/oder dann!
[ 2 Zeilen Durchschuss ]
Es erreichte mich ein Telefonat, das meinen Besuch bei Dirk von E. – leider! – abrupt abbrach.
TRUDY McGUIRE, NATIONAL SECURITY ADVISOR:
(am ganz normalen Telefon, ohne jegliche Sicherheitsvorkehrungen) Mr. Do¬browolny oder wie immer Sie wirklich heißen, Sir, ich meine Max – ich darf doch Max sagen?
Es war mir selbstverständlich eine Ehre – ich sah sie vor mir: lichtblau (ihr Markenzeichen), vielleicht ein wenig zu hell für den Job, und auch zu kurz; ziemlich blond (nicht unbedingt mein Fall, aber nicht wegen irgendwelcher Vorurteile)…
Nun, wer wollte Trudy eine Bitte abschlagen? Was sie nämlich wollte, war, mich schleunigst zu sehen, und so saß ich schon bald in einem Flieger nach Washington, den man mir bereitgestellt hatte. Und als ich ausstieg, war meine Müdigkeit wie weggeblasen: Eine weiße Limousine mit weißen Reifen – irreal, fast durchsichtig im Flutlicht des Airports – wartete neben der persönlichen Parkposition des Präsidenten, davor eine kleine Gestalt, deren kurzes lichtblaues Fähnchen deutlich erkennbar im Sog der Triebwerke flatterte.
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, als ich (etwas linkisch, zugegebenermaßen, mit meinem unvermeidlichen Zettelkasten unter dem Arm und einem Köfferchen in der anderen Hand) herankam. Ich wurde auf die linke, dann auf die rechte und nochmals auf die linke Wange geküsst.
TRUDY McGUIRE, NATIONAL SECURITY ADVISOR:
(ganz privat sozusagen, abgesehen von allen Insignien der Macht, bis hin zum wohlsortierten Kühlschrank im Wageninneren, der kurz darauf das Eis für einen Begrüßungsdrink spenden sollte) Danke, dass Sie es so rasch einrichten konnten, Max! Herzlich willkommen, auch in Rays, ich meine Mr. President’s Namen!
Trudys Kleid erlaubte mir, der vis-à-vis saß, tiefe Einblicke, und sie schien nichts davon zurücknehmen zu wollen. Krampfhaft versuchte ich mir – nach allem, was ich von ihr wusste – klarzumachen, dass dies einfach ihre Masche war, mit Männern umzugehen, und keineswegs etwas mit mir zu tun hatte, sondern ausschließlich mit dem Ziel, das sie zu erreichen suchte.
TRUDY McGUIRE, NATIONAL SECURITY ADVISOR:
Wie war’s in China, Max? Wie geht es meiner alten Freundin Zheng?
Sie wusste natürlich ohnehin im Großen und Ganzen, über die Staatsratsvorsitzende Bescheid – worauf also wollte sie hinaus?
TRUDY McGUIRE, NATIONAL SECURITY ADVISOR:
Erinnere mich noch gut an unsere gemeinsame Shopping-Tour durch Shanghai, aber das geht ja jetzt nicht mehr! Die hätten in dem Vertrag dafür sorgen sollen, dass die beiden Reiche zueinander nicht ganz so hermetisch abgeriegelt werden!
Aber es war niemand geringerer als Ihr Boss Kravcuk und die flotte Miss Dan, die den Kontakt zwischen Grand America und Groß-China mit deutlich amourösem Hintergrund monopolisiert haben, abgesehen von der rein geschäftlichen Beziehung zwischen Charlene Thomson-Cheltenham und Seiji Sakamoto.
Trudy lächelte in sich hinein, weil sie natürlich wusste, dass ich wusste, dass diese Partnerschaft alles andere war als ausschließlich kommerziell, wenn sie auch durch die Behörden beider Länder eingefädelt worden war. Und sie wusste natürlich, dass ich wusste, dass sie wusste…
TRUDY McGUIRE, NATIONAL SECURITY ADVISOR:
Haben die da drüben irgendwelche Pro-bleme, welche sie uns gegenüber in Nachteil bringen?
Nichts, was Ihnen nicht ohnehin bereits bestens bekannt ist, Trudy: Die Bewegungen um Al-Qafr und Pramesh sind sehr aktiv, nach wie vor ohne dass dies in Beijing besonders ernst genommen würde. Daraus könnte natürlich unversehens eine gefährliche Situation entstehen. Aber so sind sie eben – glauben, im Auge eines politischen Hurrikans zu leben, der alles, was sich ihm in den Weg stellt, hinwegfegt. Allerdings, was soll’s, mehr als eine Milliarde Chinesen sind nicht wegzuleugnen, noch dazu weil man davon ausgehen kann, sie würden sich im Ernstfall, wenn es um die Abwehr ethnisch-ideologischer Feinde geht, einmütig um die Regierung scharen.
Unser Geplänkel zog sich dahin – keine dieser Fragen oder Antworten waren in irgendeiner Weise notwendig, da unsere Einschätzungen ohnehin ziemlich deckungsgleich waren: Sie beruhten schließlich auf jenen Informationen, die außerhalb Chinas erhältlich waren (die hatte Trudy), und auf jenen von innen (die brachte ich mit), beide kräftig gewürzt durch Elemente der chinesischen Desinformationspolitik, die uns, wo immer wir darauf stießen, glauben machen sollten, sie wären die eigentliche Wahrheit.
TRUDY McGUIRE, NATIONAL SECURITY ADVISOR:
Wir selbst hätten demnach einigen Spielraum, jetzt da wir die Echwejchs abhaken können! – Übrigens, sind wir die jetzt endgültig los?
Dazu konnte ich jedenfalls einen einigermaßen der Tatsachen entsprechenden Bericht geben: Vom Anwesen des Freiherrn von E., wo sie ihren Hauptstützpunkt unterhalten haben dürften, haben sie sich vollständig zurückgezogen, dafür spricht auch die von ihnen hinterlassene Nachricht (ich zitierte aus dem Stegreif). Auch die Kommunikationslinien, die von dort ausgingen, scheinen demontiert worden zu sein, da Dirk von E. über diese Kanäle seither nichts abliefern musste, aber auch nichts mehr empfangen hat. Das plumpe Raumschiff schließlich ist fort – aber das haben Ihre Himmelsspione ja sicher längst registriert.
TRUDY McGUIRE, NATIONAL SECURITY ADVISOR:
Und wohin, glauben Sie…?
Unsere Ankunft vor dem Grand Wyatt in der H Street, Washington D.C., in dem Trudy für mich gebucht hatte, enthob mich jeder weiteren Antwort. Ich checkte ein, die Sicherheitsberaterin immer an meiner Seite, dazu zwei hartnäckige Typen vom Hotelpersonal, die mir nicht nur mein normales Gepäck, sondern auch meinen Zettelkasten abnehmen wollten, aber vergeblich, denn ich ließ ihn nicht los (eine ständig wiederkehrende Zeremonie in allen Hotels der Welt, in denen ich absteige). Dann ins Zimmer, was sage ich: in die Suite!
TRUDY McGUIRE, NATIONAL SECURITY ADVISOR:
Ich kann gerne warten, während Sie sich frisch machen, Max. Das Via Pacifica Restaurant wird für uns offen halten, dafür habe ich gesorgt.
Wir einigten uns darauf, dass sie dort wartete und ich dann so rasch wie möglich nachkam – aber sie schmollte natürlich. Ich wusste nicht genau, was sie im Schilde führte, ging aber davon aus, dass sie keine handfesten Absichten hatte (schließlich konnte sie füglich nicht mit jedem x-beliebigen Gesprächspartner ins Bett gehen, und dass ich nach einem geheimnisvollen Auswahlverfahren ihr heutiger Mr. Right sein sollte, glaubte ich auch nicht). Vielleicht war’s auch ja nur die Goethe-Box, die sie – wie so viele vor ihr – perlustrieren wollte, während ich unter die Dusche stieg.
TRUDY McGUIRE, NATIONAL SECURITY ADVISOR:
Hab übrigens Zheng heute angefunkt. Telefonisch verstehen wir einander noch immer gut, und manchmal sehe ich sie ganz kurz, wenn sie den Präsidenten trifft.
Mir blieb der Mund offen: Da hast du’s ja! dachte ich.
TRUDY McGUIRE, NATIONAL SECURITY ADVISOR:
Sie flüsterte mir, dass du im Bett ganz schön schnuckelig sein kannst, Max! Oder soll ich sagen – Ma-Shi?
Das war authentisch genug! Woher hätte sie wissen können, wie die Große Vorsitzende mich in intimer Stunde genannt hatte, wenn sie nicht tatsächlich deren Vertrauen besaß. Kenn’ sich einer aus mit den Weibern – immer stecken sie unter einer Decke!
Ach was! sagte ich laut. Bedienen Sie sich, Trudy. Blättern Sie, so viel Sie wollen, in meinem Kästchen, aber bringen Sie mir nichts durcheinander! Und wenn Sie der Ansicht sind, jemand von Ihrem Sicherheitsdienst sollte die Blätter scannen, dann beeilen Sie sich, denn ich bin irrsinnig hungrig!
[ 2 Zeilen Durchschuss ]
Es ging weiter, als ich eine Viertelstunde später zwischen Garderobeschrank und Bad hin- und herging. Trudy war wirklich sitzen geblieben und sah interessiert zu, wie aus einem nassen Mann mit Handtuch langsam ein Gentleman wurde, aber mir war das mittlerweile auch schon gleichgültig, abgesehen davon, dass ich mich meiner Figur nicht zu schämen brauche. Mein ungebetener Gast war damit beschäftigt, die Blätter aus meinem Kasten, die sie sich angesehen hatte, wieder dorthin (und zwar offensichtlich ganz ungeordnet) zurückzustopfen. Später bemerkte ich überdies, dass manche unnötigen Falten und Risse entstanden waren.
TRUDY McGUIRE, NATIONAL SECURITY ADVISOR:
Die Idee dahinter glaube ich zu verstehen, Max, obwohl ich nicht genau weiß, wer dieser Goethe war. Viele ältere Texte sind außerdem wegen der Sprache oder der Schrift völlig unleserlich für mich.
Ich hatte keine Lust, weitschweifige Erklärungen zum Thema abzugeben (ganz anders als seinerzeit vor dem gelehrten Publikum an der Universität von Beijing). Daher warf ich bloß hin, ich würde zwischen diesen wissenschaftlichen Papieren chiffriertes Material schmuggeln. Die Rolle als nicht ganz ernstzunehmender Vertreter einer Orchideendisziplin erlaube es mir, mühelos alle Grenzen zu passieren: Sie wissen ja, Trudy, bei allen Indianern dieser Welt stehen Verrückte in hohem Ansehen!
TRUDY McGUIRE, NATIONAL SECURITY ADVISOR:
Und in wessen Auftrag?
Mal diese, mal jene, meine Teuerste, mal mehr und mal weniger – aber mein Hauptkunde ist zweifellos die amerikanische DIA!
Sie blickte mich ungläubig an, kommentierte das aber nicht. Also dann, ermunterete ich sie, auf ins Via Pacifica. Da es nach 22 Uhr war und das Lokal an und für sich schon Feierabend hatte, konnte man sich nicht wie sonst zwischen italienischer und chinesischer Küche entscheiden, sondern musste mit letzerer vorlieb nehmen – wie sinnig, angesichts unseres Gegenstands! Aber halt – was war denn nun letztlich der Inhalt unseres Gesprächs? Trudy vermied es nämlich plötzlich, sich über Dan Mai Zheng oder das Reich der Mitte zu unterhalten, sondern wollte angeblich bloß noch ergründen, was denn an dem angeblichen Libyen-Besuch dieses Goethe so interessant sei.
Ich verzehrte schweigend und in aller Gemütsruhe meine Frühlingsrolle. Ich hatte großen Appetit, das Essen war vorzüglich, also wozu sich die Mühe nehmen, dieser Amerikanerin zu erklären, wie titanisch der deutsche Dichterfürst in der Literaturlandschaft hochragte, einem Shakespeare gleich (aber auch dessen Bedeutung vermochte sie ja wahrscheinlich nicht zu ermessen) oder einem Puschkin („Und wer war nun das schon wieder?” hörte ich sie direkt fragen). Aber auch meinen eigenen Forschungskomplex (welch andere Färbung das Leben und Wirken Goethes für uns Nachgeborenen hätte, wäre seine Reise auf Italien, ein Land wie ein hellsichtiger Essay über Humanismus und Renaissance, beschränkt gewesen und hätte sich nicht auch auf das schwüle arabisch-maurische Nordafrika erstreckt) zu erörtern, erübrigte sich hier.
Ich schenkte mir das also und ließ es mir weiter schmecken. Mit einem Mal schaute der Präsident persönlich ins Pacifica rein, in dem nur Trudy und ich anwesend waren sowie das unumgänglich notwendige Personal. Die Body Guards blieben vor der Tür – sie waren wohl darüber informiert, dass ich aufgrund meiner Kontakte zur vielgestaltigen US-Geheimdienstszene bereits zehnfach gescannt war.
RAY KRAVCUK:
Brechen Sie das Brot mit mir, mein Freund?
Er ergriff mit bloßen Fingern (ugh!) ein Stück von meiner Peking-Ente, riss es auseinander und aß seinen Teil. Befriedigt sah er mir zu, wie ich das gleiche mit meinem tat: Offenbar hatte er die aberwitzige Idee, jemand, der mit ihm gegessen hatte, wäre nicht imstande, ihn zu verraten oder ihm sonst irgendeinen Schaden zuzufügen…
Der Große Tiger von Washington – man stellte ihn sich aus der Ferne irgendwie anders vor. Wenn ich mir nur vergegenwärtigte, wie massiv ich – weit von hier, in Shanghai – in seinem Revier gewildert hatte!
RAY KRAVCUK:
Ihr kommt ja auch ohne mich klar, Kids! Also dann –
Weg war er. Ich verschwendete vorerst keinen Gedanken daran, was wohl der Zweck seiner Visite gewesen sein mochte. Vielmehr wünschte ich mir Dirk herbei, für eine gepflegte Unterhaltung über die frühe Romantik und vielleicht für mehr.
[ 2 Zeilen Durchschuss ]
Trudy kam schließlich beim Kaffee mit ihrem eigentlichen Anliegen rüber. Sie wollte quasi ein Gerücht widerlegen, das in der anderen Supermacht kursierte.
TRUDY McGUIRE, NATIONAL SECURITY ADVISOR:
Also – diese sogenannten McGuire Files, derentwegen ich dastehe wie ein Monster, thematisieren zugegebenermaßen den Einsatz von ganz neuartigen Kampfstoffen, bei denen die gesamte Infrastruktur des angegriffenen Landes aufrecht bleibt, inklusive seiner Naturschönheiten, so vorhanden – nur die Bewohner sind eliminiert! Es bleiben keine Rückstände, und das Territorium kann sofort wieder besiedelt werden, wenn das gewünscht wird. Das ist aber ein Projekt, nicht mehr und nicht weniger, um eine Methode zu entwickeln, mit der sich die ungeheure Vermehrung unserer gelben Freunde da drüben radikal stoppen lässt!
Keine Rückstände? fragte ich – nicht die geringsten?
Sie nickte, und ich stand abrupt vom Tisch auf. Morgen würde ich sie vielleicht wieder ertragen können, wenn es dann noch etwas zu besprechen gab. An der Tür wandte ich mich nochmals um: Und Zheng? Würden sie die auch auf diese Art entsorgen?
TRUDY McGUIRE, NATIONAL SECURITY ADVISOR:
Ich dachte mir, Sie seien der geeignete Mann, um ihr zu eröffnen, was wir da haben, und dass sie beruhigt sein kann, denn niemand denkt im Moment an eine Anwendung, aber wenn es so weit wäre, würden wir ihr hinsichtlich ihrer Person einen Deal anbieten.
Lassen Sie Ihre Nachricht respektive Ihr Offert durch den Etagenkellner in meinen Zettelkasten stecken! sagte ich nüchtern und zog mich zurück. Ich war auf einmal äußerst erschöpft, lag aber noch lange wach am Rücken und starrte in die Dunkelheit. Das rätselhafte Erscheinen Ray Kravcuks beschäftigte mich jetzt umso intensiver: Ob er wohl den Versuch unternommen hatte, Trudy in letzter Minute zurückzupfeifen und diese alarmierend konkrete Botschaft an Zheng zu unterbinden? Was ihn dann vermutlich wieder von diesem Vorhaben abgehalten hatte, war wohl die unleugbare Tatsache, dass sein Imperium diese hässliche Bombe bereits definitiv besaß.
Wer führte das Kommando in diesem Land? Ray Kravcuk, widerwillig gegenüber solchen Entwicklungen, die ihm als unbedingte Notwendigkeit dargestellt wurden? Trudy ad personam wohl kaum – da musste es möglicherweise irgendwelche Hintermänner geben, an die sie sich unter Umständen verkauft hatte!
Meine Gedanken glitten übergangslos zu meinem eigenen Leben ab – o Gott! Aber nur kein Missverständnis: Ich betete nicht, um mich in den Schlaf zu schaukeln, sondern ergriff meinen Schwanz, dessen unleugbare Präsenz in meiner Hand mir süße Träume bescherte…
604
Wo waren nun Centurio Quintus Rubellius Taurus und seine Mannschaft wirklich? Planmäßig und ohne Aufsehen hatten sie den Itius Portus am Fretum Gallicum (sprich Ärmelkanal) erreicht, und auf ihrer Zeitebene war auch ein Schiff aufzutreiben gewesen, das sie nach Britannien hinüberbrachte. Aber, beim Jupiter, warum waren sie von Dover (dem römischen Dubris) nach Cheltenham marschiert, anstatt auf Lady Pru’s Anwesen zu kommen, wie es ihnen Sir Basil durch Oberleutnant Kloyber befohlen hatte? Offensichtlich waren sie in der Vergangenheit geblieben, da es sie in die alte Garnison Loca Deserta ganz in der Nähe von Cheltenham House gezogen hatte – ein guter Ort, um pflicht- und disziplinvergessen zu versumpfen!
„Centurio!” hatte der Beneficiarius Mannius Cattianus gemeldet: „Unweit der kleinen Garnison, die damals in der Provinz Britannia besonders beliebt war, gab es in einem Ort namens Clivosum ein Lokal, in dem die Revelatio saltica gezeigt wurde, der Enthüllungstanz.” Man sah es ihm an – er rechnete damit, dieses Schauspiel aus der Gunst der Situation noch einmal erleben zu dürfen.
CENTURIO QUINTUS RUBELLIUS TAURUS:
(brüllend) Nequissimus! Hircus! Impudicus!
Er zog dem Gefreiten den Rebstock über das Gesicht, sodass dieser trotz seiner Wangenklappen zwei rot leuchtende Striemen bekam. Wenn Taurus allerdings geglaubt hatte, die Truppe dadurch wieder fest in den Griff zu bekommen, täuschte er sich gewaltig: Als die Soldaten ihren Unteroffizier, dem sie blind vertrauten und dem sie all ihre kleinen Sorgen mitteilten, gedemütigt sahen, begehrten sie heftig gegen den Centurio auf. Es kam, wie es kommen musste – so wütend der Kommandant auch war (er hatte sein Schwert gezogen und versuchte, auf die ihm Nächststehenden mit der flachen Klinge einzuhauen), die Burschen lachten nur. Sie bildeten dicht aufgerückt, wie sie es gelernt hatten, mit ihren Scuta eine undurchdringliche Mauer, an der Taurus seine Waffe schartig schlug. Schimpfwörter waren zu hören, halblaut zwar nur, aber sie genügten, um die Autorität des Offiziers nachhaltig zu beschädigen: „Pecus! Amens! Stolidus! Stultissimus!”
Oberleutnant Franz-Josef Kloyber hätte ohne Zweifel seine Freude an diesen Vorgängen gehabt.
CENTURIO QUINTUS RUBELLIUS TAURUS:
Oboedite statim, cimices!
Der Beneficiarius trat neben der Mannschaft hervor, unbeeindruckt davon, soeben als Wanze apostrophiert worden zu sein. „Ein Vorschlag zur Güte!” sagte er mit breitem Grinsen, das gemeinsam mit den beiden Striemen sein Gesicht zu einer hässlichen Maske verzerrte: „Componamus controversiam, amice, cum omnium gratia!”
Es war eines jener Angebote, die man nicht ablehnen konnte. Würde er sie dorthin marschieren lassen, wo sie wollten, dürfe Taurus sie weiter befehligen – andernfalls: Nun, es bestand kein Zweifel, dass sie ihn hier und jetzt endgültig zu seinen Ahnen zu versammeln beabsichtigten. Seine Zustimmung sollte er in eine Eidesformel fassen, und so kam es zu jenem denkwürdigen Ausspruch, der in die Militärgeschichte eingegangen wäre, hätte ihn nur jemand überliefert.
CENTURIO QUINTUS RUBELLIUS TAURUS:
Spondeo, o ratti! Ich beschwöre es, ihr Ratten!
Als sie Dubris verließen, verwies er den Gefreiten Cattianus an die Spitze des Zuges: Dieser kenne ohnehin am besten den Weg! Taurus selbst ließ sich zurückfallen und trottete fortan als Letzter nach, wobei er dort, wo niemand seine Haltung oder seinen Marschstil beobachten konnte, keinerlei Anzeichen des alten Schliffs erkennen ließ.
Beflügelt durch die Worte des Beneficiarius stürmten die Soldaten vorwärts (sie glaubten ihm blindlings, was er dort in der Casa Publica von Clivosum gesehen hatte – wollten sich diesen Anblick nicht entgehen lassen): Man würde auf diese Art jeden Tag einen Iter magnum schaffen, bis das Ziel nahte. Ganz konkret erschuf Cattianus dieses Ziel in der Vortstellung seiner Kameraden, indem er sie davon zu singen lehrte, was sie dort erwartete: die schöne Cythera, die sich zu den Synkopen einer numidischen Musikergruppe aufreizend ihrer Kleider entledigte.
Pulcherrima, o Cythera,
Nuditatem revela!
Revela tuas gratias,
Stella supra tenebras!
Iubet noster te nudare
Centurio et revelare!
Und die Burschen wurden nicht enttäuscht: Auf der Zeitebene, auf der sie sich seit ihrer Abreise aus Vindobona bewegten, hatte sich die antike Stripperin bemerkenswert frisch erhalten und vollzog ihre Show genauso, wie sie der wackere Gefreite in seiner Erinnerung unauslöschlich aufbewahrte.
Nachdem die Legionäre im nahen Loca Deserta Quartier genommen hatten, was der örtliche Lagerkommandant seinem Offizierskameraden gerne gewährte (hier durfte der Centurio wieder herhalten), und nach einer ausgiebigen Ruhepause – da sie vom ordentlichen Dienst bis auf weiteres befreit waren – begaben sie sich abends in jenes Etablissement, das angesichts der zahlreichen Stammgäste durch den Neuzugang zum Bersten überfüllt war. Kaum hatten alle Gäste Platz gefunden, wurden von Sklaven zusätzliche Fackeln entzündet und die Vorhänge der bis dahin verhüllten Bühne geöffnet.
Cythera, die sich als exotische Schönheit ausgab und sich auf üppigen Kissen mit dünner Seide bekleidet räkelte, stammte eigentlich aus Hibernia, von wo sie als jüngste Tochter eines Stammeshäuptlings dem ihr vorgezeichneten Leben in Langweile entflohen war. Den Soldaten war das einerlei, wer’s wusste, empfand vielleicht einen zusätzlichen Kitzel, aber in der Hauptsache zählte natürlich die Illusion einer Orientalin und vor allem, dass diese sich am Ende nackt präsentierte. Selbst der Centurio, der sich nach anfänglichem gespreizten Zögern doch hatte überreden lassen mitzukommen, nahm die Sache zuletzt einfach als Mann: Vielleicht – ein recht ungewöhnlicher Gedanke für ihn – war es doch keine so schlechte Idee des Cattianus gewesen, sich hierher zu wenden anstatt sich irgendwo für irgendjemanden aufgrund irgendeines Befehls ein weiteres Mal, wie weiland unter dem großen Iulier, in Stücke hauen zu lassen!
Und so stimmte er denn, als Cytheras Darbietung in die letzte entscheidende Phase trat, in den Refrain der übrigen Zuschauer ein.
CENTURIO QUINTUS RUBELLIUS TAURUS:
… Iubet noster te nudare
Centurio et revelare!
Cythera elimina!
Elimina! Elimina!
[ 2 Zeilen Durchschuss ]
Keyhi Pujvi Giki Foy Holbys Entschluss, die römischen Legionäre von seinem Freund Publius Cornelius Scipio für die Station anzufordern, war gewissermaßen stilistisch motiviert: Zwar hatte er noch keine Echwejch-Krieger am Werk gesehen – sondern lediglich die Zivilisten, die sich bis dato in seinem kleinen Reich tummelten –, vermutete aber aufgrund des technischen Entwicklungsstandes ihrer Zivilisation instinktsicher, dass es zwischen ihnen und den Truppen des alten Imperiums nicht unwesentliche Übereinstimmungen in Ausrüstung, Taktik und Kampfgebarung gab. Zudem war er überzeugt davon (und hatte das auch Cheltenham mitgeteilt), dass die Legionäre Caesars, obwohl jeglichem Aberglauben zugetan und offen für alle Phantasiegeschichten, die man ihnen in Gallien über die Germanen erzählte, niemals zurückwichen, wenn sie mit der Realität teutonischer Riesen konfrontiert wurden – sie würden auch vor den Schwanenhalsigen nicht kneifen!
Dass Centurio Taurus und seine Männer gar nicht erschienen, brachte Sir Basils gesamten Plan, mit deren professioneller militärischer Unterstützung nach VIÈVE zu reisen, durcheinander. So kam es, als keine Zeit mehr zu verlieren war, dass er, Clio und Chicago, wie wir ja schon wissen, allein aufbrachen – mit dem entsprechend fatalen Ergebnis.
Cheltenham war verbittert, da er annehmen musste, der Africanus seine Bereitschaft zur Entsendung der wiederauferstandenen Legion nochmals überdacht und am Ende zurückgezogen – an die Möglichkeit, dass die allzeit Tapferen schlicht und einfach desertiert waren, dachte er selbstverständlich in keinem Augenblick und er konnte auch (ebensowenig wie Clio) nicht wissen, dass Berenice die Missetäter zwar mittlerweile lokalisiert hatte, aber fürs Erste dort beließ, wo sie waren: Ihr schwante, dass Männer mit dermaßen deroutierter Kampfmoral ohnehin keine große Hilfe gewesen wäre. Statt dessen beschloss sie, sich lieber selbst bereitzuhalten.
Die an sich geplante Beschwerde des Baronets bei Scipio fand übrigens nie statt, denn die späteren Ereignisse überrollten diese Absicht. Deshalb werden wir auch von den Legionären des Centurio Quintus Rubellius Taurus nichts mehr hören, jedenfalls nicht in diesem Bericht.
605
Ich war also auf das Raumschiff der Echwejchs – dieses plumpe Etwas, das an einer der Andockstellen von VIÈVE hing – gebracht worden. „Was mit dir geschehen wird, meine teuerste Gila Graven, werden wir später entscheiden!” hatte Machwajch, die Schwanengebieterin, maliziös zu mir gesagt, Und weiter, im Plauderton: „Neben dem Tod, gibt es auf unserem Heimatplaneten viele Möglichkeiten, die ähnlich schlimm sind, und auch schlimmere.”
Ich klimperte als Antwort nur mit meinem Silberglasschmuck und brachte damit Machwajchs Eskorte zum Erschauern. Selbst die Obergeflügeltante schien sich nur mühsam beherrschen zu können. „Nehmt ihr endlich diesen Flitter ab!” zischte sie, aber die beiden Soldatinnen, sonst ein Muster an Courage, wagten nicht, die filigranen Objekte zu berühren, deren Klang sie im Unterbewusstsein fatal an die Geräusche einer vor langer Zeit tödlichen Gefahr erinnerte. Ihre oberste Herrin musste schließlich selbst Hand anlegen, mit spitzen Fingern. Selbst als das Zeug schon am Boden lag, klirrte es noch immer geheimnisvoll beim leisesten Hauch der Luftzirkulation, und ich lächelte versonnen. Ich genoss die Unruhe, die ich bei meinen Feinden auszulösen vermochte, und gab ihnen das Gefühl, über mehr Macht zu verfügen, als ich im Moment erkennen ließ. Nun, da ich völlig nackt vor ihnen stand, spürte ich noch dazu deutlich die aufkeimende Begehrlichkeit meiner beiden Bewacherinnen.
Machwajch bereitete diesem Schauspiel ein jähes Ende, indem sie wutentbrannt und völlig unmajestätisch auf dem Schmuck herumtrampelte, bis nur noch Staub davon übrig war. Daraufhin schob sie mich in einen kleinen Raum und verschloss die Tür. Dem Piloten des Schiffs, der bald wieder der einzige Echwejch an Bord sein würde, befahl die Hohe Frau, mir von Zeit zu Zeit die notwendige Verpflegung durch einen schmalen Schlitz zu schieben, aber niemals die Sichtklappe der Zelle zu öffnen.
DER SCHWANENPILOT:
Sobald ich allein war, setzte ich mich wieder in meinen bequemen Stuhl auf der Kommandobrücke und hing – wie schon vor dieser Episode – meinen Träumen nach. Vielleicht war ich ein gutes Beispiel für die in Wahrheit mangelhafte Geschlossenheit meines Volkes hinsichtlich des Zwecks unserer Expedition, und fast war ich versucht zu denken: hinsichtlich der Ziele unserer Gesellschaft schlechthin. Was hatten wir in diesem Teil des Universums überhaupt verloren? Und welchen Sinn ergab die Eroberung einer Handvoll kosmischer Staaten, die uns bis dato geglückt war, nur weil die Priesterklasse daheim das so wünschte? Wie es schien, hatten diese Figuren unserer Gebieterin mit Erfolg eingeredet, sie müsse all das veranstalten, um den Willen ihres vergöttlichten Vorfahren Hejchwejch zu erfüllen, der die Ausbreitung der Echwejch-Zivilisa¬tion auf seine Fahnen geschrieben habe. Machwajch hinterfragte offenbar niemals den banalen Sinn dieses Auftrags, der einfach darin bestand, den Priestern stets Material für neue Menschenopfer zuzuführen: Mehr war es de facto nicht, denn so weit ich den Überblick hatte, gelang es nur in den seltensten Fällen, sich auf einer der eroberten Welten dauerhaft festzusetzen – unsere Bevölkerungszahl reichte gerade dafür aus, einige wenige Besatzungen da und dort zu halten, immer auf Planeten, die selbst äußerst dünn besiedelt waren. Allein, was ging es mich schon an? Ich war kein Kämpfer – ich brachte die Truppe lediglich dorthin, wo sie kämpfen sollte. Der Rest bestand aus Warten, aus purer Monotonie, denn wie eben jetzt wurde nicht eine einzige Echwejch-Frau bei mir zurückgelassen für die Betätigung meiner nimmermüden Libido.
Er stand auf und schlenderte zu meiner Zelle, zunächst tatsächlich nur in der Absicht, mir etwas zu essen zu bringen. Mit jedem Schritt näher stieg jedoch sein Verlangen, diese Fremde genauer in Augenschein zu nehmen. Längst hatte er die Erfahrung gemacht, dass die angebliche Allwissenheit der Gebieterin über Verfehlungen ihrer Untertanen eine bloße Schimäre war – schon das erste Mal, als er probeweise einen Befehl der Hohen Frau in deren Abwesenheit negiert hatte, war schlicht gar nichts passiert.
Dennoch sollten wir nicht in den Fehler verfallen, die Echwejchs an der Kippe zur kompletten Regellosigkeit zu wähnen. Auf eine geheimnisvolle Weise funktionierte ihre Gemeinschaft doch und zeigte, so sehr sich das auch manche wünschen mochten, keinerlei Anstalten zu zerfallen.
DER SCHWANENPILOT:
Es liegt, denke ich, an unserem ambivalenten Wesen, in dem, wenn man vor sich selbst ehrlich ist, Spiel und Ernst untrennbar und unauflösbar verwoben sind. Natürlich schlägt im Einzelfall das Spiel leicht und schnell in Ernst um, und manchmal sogar in tödlichen Ernst – das scheint übrigens auch bei anderen humanoiden Völkern, die wir kennengelernt haben, so zu sein. Unsere spezielle Eigenart aber, die wir woanders bis heute nirgends angetroffen haben, ist es, auch umgekehrt aus einer ziemlich tragödienhaften Situation ebenfalls leichten Schrittes in eine Komödie überwechseln zu können, und gerade dieser Umstand lässt uns weit und breit ein wenig unheimlich aussehen: Es mag nämlich schon vorkommen, dass wir über Leichen hinwegsteigen und in ein und demselben Moment in herzliches Lachen verfallen oder uns in Zärtlichkeit gegen überlebende Angehörige der Opfer ergehen, und wir verstehen dann nicht deren Ressentiment.
Der Pilot – übrigens war sein Name Rejchwejch – öffnete erst gar nicht die verbotene Sichtklappe, sondern gleich die ganze Tür. Längst hatte er Mittel und Wege gefunden, auf seinem Schiff alles zu tun, was ihm behagte, selbst das Verbotenste. Seine Erscheinung, die gegen das grelle Licht draußen von einer Aura umgeben schien, entzückte mich – vor allem deshalb (aber das wurde mir anfangs gar nicht bewusst), weil er einen extrem kurzen Hals besaß und damit viel menschenähnlicher wirkte als seine Artgenossen, trotz des bei ihm reichlich ausgeprägten Federkleides. Vielleicht aber war es auch ganz einfach seine unvergleichliche Schönheit.
Ich selbst, die, was das Physische im Allgemeinen anlangte, aber auch in meiner Eigenschaft als Preisträgerin des Miss Endless Thigh–Wettbewerbs im Besonderen einiges aufzuweisen hatte, was gerade einem Echwejch nicht gleichgültig sein konnte, schmeichelte: Komm näher, hübscher Bursche! Wie erfreulich, dass du den Weg in meine Langeweile findest!
Rejchwejch, der sich dicht neben mich stellte, ließ bereitwillig sein Gefieder befühlen (es war, nebenbei gesagt, ganz weich, einem feinen Pelz oder einem zarten Stoff ähnlich), und ich tat es, ohne groß dazu aufgefordert worden zu sein. Demgemäß brauchte ich nicht lange zu warten, um das Begehren meines neuen Freundes zu sehen, zu hören und zu fühlen. Schließlich bekam ich ihn auch zu schmecken und zu riechen – dies vor allem: Wie außergewöhnlich gut er duftete, ganz anders als die kriegerischen Exemplare, denen ich bis jetzt nahegekommen war.
Als es jedoch gerade zum endgültigen Vollzug kommen sollte, schepperte irgendwo ein Alarm – es war allerdings nicht das offizielle Warnsignal des Schiffs, sondern ein Mechanismus, den Rejchwejch selbst gebastelt und installiert hatte, um sich gegen unliebsame Überraschungsbesuche seitens irgendwelcher Vorgesetzten bis hinauf zu Machwajch zu schützen.
DER SCHWANENPILOT:
Ich bedeutete Gila, sich still zu verhalten, schloss ihre Zelle wieder zu, ließ ihr aber die Möglichkeit, durch die unmerklich geöffnete Sichtklappe nach draußen zu blinzeln und zu verfolgen, was weiter geschah. Sollte es unserer Echwejch-Herrscherin einfallen, die Gefangene kontrollieren zu wollen, würde sie nichts merken.
Aber das war nicht der Grund von Machwajchs Besuch. Vielmehr ließ sie zwei irdische Männer, einen Weißen und einen Schwarzen, über und über seltsam bemalt (später erfuhr ich, dass ihre Namen Cheltenham und Chicago waren), als weitere Häftlinge an Bord bringen und ebenfalls in einem geschlossenen Raum festsetzen. Sie würdigte den Piloten, der diensteifrig herbeigeeilt war, sogar eines Kommentars, so aufgeräumt war sie diesmal: „Sie werden ein wunderbares Statuenpaar abgeben, daheim in der Allee der Märtyrer, die im Tempel des Großen Echwejch zum Allerheiligsten hinführt.”
DER SCHWANENPILOT:
Sie plante sogar, die beiden als prominenteste Monumente an die Spitze der Figurenreihen zu platzieren, aus denen die Allee bestand: Zu Stein erstarrt würden sie äußerlich sein, im Inneren aber Leben und Bewusstsein haben, unterworfen einem unsagbaren Leiden bis ans Ende ihrer Tage zur höheren Ehre unseres Urvaters Hejchwejch. Ich nickte nur höflich zu so viel Pathos, gerade ausreichend, um nicht das Misstrauen Machwajchs oder ihren Zorn auf mich zu ziehen. Sinnlose Zugeständnisse schon wieder, dachte ich bei mir, an den dämonischen Wahnwitz der Priesterklasse, denn Hejchwejch selbst war seit langem tot und begraben, wünschte sich folglich nichts mehr und konnte keinen Vorteil mehr daraus ziehen, dass irgendjemand irgendeine Grausamkeit zu Füßen seines Standbildes niederlegte!
Die Absicht der Schwanenherrscherin hatte aber auch noch eine ganz praktische negative Konsequenz für Rejchwejch, wodurch seine amourösen Absichten brutal durchkreuzt wurden. Es waren nämlich zwei Echwejchs mitgekommen, die sich aufs rituelle Einbalsamieren der zu Märtyrern ausersehenen Gefangenen verstanden – aber dieser Prozess nahm geraume Zeit in Anspruch, während der die Ruhe auf dem einsamen Schiff dahin war.
Im Übrigen hatte die Chefin des Geflügels, jedenfalls soweit sie unmittelbar anwesend war, ein einzigartiges Gespür für widrige Strömungen. „Haben Sie vielleicht irgendwelche Einwände, Pilot?” herrschte sie diesen an.
DER SCHWANENPILOT:
Aber beileibe nicht, Gebieterin! (macht seinen Kotau, dann beiseite) Es ist immer wieder dasselbe – wo man auch hinkommt im weiten All, verlangen die Obrigkeiten Kadavergehorsam in der irrigen Annahme, dass es anders nicht funktionieren würde. Und sie haben ja Recht: Mit ihnen kann es nur so gehen! Aber das heißt im Umkehrschluss, dass man sich ihrer entledigen muss!
Machwajchs Instinkt sagte ihr, dass es mit der Ehrenbezeugung dieses Kerls nicht weit her war. Sie unternahm jedoch vorerst nichts, um ihrer Mission zusätzliche Probleme zu ersparen, aber es war sonnenklar, dass es, wie bei allen Leuten ihrer Position, in ihrem Kopf ein großes Erinnerungsbuch gab, in das bereits eingetragen war: Pilot Rejchwejch – Rache für Unbotmäßigkeit.
[ 2 Zeilen Durchschuss ]
DER SCHWANENPILOT:
Immerhin, und sei es nur, um die Zeit totzuschlagen, sah ich bei den Aktivitäten unserer beiden Konservatoren zu. Die Prozedur bestand nach dem völligen Entkleiden (das hier wegfiel, da die Opfer bereits entblößt waren – die Bemalungen beschloss man als besondere Attraktion zu belassen) aus drei Stufen: dem Schockgefrieren, dem nachmaligen Aushärten der erstarrten Körper durch starke Erhitzung und zu guter Letzt dem Glasieren, also dem Überziehen mit einer Substanz, die dem Mumifizierungsvorgang den entscheidenden Glanz verlieh.
Wovon Rejchwejch nichts ahnte, waren die vorsorglichen Anweisungen, die der Schwarze – so wie er mitbekommen hatte, was da ablaufen sollte – seinem weißen Freund gab: Es handelte sich dabei quasi um ein Überlebenstraining im Eiltempo. Chicago begab sich in Cheltenhams Inneres und organisierte dort parallel zu seinem eigenen Denken Abwehrmaßnahmen, wobei nur gewährleistet sein musste, dass der Partner diese nicht durch extreme Skepsis oder andere mentale Widerstände gefährdete – im Idealfall würde er sogar gleichgeschaltet und damit die Wirkung verstärkend den Vorgaben folgen. Und so ist es auch abgelaufen: Der Baronet, sonst ein alter Spötter und Freigeist, hatte einerseits genug Beweise der Wirksamkeit jener Koori-Fähigkeiten gesehen, andererseits war ihm vollkommen einsichtig, dass es hier nur eine einzige Chance gab.
Mir ist ganz warm! dachten daher beide Männer synchron, als ihre Körper zu Eis erstarrten. Wir gehen Hand in Hand durch die australische Gibson-Wüste, wo in all der Sonnenglut ein wenig Abkühlung direkt eine Wohltat ist. Das Verfahren, dem man uns unterzieht, wirkt zwar äußerlich und scheint für die umstehenden Betrachter die erwarteten Folgen zu zeitigen, doch wir selbst sind weiterhin frei, unserem Willen zu folgen, wenn wir das wünschen. Dies wird aber erst geschehen, wenn die Zeit dafür gekommen ist.
Mir ist ganz kühl! dachten die beiden synchron, als ihre Körper zu brennen begannen. Wir gehen Hand in Hand über die Ländereien von Cheltenham House, wo in all der nebeligen Trübseligkeit, die dort oftmals herrscht, ein wenig Wärme direkt eine Wohltat ist. Das Verfahren, dem man uns unterzieht, wirkt zwar äußerlich und scheint für die umstehenden Betrachter die erwarteten Folgen zu zeitigen, doch wir selbst sind weiterhin frei, unserem Willen zu folgen, wenn wir das wünschen. Dies wird aber erst geschehen, wenn die Zeit dafür gekommen ist.
Wir sind völlig beweglich! dachten die beiden synchron, als jene seltsam riechende, zähe Essenz langsam auf ihre Körper träufelte und diese ganz einzuhüllen begann. Wir schwimmen im Meer vor Zypern (Warum ausgerechnet Zypern? dachte Sir Basil, als ihm sein Freund diese Worte in den Mund legte – aber so weit wir denken können, wurde ihm diese Frage nicht beantwortet) – vor Zypern also im Meer, wobei es uns ganz angenehm ist, dass dieses uns mittels seiner besonderen Dichte wie von selbst trägt und wir uns ganz leicht darin bewegen können. Wieder entstand in ihnen und um sie herum durch die Kraft dieser Worte eine spezielle Realität, sodass das Verfahren, dem man sie unterzog, zwar äußerlich wirkte und für die umstehenden Betrachter die erwarteten Folgen zu zeitigen schien, doch sie selbst blieben weiterhin frei, ihrem Willen zu folgen, wenn sie das wünschten. Dies sollte aber – so waren sie übereingekommen – erst geschehen, wenn die Zeit dafür gekommen war.
DER SCHWANENPILOT:
Ich freute mich, als das Verfahren einem Ende zu ging, da ich damit rechnen konnte, in Kürze wieder allein mit Gila zu sein und – nun ja, mit diesen beiden Figuren, aber wir mussten’s doch nicht gerade vor ihnen treiben.
Rejchwejch konnte allerdings nicht wissen, dass es den zwei Statuen, von denen er annahm, dass sie ihre Umgebung bloß passiv rezipieren konnten, sogar freigestanden wäre, auch aktiv seine Wege zu kreuzen, wenn sie nur gewollt hätten. Allein die Tatsache, dass sie dieses Überraschungsmoment nicht ihm gegenüber, sondern bei viel passenderer Gelegenheit auszuspielen gedachten, ließ sein Liebesabenteuer diesmal wirklich stattfinden und noch dazu ungestört verlaufen.
Weiterhin verborgen blieb ihm allerdings, dass ich (so sehr ich das Ganze auch genoss, warum denn nicht?) beabsichtigte, sein ausgehungertes Begehren nach mir gegebenenfalls gegen die Intentionen seiner Herrscherin zu nutzen. Er musste, so beruhigte ich mich selbst, dabei gar nicht zu Schaden kommen, und vielleicht – das war nicht auszuschließen – half er mir sogar aus freien Stücken. Ich dachte dabei an meine eigene Flucht ebenso wie an jene der beiden Männer, deren Lage mir noch viel schlimmer schien.
Warum ich noch zuwartete? Nun, mir war klar, dass ich ohne eine entsprechende Koordination mit jemandem drüben auf VIÈVE nichts ausrichten konnte. Konkret wartete ich auf ein Zeichen von Serpentina, aber das kam nicht.
606
Mein lieber Freund – den Tag, an dem mein Mann (er war’s auf dem Papier noch immer), Romuald also, wieder bei mir zuhause auftauchte, werde ich nicht vergessen. Er war ziemlich betrunken, eine für mich ganz neue Erfahrung, denn von allen schlechten Eigenschaften hatte er gerade diese in der Zeit mit mir nicht gehabt. Dennoch machte er einen nach wie vor passablen Eindruck, vor allem wenn man als Insiderin berücksichtigte, welch stattliches Ding er in seiner Hose mitführte, bekanntlich eines der wesentlichen Erbstücke nach seinem Vater, abgesehen von dessen Kaltschnäuzigkeit gegenüber dem weiblichen Geschlecht, die Romi ebenfalls eins zu eins übernommen hatte.
ERZÄHLER:
Tja, meine Liebe, oft ist im Leben eins ohne das andere nicht zu haben!
Als ob ich gerade jetzt deiner weisen Sprüche bedürfte – aber sei’s drum: Jeder Frau, die wegen des einen auf Romi abgefahren ist und dafür alles andere in Kauf genommen hat, geschieht vermutlich Recht, wenn sie von Männern mit großer Herzensbildung (bei allerdings physischem Mittelmaß) verhöhnt werden.
ERZÄHLER:
Aber man sagt doch, dass es euch Frauen auf die Größe nicht so sehr ankommt!
DIE DREHBUCHAUTORIN:
… sagte der Fuchs, dem die Trauben zu hoch hingen!?
Sie trifft den Nagel auf den Kopf! Was du behauptest, zählt zu den vielen vielen Märchen, die von den Schwachen erfunden wurden, um den Primat der Stärkeren zu relativieren, wenn nicht überhaupt außer Kraft zu setzen!
ERZÄHLER:
(heuchlerisch) Aber ist nicht genau das die wesentliche Errungenschaft der Neuzeit – die Demokratie als eine Organisationsform der Gesellschaft, die auf gleichem Recht für alle, auf Konfliktlösungen ohne physischen Druck und auf humanen Umgangsformen basiert: Kampf nur noch als Streit verschiedener Meinungen, Interessenausgleich ausschließlich in der Diskussion, Waffenanwendung lediglich durch die Hand des Staates innerhalb vereinbarter Grenzen, zur Aufrechterhaltung der Ordnung und gegen die Verletzung der Regeln des Miteinanderlebens oder zur Abwehr eines Angriffs äußerer Feinde?
DER GROSSE REGISSEUR:
(springt ihm bei) Aufbauend auf die uralte Konzeption des Altruismus, wie von vielen Religionen propagiert – gegen sozialdarwinistische Kategorien wie Kompromisslosigkeit und Härte, gegen das unbeugsame Ich des Gewalttäters –, kulminierend in der Feindesliebe des Christentums!
DIE DREHBUCHAUTORIN:
Und was bitte hat all das im Schlafzimmer verloren?
DER PRODUZENT:
Hört, hört: Meine Tochter!
DIE DREHBUCHAUTORIN:
Mit einem Liebhaber am Sonntagmorgen zu Hause gefrühstückt: Ei-Sandwiches, Kaviar, Champagner und alles, was sonst dazu gehört. Gerade als ich genüsslich mein zweites Glas an den Mund führen wollte, schoss er einen unangenehmen Satz hervor: „Du, Claudette, glaubst du, dass die Größe wichtig ist oder kommt es nicht eher auf die Technik an?” Genau das habe ich mir gewünscht: ein Lazy Morning mit einer Debatte über Länge, Breite und Bewegungsmuster. Aber gut, als Frau muss man da durch. Okay, fange ich vorsichtig an und unterbreite ihm mit meinem charmantesten Lächeln folgende These: Ich persönlich glaube (eine glatte Lüge) – ja habe die Erfahrung gemacht (eine noch größere Lüge), dass sich seine Größe jedenfalls indirekt proportional zu seiner Technik verhalten sollte. Im Klartext: Die Größe ist wichtig, wenn der Lover technisch eine Niete ist. Ist er aber ein wahres Genie in Sachen Auf und Ab und Rein und Raus, spielt die Länge nicht die entscheidende Rolle. Puh, ich hoffte inständig, das Richtige gesagt zu haben, denn genau bei diesem Burschen war ich entgegen allen Vorurteilen immer auf gewisse Formen im täglichen Umgang bedacht. Und gottlob, er schluckte es einfach so runter, wie es war, ohne zu überlegen, in welche der beiden Kategorien ich ihn einordnete, zufrieden mit seiner vermeintlichen Win-Win-Position.
So, liebe Dame, natürlich auch die Herren, jede von uns und jeder von uns könnte jetzt bekanntgeben, wie wichtig die Abmessungen sind: Eher klein und breit oder lang und dünn (an die anderen Möglichkeiten möchten wir gar nicht denken)? Was sind eure Vorlieben? Ich persönlich mag’s im Prinzip (Ausnahmen wie Romuald bestätigen die Regel) nicht ganz so lang, aber dafür mit einem ordentlichen Umfang – allein, am Ende kommt es doch wiederum auf das Know-how an oder etwa nicht? Meiner Meinung nach kann man nämlich mit den unterschiedlichsten Schwänzen großen Spaß haben.
DER GROSSE REGISSEUR:
Mit der Größe wachsen allerdings die Probleme!
DIE DREHBUCHAUTORIN:
Der scheint das ernst zu nehmen, was er sagt! Das kann aber nur bedeuten, dass er schon wieder aus der Sphäre der Erotik, in der wir anderen hier argumentieren, entwischen will! Welchen Grund gibt es dafür? Ist dir das Thema so unangenehm?
Er liegt vielleicht nicht so falsch, wenn er die Sache auf ein sozusagen wissenschaftliches Niveau verschieben möchte, zumal ich bei meinem Gespräch mit Romi – ich ließ ihn also an mich ran, wie man sieht, zunächst lediglich auf Gesprächsdistanz, versteht sich – noch mehr an Psychologie gebraucht hätte, als ich mir im Lauf des Lebens ohnehin aneignen konnte. Das Dumme ist: Nur die wenigsten von uns wurden zu Sozialarbeitern ausgebildet. Wir stehen demnach oft ratlos vor komplexen Systemen samt ihren überraschenden Resultaten. Denn die Gesetze der privaten sozialen Kontakte unterscheiden sich oft fundamental von denen in den starren gesamtgesellschaftlichen Hierarchien. Die Netzwerke, in die wir persönlich eingebunden sind, verflechten vielfältigste Interaktionsfäden, balancieren Chaos und Ordnung aus, organisieren (siehe das Erlebnis, von dem unsere Freundin hier erzählt hat) jene Win-Win-Beziehungen, die man außerhalb einer engeren Partnerschaft nie bekommen würde, und vor allem parieren sie verlässlich jegliche Attacke von fremder Seite: Sie reißen nicht, sondern federn Störungen elegant ab – vorausgesetzt, sie sind richtig geknüpft.
In dieser Hinsicht können wir eine Menge von der Natur lernen, denn sie arbeitet ausschließlich breitflächig und dazu noch auf mehreren Ebenen: Der beste Beweis dafür, dass eine evolutionäre Entwicklung stattfindet und nicht ein wie immer gearteter göttlicher Masterplan exekutiert wird. Das Design eines Schöpfers, der sein Werk zu Ende gedacht hat, noch bevor er überhaupt begann, ist nicht die Realität, sondern die Erfindung jener Parasiten, die uns weismachen wollen, nur mit einem hierarchischen Entwurf sei eine Sozietät gottgefällig.
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Da stand er also, Romi – ich musste wohl verrückt geworden sein, ihm überhaupt zu öffnen –, mitten in der Wohnung, die er einige Jahre nicht betreten hatte. Kaum dass er sich noch zurechtfand. An zu vielen Orten hatte er zu viele Identitäten angenommen, die alle nur die eine Kontinuität seines übersteigerten Sexualtriebs aufwiesen: Man denke an die arme Vera, gegen deren Schicksal das meine vergleichsweise harmlos aussieht, denn ich wurde von ihm ja bloß durchgefickt und nicht einem qualvollen Tod überlassen (auch hat er mich nie gefesselt, da ihm bei mir offenbar die Wirkung reichte, die meine ursprünglich naive Vorstellung von den ehelichen Banden auf ihn ausübte). Ich erinnere auch an die gute Geneviève, die – obwohl sie sich geschworen hatte, sich nie wieder so behandeln zu lassen wie von ihrem falschen Vater –
ERZÄHLER:
Aber gerade sie hat doch immer behauptet, dass sie die Sache mit ihrem Alten im Griff hatte! Ich erinnere mich, wie sie ihrer Mutter beschwichtigend sagte, sie wäre alt genug, um auf sich selbst zu achten, und es sei nicht notwendig, so zu tun, als wäre sie bei der scheinbar inzestuösen Affäre ganz passiv gewesen. Vor allem werde ich nie vergessen, wie sie selbstbewusst erklärte, schon recht früh gewusst zu haben, wie man sich verhalten, sich kleiden oder sprechen musste, um bestimmte Wirkungen zu erzielen – und ich schwöre dir, ich habe diese ihre Fertigkeiten am eigenen Leib verspürt!
Bezeichnenderweise hat sie bei Romi doch einmal eine Ausnahme gemacht und ihre Selbstachtung, ihren Stolz und ihre Standesehre verleugnet. Ich sehe noch Sir Basil vor mir, wie er die erlauchte Braue hochzog, indigniert über das Verhalten einer adeligen Dame, und wie ihm dann ganz unaristokratisch der Kragen platzte, als der Typ auch noch bei Komtesse Clio landen wollte, wiewohl Cheltenham ganz tief in seinem Inneren der sportlichen Seite der Angelegenheit schon etwas abgewinnen konnte…
DIE DREHBUCHAUTORIN:
… und wer weiß, wie unter anderen Umständen – wenn unser gefinkelter Baronet nicht selbst ein Auge auf die Kleine geworfen hätte – Romis Fahrt mit diesem Mutter-Tochter-Tandem zum Gegenstand einer Wette im vornehmen Preferred Club geworden wäre.
DER GROSSE REGISSEUR:
Aber es kam anders, wie wir wissen: Sir Basil tat seine Pflicht und zog Romuald aus dem Verkehr.
Und dennoch wird dies als endgültiges Urteil meinem Mann nicht gerecht, schwang doch auch er sich zu Heldentaten auf!
ERZÄHLER:
Du wirst jetzt nicht vielleicht sentimental und behauptest, damit sei die sonstige Dreistigkeit und Herzlosigkeit kompensiert?
Nein, aber ich frage mich manchmal ernsthaft, ob jemand, der gar kein Problembewusstsein besitzt, überhaupt schuldig werden kann respektive schuldig gesprochen werden darf…
DIE DREHBUCHAUTORIN:
Wer möchte von sich behaupten, nicht einmal ein ganz winziges Quäntchen von Problembewusstsein zu besitzen? Das ist ja schon wieder pure Ideologie, formuliert, um andere zu manipulieren!
Wiewohl man unterscheiden muss hinsichtlich Ort und Zeit eines Geschehens – und nicht zuletzt nach der Zahl der handelnden Personen. Kann man Schuld auf sich laden, wenn man völlig allein ist (eine Frage, die den Androiden Vangelis ganz besonders beschäftigt) oder wenn man zu zweit ist in völligem Einverständnis?
DIE DREHBUCHAUTORIN:
Aber genau Sie beklagen sich schon des Öfteren, dass Sie sich bei allem momentanen Einverständnis à la longue benutzt vorkamen…
… wenn nach und nach wieder der Ver-stand zum Vorschein kam, ich weiß! Aber wen mache ich dafür verantwortlich dafür, dass ich fallweise mein Denken ausgeschaltet habe? Und als Romuald da so unerwartet vor mir stand, war es fast schon wieder so weit: Ich fühlte ein unbändiges Verlangen, ihn wieder einmal nackt zu sehen – und natürlich nicht nur zu sehen, sondern auch zu berühren…
ERZÄHLER:
O Gott!
Sei du nur empört – mir aber war, als ob eine kostbare Gemme mit Romis Vorderansicht, die ich offenbar irgendwo in mir bewahrt hatte, zum Leben erwachte.
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Glücklicherweise, jedenfalls von einem vernünftigen Standpunkt aus betrachtet, kamen unsere Kinder (sie wohnten ja noch immer bei mir, trotz fortgeschrittenen Alters): „Ach, der Vater!” hörte ich wie von fern durch einen Schleier undefinierbarer Geräusche – der Begriff als Gattungsbezeichnung sozusagen, ohne den Beigeschmack eines Koseworts, wertfrei, emotionslos. Sie – besser gesagt wir – hatten längst gelernt, ohne ihn fertig zu werden, was uns umso leichter gefallen war, als er auch während seiner Anwesenheit nichts zur Systemerhaltung unserer Familie beigetragen hatte.
Ohne je bei Romano und Romina (so haben wir die beiden in einem Anflug von Italianità genannt) nachzufragen, was sie eigentlich zentral mit ihrem Vater assoziierten, konnte ich mir doch denken, dass es vor allen seine ungestüme Art mir gegenüber sein musste, die sich ihnen vom zarten Alter an eingeprägt hatte. Vermutlich interpretierten sie mangels rechtzeitiger Aufklärung alles viel negativer als dies ein Erwachsener getan hätte: zum Beispiel meine Lustschreie, deren Echtheit ich nicht leugnen möchte, ausschließlich als Folge von Gewaltanwendung. Dann musste es jedenfalls Jahre gedauert haben, bis sie aufgrund eigener einschlägiger Erfahrungen ihre kindlichen Traumata relativieren konnten, was aber nichts mehr an ihrer ablehnenden Haltung gegenüber ihrem Erzeuger zu ändern vermochte.
Angesichts dessen schlug mein vorheriges Verlangen…
DIE DREHBUCHAUTORIN:
… anders ausgedrückt, Ihre geile Besessenheit…
… einfach gesagt, meine plötzliche Sehnsucht in Aggressivität um. Ich erging mich – was noch nie zuvor etwas gefruchtet hat – in Vorwürfen, noch dazu über Handlungen oder Unterlassungen, die mittlerweile eine halbe Ewigkeit zurücklagen: dass Romi mich nie richtig beachtet habe, es sei denn als seltsame Kombination von Putzfrau und Sexobjekt; dass er mir nie zugehört habe, außer wenn er etwas ihn selbst unmittelbar Betreffendes vernahm (beispielsweise jenes Stöhnen); dass er mich – die Kinder mangels direktem Interesse ja weniger – in ein enges tägliches und saisonales Zeitkorsett pressen wollte, ohne selbst nur irgendeine terminliche Organisation seiner eigenen Abläufe zuzulassen; dass er seinen persönlichen geistigen Interessen, die es am Rande immerhin gab, konsequent nachging, während er die meinen ebenso folgerichtig ignorierte; dass er gerne akzeptierte, wie ich mit meinem Beruf mehr als er zu unserem Wohlstand beitrug, aber sich nicht im Geringsten um das Was, Wie, Wann, Wo und Warum meiner Tätigkeit scherte…
„Jetzt reicht’s aber, Maam!” riefen Romano und Romina im Chor, gelangweilt. „Was soll denn das bringen? Es hat damals nichts geholfen, nützt heute nichts und wird auch in Zukunft nichts ändern, und ganz ehrlich: Wenn wir uns je der Illusion hingegeben haben, der Mann sei am Ende, sehen wir ihn hier vor uns – es geht ihm leidlich gut, jedenfalls so gut wie allen, denen ihre Umgebung scheißegal ist!”
Romuald hatte – das wurde mir erst jetzt so richtig bewusst – noch gar nichts gesagt (genau genommen nicht einmal ein Grußwort). Als die Kinder sich in ihre Zimmer zurückgezogen hatten, zeigte sich, dass die beiden mit ihrer letzten Aussage doch im Unrecht gewesen waren: Es gab jemanden, dem Romi nicht gleichgültig war – nämlich ihn selbst! Und so kniete sich dieser unmögliche Mensch, nachdem ich mich gesetzt hatte, zu mir hin, beugte sein Haupt und bat flehentlich: „Kannst du den Aufruhr in meinem Kopf beruhigen?”
Das waren ja auf einmal ganz neue Töne! Sollte er plötzlich – wenn auch später als viele andere – Wirkung zeigen unter den Schlägen, die (ich weiß mich nicht anders auszudrücken als banal) das Leben austeilt? Sollte er vielleicht überhaupt erst so spät erkannt haben, dass es sich bei vielem, was er nonchalant und sportlich über sich ergehen ließ, eben nicht nur um harmlose Kratzer, sondern um ernsthafte Prügel gehandelt hatte? Und sollte er womöglich am Ende sogar verstehen, dass all der Schaden, der durch seine oftmals sinnlosen Eskapaden anderen in reichlichem Maß zugefügt worden war, auch bei ihm selbst erhebliche Verletzungen bewirkt haben musste?
Ich sehnte mich spontan sehr sehr weit weg, unter Zurücklassung dieses verdammten Beschützerinneninstinkts, den ich unaufhaltsam in mir hochsteigen fühlte…
DIE DREHBUCHAUTORIN:
… wozu sich der Jahreszeit gemäß der Indian Summer anbietet: Ontario vielleicht, am Ufer des Superior Lake – eine völlig glatte Wasserfläche, in der sich die Baumformationen des Ufers in allen Farbschattierungen von Gelb über Rot bis Braun spiegeln, kontrastiert vom Blau des wolkenlosen Himmels. Es ist kühl, du erlebst ein ozeanisches Gefühl, aber ganz anders als auf einer Ägäis-Insel, wo du denkst, wie schön es wäre, in eine sonnendurchflutete, durchsungene, durchtanzte Ewigkeit einzugehen – hier hingegen erwartet dich, wenn du nur lange genug hier liegst, unter Laub und später daraufsinkendem Schnee ein inhaltsleerer, aber deshalb umso begehrenswerter Tod: das Ende der Leidenschaft, das Verlöschen jeglichen Strebens.
Du, fuhr ich Romi an, ausgerechnet du erwartest Gefühle von mir – du, der sich immer so verhalten hat, als würde er ewig jung und stark und gesund sein, als würde ihn die Betroffenheit, die uns andere stets ankränkelt (sei es mit den Schicksalen rundum oder auch bloß mit unserem eigenen Los), gar nichts angehen, als würde er niemals irgendeiner Hilfe und nicht einmal irgendeines kleinen Trostes bedürfen? Du, gerade du senkst melodramatisch den Kopf in meinen Schoß und sehnst dich offenbar plötzlich danach, statt in diese Burg in alter Gewohnheit mit deinem legendären Rammbock einzubrechen, Schutz für deinen wunden Geist zu finden? Wenn ich daran denke, mit welch romantischer Einstellung ich in die Ehe mit dir gegangen bin, nur um gleich zu Anbeginn mitzukriegen, dass du weiter uneingeschränkt dein eigenes und unabhängiges Leben führen wolltest, aber versüßt durch die mit einem Mal permanent vorhandene Grundierung einer Ehefrau, die dafür herhalten musste, dass es nur ja keinen Leerlauf für dich gab. Nach einem Monat – was sage ich, nach zwei Wochen schon mit dir (während unsere Familien sich noch immer in Schwärmereien darüber ergingen, welch reizendes Paar wir wären) konnte ich mir ausrechnen, dass ich dir bei mittlerer Lebenserwartung meinerseits und einigermaßen funktionierender Potenz deinerseits ungefähr 10.000 bis 15.000 Mal zu Willen sein würde, und das in jeder erdenklichen Situation, milde ausgedrückt: auch wenn ich mich nicht wohl fühlte, meine Tage hatte und sogar, wie sich herausstellte, dann noch, als ich hochschwanger war.
DIE DREHBUCHAUTORIN:
Da schaute der Beschuldigte natürlich völlig perplex, wobei er nach wie vor schwieg: Was denn da, staunte er stumm, so alles im Kopf seiner Frau, mit der er sich absolut nur sehr oberflächlich beschäftigt hatte, vorging. Aber sagen Sie, Darling, auch wenn alles anders gekommen ist und Ihre quantitative Prognose angesichts der Trennung von Romuald sich bei weitem nicht erfüllt hat: Hör’ ich nicht doch aus Ihren Reden dann und wann heraus, dass Sie es, wie oft auch immer, genossen haben?
Oft genug, glauben Sie mir, und wenn es so war und ich mich dem wohligen Nachklingen eines solchen Erlebnisses ausführlich hingeben wollte, Küsse erwartete und kleine versteckte Zärtlichkeiten, blieb der Bursche, wenn Sie verstehen, was ich meine, kampfbereit über mir und in mir (zuerst blieb’s angenehm, dann wurde er mir langsam zu schwer), und so wie er spürte, dass es ihm wieder möglich war, ein Dacapo zu veranstalten, wurde das durchgezogen. Und niemals war die Rede davon, dass er mir vielleicht auf einer anderen als dieser horizontalen Ebene bei der Verwirklichung eigener Wünsche, Vorstellungen und Bestrebungen hätte dienlich sein können!
DIE DREHBUCHAUTORIN:
Aber jetzt braucht er doch offensichtlich Hilfe…
DER PRODUZENT:
Meine Tochter! Sie weiß offenbar doch noch, dass der Platz einer echten Frau…
DIE DREHBUCHAUTORIN:
Shutup! oder ich vergesse mich! Bei allem Verständnis für alles – der da braucht nicht deine Fürsprache! Er soll für sich selbst sprechen!
Ich werde für ihn sprechen, so seltsam euch auch die Conclusio des Folgenden erscheinen mag: Wenn dieser Romuald hier (so ist es immer wieder geschehen) um fünf Uhr morgens erwachte und, aufs Höchste erregt, begann, mich zu streicheln – in einer Weise allerdings, die nichts anderes bewirken sollte als meine technische Zugänglichkeit –, reagierte ich äußerst erbost: allein, er war nie der Typ, sich davon beeindrucken zu lassen. „Hab’ keine Lust zu diskutieren!” zischte er, um dann hinzuzufügen: „Hab’ auch keine Lust, mir’s selbst zu besorgen!” Und an dieser Stelle streckte ich die Waffen, meine lieben Freunde, und ließ ihn gewähren, wobei irgendetwas oder irgendjemand in meinem Hinterkopf meinte, Letzteres sollte ich wohl als eine Art Kompliment nehmen, wenn nicht für meine Person als solche, so doch für meinen appetitlichen Körper.
607
Imagine there’s no country,
It isn’t hard to do,
Nothing to kill or die for,
And no religion too,
Imagine all the people
living life in peace…
Noch weiter als zu Zeiten John Lennons war die Welt Grand Americas und Groß-Chinas von jenem naiven Frieden entfernt, und wer weiß, wohin man, ohne diese immer wieder einmal lancierten Hinweise, dass es außer der gegenseitigen Bedrohung auch noch eine ganz andere, eine kosmische Gefahr gab, bereits geraten wäre. Dans und Kravcuks Konzept, bei gutem persönlichen Einverständnis permanent irgendwelche Schreckschüsse auf die andere Seite abzufeuern, um die jeweiligen Untertanen aus Angst vor dem gegnerischen Regime bei der Stange zu halten, hatte sich weitgehend totgelaufen. Zahlreiche Pannen, die teils von subalternen Ausführungsorganen unabsichtlich, teils von Angehörigen der Führungsschichten vorsätzlich, teils aber auch von den beiden Staatsoberhäuptern selbst aus Lust an der Provokation des geliebten Gegenübers ausgelöst worden waren, hatten jenes frühere Urvertrauen erschüttert: Es schien, als ob die beiden Machtblöcke samt und sonders ihrer eigenen Propaganda auf den Leim gegangen wären – kein Wunder übrigens in Gesellschaften, deren politisches Leben sich weitestgehend im Fernsehen abspielte, einem Medium, das rückhaltslos Realität und Fiktion, Nachrichten und erfundene Geschichten so lange durcheinander mischt, bis selbst die Erzeuger des Programms nicht mehr imstande sind zu unterscheiden.
BRIGITTE, DIE DREHBUCHAUTORIN, DER PRODUZENT UND DER GROSSE REGISSEUR:
(im Chor) Wieder einmal aus politischem Katzenjammer eine Pflichtübung in Kulturpessimismus?
BRIGITTE:
Dabei – was soll’s, es war ja wieder Ruhe in den beiden Imperien. Die Tage gingen dahin, und schlichtweg nichts passierte, und das wurde von den meisten als wirkliche Qualität angesehen: als sicheres Zeichen dafür, dass gar nichts passieren konnte, und selbst wenn etwas Gröberes passierte – wie die von spirituellen Eiferern ausgelösten Naturkatastrophen in den USA und die Ausbrüche von religiösem Fanatismus in den südwestlichen Territorien des Chinesischen Reiches –, fragte man nur, ob jemand aus der nächsten Umgebung betroffen sei, nur um sofort, wenn dies nicht der Fall war, wieder zur Tagesordnung überzugehen!
Stand also auf der alten Erde ohnehin alles zum Besten? Nun, die Walemira Talmai versuchte auf ihre Weise (also eher auf der Ebene von Moral Suasion) immer wieder zu kalmieren, und Sir Basil ging ebenfalls (wenn auch mit wesentlich mehr Machiavellismus) gegen Tendenzen vor, die seinen Intentionen zuwiderliefen. Dennoch konnten die beiden bestenfalls eine Verzögerung bewirkten, und das war ihnen offenbar auch klar. Angesichts dessen, was sie unternahmen, um die Welt als Ganzes vor einem ungewissen Schicksal zu bewahren, gaben sie sich allerdings bereits mit dem kleinsten Zeitgewinn zufrieden…
DIE DREHBUCHAUTORIN:
… wobei man fairerweise ergänzen sollte, dass die beiden niemals die Absicht hegten, den Globus nach ihren persönlichen Vorstellungen umzugestalten!
DER GROSSE REGISSEUR:
Nein, das lag ihnen sicher fern!
DER PRODUZENT:
Sie liebten überlebensgroße Herausforderungen – die Knochenarbeit einer routinierten Administration der vorgefundenen Wirklichkeit wollten sie gerne anderen überlassen…
DIE DREHBUCHAUTORIN:
… was in den meisten Fällen dann auch danebenging: Man denke an das spektakuläre Versagen Lijaifsxys bei der ihm zugedachten Aufgabe, im Parallelunivesum Ordnung zu schaffen.
BRIGITTE:
Ich kann aber niemandem einen Vorwurf machen: Auch mir bereitet ja schon das Nachdenken über das Ausmaß an Komplexität, das die Welt erreicht hat, ziemliches Kopfzerbrechen, zumal man sich als einzelnes Wesen mit begrenzten intellektuellen Kapazitäten außerstande sieht, auch nur eine einzige verbindliche und plausible Vision zu formulieren, geschweige denn Maßnahmen auf dem Weg dorthin zu planen.
DER GROSSE REGISSEUR:
Als einer, der sich selbst für bedeutend gehalten hat…
DER PRODUZENT:
… und das, in the bottom of’is heart, noch immer tut…
DER GROSSE REGISSEUR:
… als einer jedenfalls, der für seine hohe Meinung von sich immer heftig kritisiert wurde, kann ich Sir Basil, der mir in puncto Selbsteinschätzung keineswegs nachsteht, den Vorwurf nicht ersparen, jene Komplexität nur allzu oft auf die leichte Schulter genommen – oder vielmehr die Welt gnadenlos in seine eigenen, zugegebenermaßen auch sehr komplexen, aber doch andersartigen Denkschemata gepresst zu haben.
Er verließ sich da wohl ab einem bestimmten Zeitpunkt zu sehr darauf, dass die Walemira Talmai schon rechtzeitig eingreifen würde, sollte er einmal über das Ziel hinausschießen. Tatsächlich waren die beiden ja ein ebenso eigentümliches, wie auf seine Weise auch effizientes Team: Er mit seiner zwanghaften, etwas nüchternen Expeditivität und sie mit ihrem manischen Wissen darüber, was hinter den Dingen steckte und wie viele zusätzliche Dimensionen hinter der alltäglichen Schimäre von Raum und Zeit verborgen waren.
BRIGITTE:
Wenn wir also glauben, unser Möglichstes für die irdischen Verhältnisse getan zu haben (vom Standpunkt unserer erzählerischen Meta-Ebene, auf der wir bequem all diese Vorgänge reflektieren können)…
… insbesondere Widersprüche dialektisch aufzulösen, ohne sie allerdings gänzlich auszuräumen; Unvollständigkeiten als solche zu benennen, aber dann einfach so stehen zu lassen; und sogar die haarsträubendste Unlogik, in die wir uns selbst hineinmanövriert haben mögen, solidarisch mit Leserin und Leser in milden Hohn zu tauchen, ohne sie jedoch zu beseitigen…
BRIGITTE:
… dann dürfen wir ja wohl darin fortfahren, weiter ohne starres Konzept zu arbeiten, da und dort Akzente zu setzen, an einer Stelle skizzenhaft zu bleiben, an einer anderen wieder die üppigsten Details zu erfinden.
DER PRODUZENT:
Der Versuch – und nicht der Erfolg – hat Ikarus unsterblich gemacht!
DIE DREHBUCHAUTORIN:
Nanana – in Wahrheit geht’s ja wohl darum, sicherzustellen, dass jemand, der die NOSTRANIMA-Geschichte nicht kennt, bei diesem Sequel dennoch auf seine Rechnung kommt. Das gilt einmal für das Skript…
DER GROSSE REGISSEUR:
… und natürlich für das Regiekonzept…
DER PRODUZENT:
… und nicht zu vergessen, für das Geld, das man investiert – bei Fortsetzungen ein ziemlich schwer einzuschätzendes Risiko übrigens, von dem das Publikum üblicherweise nichts mitbekommt, wenn es nach dem weiteren Schicksal seiner Lieblinge giert und vielleicht neu eingeführte Figuren gar nicht akzeptieren möchte. Schließlich liegt die Latte für die Einspielergebnisse bei Teil II von vornherein schon viel höher als bei Teil I (den notabene niemand jemals „I” nennt).
DER GROSSE REGISSEUR:
Alles graue Theorie mittlerweile! Im Moment steckt, wie schon längst festgestellt, keinerlei Risiko mehr in unserer Arbeit (gleichgültig ob „I”, „II” oder „III”), vielmehr besitzen wir die traurige Gewissheit, dass die Zensur ohnehin alles verboten hat.
Aber das würde jetzt zu weit führen! Lassen wir die Erde in ihrem labilen Gleichgewicht – immerhin gibt es ein solches noch, und es findet vorerst, anders als drüben im Spiegeluniversum, kein Rückfall in die völlige Barbarei statt.
608
Die NOSTRANIMA flog nur so dahin. Die Spannungen zwischen meiner Schöpferin und mir hatten sich völlig gelegt, zumal wir nette Androidinnen und Androiden an Bord hatten, mit denen ich auf der langen Reise das eine oder andere phantasievolle Spielchen treiben konnte – sie waren ja alle noch am Lernen, dadurch in vielen Aspekten noch formbar, und ich erlebte mit einer gewissen inneren Erregung das Gefühl der geistigen Macht über andere Wesen. Bei Pif war das völlig anders gewesen, denn ihn hatte ich wirklich geliebt, in dem Sinn, dass ich ihn, jedenfalls ab einem bestimmten Zeitpunkt, nicht mehr als Objekt von Manipulationen sehen wollte. Nun aber, da ich über die Beziehung mit ihm hinweg war (und das geht bei unsereinem sehr schnell, fast abrupt), unterdrückte ich vorerst jede Emanation meines MER in Richtung echte Zuneigung sofort.
Das betraf allerdings nicht mein wiedererstarktes inniges Verhältnis zu Anastacia, und wir verbrachten miteinander viel Zeit, in diesem Fall mit Reminiszenzen schon einmal durchlebter Freuden. Immer wieder suchte die Panagou meine Nähe, aber nicht nur, um in meinen Armen zu liegen, sondern in dieser Position auch zu meditieren. Dabei kreisten ihre Gedanken um den so sehr vermissten Vangelis…
ANASTACIA PANAGOU:
Den Androiden AMG im gesamten Universum oder, wenn wir Pech hatten, in zwei Universen zu suchen, glich der sprichwörtlichen Suche im Heuhaufen. Wäre da nicht der elektronisch-telepathische Raumkreuzer unser Vehikel gewesen, hätte sich die ganze Aktion ohnedies als purer Schwachsinn verboten – so aber konnten wir auf den Schwingen von Giordano Brunos Stringtechnologie, von Chicagos Gedankenübertragungsausstattung sowie meiner grundsätzlichen Gestaltungskomponenten erhoffen, dass die NOSTRANIMA uns letztendlich zum Erfolg verhelfen würde. Die Tatsache, dass das Schiff bereitwillig den Kurs auf VIÈVE akzeptierte, sprach ja deutlich dafür.
Nun, ich mochte derlei unwissenschaftliches Gerede über klar zu definierende Wahrscheinlichkeiten nicht besonders, und ich sagte das auch meiner Konstrukteurin. Dennoch hatte ich den Eindruck, dass sie sich besonders gerne dieser verwischten Sprache bediente, je mehr sie annehmen konnte, dass es mich enervierte, und ich verstand eigentlich nicht recht, warum sie das tat: Es musste etwas mit dieser geheimnisvollen Ironie zu tun haben? Oder war es Zynismus? Ich hatte für keines der beiden eine für meine Bedürfnisse tragfähige Definition, geschweige denn für den Unterschied zwischen beiden: Was seid ihr Menschen doch kompliziert, Tasoula!
Die Verwendung ihres Kosenamens, den ich von Giorduzzo gehört hatte, schien meine Quasi-Mutter streichelweich zu machen.
ANASTACIA PANAGOU:
Ja und nein, Kind. Wir sind Vieles zugleich und vor allem Vieles durcheinander. Das Phänomen, dem du auf der Spur bist, besteht darin, dass ich es trotz aller Anstrengungen nicht geschafft habe, die volle Komplexität menschlicher Psyche in euch wiederzugeben, und das heißt…
Das hieß wohl eindeutig, dass wir bloße Modelle von Menschen waren (jedenfalls ihrer Ansicht nach) – Abstraktionen, Reduktionen der Fülle, als die sich richtige Menschen verstanden, zumindest seit sich ihre intellektuelle Avantgarde ihrerseits von der totalen Vollkommenheit eines Schöpfergottes emanzipiert und diesen entsorgt hatte.
Was hätte wohl ich analog dazu tun sollen? Anastacia töten, um ab sofort mich selbst absolut setzen zu können? Sie für tot erklären oder jedenfalls ihre Rolle bei meiner Entstehung leugnen? Oder das Problem einfach zur Seite schieben, weil es ohnehin irrelevant war?
ANASTACIA PANAGOU:
Wozu haben wir miteinander Dialektik gepaukt, mein Liebling? Könnte es zwischen uns nicht einfach die Synthese geben, die sich als das Beste aus zwei Sphären darstellt? Wir brauchen schließlich auch keine Männer, wenn wir nicht wollen…
Das mit der Dialektik war so eine Sache. Natürlich hatte ich diese Denkfigur technisch erlernt und versuchte auch weiterhin, mich darin zu vervollkommnen, aber jenseits dessen, was Anastacia mir vermittelte, gab es offenbar etwas, das sie nicht imstande war, mir beizubringen: Ich bezeichnete es bei mir als das positive Verharren im Widerspruch. Während nämlich die Panagou sich geradezu befriedigt in diese sogenannte Synthese fallen ließ, ganz so, als bedeutete dies einen besonderen Lustgewinn, blieb für mich immer noch die Diskrepanz zwischen These und Antithese bestehen, die ich mit ziemlichen Aufwand verbal, aber keineswegs inhaltlich zu überbrücken vermochte.
Nachdem ich zum wiederholten Mal lange Zeit mit hoher Prozessorleistung damit verbracht hatte, eine Lösung zu finden, schob ich mein Unbehagen darüber energisch beiseite. Dafür widmete ich mich lieber meinen Androidenfreundinnen und –freunden, denen definitiv ich Etliches voraushatte, womit die Algorithmen ihrer Programme noch kämpfen mussten, zumal ohne die hilfreichen Interventionen ihres noch unterentwickelten Model for Emotional Response…
[ 2 Zeilen Durchschuss ]
Unbemerkt dockte die NOSTRANIMA schließlich an VIÈVE an. Bekanntlich war ja von dem Schiff bei voller Fahrt bei oberflächlicher Betrachtung nichts zu sehen und auch komplizierte Messinstrumente zeigten nicht mehr als ein leichtes Interferenzmuster vor dem allgemeinen Hintergrund. Plötzlich also und wie aus dem Nichts war der Raumkreuzer da. Die Eintrittskontrollen am Dock schienen mir erhöhte Alarmbereitschaft zu signalisieren.
ANASTACIA PANAGOU:
Ich schickte die AP 2000 ® vor – schließlich konnte man nie wissen. Anpan baute sich vor dem Scanner, der rechts von der Zugangsschleuse angebracht war, auf und wurde sofort in rotglimmendes Licht getaucht. Die Androidin war natürlich nicht auf die Beobachtung des sichtbaren Spektrums angewiesen, sondern erkannte mit ihren Sensoren die relevante Wärmestrahlung. Sie maß eine Wellenlänge von exakt 10,342918 µm und errechnete im Nu eine Frequenz von 2,897688 mal 104 GHz, wobei sie den zugrundegelegten Wert der Lichtgeschwindigkeit im Vakuum infolge der Situation vor Ort um 0,029 % reduzierte. Diese Kalkulation hinterlegte sie an einem Ort in ihrem riesigen Datenspeicher, der nicht im üblichen Sinn greifbar war (nicht einmal für sie selbst), sondern sich fließend bewegte: Lediglich in Anpans Vorstellung befand sich jede Portion ihres Wissens isoliert auf einem kleinen fiktiven Kärtchen.
„Identifizieren Sie sich!” befahl der Lautsprecher.
Man kann sich als richtiger Mensch vielleicht nicht so gut vorstellen, wie wir Androiden die Aktivitäten einfacher technischer Geräte erleben – möglicherweise ist das vergleichbar mit den Empfindungen, die Bio-Humanoiden gegenüber ihren Haustieren hegen: irgendwie verwandt, durchaus vertraut, aber dennoch ganz anders, primitiver eben, weit unter dem eigenen Niveau.
ANASTACIA PANAGOU:
Sie gab sich kurz angebunden. Den Lautsprecher ignorierte sie als Person völlig und wandte sich direkt an das glühende Auge vor ihr. Sie konnte deutlich das Bild sehen, das sich der Apparat von ihr frontal und im Profil machte, mit all den darübergelegten Rastern, die offenbar blitzschnell mit den Grafikpartikeln einer Datenbank verglichen wurden.
Halt dich nicht damit auf, Dummerchen! bellte ich. Sieh lieber unter meine künstliche Haut, wo du Schaltkreise, künstliche Neuronen und mechanische Bauteile erkennen wirst – dürfte dir alles bekannt vorkommen, schätze ich. Und wenn du damit deine und meine Zeit vergeudet hast, lass mich durch!
Ich erlaubte ihm, mein Innenleben zu durchschauen, was unter normalen Umständen aufgrund der ausgeklügelten Vorkehrungen, die Anastacia Panagou gegen die Identifikation ihrer Androiden als artifizielle Wesen getroffen hatte, unmöglich gewesen wäre. Im roten Auge blitzte so etwas wie Begreifen, und der Lautsprecher knackte.
„Kommst du allein?” fragte er.
Acht weitere Kolleginnen und Kollegen auf Erkundungsmission! antwortete ich knapp.
„Wie aufregend!” meinte der Lautsprecher. Das Auge wandelte seine Farbe fließend in Grün, und die Schleusentore schoben sich lautlos zur Seite.
Darf ich vorstellen: Afrodíti – Irmís – Oudéteron – Primavera – Estate…
ANASTACIA PANAGOU:
Hier pfiff der Lautsprecher vernehmlich, und das Auge wurde deutlich heller: Estate war aber auch so etwas von üppig!
… – Autunno – Inverno – und (ich zögerte) Anastacia.
„Halt!” rief der Lautsprecher: „Die ist natürlich!” Das Auge schaltete wieder auf Rot.
Achtung! warnte ich die anderen: Irgendetwas geht hier vor, das allergrößte Gefahr bedeutet!
ANASTACIA PANAGOU:
Mit zwei gezielten Hieben ihrer – wenn sie wollte – stahlharten Hände zerstörte die AP 2000 ® beide Geräte und hielt die Tore, die sich sofort zu schließen begannen, mit äußerster Kraftanstrengung offen, bis auch ich durchgeschlüpft war. Die NOSTRANIMA saugte sich an der Schleuse fest. Niemand würde sie mehr von dort wegbringen oder hier passieren können, bis die Besatzung des Raumkreuzers wiederkehrte. Während unsere Gruppe den Gang Richtung Zentrum der Station entlanglief, um einen Ort zu suchen, an dem wir uns verstecken und die Lage analysieren konnten, heulten Alarmsirenen. Das Spektakel dauerte allerdings nicht lange, denn unaufgefordert brachte die NOSTRANIMA die Signale durch einige gezielte Energiestöße zum Schweigen: Wir hatten wertvolle Zeit gewonnen, und das schien auch höchst lebenswichtig, denn wir sahen überall schwanenhalsige Patrouillen, die nach uns suchten. Ich mochte mir unter diesen Umständen gar nicht ausmalen, wie es wohl Sir Basil ergangen war.
Wir waren eigentlich ja nicht seinetwegen gekommen, sondern weil unsere Konstrukteurin sich Gewissheit über das Schicksal meines Quasi-Bruders Vangelis verschaffen und diesen gegebenenfalls von hier wegholen wollte. Schließlich hatte er sich nach seinem Ausflug in die andere Realität wieder bei mir gemeldet, und von Serpentina wusste ich, dass er auf VIÈVE gelandet war. Bei unserer Annäherung hatte ich auch sein kleines Raumfahrzeug entdeckt, konnte aber keine Impulse wahrnehmen, die darauf hingedeutet hätten, dass meine beiden Androiden-Geschwister sich nach wie vor auf der Station befanden. Von der Mission Cheltenhams wussten lediglich Anastacia und ich in Umrissen (die übrigen sieben gar nichts). Gerüchteweise war auf Cheltenham House verlautet, dass es auf der Station VIÈVE Schwierigkeiten gab und Sir Basil die Absicht hatte, einem Freund und Kameraden zu helfen. Niemand hatte uns konkret um unsere Unterstützung gebeten (obwohl dies angesichts des Potenzials der NOSTRANIMA nahegelegen wäre).
ANASTACIA PANAGOU:
Einerlei – wir waren ohnehin involviert, so wie wir VIÈVE betreten hatten, und vielleicht war das ja von Anfang an in Berenices Absicht gelegen. Wenigstens konnten wir aber zwei wesentliche Vorteile für uns buchen: den telepathischen Schutz des Raumkreuzers und die Tatsache, dass die AP 2000 ® ihre gesamte Androiden-Gruppe, mich selbst in die Mitte nehmend, synchron steuern konnte.
Plötzlich bewegte sich neben uns etwas, was wir für einen Teil der Metallkonstruktion gehalten und nicht weiter beachtet hatten: Zu unserer Überraschung bemerkten wir Clio, perfekt getarnt, die uns zu sich winkte und für uns den Zugang zu einem mittelgroßen Raum öffnete. „Keine Angst!” flüsterte die Komtesse: „Hier kann uns niemand von dem Geflügel finden!”
Dann erst, angesichts ziemlich verständnisloser Mienen, begriff sie erst, dass wir Neuankömmlinge zwar schon von weitem den einen oder anderen Echwejch gesehen hatten, aber uns von der Situation insgesamt keinen Begriff machen konnten, zumal selbst ich von Vangelis lediglich kümmerliche Informationen über die Schwanenwesen empfangen hatte. Daher setzte uns Clio kurz ins Bild, auch darüber, wie Sir Basil und Chicago (der also auch da war!) den Invasoren in die Falle gegangen waren, und sie verhehlte dabei ihren Zorn nicht – mag sein, dass sie sich dabei in Reminiszenzen erging, vielleicht sogar dahingehend, dass der Tyrann der jenseitigen Völker, Cheltenhams besiegter Doppelgänger, sich keineswegs so tölpelhaft hätte fangen lassen.
Ich fühlte das irgendwie, ohne dass Clio es präzise aussprach, und ich empfand es als Ungenauigkeit, wenn nicht gar als Fehleinschätzung, denn ich hatte persönlich ganz anders geartete Erinnerungen an den Diktator, die diesen jedenfalls in einem nicht viel günstigeren Licht zeigten als sein diesseitiges Pendant. Trotz der offensichtlichen Hilfe, die uns hier zuteil wurde, reagierte mein MER mit einem neuen Schub meiner alten Abneigung gegenüber der Komtesse – verstärkt, das gebe ich gerne zu, durch den eindrucksvollen Anblick, den sie bot. Aber auch sie erwies sich mir gegenüber als hypersensibel, denn sie nahm mir den Wind aus den Segeln: „Keine Zeit für Ressentiments, beste Freundin!” sagte sie, indem sie auf mich zutrat und mich mit ihrer bemalten Nacktheit umarmte. Diese Geste sowie die deutlich positive Erwartungshaltung meiner Konstrukteurin und der sieben Quasi-Geschwister, die eine Zurückweisung Clios kaum verstanden hätten, ließen mir keine Wahl: Ich erwiderte den Körperkontakt, inniger als geplant, da mich mit einem Mal der intensive Wunsch, Clios Formen zu spüren, übermannte. Friede! hauchte ich und ließ mich ganz weich anfühlen, wie ich es bisher nur Anastacia und Pif gegenüber getan hatte.
[ 2 Zeilen Durchschuss ]
ANASTACIA PANAGOU:
Der Rest ist rasch erzählt. Obwohl Griechin, habe ich weder das Talent noch die Lust Homers, Schlachten zu schildern. Bemerkenswert war ja doch nur, wie glatt die Rückeroberung der Station und die Befreiung der Königsfamilie vonstatten ging. Wenn man bedenkt, dass wir von der Lage vor Ort völlig überrascht worden waren und von Komtesse Clio zwangsläufig nur eine rudimentäre Einschätzung der Verhältnisse bekommen konnten, schlugen wir uns tapfer. Die AP 2000 ® und ich mussten der Androidentruppe allerdings einschärfen, dass hier ihr Destruktionspotential gefragt war, um Menschen zu retten, wobei es gar nicht so einfach war, den etwas verwirrten Maschinen zu erklären, dass sich ihre vorprogrammierte Angriffshemmung, die sogenannte Direktive, im Prinzip zwar auf alle intelligenten biohumanoiden Lebensformen erstreckte, man aber sehr wohl zwischen Aggressoren und ihren Opfern unterscheiden müsse.
Die Androiden, die zunächst auf meinen Befehl hin eine Nadelstichtaktik verfolgten, stellten bald fest, dass die Schwanenhalsigen, allen voran die Prätorianer der Führerin Machwajch, allesamt aufgestachelt durch deren dramatisch rauschende Worte, mit großer Brutalität allen Versuchen, ihnen die Herrschaft wieder zu entreißen, entgegentraten. Vergessen schienen Liebesgesäusel und Sexgetue der angeblich ständig erotisierten Echwejchs, und dementsprechend hart gingen daraufhin wir, selbst mit überhöhten Frequenzmustern unserer Systeme geradezu vibrierend, gegen die Eindringlinge vor. Nun zeigte sich, dass das Geflügel in Wahrheit keine Chance gegen unsere kleine Mannschaft hatte – die Echwejchs waren schließlich trotz ihrer Rüstungen und Waffen verletzlich, wir hingegen nicht, jedenfall nicht unter den während dieser Kämpfe herrschenden Bedingungen.
ANASTACIA PANAGOU:
Während meine Geschöpfe die Station Gang für Gang und Kaverne für Kaverne durchkämmten und überall die Leichen von Invasoren zurückließen, suchte ich nach Cheltenham und Chicago, konnte sie aber nicht finden. Anpan wiederum rief mir zu, sie wolle trachten, sich der Schwanenherrscherin lebend zu bemächtigen, und tatsächlich kam sie am Ende mit Machwajch, die sie mit ihrem berühmten Nervengriff außer Gefecht gesetzt hatte, daher und ließ die Hohe Frau vor meine Füße fallen.
In diesem Moment tauchten auch Sir Basil und sein Koori-Freund auf, begleitet von dieser Gila Graven, die ich bei der Gelegenheit erstmals kennenlernte: Sie führte ihrerseits den Piloten des Echwejch-Raumschiffs an der Hand. „Er hat uns freigelassen!” erklärte sie fröhlich: „Er ist völlig harmlos – für ein wenig guten Sex frisst er mir aus der Hand!”
609
Eines hatte ich von meinem Mann Basil gelernt: dass man sich niemals, unter keinen wie immer gearteten Umständen völlig blindlings in ein Abenteuer stürzen soll, besonders dann, wenn die eigenen Emotionen danach drängen, sich jeder verstandesmäßigen Kontrolle zu entziehen. Daher wollte ich, obwohl mein Verhältnis zu Seiji Sakamoto ein durchaus physisches war, Erkundigungen über ihn einziehen, ohne dabei aber selbst in Erscheinung zu treten – was lag also näher, als den alten Schnüffler Marconi einzuschalten? Und irgendwann (als ich bereits längst von Seiji schwanger war) kam er endlich mit seinen Erkenntnissen daher.
Der Oyabun aller Oyabuns war bereits sagenhaft reich gewesen, bevor Ray Kravcuk und Dan Mai Zheng die Welt aufteilten und am Ende sogar jeweils persönlich die Führung der beiden Imperien übernahmen. Man muss nur daran erinnern, womit die Yakuza-Klans im alten Japan, als es noch zum amerikanischen Einflussbereich zählte, ihr Geld verdient hatten: mit Prostitution, Glückspiel, Waffenhandel, Kreditwucher sowie dem Verkauf von Aufputschmitteln – es erübrigt sich geradezu, Summen zu nennen. Es war aber noch eine gewaltige Steigerung möglich, als ihnen die wirtschaftlichen Belange des Reiches der Mitte überlassen wurden – als Preis für ihre weitgehende politische Abstinenz, die sie nur gelegentlich unterbrachen, um im Sinne der Großen Vorsitzenden (wenn schon nicht mit deren Wissen oder Billigung) einen brisanten Mord zu begehen. Da erst kam das wirklich große Geld über Sakamoto und seine Leute. Moralische Schranken, außer ihrem eigenen Ehrenkodex, hatten sie ohnehin nie gekannt, doch jetzt fehlte auch jegliche technische Grenze. Sie grasten China ab und zögerten auch nicht, dann und wann einen Beutezug in das Territorium von Grand America vorzutragen, solcherart das Beste aus zwei Welten zusammenraubend. Weltweit zählten die Gegenden beiderseits des sogenannten Limes zu den gefährlichsten überhaupt, weil in dieser Grauzone zwischen den sich misstrauisch beäugenden Boden-, See- und Luftstreitkräften beider Reiche Sakamotos Kommandos hin- und herfuhren und niemanden ungeschoren ließen, der nur einigen Profit versprach.
Seiji konnte sich praktisch alles leisten, was er wollte, und natürlich war es ihm auch möglich, entgegen den präzisen Vereinbarungen mit der Herrscherin in Beijing heimlich Politik zu betreiben, wenn er dies für unumgänglich hielt. Seine prominenteste Idee war es, eine Kette kleiner Pufferstaaten zwischen Grand America und Groß-China einzurichten – ein Gedanke übrigens, der (obwohl er auf den ersten Blick ziemlich utopisch aussah) in seinen Grundzügen tatsächlich, wenn auch viel später, verwirklicht wurde.
[Grafik 609]
Die Überlegung war einleuchtend: Lag nämlich über den Land- und Meeresgebieten entlang der Demarkationslinie jetzt schon der berüchtigte Kuroi Kiri, der Schwarze Nebel der Yakuza-Klans, wie angenehm für die lichtscheuen Geschäfte von Seijis Verein musste es erst sein, wenn die beiden Supermächte sich hier militärisch-taktisch voneinander absetzten! Allein, die Zeit war nicht reif dafür, das wusste Sakamoto selbst und behielt daher seinen Plan vorerst für sich. Leo hatte folglich dafür auch keine stichhaltigen Beweise, doch sagte mir mein Instinkt sehr deutlich, dass er richtig lag – was dem Oyabun durch den Kopf ging, ergab sich konsequent aus der gegebenen geopolitischen Situation.
LEO DI MARCONI:
Und das muss jetzt endlich auch raus, Chuck! Ich veröffentliche nach den Gepflogenheiten des Boulevards diese bloße Mutmaßung als zwingenden Schluss, und an den Reaktionen – den wütenden Dementis, den halbseidenen Ableugnungen und dem beharrlichen Schweigen – sehen wir genau, wer wo steht! Endlich nach langer Zeit werden wir wieder einmal so richtig ins Geschehen eingreifen!
… und uns damit genau in die Schusslinie Seiji Sakamotos stellen, der nicht zögern wird, ein Blutbad anzurichten, wenn Sie ihm derart auf die Zehen treten!
Ich wollte da auf keinen Fall mitmachen. Fast schien es mir, als wolle Marconi aus schlichtem Trotz diesen Weg gehen, den man ihm von verschiedenen Seiten energisch verboten hatte: als ein richtiger Dead Man Walking. Vielleicht legte er es darauf an zu sterben – in dem kuriosen Wohlgefühl, dass jemand würde für seinen Tod büßen müssen, obwohl er selbst nicht mehr den geringsten Vorteil davon hatte. Und bei all dem unterschätzte er den Ober-Oyabun gewaltig.
LEO DI MARCONI:
Nicht doch! So weit bin ich Journalist, um zu wissen, wie man eine ordentliche Recherche durchführt, und das Internet hat uns für unsere Arbeit ein fast unendliches Feld kreativer Assoziationen bereitgestellt: Es ist wie früher Schmökern in einem vielbändigen Lexikon, nur vom Volumen her millionenfach vervielfältigt und vom Arbeitsaufwand her tausendfach verkürzt. Damals wäre man – auf Materialsuche zu Sakamoto – zweifellos nur durch einen irren Zufall auf eine Verbindung zu Vignolo dei Vignoli gestoßen, was heute schon nach wenigen Minuten des Surfens, immer vorausgesetzt, man verwendet die geeigneten Begriffe, möglich ist.
Interessant, wie das Web einen Yankee verändern konnte, der zwar für amerikanische Verhältnisse ohnedies überdurchschnittlich gebildet war, aber dennoch mit Geschichte, namentlich mit europäischer, nichts am Hut hatte. Vignoli – wer von diesseits des Atlantiks, der sich mit der faszinierenden Zeit des Spätmittelalters beschäftigt hat, kennt ihn nicht, den schlauen Kontrahenten des Johanniterordens? Er schaffte es am Ende, dem Großmeister Foulques de Villaret (der sich mit seinen Rittern nach dem Fall Akkons so gut es ging auf Zypern etabliert hatte) den Mund wässrig zu machen nach einem eigenen Herrschaftsgebiet: Rhodos – man müsste es nur eben noch erobern, wobei sich der Genueser zu helfen bereit erklärte, gegen ein Drittel aller zu erwartenden Einkünfte. Seine wahren Absichten, nämlich unter einem künftigen militärischen Schirm des wieder potent gewordenen Ordens im östlichen Mittelmeer ungestört seiner eigentlichen Profession (der Seeräuberei) nachgehen zu können, tarnte er offensichtlich geschickt. Und Fra de Villaret tat ihm den Gefallen: Er setzte sich nach langwierigen, kostspieligen und verlustreichen Kämpfen in den Besitz der Sonneninsel und schuf damit de facto die Position, die Vignolo für die Knights Hospitallers und zugleich für sich selbst erträumt hatte.
LEO DI MARCONI:
Genau dieser Typ Abenteurer ist Sakamoto: nicht nur der menschenverachtende, zynische und brutale Verbrecher, als den wir ihn gerne skizzieren, sondern seiner Person wohnt auch ein Schuss Romantik inne, die erst sein Leben und seine Taten oder wenigstens einen Teil davon erzählenswert erscheinen lassen, abgesehen davon, dass in diesem Bericht selbstverständlich seine Rolle schon per se eine bedeutende ist. Vieles von dem, was hier – etwa über die Neugestaltung der Geopolitik – dargelegt wurde, ist schließlich ohne ihn gar nicht vorstellbar. Kein Wunder, dass der alte Hong den Oyabun seinerzeit in seine Überlegungen für ein neues Groß-China eingebunden hat (nicht ohne den Anstoß dazu unwissentlich von Sir Basil zu erhalten), aber auch dass der amerikanische Präsident ihn aktuell in sein Kalkül dosierter subkutaner Beziehungen zwischen den beiden Imperien einsetzte. Erst recht aber war – und das überrascht nicht – Sakamoto für die Walemira Talmai ein Fixpunkt der Strategie, mit der sie die irdische Flanke zu festigen versuchte, als Absicherung für ihre kosmischen Unternehmungen.
Was immer man unterhalb dieser höchsten Ebene von Seiji halten mochte (oder was seine eigenen Leute womöglich wirklich von ihm dachten) – all das konnte ihm herzlich gleichgültig sein, und aufgrund dessen gönnte er sich unverdrossen die eine oder andere Extravaganz. Moskau zum Beispiel war ihm einmal im Jahr eine Reise wert, und es hatte ihm – wenngleich der anderen Seite des Globus zugehörig – keine Schwierigkeiten bereitet, außer für London auch für diese Stadt eine Zugangsberechtigung von oberster Stelle in Washington zu erhalten. Bei diesen Besuchen ging es ausschließlich um sein Privatvergnügen: Pünktlich jeden August veranstalteten nämlich die Herren Semion Timoschew und Kai-Hasso von Thybalt, die beiden Gönner Natalia Petrownas und Verushka Dimitrowas, eine Messe exklusiv für Superreiche – und es war, glauben Sie mir, das einzige Ereignis, das sich in der herabgewirtschafteten Metropole noch einiger internationaler Bedeutung rühmen durfte.
LEO DI MARCONI:
Auf dieser Millionaire Fair konnten die Superreichen von Grand America – jene, die sich nach Einkommen oder Vermögen dort bewegten, wo man über Geld nicht mehr redet, sondern es einfach hat – das sinnlose Zeug kaufen, das ihnen vorbehalten ist, die sonst schon alles haben: ganze Inseln, Burgen, Schlösser und Paläste, Pianofortes aus Platin, Schachfiguren, die aus prähistorischen Knochen geschnitzt waren, Rassepferde, luxuriös ausgestattete Fahrzeuge aller Art sowie exquisite Kleidung mit Fun Factor, beispielsweise einen Anzug, der aus 5000 Ein-Dollar-Noten gefertigt wurde. Aber auch außerordentliche Events konnte man dort erstehen wie etwa ein persönliches Treffen mit Angehörigen alter Familien oder ein Überlebenstraining im Dschungel. Es nimmt auch nicht Wunder, dass für reiche Damen auf dieser Messe schöne Männer und für betuchte Herren luxuriöse Frauen zu kaufen waren, allerdings nicht offiziell, sondern auf einem zwischen den Ständen der Firmen fluktuierenden grauen Heiratsmarkt: Dabei ging es jedenfalls nicht um kurzfristige Erbauung, sondern um den dauerhaften und juristisch einwandfreien Erwerb eines Vorzeigeobjekts.
Seiji Sakamoto kam mit den Veranstaltern ins Geschäft, weil diese eines Tages die Eingebung gehabt hatten, ihr Angebot nicht nur auf das Amerikanische Imperium zu beschränken, sondern – horribile dictu – Gegenstände und Orte aus dem Reich der Mitte als besonders exotische Erweiterung aufzutun, und da war natürlich unser japanischer Freund der geeignete Ansprechpartner für sie, der ihnen fast alle Wege ebnen konnte. Und als auch diese Geschäftssparte so richtig anlief, war es Timoschew und von Thybalt natürlich eine Ehre, den Oyabun, von dem sie ahnten, dass sein persönlicher Reichtum jenen ihrer sonstigen Klientel noch bei weitem überstieg, auch als Kunden auf ihrer Millionaire Fair begrüßen zu dürfen.
Seiji sah sich auf der Messe, so pünktlich er auch jedes Jahr erschien, allerdings immer nur um, interessierte sich nie näher für irgendetwas – wir gehen wohl nicht fehl in der Annahme, dass dem hochgezüchteten japanischen Gentleman praktisch alles, was es dort gab, viel zu stillos war, verglichen mit der edlen Schlichtheit der zum Teil uralten Einrichtungs- und Kunstgegenstände aus seiner Heimat, mit denen er sich gerne umgab. Abgesehen davon legte er keinen gesteigerten Wert darauf, seine Wohlhabenheit zur Schau zu stellen, und folgte darin der hermetischen Diskretion, die viele Generationen von Oyabuns ihm vorgelebt hatten. Allerdings bereitete es ihm Spaß, die Messe als solche zu beobachten, die Geschmacklosigkeit der ausgestellten Kuriositäten ebenso wie die blanke Gier, die hier hemmungslos ausgelebt wurde.
LEO DI MARCONI:
Ein einziges Mal schlug auch er zu, und zwar in jener bewussten Grauzone der Veranstaltung. Nachdem du, Chuck –
„Lady Charlene” und „Sie”, wenn ich bitten darf!
LEO DI MARCONI:
– nachdem also Sie, schwanger geworden –, sich von ihm zurückgezogen hatten, und er die neuerliche Schmach mangelnder Unterordnung durch eine Amerikanerin (nach ähnlichen Erfahrungen mit seiner Ehefrau Sharon) nicht recht verkraften konnte, kaufte er sich eine junge russische Aristokratin, die ihm auf dem Messe-Defilé aufgefallen war: Natürlich makellos (beste Ware, wie üblich dort), aus der verarmten Fürstenfamilie Dolgorukij und deshalb willig, für ein Leben in Saus und Braus, das er ihr versprach, ihre Seele hinzugeben. Wäre übrigens neugierig, was die Gute (nachdem der Deal unter Dach und Fach war und es kein Zurück mehr gab) wohl empfunden hat, als sie Seiji zum ersten Mal im stillen Kämmerchen, über und über mit schaurigen Tätowierungen übersät, zu Gesicht bekam, ganz zu schweigen davon, was er unmittelbar darauf mit ihr anstellte.
Nun, darüber erfuhr Leo nicht viel mehr, als dass Seiji seine Beute nach Tokio verfrachtete und dort vermutlich wie eine Gefangene hielt. Vom Oyabun selbst hingegen hörte man weitere interessante Dinge – vor allem, dass er auch auf einer Messe ganz anderer Art gesehen wurde. Ort der Veranstaltung war Port Klang an der Westküste der Malaiischen Halbinsel, dessen ausgedehnte Anlagen sich die Yakuza-Klans unmittelbar nach dem ökonomischen Freibrief aus Beijing ungeniert angeeignet hatten.
LEO DI MARCONI:
Nicht zuletzt bei dieser Aktion zeigte sich übrigens deutlich die Analogie zu Vignolos Konzept: Wie dieser sich der wackeren Kreuzritter bedient hatte, spannte Sakamoto die chinesische Volksbefreiungsarmee ein, als die damals politisch noch nicht voll in das Reich der Mitte integrierte Regierung in Kuala Lumpur die Hoheit über diesen Hafen nicht widerstandslos aufgeben wollte.
Als die Sache schließlich zugunsten der Japaner entschieden war und diese darüberhinaus alles Volk in und um Klang, das nicht unmittelbar mit dem Betrieb der Ankerplätze und Logistikeinrichtungen befasst war, vertrieben hatten, entwickelte sich der Ort zu einem modernen Piratennest, das gut in die Tradition des südostasiatischen Archipels passte: Eine unermessliche Zahl größerer und vor allem kleinerer Inseln, die wiederum massenhaft Buchten und Höhlen aufwiesen, hatten ja seit Menschengedenken eine hervorragende Operationsbasis für die Schiffe mit der Totenkopf-Flagge abgegeben.
Einmal in Port Klang etabliert, ließ Sakamoto seine Leute unverzüglich ans Werk gehen. Zunächst wurden selbstverständlich nur westliche Frachter gekapert (mit wohlwollender Duldung der östlichen Staatsmacht, deren maßgebliche Vertreter ihre Prozente von Seiji kassierten). War die Ladung transportabel oder bestand sie nur aus leicht manipulierbaren Wertsachen, ließ man Schiff und Besatzung ungeschoren abziehen. Wenn allerdings der ganze Kahn in den Yakuza-Hafen geschafft werden musste, um die Beute verwerten zu können, wurde die Originalmannschaft für dieses Manöver eingesetzt, was in der Regel bedeutete, dass die armen Teufel nach getaner Arbeit samt ihrem Kapitän abgemurkst wurden, um unliebsame Zeugen auszuschalten.
Ab und an jedoch, wenn eines der Schiffe sich dafür anbot, in eine Kampfmaschine verwandelt zu werden, schenkte man auch schon einmal einer Crew das Leben, mit der Auflage, sie müssten sich zum Piratentum bekehren und für die Yakuzas klammheimlich chinesische Seetransporte überfallen. Verständlicherweise erschienen dann Beijings Marineeinheiten dem Plan, um die Missetäter zu suchen (Sakamoto stellte sich jeweils völlig ahnungslos), und solcherart ergab sich die Gelegenheit, auch Objekte der gelben Kriegsflotte zu kapern.
Über kurz oder lang gab es daher in Klang sowie in der angrenzenden Inselwelt einen breitgestreuten Bestand an militärischem Material, das unter riesigen Netzen sowie in gut getarnten Hallen und unterirdischen Kavernensystemen gelagert war: von Fregatten, Kreuzern, Helikoptern und Kampfjets bis herunter zu Panzern, Lkws, Minenwerfern, Gewehren und Munitionskisten konnte man hier alles Einschlägige finden. Mit Hilfe dieser Kapazitäten war es der Yakuza-Truppe schließlich möglich, kleinere Einheiten der amerikanischen Streitkräfte (die selbst immer wieder illegal und unter Verletzung des Limes in chinesische Hoheitsgewässer eindrangen, um der Piraten habhaft zu werden) in die Falle zu locken und zu entführen: Das vervollständigte Seijis Sortiment.
LEO DI MARCONI:
Zu groß durften allerdings diese Bestände nicht werden, sonst hätte man sie – selbst unter den äußerst günstigen strategischen Bedingungen – auf Dauer schwerlich geheim halten können. Was lag daher näher, als in gewissen Abständen eine richtiggehende Börse abzuhalten, auf der ein obskures Publikum alles ersteigern konnte, was an Kriegsgütern aus den besten Waffenschmieden beider Imperien gut und teuer war.
An diesem Punkt trafen sich theoretisch auch die Interessen von Sakamotos Kundschaft mit seinem langfristigen Entwurf eines neutralen Staates zwischen den beiden Hemisphären, denn dieser würde ja nicht nur für die Yakuzas, sondern auch für andere dunkle Elemente einen idealen Tummelplatz darstellen. Noch kannte wie gesagt niemand dieses Vorhaben, und es sollte noch viel Zeit bis zu dessen Verwirklichung vergehen, aber der Oyabun wusste bereits heute, dass er sich seine Idee eines Tages von allfälligen Interessenten teuer bezahlen lassen wollte.
610
Ich hasse Wiedersehensszenen (mehr noch vielleicht als Abschiede), aber gut, man könnte jetzt auch behaupten, ich sei bloß neidisch gewesen, weil ich leer ausging. Komtesse Clios Zorn auf Sir Basil war mit einem Mal verraucht, und sie fiel ihm theatralisch um den Hals. Meine AP 2000 ® umarmte Chicago so heftig, dass ihm fast die Luft wegblieb. Gila Graven und der Schwanenpilot waren ohnedies dauernd intensiv miteinander beschäftigt, was ich inmitten der Walstatt etwas geschmacklos fand. Von der Königsfamilie küssten einander alle wechselseitig ab, während sie strahlten über ihre Befreiung.
Seitens der Echwejchs regte sich kein Widerstand mehr. Ohne zu zögern, hatten die sieben neueren Androiden zuletzt noch die Angehörigen von Machwajchs Leibgarde um ihren Kopf und den langen Hals kürzer zu machen (eine spezielle Behandlung, zu der Anpan ihre Kolleginnen und Kollegen angeregt hatte und an der man sehen konnte, dass sie schon sehr lange mit uns Menschen zusammenlebte). Die leblosen Torsi drapierte man, so wie sie waren, kniend, die blutverschmierte Rüstung noch angelegt, dazu die Waffe in der erstarrten Rechten, in Mango Berengas Akademie (augerechnet! – aber es war keine Ironie, denn Androiden haben keine) zu einem monumentalen Halbkreis.
In dessen Mitte wurde die Hohe Frau selbst an Pfählen bäuchlings gegen den Boden gezurrt, völlig unbeweglich mit angewinkelten Knien und einem schräg nach vorne gereckten Haupt – auf das tiefste Niveau der Erniedrigung gebracht, da jeder Vorübergehende sie verhöhnen oder misshandeln konnte. Ihre hingemetzelten Artgenossen führten ihr zudem ununterbrochen ihre Ohnmacht vor Augen.
KÖNIG KEYHI:
Unmittelbar nach meiner Befreiung suchte ich diesen deprimierenden Schauplatz auf. Wie sehr ich mir auch wünschte, meine besiegte Feindin zu begnadigen und ihr mit den Überresten ihres geschlagenen Heeres freien Abzug zu gewähren, ich wagte es nicht, gegen die Vorgangsweise meiner Retter zu opponieren. Machwajch schien meine Gedanken lesen zu können. „Eigentlich”, zischte sie undeutlich, wegen des Knebels, den man ihr in den Mund geschoben hatte, zwischen den Zähnen hervor, „eigentlich ist deine Herrschaft erst jetzt richtig zu Ende, o König! Denn ein gefangener Monarch ist noch immer derselbe, der er war, aber einer, der nicht mehr das tun kann, was er will, hat de facto bereits abgedankt!”
Keyhi war geschockt, denn klarer hätte man sein Dilemma gar nicht umschreiben können. Und es dämmerte ihm außerdem jetzt, da er in Machwajchs Augen geblickt und ihren grenzenlosen Hass wahrgenommen hatte, selbst, dass man sie früher oder später würde ebenso töten müssen wie ihre Untertanen, andernfalls der Durst nach Rache, den sie gegen ihre Peiniger aufbaute, eines Tages zu einer gewaltigen Entladung kommen und alles weit und breit vernichten würde.
Der König zauderte, und wann immer er an die Notwendigkeit einer Entscheidung erinnert wurde (wobei sich dieser Ikqyku Diaxu – übrigens eine schillernde Erscheinung, die jede verbale Beschreibung noch übertraf – am meisten hervortat, offenbar immer bereit, Keyhi ein wenig zu quälen), versuchte er Zeit zu gewinnen. Irgendeine mitleidige Seele verbarg schließlich das Problem wenigstens optisch und errichtete vor der gefangenen Machwajch und den Leichen einen provisorischen Paravent.
KÖNIG KEYHI:
Anastacia Panagou kümmerte sich jedenfalls fürs Erste nicht mehr um die Situation auf VIÈVE, und man konnte es ihr ja wohl nicht verdenken, denn sie hatte genug getan. Dass sie allerdings nicht einmal die Höflichkeit aufbrachte, mich zumindest formal über ihre bevorstehende Abreise zu informieren, verletzte mich. Ich sprach darüber mit meiner Königin, aber sie überging dieses Thema als augenblicklich völlig belanglos – selbst sie mahnte mich ungerührt, den Fall der Schwanenherrscherin zu bereinigen. Da ich genau wusste, was sie darunter verstand, erschrak ich über so viel Grausamkeit, und ich musste sehr an mich halten, um Mango nicht aufzufordern, Machwajch selbst zu töten.
[ 2 Zeilen Durchschuss ]
Ich hatte es, von düsteren Ahnungen getrieben, plötzlich mehr als eilig, die Suche nach meinem Vangelis fortzusetzen. Auf VIÈVE befand er sich offenkundig nicht mehr, obwohl (wie Anpan mittels intensiver Erkundigungen feststellen konnte) niemand definitiv seine Abreise beobachtet hatte. Zusammen mit meiner Androiden-Truppe begab ich mich an Bord der NOSTRANIMA und legte von der Station ab, wobei man es der Intuition des Raumkreuzers überlassen musste, den richtigen Weg zu finden, und siehe da, das Schiff folgte offenbar fast unmerklichen Energiespuren, die in die andere Realität führten, und zwar durch einen Übergang weit draußen im All, den zu versiegeln wir bei unserer ersten Mission verabsäumt hatten.
Ich war aufs Äußerste besorgt, nicht nur wegen Vangelis’ Schicksal, sondern auch darüber, welche Verhältnisse uns generell in der Spiegelwelt erwarten würden. Sogar die AP 2000 ® fühlte, wie ihr Model for Emotional Response diffuse Alarmsignale produzierte, was ihr auch plausibel erschien, in Anbetracht der Erfahrungen, die sie bereits im Alpha-*-Universum gemacht hatte.
DIE NOSTRANIMA:
(wendet sich telepathisch an die AP 2000 ®) Aber wirklich, kleine Freundin, hast du denn vergessen, dass ich damals wie heute und in jeder erdenklichen Lage – selbstverständlich ohne mich je aufzudrängen – mental an deinen Gedanken, Worten und Werken beteiligt bin, ebenso wie an jenen aller anderen Passagiere, denen ich jeden Wunsch quasi an den Augen ablese?
Anpan schien erleichtert. Da die beiden auch mich an ihrer stillen Kommunikation teilhaben ließen, nahm ich ebenfalls etwas Beruhigung für mich daraus mit. Tatsächlich war ja schwer vorstellbar, dass in der Spiegelwelt etwas existierte, das dem Raumkreuzer gefährlich werden konnte – schon früher hatte selbst die noch intakte Diktatur von Iadapqap Jirujap Dlodylysuap der NOSTRANIMA nichts Vergleichbares entgegensetzen können. Auch davon, dass mein Schiff Vangelis in absehbarer Zeit aufspüren würde, war ich überzeugt – aber in welchem Zustand mochten wir ihn finden? Ich dachte an Devteri, Protos und Tritos, deren virtuelles Dasein auf bestialische Art beendet worden war. Wenn man meine Androiden auch nicht verwunden konnte – sie mit Brachialgewalt zu zerstören, war natürlich möglich.
DIE NOSTRANIMA:
Wir beeilen uns, und umso früher werden wir es wissen. Was mir hingegen im Moment mehr Sorgen bereitet, sind Primavera, Estate, Autunno, Inverno, Afrodíti, Irmís und Oudéteron. Ich finde nämlich, es war unverantwortlich, sie in diesem frühen Entwicklungsstadium bereits einer derartigen Stress-Situation auszusetzen, mehr noch: sie praktisch am Beginn ihrer Existenz in einer Weise zu belasten, die dazu führen kann, dass sie überhaupt niemals imstande sein werden, etwas anderes zu sein als Kampfmaschinen.
Ich war wütend, ließ es mir aber nicht anmerken. Wer konnte schon ahnen, dachte ich, was uns auf VIÈVE erwarten würde, wo wir doch nur Vangelis suchen wollten?
DIE NOSTRANIMA:
(hat Anastacias unhörbaren Einwand aufgefasst) Berenice konnte es wissen, besser gesagt – sie wusste es und hat unsere Reise, ohne uns Bescheid zu geben, in eine Entlastungsaktion für die Station umfunktioniert!
Auch du konntest es wissen! gab ich zurück: Somit bist du mitverantwortlich, wenn bei den Sieben eine Fehlentwicklung eintritt!
Als keine Antwort kam, ging ich die Androiden im Geist durch, vergegenwärtigte mir jeden einzelnen von ihnen. Noch befanden sie sich äußerlich in ihrem Originalzustand, da sie zwar die Fähigkeit der Selbstkalibrierung besaßen, aber bis dato weder bereit noch in der Lage waren, diese sinnvoll einzusetzen. Auch ihre innere Programmierung entsprach noch weitgehend dem Erschaffungszustand, wie ich das in meinen Protokollen zu nennen pflegte. Die einzige Modifikation, die Anpan und ich an den Algorithmen der Maschinenwesen vornehmen mussten, betraf den Umstand, dass die Direktive zur Achtung biohumanoider Existenzen nicht uneingeschränkt gültig war. Die NOSTRANIMA hatte natürlich irgendwie Recht, wenn sie dies als ziemlich dürftigen Start in die Höherentwicklung dieser Persönlichkeiten bezeichnete.
Eine gewisse Individualität war selbstverständlich in jedem angelegt, denn das machte erst den besonderen Reiz für mich als Konstrukteurin aus – ich war schließlich keine Akkordarbeiterin, die Fließbandprodukte herstellte. Inverno zum Beispiel war ein bisschen der Typ Revolutionär, versteckte seine Haarfülle ständig unter diesem Che-Guevara-Barett. Am liebsten lief er im Camouflage-Anzug herum, und das hatte er wohl kaum als Erbstück meines Bewusstseins, sondern es musste aus irgendwelchen unbewussten Tiefen in mir auf ihn übergesprungen sein.
Aber was war das Besondere an seinem Wesen, das einem mehr von ihm verriet als seine ausdrucksvollen Augen (von denen ich natürlich besser als jeder andere wusste, dass sie Imaginationen waren – kunstvoll gestaltete Halbschalen, hinter denen sich sein optisches Sensorium verbarg)? Obwohl Anpan bereits mit ihm gearbeitet hatte und er zu der Gruppe gehörte, die schon etwas weiter war als die Drei mit den griechischen Namen, ließ er über bloße Äußerlichkeiten hinaus noch keinen Charakter erkennen, und seine tiefgreifendste Erfahrung bestand bis jetzt im Töten von vielleicht einem Dutzend Echwejchs sowie in der damit verbundenen nebulosen Befriedigung, andere Wesen, die er gar nicht kannte, vor Schaden bewahrt zu haben.
DIE NOSTRANIMA:
Sicher gilt Ähnliches auch für die anderen drei „Italiener? und im besonderen Maß erst recht für deine „Griechen?, aber es gibt doch gewisse Unterschiede: Estate etwa ist – und das entspricht wohl dem ihrer barocken Gestalt eignenden sonnigen Gemüt – offenbar äußerst verstört über die ihr abverlangten Handlungen. Ich bin überzeugt, dass sie sich wesentlich lieber auf ein Tête-à-tête mit einem der Schwanenmänner eingelassen hätte. Aber vielleicht interpretiere ich da bereits zu viel in sie hinein, und es ist nicht mehr geschehen, als dass dieses verheißungsvoll erscheinende Leuchten aus ihrem Gesicht verschwand.
Auch ich hatte jedenfalls bemerkt, dass Estates Sonnenbräune vortäuschende Oberfläche grau erschien, die lockige hennafarbene Frisur eingefallen wirkte und die bunten durchsichtigen Kleider, die sie immer trug, einem blickdichten Schwarz gewichen waren. Aber was tun? Bei den anderen war’s ja nicht viel besser: Primaveras blonder Messerhaarschnitt, der in meinen Konstruktionsplänen so perfekt auf das kecke Lächeln abgestimmt war, passte auf einmal so gar nicht mehr zu den ernsten Zügen, die sie seit den Ereignissen auf VIÈVE zeigte. Und – das schmerzte mich am meisten, sodass ich langsam wirklich dazu neigte, der NOSTRANIMA zuzustimmen – Autunnos nachdenkliches Antlitz war einem blöden Glotzen gewichen, das man bei richtigen Menschen als äußeres Merkmal eines schweren inneren Traumas gedeutet hätte.
DIE NOSTRANIMA:
Die entscheidende Frage ist nun – sind ihre Speicher noch zu leer, wie du dir einzureden versuchst, als dass sie bleibende Schäden davontragen könnten, oder sind sie schon so weit entwickelt, um dieses Trauma effektiv erleiden zu können?
Jedenfalls hatte der Raumkreuzer für die älteren Androiden einen Saal bereitgestellt, in dem die AP 2000 ® mit ihnen tanzen konnte, um ihre Motorik zu verfeinern und sie überhaupt auf andere Gedanken zu bringen. Meine virtuelle Zwillingsschwester sang auch für sie und versuchte, mit Hilfe der Texte ihren Sinn für menschliche Poesie zu schärfen. Das klappte auch anfangs gut, aber die an sich wünschenswerte Interaktion führte ziemlich bald zu Kontroversen: Autunno, der rasch wieder einigermaßen normal dreinsah, nervte Anpan mit der Feststellung, er habe in Gesprächen mit Bewohnern von VIÈVE erfahren, dass es auch im Schwanenvolk Poesie gegeben habe. Gerade die überlebende Pachwajch sei es gewesen, der man den Vortrag beeindruckend lyrischer Lieder verdankte. Als die anderen Drei das hörten, rasteten sie völlig aus: Mit welcher Berechtigung man ein phantasiebegabtes Volk ausrotten müsse, fragten sie, um ein anderes, offenkundig viel prosaischeres am Leben zu erhalten? Und Estate bestätigte jetzt die entsprechende Vermutung der NOSTRANIMA, indem sie einen Wettbewerb mit den Echwejchs auf sexuellem Gebiet als ernsthafte Alternative zu den Kampfhandlungen propagierte…
DIE NOSTRANIMA:
… aber damit freilich auch zu erkennen gab, das Ausmaß der Verwicklungen auf der Station nicht zu überblicken.
Also doch ein Androiden-Dilemma, für das wir zwar möglicherweise verantwortlich sind, an dessen Anlass wir aber keineswegs Schuld haben!
DIE NOSTRANIMA:
Schuld kann in unserer Lage ohnehin nicht die geeignete Kategorie sein – was wir jetzt tun müssen, ist helfen und heilen. Deshalb habe ich auch für die drei „Griechen” einen besonderen Raum ein¬gerichtet, ausgestattet mit überdimensionalen, mit blauen Samt ausgekleideten Schatullen, in denen sie, kostbaren Schmuckstücken gleich, liegen und mittels musikalischer Berieselung in einem künstlichen Dämmerzustand gehalten werden.
Damit meinte sie natürlich nichts, was menschlicher Musik ähnelte, sondern einen Cocktail aus elektromagnetischen Schwingungen auch, aber nicht nur aus dem für uns hörbaren Spektrum. Was die NOSTRANIMA hier versuchte, war eine Stabilisierung der Erregungsmuster von Afrodíti, Irmís und Oudéteron durch Überlagerung mit längeren Wellen, was am Ende zur Beruhigung der Patienten führen sollte.
Ich war unserem Fahrzeug dankbar, dass es sich so engagiert seiner Passagiere annahm, denn bei aller grundsätzlichen Bereitschaft, mich persönlich um das Problem zu kümmern, schweiften meine Gedanken doch vorwiegend zu Vangelis, und ich schwankte zwischen Bangen und Hoffen hinsichtlich seiner Befindlichkeit. Wenn ich allerdings ehrlich war, drängten sich vor sein liebes Bild immer wieder die Gesichter der drei jüngeren Androiden: Afrodíti, die Zauberhafte, Wohlgestaltete, dunkelhaarig und von hellerer Hautfarbe als ihre Quasi-Geschwister; Irmís, der anmutige Jüngling mit den Rasta-Locken; schließlich das Oudéteron, von andrgynem Aussehen, dessen Zöpfchenfrisur sowohl für jene eines exzentrischen Mannes als auch einer avantgardistischen Frau gelten konnte, je nachdem, welche Rolle und Gestalt es gerade bevorzugte.
Wenn dies alles hier zu einem guten Ende kam, wollte ich mich ihnen und auch den „Italienern” mit der gleichen Intensität widmen, die ich meiner AP 2000 ® und natürlich auch dem AMG hatte angedeihen lassen. Sowie ich allerdings an die Ausbildung von Vangelis dachte, wurde mir ein weiteres Mal schmerzlich klar, wie sehr mir Giordano fehlte, nicht nur sein Verstand jedoch, wohlgemerkt, sondern vor allem auch seine Umarmungen.
611
LIC:
(in der Stimmlage c““) Wir Lhiks auf VIÈVE hatten (wie denn auch?) schon lange keine Nachricht mehr von unseren Artgenossen, die in der Spiegelwelt zurückgeblieben waren, und daher begleiteten natürlich unsere Gedanken die neuerliche Fahrt der NOSTRANIMA, von der wir annahmen, dass sie unweigerlich nach drüben führen musste. Meine persönliche Hoffnung war, dass unser Volk mittlerweile seinen grünen Planeten von Neuem auf friedliche Weise in Besitz genommen hatte, und dass die Landschaft wieder von baumhohen Sträuchern in der Art von Akeleien, Cannae, Funkien, Malven und Schafgarben sowie von turmhohen Bäumen in der Art von gigantischen Broccoli, Chicorées, Mangoldstielen und Selleriestangen geprägt war. Ich war aber Realist genug, um einzuräumen, dass alles sich auch ganz anders und durchaus nicht in diesem Sinn entwickelt haben mochte. Wer konnte schon sagen, zu welchen Schandtaten und Zerstörungsakten eine Diktatur in ihrem Todeskampf fähig war?
Als die NOSTRANIMA in der jenseitigen Realität die Planeten des ehemaligen Tyrannenreiches, vor allem Jifihikxli, Olxo und Nr. 4, auf der Suche nach Vangelis Panagou in Augenschein nahm – wobei sich das Schiff in gekonnter Manier weit auf die Oberfläche des jeweiligen Himmelskörpers hinabneigte, sodass die AP 2000 ® die Lage erkunden konnte –, musste Lic sich nicht länger auf Informationen aus der Heimat sehnen. Da bekanntlich die Metaphorik des Pflanzenreiches jener der zur Telepathie fähigen Vertreter anderer Lebensformen nicht unähnlich ist, konnte ihm die NOSTRANIMA einen Stimmungsbericht von Jifihikxli senden.
LIC:
(in der Stimmlage c““) Zu unserer nicht geringen Freude erfuhren meine Gefährten auf der Station und ich, dass nach dem Sturz des Augustus Maximus Gregorovius (den wir bekanntlich in unserer Sprache Icip Jitiji Cniciniri nannten) tatsächlich sämtliche Eindringlinge unsere Welt verlassen hatten, ohne noch mehr Schaden zu verursachen, als während der Besatzung und des Krieges bereits angerichtet worden war. Es blieb unklar, aus welchem Grund sie Jifihikxli entgegen allen früheren Drohungen im Großen und Ganzen relativ ungeschoren ließen, aber vielleicht lag das sogar am beharrlichen gewaltlosen Widerstand meiner Artgenossen. Das war nun letztlich ziemlich gleichgültig, denn zusammen mit der übrigen Vegetation überdeckte unser Volk sämtliche fremden Artefakte, bis nichts mehr von all dem zu sehen war – mit einer Ausnahme: Die große Arena des Tyrannen wurde nur zu einer Hälfte überwuchert und zur anderen im Originalzustand belassen. Sie eignete sich hervorragend als Mahnmal einer düsteren und schweren Epoche unseres sonst so hellen und leichten Planeten!
Anastacia Panagous Expedition durfte – so gut es auch den vier „italienischen” und den drei „griechischen” Androiden getan hätte, sich an diesem nunmehr wieder in seiner alten Lieblichkeit strahlenden Ort einige Zeit zu entspannen – nicht verweilen: Noch immer hatte man von Vangelis nicht mehr als eine vage Spur, und selbst dem elektronisch-telepathischen Riesenschiff war langsam eine gewisse Besorgnis anzumerken. Eine winzige positive Erfahrung wollte Anpan ihren Quasi-Geschwistern aber doch gönnen, und so bat sie die NO¬STRANIMA, die Sieben ganz kurz zu ihr auf den Planeten hinunterzuschicken.
Die Überraschung war geradezu perfekt: Die geringe Schwerkraft ließ die quirligeren Exemplare, Inverno, Primavera, Autunno, Afrodíti und Irmís, vor Begeisterung hüpfen, und selbst die üppige Estate und das etwas laszive Oudéteron vollführten weite, zeitlupenartige Sprünge. Die AP 2000 ®, die dieses Erlebnis schon bei ihrem ersten Besuch gehabt hatte, wollte sie aber noch etwas anderes lehren: Ganz wie von selbst, ohne dass irgendjemand ihnen das sagen musste, und überdies sehr rasch kalibrierten sie ihre Bewegungen um, bis sie sich den Verhältnissen dieser Welt perfekt angepasst hatten. Dementsprechend sparte ihre Erzieherin nicht mit Lob und vergaß auch nicht, sie besonders darauf hinzuweisen, dass derlei den richtigen Menschen verwehrt sei. Wieder zurück (denn der Raumkreuzer drängte zum Aufbruch), traten die Sieben stolzgeschwellt vor ihre Konstrukteurin, die ihnen ebenfalls ihre Reverenz erwies und nicht zuletzt darüber Anerkennung zollte, wie mühelos sie nach ihrer Rückkehr erneut die Bedingungen auf dem Schiff adoptiert hatten.
LIC:
(in der Stimmlage c““) Uns alle jedenfalls – die ursprünglichen drei Paare Ilic und seine Frau Cli, Zic und Xiqi sowie meine geliebte Ilci und mich, aber auch unsere Sprösslinge Cil, Cziq, Ciz, Qixi, Lici, Ziqi (die sich dieses intensive Gefühl gar nicht erklären konnten) – erfasste eine unbändige Sehnsucht nach der alten Heimat, jetzt da die Gründe für unsere Emigration weggefallen schienen. Allerdings, abgesehen davon, dass ich nicht wusste, wie wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt dahin gelangen sollten, riet mir eine innere Stimme, weitere Informationen der NOSTRANIMA abzuwarten.
Träumen durften sie immerhin – und ohnedies war das ein wesentliches Element ihrer floralen Existenz, das weit hineinragte in ihren wachen Alltag, ganz als würden sie diesen mit einer Hülle duftigen Gespinsts umgeben und ihm so seine gesamte natürliche Schärfe nehmen. Man stelle sich nur vor, wie auf dem Lhik-Planeten Jifihikxli, diesem esoterischen Paradies, alles hoch aufragte: Geländeformen, Pflanzen, Tiere und schließlich die Ureinwohner selbst, lang und dünn allesamt sowie von weicher Konsistenz. In dieser Welt der üppigen Vegetation, in der man als Außenstehender nicht wirklich unterscheiden konnte, welcher biologischen Gattung etwas oder jemand angehörte (denn alle schienen sich auf den ersten Blick irgendwie ähnlich zu sein), mochte man fast glauben, sogar am hellen Tag jene Träume der Eingeborenen zu sehen, wie sie sich ganz selbstverständlich mit der Realität verbanden.
LIC:
(in der Stimmlage c““) Wie anders die Verhältnisse auf VIÈVE, wenngleich uns die Station natürlich zu einer unverzichtbaren Zuflucht geworden war, die wir auch liebten – aber das künstliche Licht verlieh unserer Hautfarbe eine unnatürliche Blässe, die abgestandene Luft machte unsere Gliedmaßen spröd, die für uns synthetisch erzeugten Nährstoffe führten immer wieder zu Entzugserscheinungen. Vor allem aber litten wir, wenn ich ganz ehrlich bin, ziemlich stark unter der gegenüber zuhause etwa dreifachen künstlichen Gravitation, die unsere Körper irgendwie gedrungener aussehen ließ als früher…
… was jedoch die Lhik-Damen nicht hinderte, beim Schönheitstanz auf Ikqyku Diaxus Bühne das Publikum zu Begeisterungsstürmen hinzureißen.
LIC:
(in der Stimmlage c““) Die Leute wussten es nicht besser – wir aber auf Jifihikxli hatten das alle Tage, nicht als zweideutige Attraktion, sondern als schlichte Normalität, ganz zu schweigen davon, um wie viel mehr das Feuerrot der im erregten Zustand weit geöffneten Blüten unserer Frauen unter der Sonne unseres Planeten erglühte, einer Sonne, die von einem silbergrauen Himmel schien! Ach, könnte ich all das wiedersehen!
Er dachte wohl auch an die – jedenfalls für Lhiks – behaglichen Unterkünfte, die man ausschließlich an den Ufern der zahlreichen Seen fand, direkt am tintenblauen undurchsichtigen Wasser, dessen Wellen sich mit jedem Windhauch mächtig auftürmten, um dann aber am Strand langsam zu verplätschern. Die Häuser, wenn man sie so nennen darf, besaßen keine Dächer, denn der Regen (auch dieser von intensivem Blau) war den Lhiks jederzeit willkommen. Somit bestanden die Gebäude im Wesentlichen aus seitlichen Abschirmungen gegen die kräftigen Luftbewegungen, die durch die ausgeprägten Temperaturschwankungen der dünnen Atmosphäre ausgelöst wurden. Man sieht, Jifihikxli war nicht der reine Garten Eden, als den ihn Lic dagestallt hat: Die immer wieder auftretenden Stürme richteten laufend große Schäden an und brachten wenigstens ein oder zwei Mal im Jahr sogar Tod und Verwüstung.
Es gab überdies noch andere dunkle Seiten des Planeten: verrufene Gegenden, die (jedenfalls für Fremde) im wahrsten Sinne des Wortes zum Himmel stanken, Deponien, auf denen sämtliches organische Material entsorgt wurde, einerlei, ob es nun einfacher Provenienz waren oder im lebenden Zustand sogar Intelligenz beherbergt hatte. Auch von den Lhiks landete dort am Ende jedes Individuum, ob es nun vertrocknet, vom Orkan zerbrochen oder womöglich einem Verbrechen zum Opfer gefallen war: Selbst das war nämlich nicht auszuschließen, denn die von Lic immer wieder behauptete Friedfertigkeit bestand nur als Illusion. Versöhnlich und tolerant war man in Zeiten des Überflusses, während in Mangelperioden der Kampf ums Dasein unter diesen Pflanzenwesen vielleicht noch härter war als bei jeder anderen Art.
LIC:
(in der Stimmlage c““) Einerlei, auch wenn Vieles, was ich früher von unserem Planeten berichtet habe, jetzt plötzlich in einem anderen Licht erscheint – Heimat bleibt dennoch Heimat! In unseren mystischen Riten, die wir auch auf der Station weiterpflegten – so deplatziert sie dort auch sein mochten –, insbesondere unser Großes Frühlingsfest, hatten wir daher eine neue Formel eingebaut, mit der wir die Zeremonie beendeten: „Nächstes Jahr auf Jifihikxli!”
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Aus Sicht des NOSTRANIMA-Teams verliefen die folgenden Nachforschungen auf Olxo ebenso erfolglos wie jene auf Jifihikxli, was auch niemanden wunderte, angesichts des mittlerweile desaströsen Zustands dieses Planeten, der Ursprungswelt des ehemaligen Tyrannenreiches. Wenn man nämlich wie Anastacia Panagou und ihre AP 2000 ®, annahm, dass Vangelis gewaltsam in diese Realität verbracht worden war – und dafür sprach eigentlich alles (vor allem sein bei der Station zurückgebliebenes Raumschiff) –, dann musste man sich fragen, wie die Entführer unter den dortigen Verhältnissen selbst zu überleben gedachten…
LIC:
(in der Stimmlage c““ an die NOSTRANIMA) … wobei man natürlich bereits über diese Prämisse streiten kann, denn über die wirklichen Gründe von Vangelis’ Verschwinden wissen wir nichts und daher auch nichts über die Absichten, die jemand mit seiner Person verbindet. Jedenfalls haben wir Lhiks auf VIÈVE – die wir von den Echwejchs (von fallweisen Auftritten im „King’s & Queen’s Club” einmal abgesehen) weitgehend ignoriert wurden und damit unbehelligt geblieben sind – beobachtet, wie der Android und seine Freundin Serpentina freundschaftlich mit einer gewissen Volokuzo Nungua verkehrten, die aus der Spiegelwelt stammte und offenbar ebenfalls keine Probleme mit dem Geflügel hatte. Übrigens: Deren Fahrzeug ist sehr wohl verschwunden!
Die NOSTRANIMA war keine Entität von der Art, die im üblichen Sinne hätte böse werden können, aber der Vorwurf war dennoch nicht zu überhören – dass Lic (während er sich selbst umfassende Informationen erwartete) erst jetzt damit herausrückte: denn unter diesem Aspekt erschien es doch ganz gut möglich, dass das Androidenpärchen dieser Nungua freiwillig gefolgt war.
LIC:
(in der Stimmlage c““ an die NOSTRANIMA, entschuldigend) Man hatte in diesem Chaos einfach keinen Überblick mehr über das Schicksal einzelner Stationsbewohner. Manche waren zweifellos inhaftiert worden, andere wieder verbargen sich in ihren Behausungen oder in irgenwelchen Verstecken – wie sollte man da ahnen, ob und wann jemand VIÈVE verlassen hatte. Natürlich sorgten wir uns um Serpentina, die wir als unsere Retterin sehr verehrten, während wir Vangelis weniger sympathisch fanden, schon weil er uns – nachdem er die anfängliche Predigergestalt abgelegt hatte – zumindest äußerlich fatal an unseren früheren Unterdrücker erinnerte.
Die NOSTRANIMA hielt sich damit nicht weiter auf. Nach dem Besuch der AP 2000 ® auf Olxos Oberfläche, wo sie sich, kaum abgesetzt, bereits heftiger Angriffe marodierender Soldaten und anderer zwielichtiger Gestalten erwehren musste, beschloss man, hier nicht weiterzusuchen. Es schien kaum denkbar, dass es den Gesuchten irgendwo dort unten gelungen wäre, sich gegen den Mob zu behaupten oder diesen sogar in die Schranken zu weisen, mit welchem Plan auch immer.
Daher wurde als nächstes Ziel der sogenannte Planet Nr. 4 angepeilt.
612
DDDs Mann (er war’s formal noch immer, wenn seine Frau ihn auch längst verlassen hatte und sich in keiner Weise mehr um ihn kümmerte) hatte natürlich in Zeiten wie diesen kein Problem, dennoch weiblichen Zuspruch zu finden – von der Kontakt-Telefonnum¬mer aus dem Internet bis hin zum Besuch seines Lieblingsbordells stand ihm vieles offen, alles unter dem Motto: Was deine Frau nicht macht…
DDDs MANN:
(leider kennen wir seinen Namen nicht, wissen nur dass er in der Sozialversicherungsanstalt beschäftigt ist) Ich hörte aus diesen Worten immer etwas geringfügig anderes heraus, als gesagt wurde, nämlich: Was deine Frau mit dir nicht macht, denn bei DDD lag das Problem mittlerweile wohl kaum darin, dass es etwas gab, was sie grundsätzlich nicht machte – womit ich nur zu verstehen geben möchte, dass ich nicht ganz so einfältig bin, wie dies gewisse Herrschaften sehen wollen. Die seinerzeitige Parallelvorstellung DDDs mit diesem Johannes und diesem Romuald war mir geläufig (und es handelte sich dabei durchaus nicht bloß um jenes einmalige Ereignis, als das es die Beteiligten darstellen wollten). Schließlich pflegte ich, zumindest damals, meiner Angetrauten, wenn sie annahm, ich sei daheim, nachzugehen, und es genügte mir als Beweis, von der anderen Straßenseite die Schatten der Liebe auf den Vorhängen zu sehen. Und darüber hinaus: Die Geschichten mit ihrem unmittelbaren und dann mit unser aller oberstem Chef waren im Institut ohnehin bis in jede Einzelheit in aller Munde. Ich wurde dabei eigentlich weniger belächelt als beneidet, denn als Präventivmaßnahme seitens jener, die das ganze Desaster zu applanieren hatten, fiel ich im Tausch gegen mein Stillhalten die Karriereleiter um einige und die Gehaltsskala sogar um viele Stufen hinauf, und als ich mitbekam, wie viel denen an meinem eisernen Schweigen lag, begann ich sogar ungeniert zusätzliche Wünsche zu äußern: eine Runderneuerung meiner Wohnung, ein neues größeres Auto, ja und dann vielleicht noch ab und zu die eine oder andere schöne Reise (wobei mir völlig gleichgültig war, wie die das alles verbuchten).
Anders als einige seiner Bosse, die in ihrem Job genug zu herrschen hatten und daher privat die erniedrigenden Dienste einer Domina in Anspruch nahmen, suchte DDDs Mann bei den käuflichen Damen, die er telefonisch oder physisch frequentierte, die Unterwerfung – und er stellte solcherart die für ihn sonst gültigen Hierarchien auf den Kopf.
DDDs MANN:
Ich hoffe, das soll keine moralische Wertung sein, denn unsere Lebensverhältnisse sind ja gar nicht mehr im Sinne unserer individuellen Verantwortung relevant, sondern zeigen bloß exemplarisch die Entfremdung und Zersplitterung der eigenen Person wie der Gesellschaft, der diese angehört. Ich, DDDs Mann (vielleicht ist es wirklich besser, bei diesem Inkognito zu bleiben) als kleiner Angestellter (schließlich bearbeitete ich nach wie vor meine von der Norm vorgeschriebenen 27 1/3 Aktenfaszikel pro Woche), als skrupelloser Erpresser (in dessen Rolle ich so leicht hineingeschlüpft war, als hätte ich nie etwas anderes getan), als sonntäglicher Kirchgänger (ich liebte es von ganzem Herzen, im Wiener Stephansdom eine Messe von Palestrina zu hören), als braver Sohn (der danach bei seiner betagten Mama zum festlichen Mittagmahl erschien), nicht zuletzt als begeisterter Opernbesucher (dem sich himmlische Gefilde eröffneten) –
[Grafik 612]
und unter anderem eben auch als Dominus-tecum für eine Prostituierte (die ich, wenn es mir gefiel, vor mich hinknien und mit auf dem Rücken verschränkten Händen um eine unkeusche Kommunion betteln ließ, dabei wohl wissend, dass es für sie nichts weiter war als ein Geschäft, dessen Erlös sie im Geiste schon ausgab, während ihr Körper mir Ergebenheit vorgaukelte).
Natürlich war aber dieser graue Mäuserich mit all den Deformationen, die ihm sein Leben zugefügt hatte – wobei wir hier nicht darüber richten wollen, ob sich das Schicksal zu ihm blindwütig-bösartig verhalten hatte oder von ihm selbst durch eklatantes Fehlverhalten herausgefordert worden war –, nicht der Typ, sich mit dieser Erkenntnis zufrieden zu geben. Er wusste es schon einzurichten, dass die jeweilige Dame (anders als DDD, bei der er das nie schaffte) sich ihm ganz und gar ergeben und ihm die uneingeschränkte Präsenz ihrer gesamten Persönlichkeit gewähren musste.
DDDs MANN:
Nichts leichter als das (und ich denke, hier kein Geheimnis zu verraten): Indem ich diese Pferdchen zum Zungenkuss zwang, applizierte ich ihnen das Einzige, was von Frauen ihres Metiers noch als Vergewaltigung empfunden wird. Gleichgültig, was sie mir als angebliche Verrenkungen des Geistes oder Verdrehungen des Körpers präsentierten – am Ende, nachdem ich all das konsumiert hatte, setzte ich diesen aus ihrer Sicht drakonischen Schlusspunkt…
… und Sie wollen mir, einer erfahrenen Drehbuchautorin, weismachen, Sie wären auf diese Art durch die Szene marschiert, ohne in kürzester Zeit von zumindest einem der Zuhälter als erste Warnung ein wenig mit dem Messer geritzt worden zu sein? Zeigen Sie uns doch die naturalistische Tätowierung, die Ihnen Ihr denkwürdiges Hobby eingebracht hat!
DER GROSSE REGISSEUR:
Ja doch, da hätte ich ebenfalls Lust darauf, und wenn ich auch die Verfilmung solcher Geschichten lieber den japanischen Kollegen überlasse (diese Tradition hat nämlich unter chinesischer Oberhoheit nicht aufgehört, eher im Gegenteil), interessiere ich mich doch von einem professionellen Standpunkt…
… von einem rein und ausschließlich professionellen Standpunkt…
DER GROSSE REGISSEUR:
Danke für die Bekräftigung! Einfach ausgedrückt, beruflich nehme ich Anteil an diesem Sujet, denn man kann immer noch etwas dazulernen.
DDDs Mann zeigte uns tatsächlich die Narbe eines Stichs – das Werk eines Meisters zweifellos, weit genug unter dem Herzen, um nicht tödlich zu sein, aber nah genug, um ihm ausreichend Angst einzujagen. Und er hatte Angst, zweifellos, aber die Angst konnte, obwohl sie ihn ordentlich quälte, einen wie ihn nicht wirklich aufhalten, denn der Stolz über derlei nicht alltägliche Erlebnisse in einem sonst ereignislosen Leben überstrahlte alles. Er, der nach der Schulzeit niemals freiwillig bei Dichtern oder Philosophen nachlas (dessen fallweise ernstzunehmende Gedanken man daher füglich als autochthon, quasi endemisch bezeichnen muss, und das heißt, sie höher einzuschätzen, als wenn er bewusst Zitate verwendet hätte), verstieg sich sogar zu der Erkenntnis, er habe den Tod gar nicht zu fürchten, denn solange er selbst lebe, sei jener fern.
ERZÄHLER:
Sag, Brigitte, glaubst du, wir könnten DDDs Mann eines Tages in ein ganz normales Leben entlassen?
BRIGITTE:
Du meinst, jemand würde uns jemals abnehmen, dass der Bursche eine Frau findet, die er geradeheraus liebt und die ihn wiederliebt?
ERZÄHLER:
Meinetwegen kann er auch einen Mann finden, damit es hier nicht ganz so mainstream-normal wird, aber immerhin: eine Beziehung eben, mit geistigem Austausch und Zärtlichkeit und zweisamen Stunden und allem Drumherum, ohne ständiges Belauern und Bekriegen. Vielleicht wünscht er sich das im Innersten ja auch, einmal noch im Leben (wie man so sagt), das heißt in Wahrheit, das erste Mal in seinem Leben…
Aber was hätte er schon davon, wenn ihr ihn in eine solche Utopie oder Uchronie versetzt? Sein Dasein gliche dem seines Doppelgängers in der Spiegelwelt: Er sähe sich verblüffend ähnlich, äußerlich und vermutlich auch in einigen Charaktereigenschaften (aber das ist nicht ganz sicher, dazu haben wir bloß die Hypothese des Tyrannen der jenseitigen Völker bezüglich seiner und Sir Basils sogenannter Antinomie) – die Biographie jedenfalls wäre eine andere, eine für das Pendant vielleicht nicht unwahrscheinliche, für ihn aber eine nicht, an keinem Ort und zu keiner Zeit, abgelaufene Alternative.
DER GROSSE REGISSEUR:
Schlussendlich würde man ihm den Typ aus einem Roman von Rosamunde Pilcher ohnehin nicht abnehmen, ganz abgesehen davon, dass er gar keinen so romantischen Namen hat wie Oscar Blundell oder Paul Appleton oder Jonathan Ashford – und noch viel mehr abgesehen davon, dass ich ein solches Sujet nicht verfilmen würde: Lieber mache ich aus DDDs Mann einen zweiten Romuald und lasse ihn ebenfalls auf den Spuren der schamlosen Janine Reynaud wandeln, streng nach der Regel, es gelte Figuren zu erfinden, die interessanter wären als irgendwelche lebenden Personen!
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DDDs Mann lernte eines Tages bei seinen Besuchen in der Halbwelt eine Witwe kennen, die dort ihrem glitschigen Gewerbe nachging. „Feucht und eng!” (normalerweise keine Charakteristik eines angenehmen Ortes) hieß ihr Slogan, auf den er neugierig geworden war. Sie hatte es aus irgendwelchen Gründen geschafft, ungebunden zu arbeiten – bei ihr gab es also keinen Beschützer, der jemanden pieken konnte, und daher war die Bahn für unseren Freund völlig frei.
ERZÄHLER:
Mehr als das, könnte man sagen. Wie enttäuscht er war, als er beim obligaten Zungenkuss nicht nur keinen Widerstand fühlte, sondern geradezu eingesaugt wurde in dieses seltsame Wesen. Aber er war flexibel. Er ließ es willig geschehen, dass sie die Initiative zu wirklicher Intimität ergriff: Sie vermittelte ihm plötzlich eine Bedeutung, die er in dieser Form – wegen zahlreicher Zurücksetzungen zuinnerst immer von Selbstzweifeln geplagt – noch nie zuvor an sich entdeckt hatte.
Sie blieb seine Wahl. Weder kehrte er jemals wieder vom Computer aus bei virtuellen Damen ein, noch in früher frequentierten Etablissements bei realen. Die Besuche im Dienstzimmer der Witwe, das diskret an ihre eigentliche Wohnung grenzte, wurden immer länger und fanden auch zunehmend bei Tag statt (niemand in der Sozialversicherungsanstalt wagte es natürlich, ihm sein Wegbleiben oder die nunmehrige Nicht-Erfüllung des Plansolls in irgendeiner Weise vorzuwerfen). Auf Einladung seiner Gastgeberin blieben seine Visiten auch nicht mehr auf diesen einen Raum beschränkt, sondern verlagerten sich zusehends in andere, weitaus gemütlichere Teile ihres Domizils.
ERZÄHLER:
Übrigens – den Namen der Witwe kennen wir ebenso wenig wie den ihres nunmehrigen Dauerkunden und sind daher in aller Eintönigkeit gezwungen, sie immer nur so zu nennen.
Der Übergang zur Normalität vollzog sich fließend und damit unmerklich, jedenfalls für DDDs Mann, denn dass eine Frau im Allgemeinen oder diese Witwe im Besonderen etwas dem Zufall überließ, scheint mir ganz und gar undenkbar. Da kochte sie ihm eines Tages etwas, und es wurde diniert statt gevögelt. Die eine oder andere gute Flasche Wein wurde geöffnet, und man nuckelte am Glas statt an irgendwelchen erogenen Gebilden. Da die Liebe bekanntlich durch den Magen geht, blieben derlei Veränderungen nicht ohne Auswirkungen: Zuerst holte sich DDDs Mann noch sein erotisches Dessert, aber nach und nach setzten sich die beiden stattdessen auch schon einmal vor den Fernseher, und irgendwann kam es denn dazu, dass unser frivoler Sozialversicherungsbeamter, an seine neue Freundin geschmiegt, sanft entschlummerte.
ERZÄHLER:
Das ist ja ein richtiggehender Umerziehungsprozess, der da vor unseren staunenden Augen abläuft – und wie bei allen guten Dressuren ging’s friedlich und zivilisiert ab…
… während es für die Witwe die spontan und beherzt ergriffene Gelegenheit für eine Exit-Strategie war.
BRIGITTE:
Langsam fällt mir dieses „DDDs Mann” und „die Witwe von DDDs Mann” (wobei man sich ständig bemüßigt fühlt, hinzuzufügen, dass sie nicht die Witwe nach ihm, sondern für ihn war) ziemlich auf die Nerven. Gebt ihnen doch endlich irgendwelche Namen, meinetwegen Karl und Anna…
ERZÄHLER:
… Tristan und Isolde…
BRIGITTE:
… oder Horst und Else!
Von mir aus! Aber lassen wir diesen – Horst doch selbst wieder einmal zu Wort kommen.
HORST:
Endlich einmal eine Situation, die ich voll im Griff hatte!
ERZÄHLER:
Hört! Hört! Diese Witwe oder Else muss sehr professionell vorgegangen sein!
HORST:
Nein, sie behandelte mich ganz und gar nicht professionell im Sinne ihres Berufs – das schätzte ich von Anfang an bei ihr. Von unserem ersten Treffen an, so deute ich es jedenfalls heute, war ich Teil ihres richtigen Lebens, eines – wie ich zugeben kann – nach unserem Kennenlernen sich rasch wandelnden Lebens.
Dann lassen wir das einfach so stehen, bei aller Skepsis: dass hier niemand über den Tisch gezogen wurde; dass niemand übergebührlich profitiert habe; dass zwei Objekte (wenn auch vielleicht unterschiedlicher Größe, aber das spielt bei einem solchen Prozess keine Rolle) einander mit ihrer jeweiligen Massenanziehungskraft eingefangen hätten, jedes zum Nutzen des anderen, aber auch zu seinem eigenen Nutzen.
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ERZÄHLER:
Und – soll ich’s sagen?
BRIGITTE:
Sag’s!
ERZÄHLER:
Aber das hatten wir schon an einer anderen Stelle!
BRIGITTE:
Trotzdem – sag’s!
ERZÄHLER.
Na gut – also: … wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute!
BRIGITTE:
… DDDs Mann und seine Witwe, pardon: Horst und Else, und mehr ist davon nicht zu berichten. Aber vielleicht werden die beiden ja auch noch einmal gebraucht, wenn nicht in dieser Geschichte, dann möglicherweise in einer anderen.
613
Plötzlich stand Pifsixyl Xifu vor uns.
Anastacia Panagou hatte die NOSTRANIMA in die Nähe des Planeten Nr. 4 gesteuert (wobei eine aktive Navigation angesichts der mittlerweile enormen Selbständigkeit des Raumkreuzers eigentlich fast nicht mehr notwendig war). Planet Nr. 4, der im Paralleluniversum zwischen Jifihikxli und Olxo kreiste, war, das wussten wir schon, von Staubwüsten bedeckt und besaß lediglich eine hauchdünne Atmosphäre – die Maßnahmen, die der Diktator seinerzeit dem Professor Ivanovich analog zu dessen phantastischen Ideen zum Terraforming des Mars aufgetragen hatte, um Nr. 4 in einen bewohnbaren Ort zu verwandeln, waren nicht über das Anfangsstadium der Planung hinausgekommen (was beim spezifischen wissenschaftlichen Ethos des Gelehrten auch nicht wundernehmen durfte).
Meine Konstrukteurin und ich hatten praktisch alle anderen Möglichkeiten zur Auffindung Vangelis Panagous ausgeschlossen, wollte man nicht überhaupt annehmen, dass dieser in die letzten Tiefen der anderen Realität verbracht worden war – aber wem wäre er dann zu irgendetwas nütze gewesen? Die intuitive Potenz der NOSTRANIMA wiederum, die sogar weit hergeholte Szenarien nicht scheute, erwog als möglichen Grund für die Wahl dieses Planeten, dass man Vangelis’ Anwesenheit im Spiegeluniversum zwar plakativ bekanntgeben, ihn als Person aber unzugänglich halten wollte. Anastacia verstand das rein gar nicht, und ich selbst konnte sogar auf der Basis gleichartiger Denkschemata bei mir und dem Schiff mit dieser Hypothese nicht viel anfangen.
Einerlei – die NOSTRANIMA neigte sich für uns zur Oberfläche des Wüstensterns hinab, ich ging voran, gefolgt von den anderen: Inverno und Primavera, Autunno und Estate, Irmís und Afrodíti, Oudéteron und unsere Schöpferin hinterdrein. Und dann, als wir uns noch unschlüssig umsahen, erahnte meine Subliminal Recognition Matrix, bevor er uns direkt ansprach, die Nähe Pifs. Vielleicht rührte auch meine Sensibilität ihm gegenüber von unserer früheren intimen Beziehung her…
PIFSIXYL XIFU:
Willkommen auf Nr. 4, meine Freunde! Ich habe bereits alles für euch ausgekundschaftet – in alter Verbundenheit!
Er deutete diesen seltsamen Kotau an, den er als geheimer Leibwächter des Tyrannen der jenseitigen Völker ununterbrochen zu praktizieren hatte: erst gegen Anastacia Panagou, denn gegen jedes einzelne meiner Quasi-Geschwis¬ter und zuletzt gegen mich, nicht ohne seinen Mund zu einem zynischen Lächeln zu verziehen.
PIFSIXYL XIFU:
Volokuzo Nungua vertritt eine seltsam inhomogene, aber doch von einem gemeinsamen Interesse getragene Gruppe hier bei uns: Angehörige der ehemaligen Führungsschicht, bürgerliche Industrielle und Kaufleute, allesamt infolge der hiesigen totalen Anarchie verarmt und entwurzelt. Sie trauern zwar nicht dem Individuum Iadapqap Jirujap Dlodylysuap nach, wohl aber der durch ihn repräsentierten Institution, will sagen: Sie wollen die Diktatur, aber nicht als Unterworfene, sondern als Ausführende, und dazu benötigen sie eine völlig machtlose Galionsfigur. Die hat ihnen die Nungua in der bestmöglichen Weise besorgt, nachdem die erste Idee, nämlich Sir Basil zu kidnappen und hierher zu bringen, als völlig absurd verworfen wurde: Dann blieb nämlich, abgesehen von den seinerzeit als lebende Zielscheiben genutzten, aber sonst völlig unbrauchbaren Doppelgängern des Tyrannen, nur noch einer, der wie der Diktator aussah – Vangelis Panagou!
Wir lauschten ihm wie gebannt. Obwohl ich nicht gerade dazu neige, mich überraschen zu lassen, dachte ich bei mir: Ist das denn die Möglichkeit? Und ich spürte deutlich, dass es nur eine vernünftige Basis für all das geben konnte – Vangelis war in Versuchung geführt worden und hatte aus freien Stücken zugestimmt! Ich war gut imstande, das nachzuvollziehen, denn unsereins tendiert in der ununterbrochenen Panik, richtigen Menschen am Ende doch unterlegen zu sein, dazu, denjenigen, die uns manipulieren, zuvorkommen und sie unsererseits übervorteilen zu wollen. Wie ein Echo meiner Gedankengänge hörte ich die Bestätigung.
PIFSIXYL XIFU:
Der Android – (zu Anpan gewandt) Verzeihung, meine Liebe! (und zu den anderen Maschinenwesen) Verzeihung, auch die übrigen Damen und Herren von der künstlichen Fakultät! – wird wohl angenommen haben, dass er mit Volokuzo spielen werde und nicht sie mit ihm: mit einer Wahrscheinlichkeit von 97,3 % (so pflegte er sich wohl auszudrücken).
„Lass die Mätzchen, Pif!” zischte Anastacia: „Komm endlich zur Sache!”
Ich registrierte den vertraulichen Ton der Panagou, trotz der scharfen Worte, und ich nahm’s als allerletzten Beweis dafür, dass die beiden miteinander geschlafen hatten – wozu für meine Begriffe (einfach so, in aller Naivität) als unverrückbarer Bestandteil zählte, sich zu duzen. Im Gegensatz dazu hatte meine Konstrukteurin mich immer wieder angeleitet, bei meinen Evaluierungen menschlicher Reaktionen stets das Unlogische, Komplizierte zu unterstellen, aber während das früher ganz passabel funktioniert hatte (ich meine damit, dass ich mit diesem Rezept eine hohe Trefferquote hinsichtlich „natürlichen Verhaltens” erzielte), ergab sich mehr und mehr ein Dilemma zwischen dieser erlernten, wenn auch für mich nicht unbedingt verständlichen Logik und den Hervorbringungen eines inzwischen hochentwickelten Model for Emotional Response, das zusehends vorgefasste Meinungen und Vorurteile produzierte – das heißt Sätze, die richtige Menschen als solche interpretieren mussten.
Plötzlich leitete meine Ratio (oder das, was ich so zu nennen pflegte) ein scharfes Bremsmanöver ein: Du analysierst und analysierst, sagte ich quasi zu mir selber, und du bewegst dich dabei im Kreis! Diese Feststellung schien mir nicht unproblematisch in Bezug auf das Spannungsfeld zwischen androidischem und richtig menschlichem Verhalten. Schließlich war ich Anastacia oft genug in den Ohren gelegen mit der ständig gleichen Frage: worin denn genau Menschsein bestünde? Und sie hatte mir – nicht nur einmal – geraten, zu beobachten, wie viel meiner Prozessorleistung (vergleichbar mit dem biohumanoiden Denkvorgang) Interaktion mit der Außenwelt, also Aufnahme, Verarbeitung und Beantwortung von Reizen, und wie viel davon Selbstbespiegelung sei – Letzteres als Attribut typischer Menschlichkeit, das auch wir Androiden relativ problemlos erwerben könnten.
Da ich das Programm, mit dessen Hilfe ich meine Innen- und Außenwelt zu unterscheiden vermochte, auf den Grundlagen Panagou’scher Standards relativ rasch entwickelt hatte, war es mir ein Leichtes, dieser Empfehlung meiner Schöpferin zu folgen, und ich realisierte, wie emotional befriedigend es nicht zuletzt auch sein konnte, sich entlang von fiktiven Argumentationsschleifen zu bewegen, aus denen auszubrechen es im Prinzip wenig Grund gab und die im Gegenteil immer mehr Behaglichkeit erzeugten, je vertrauter sie einem wurden.
Gefangen in diesem Anfall von Solipsismus, musste ich wohl einen guten Teil unserer Unterhaltung mit Pif ausgeblendet haben. Unvermittelt hörte ich ihn dann weitersprechen.
PIFSIXYL XIFU:
… auch hier auf Nr. 4 gibt es nämlich einen Tempel des Ruhmes unseres Tyrannen, wie Anastacia und Anpan ihn auf der Lhik-Welt kennengelernt haben. Aber dieser hier stammt nicht vom Original-Diktator (dem würde es nicht im Traum eingefallen sein, ein solches Ding auf diesem gottverlassenen Planeten zu errichten, wo niemand es bestaunen konnte), sondern wurde erst kürzlich erbaut. Die Anlage ähnelt überdies nur äußerlich den anderen, denn im Inneren gibt es nicht die bewusste düstere, von Fackeln erleuchtete Cella, sondern einen hellen Saal, der von einem großen Glaskubus dominiert wird.
Der Stoff, der dieses Aquarium ausfüllte, war, wie meine Sensoren unverzüglich feststellten, keineswegs Wasser, sondern flüssiger Stickstoff mit einer Temperatur von genau – 200 ° C. Da ich keinerlei Kühlaggregate erkennen konnte, rasselte ich durch meine sämtlichen internen Datenspeicher, fand aber keine Hinweis auf die hier verwendete Technologie. Dessenungeachtet war klar, dass alle Körper, die in dieses Fluidum verbracht wurden, erstarren mussten: solche aus biologischer Substanz mit sofortigem Exitus, aber auch bei solchen aus anderen Materialien würden die Bewegungen der Moleküle praktisch völlig aufhören.
PIFSIXYL XIFU:
Ein faszinierender Gedanke der Volokuzo Nungua, diejenigen, die den Tyrannen und seine aktuelle Favoritin veranschaulichen sollten, hier in ewiger Versteinerung darzustellen, von diesem Tempel das Bild des Paares in jeden Winkel des bewohnten Spiegeluniversums zu senden, gemeinsam mit der Botschaft, der Gefürchtete sei wieder da und würde durch seine Getreuen, als die sich die Nungua und ihre Gruppe auswiesen, seine Herrschaft erneut aufnehmen. Dazu mussten Vangelis und Serpentina nicht einmal deaktiviert, sondern bloß handlungsunfähig gemacht werden.
… was überdies den Vorteil hatte, folgerte ich blitzschnell (mein ehemaliger Geliebter sah mich verblüfft an), dass man diesen speziellen Klon des Augustus Maximus Gregorovius jederzeit wieder auftauen konnte, sollten die Umstände es erfordern, das Volk mit einem lebendigen Popanz zu schrecken.
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So also fanden wir sie – den Androiden AMG, nach dem sich seine Schöpferin vor Sehnsucht verzehrte, und die frühere Schlange der Panagou, die sich zu meiner Überraschung ebenfalls zu einem Maschinenwesen höherer Ordnung weiterentwickelt zu haben schien, beide einem für sie zwar nicht tödlichen, aber ohne unser Eingreifen unentrinnbaren Schicksal ausgeliefert.
Die NOSTRANIMA, die sich auf dieser Expedition offenbar als einziges von allen natürlichen und artifiziellen Lebewesen ihren Weitblick erhalten hatte, schloss aus den Worten Xifus, es gäbe an diesem Ort eine permanente Videoüberwachung respektive –übertragung, und manipulierte diese so, dass im ganzen Spiegeluniversum weiterhin das friedliche Bild Vangelis’ und Serpentinas in ihrem Aquarium zu sehen war, während tatsächlich die Stunde ihrer Befreiung kam. Anastacia und wir, ihre Androidentruppe, bewunderten mehr denn je den Raumkreuzer, der imstande war, seine Besatzung selbständig vor Schaden zu bewahren (die Panagou war natürlich ein weiteres Mal nicht wenig stolz darauf, dieses Meisterwerk geschaffen zu haben, wenn auch mit tatkräftiger Unterstützung durch Giordano Bruno und Chicago).
PIFSIXYL XIFU:
Sehr vernünftig, euer Vorhaben klammheimlich durchzuziehen. So werdet ihr in eurem Universum sein, bevor hier nur irgendjemand merkt, was passiert ist!
Kommst du denn nicht mit? fragte ich ihn – nicht weil ich ihn persönlich zurückhaben wollte, aber ich fand, dass er für seine Hilfe unseren Dank verdient hatte.
PIFSIXYL XIFU:
Für mich, meine Liebe, ist das Drüben nicht automatisch gleichbedeutend mit gut und hier nicht notwendigerweise eine Welt, die man fliehen müsste. Es ist meine Heimat…
Wieder diese seltsame Emotion, die wir eben erst bei unseren Lhik-Freunden erlebt hatten!
PIFSIXYL XIFU:
… meine Heimat, die ich ganz sicher ohne dich niemals verlassen hätte. Daher bleibe ich und laufe so auch nicht Gefahr, am Ende ohnehin wieder hierher zurückgeschleudert zu werden, falls ich es nochmals bei euch versuchen würde.
Seine Worte sollten sich als prophetisch herausstellen, aber ich achtete nicht darauf, so sehr war ich mit dem Ablassen des Stickstoffs beschäftigt. Inverno und Autunno halfen mir dabei, und wir mussten tunlichst darauf achten, nicht mit diesem Zeug in Berührung zu kommen und auf diese Weise selbst ganz oder teilweise zu erstarren. Dann holten wir die beiden Gefangenen heraus, und Anastacia begann ihre Reanimationsmaßnahmen.
Als Erstes vergewisserte sie sich, dass die beiden Androiden nicht völlig ausgeschaltet waren, womit sich eine große Chance (besser gesagt eine Probabilität von jedenfalls mehr als 90 %) ergab, die Quasi-Geschwister in ihr übliches Selbst zurückführen zu können, und siehe da, ihre Funktionen regenerierten sich sehr rasch bis zu einem Ausmaß, das es erlaubte, sie an Bord zu bringen und den elektronisch-telepathi¬schen Fähigkeiten der NOSTRANIMA an¬zuvertrauen.
Ohnehin hatte das Schiff uns mittlerweile mehrfach gemahnt, schnell zu machen, da es besser wäre, eher früher als später von hier zu verschwinden, zumal man ja nicht ausschließen durfte, dass es hier noch weiteren technischen Kram gäbe, der uns verraten konnte. Um nicht eine nutzlose Debatte vom Zaun zu brechen, unterdrückte ich meinen Einwand, dass die NOSTRANIMA auch in diesem Fall eine Bedrohung rechtzeitig erkannt hätte.
Der Abschied von Pif war dementsprechend kurz und insbesondere auch von meiner und Anastacias Seite nüchtern. Niemand von uns fragte ihn, ob, wie oder wann er von hier wegfahren wollte, ebenso wie wir uns nicht dafür interessiert hatten, wie er auf diesen ungastlichen Himmelskörper gekommen war. Alles was ich zuletzt von meinem kleinen Ex-Agenten sah, war ein winziger Punkt auf der Oberfläche des Planeten – alles was ich spürte, war eine auf ihn gerichtete, aber ziemlich undeutliche Gefühlsregung, die mein MER erzeugte.
614
Protokoll betreffend die Aussage des sterbenden Leibwächters von Keyhi Pujvi Giki Foy Holby, genannt der „Bulle des Königs?, verfasst von Ikqyku Diaxu und abgelegt in den Datenspeichern der Station VIÈVE unter dem Titel „J?ai trouvé le mystère?:
Ich halte fest, dass dieser Bericht infolge der zuletzt eingetretenen Ereignisse allem Ermessen nach obsolet ist, jedenfalls aber keine Relevanz mehr für die realpolitische Situation auf VIÈVE oder anderswo im Alpha-Universum aufweist. Ich kommuniziere daher diese Botschaft nicht in systematischer oder zielgerichteter Absicht, sondern stelle es einfach dem Zufall oder der Akribie eines neugierig Suchenden anheim, ob sie je wieder zum Vorschein kommt.
Kurz zur Situation, in der ich die Informationen erhalten habe: Als der Leibwächter gerade auf dem Weg zum König war, um ihm seine Entdeckung mitzuteilen, wurde er von einigen Echwejchs niedergeschlagen. Ich beobachtete diesen Vorfall aus meinem Versteck, das ich aufgesucht hatte, weil überall auf der Station Gruppen von Schwanenhalsigen unterwegs waren, um in ihrem Machtrausch die Bevölkerung zu terrorisieren. In aller Vorsicht, um mich selbst nicht zu gefährden, zog ich den reglosen Körper in meine Deckung und versuchte, die Art der Verletzung festzustellen. Dabei wurde es mir rasch zur Gewissheit, dass der Mann keine Überlebenschance hatte. In der kurzen Zeit, für die er nochmals das Bewusstsein erlangte, veranlasste ich ihn, obwohl er zunächst zögerte, seine für den König bestimmte Nachricht mir anzuvertrauen.
Sie betraf gewissermaßen das zentrale Mysterium der Echwejch-Kultur, die Menschwerdung dieser ehemaligen Tiergattung, und daraus folgend den heutigen Status des jeweiligen Schwanenherrschers. Wie der Gardist an diese Inhalte herangekommen war, wird für immer unaufklärbar bleiben, da er diesen Punkt in seiner hastig vorgebrachten Aussage überging – er verriet nur so viel, dass die wachsende Aversion seines Herrn gegen das Geflügel ihn dazu veranlasst hatte, auf eigene Faust Recherchen anzustellen.
Er fand heraus, dass die von den Echwejchs kolportierte Legende, ihr Urvater Hejchwejch habe höheren Mächten sein Federkleid und im Rahmen dieser Prozedur sogar sein Leben geopfert im Tausch gegen die sprunghafte Höherentwicklung seiner Rasse, eine sehr reale Grundlage aufwies: Nicht irgendeine metaphysische Instanz allerdings, sondern ein konkretes, im gleichen Sonnensystem wie die Schwäne existierendes Wesen namens Niun-Meoa (was man in der irdischen Kultur sinngemäß mit Omega übersetzen müsste), vergnügte sich an dem Experiment, die Echwejchs künstlich zu mutieren. Dabei hatte Hejchwejch als Versuchskaninchen herhalten müssen, bedauerlicherweise mit letalem Ausgang, während der weitere Verlauf des Projekts erfolgreich war.
Mit dem bewussten Mythos versah Niun-Meoa die neu entstandenen Humanoiden, um seine eigene Existenz zu verschleiern, und nur der jeweilige Anführer der Priesterklasse durfte die Wahrheit kennen, musste sie aber strikt für sich behalten (was übrigens auch konsequent befolgt wurde, seit sich einmal einer, der zu viel geplaudert hatte, aus ungeklärter Ursache in ein Häuflein Asche verwandelte). Diese Geheimnisträger hatten ihrerseits dafür zu sorgen, dass nur echte biologische Deszendenten Hejchwejchs die Monarchenwürde erlangten, denn nur solche – an denen es wegen der ausschweifenden Promiskuität jenes Volkes niemals mangelte – besaßen ein bestimmtes, künstlich erzeugtes Gen, das durch die Zeremonie der Inauguration als neuronaler Empfänger für Befehle Niun-Meoas aktiviert wurde. Er – oder sie oder es, dieses Wesen jedenfalls respektive sein Wille – war der Motor Echwejch’scher Umtriebe, und deren religiöse Verbrämung, wie sie offiziell geschildert wurde, diente bloß dazu, um jedermann auf die falsche Fährte zu locken.
Über die Motive dieses Niun-Meoa wusste der Leibwächter offenbar nichts – oder er kam nicht mehr dazu, es mir zu sagen. Was er dem König dringend melden wollte, war mir hingegen klar: dass eine sehr punktuelle Maßnahme den Aufstand der Schwanenleute im Keim ersticken würde, zusammen mit der Neutralisierung aller hinter der Geflügelszene für uns ungreifbaren Gefahrenmomente. Da nämlich die Inthronisation eines neuen Gebieters ausschließlich durch dessen Vorgänger vorgenommen werden konnte, wenn dieser sein Ende nahen fühlte, müsste eine Eliminierung Machwajchs jeden neuen Herrscher verhindern.
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Nachtrag betreffend die Aussage der Echwejch-Frau Pachwajch, die den Wunsch geäußert hat, die Ausführungen des Leibwächters zu kommentieren, aufgezeichnet von Ikqyku Diaxu:
Der guten Ordnung halber stelle ich fest, dass ich mit der Dame seit längerem liiert bin und mir von ihr keinerlei Schaden zugefügt wurde, weder vor der Machtergreifung durch das Schwanenvolk, noch während der Okkupation. Sie stand während der ganzen Zeit – entgegen meinen diesbezüglichen Zweifeln – insgeheim auf unserer Seite und hat mir eine ganze Reihe wertvoller Informationen über ihre Rasse gegeben. Ihre Glaubwürdigkeit wird aber vor allem durch den Inhalt der heutigen Aussage unterstrichen.
Pachwajch erklärt den Bericht des Leibwächters insgesamt als Mystifikation. Nichts aus dem, was sie in ihrer Heimat erlernt oder sonst erfahren hat, deutet für sie darauf hin, dass die Berichte über den Ursprung der Echwejchs als intelligenter Wesen mehr sei als Legenden. Weder für die Version der Priester, die aus einem bloßen Dogmengebäude bestünde, noch für die Variante des Gardisten (aus welcher Quelle auch immer er sie erhalten haben mochte) gäbe es irgendeinen Anhaltspunkt für konkrete Beweisführungen.
Allerdings – und das ist angesichts der jüngsten Ereignisse von gleicher Tragweite wie das Geheimnis des Leibwächters – bestätigt Pachwajch nachdrücklich die Tatsache, dass ohne aktive Ernennung eines Nachfolgers das Herrschergeschlecht und damit die Echwejch-Kultur als solche jedenfalls am Ende ist.
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Zweiter Nachtrag:
Vielleicht ist es nicht wichtig, aber das Einzige, was möglicherweise für die Version des Leibwächters spricht, ist die Tatsache (die übrigens auch von Pachwajch bestätigt wird), dass der Name des Schwanenplaneten, Amnor, kein autochtoner Begriff der Echwejch-Sprache ist. Handelt es sich vielleicht um ein Wort aus dem Idiom dieses Niun-Meoa?
615
SIR BASIL CHELTENHAM:
Der König hatte bei seinen zaghaften Umhörungen niemanden gefunden, der es wagte, Machwajch hinzurichten. Selbst Pachwajch, mit der Ikqyku Diaxu nach Normalisierung der Lage (aber was war nach all diesen unfassbaren Geschehnissen auf der Station noch normal?) aufs Neue zusammenlebte, lehnte das Angebot ab, der Qual ihrer ehemaligen Führerin ein Ende zu bereiten. Wie denn auch, dachte Keyhi ernüchtert, denn wenn sie die notwendige Fähigkeit zur Gewalt besäße, wäre doch Diaxu längst ihr Opfer geworden (was Königin Mango, dereinst befürchtet und vielleicht sogar ein wenig erhofft hatte).
Als englischer Grundherr, der noch nicht vergessen hat, wie seine Vorfahren das Ius Gladii auszuüben verstanden, und als Offizier, der ebenso wie Keyhi jenseits aller Sentimentalität klar erkannte, wie mit manchen Feinden zu verfahren war, wenn man sie endgültig los sein wollte oder eigentlich sollte, riet ich meinem Freund, selbst als Vollstrecker zu fungieren (denn am Urteil an sich gab es ja wohl kaum noch etwas zu rütteln). Aber da trat Anastacia dazwischen und wies den in ihren Augen abgewirtschafteten König in einer Anwandlung von weiblichem Chauvinismus, gepaart mit dem atavistischen Anspruch einer wahren Siegerin, in die Schranken. Sie würde tun, was getan werden musste!
Ich machte mich, anders als es meine sonstige Art war, ganz klein: Ich konnte darauf verzichten, dass Anastacia auch mir noch die totale Erfolglosigkeit meines Einsatzes auf VIÈVE vor Augen führte. Aus den Reihen der übrigen erhob sich ebenfalls kein Einwand. Im Gegenteil – auf der Station war es totenstill wie vermutlich nie zuvor: Nichts von der Geräuschkulisse, von der Keyhi mir immer aus der Ferne berichtet hatte. Selbst Diaxus stets betriebsames Etablissement, in dessen Genuss ich umständehalber noch gar nicht gekommen war, lag dunkel und verlassen da.
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Kaum hatte Anastacia Panagou die Echwejch-Führerin getötet (ersparen Sie mir bitte die furchtbaren Details dieser fast kultisch anmutenden Handlung, in der sich die schicksalsbezogene Tradition der griechischen Heimat der Henkerin eindrucksvoll manifestierte), kaum also war dies geschehen, gab es eine riesige Explosion, und es schien, dass jenes von Vangelis vorausgedachte Ereignis nun tatsächlich stattfand. In den Weiten sämtlicher visionärer Wirklichkeiten des Giordano Bruno bedeutete dieser Hinrichtungsakt nicht viel mehr als den legendären Flügelschlag eines Schmetterlings, der an einer weit entfernten Stelle ein Erdbeben bewirkte – aber was hier ausgelöst wurde, überstieg bei weitem unser aller Vorstellungskraft. Am Sternenhimmel in Richtung der Nahtstelle zur Spiegelwelt gab es ein gigantisches Feuerwerk mit einem Durchmesser von Millionen Lichtjahren – man sah es genau durch die Glasfelder in der Außenhaut von VIÈVE. Die Erscheinung musste von ungeheuren Druckwellen rasend schneller Materieteilchen, kolossalen elektromagnetischen Störungen sowie enormen Verzerrungen der Subraumfelder begleitet sein.
Fragen Sie mich nicht, woher ich all das auf einmal wusste, aber jedenfalls waren diese Phänomene deutlich als unangenehm-bedrohliche Vibrationen der Station zu spüren, und manch banger Blick richtete sich auf die tragenden Strukturen, die da und dort unter diversen Verkleidungen hervorsahen.
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Langsam realisierten wir, dass König Keyhi verschwunden war, und mit ihm Ikqyku Diaxu, sämtliche Lhiks (die älteren und die jüngeren), Gila Graven, Gyk Fylx und seine Musiker sowie alle anderen, die aus dem Paralleluniversum stammten – auch jenes hässliche Vieh namens Tizb’ptouk, auf das mein Kamerad so große Stücke gehalten hatte. Mango Berenga, Chicago und ich, die, um hierher zu kommen, den Zeitsprung hatten überwinden müssen, der im Raum um VIÈVE im Vergleich zum Rest der Alpha-Realität bestand, begannen plötzlich, diese Anomalie als Schmerz zu empfinden. Was aber schlimmer war: Die Mischlinge unter der Stationsbevölkerung, Nachkommen diesseitiger und jenseitiger Personen, darunter die Königskinder und vor allem meine geliebte Clio, taumelten blöde lallend und wie verkrüppelt umher – diese titanische Katastrophe schien ihnen einen Teil ihres Selbst geraubt zu haben.
Unendlich langsam begriffen wir Verbliebenen und (abgesehen von diesem unsäglichen Leiden an der Zeit) noch einigermaßen Normalen, dass die beiden Universen sich voneinander gelöst haben mussten, und dass die Spiegelwelt alles mit sich genommen hatte, was ihrer war. Nichts erinnerte mehr daran, nicht einmal die kleinste Einzelheit, wie ich mich später überzeugen konnte, als ich Keyhis Memoiren suchte: auch diese waren fort.
Zunächst aber galt meine unmittelbare Sorge der Komtesse, und ich trachtete sie festzuhalten und zu beruhigen, aber es war völlig klar, dass sie mich nicht mehr kannte, nichts mehr wusste von dem, was ihr Leben gewesen war, weder von der Zeit drüben, noch von der herüben. Äußerst bestürzt registrierte ich neben diesem geistigen Absturz auch den körperlichen Verfall: Fast nichts mehr war übrig von der wunderschönen Prinzessin, als die man sie im Reich des Augustus Maximus Gregorovius gerühmt hatte – eine Beurteilung, die auch auf unserer Seite ohne Vorbehalt übernommen worden war…
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… und dann war da mit einem Mal die Walemira Talmai, schwärzer als ich sie jemals gesehen hatte, mit deutlicheren Zeichen ihrer schamanischen Macht als je zuvor, von überwältigendem urweltlich-nacktem magischen Aussehen. Weder ahnte jemand, wie sie hierhergekommen war, noch wagten wir, auch nur eine Spekulation über diese Raum- und Zeit-Teleportation anzustellen.
Wie schon einmal vor nunmehr bereits vielen Jahren, als Geneviève von B. ihre totgeglaubte Tochter wie in Trance für eine kurze Weile in den Armen halten konnte, synchronisierte Berenice mit ungeheurer Kraftanstrengung den Lauf der beiden offenbar vehement aus-einanderdriftenden Universen noch einmal kurz und ermöglichte es der NOSTRANIMA, die sich auf ihren Befehl lang und dünn wie eine Bogensaite gemacht hatte, das zurückzuholen, was Clio und die anderen Halbblütigen wieder in Menschen verwandelte. Keiner aber von denen, die ganz von drüben oder von jenseitig gebürtigen Eltern stammten, kehrte dadurch wieder.
Ich hob die total erschöpfte, zu meiner Freude aber erneut so reizvoll wie ehedem gewordene Clio hoch, um sie im Königspalast zur Ruhe zu betten, und meinem Beispiel folgten Mango Berenga, unterstützt von Miss Serpentina, mit XX und XY und all die anderen übriggebliebenen Elternteile mit ihren Kindern – die Walemira Talmai hatte uns erklärt, man müsse diese schwer traumatisierten Wesen nachbehandeln, und sie werde eine kollektive Therapie versuchen, von der sie sich am meisten versprach. Als wir sie das nächste Mal sahen, trug sie den weißen Mantel einer Ärztin, sah jetzt wieder ganz zivilisiert aus und gar nicht mehr geheimnisvoll.
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Anastacias Androiden führten unter der Leitung Anpans die notwendigen Aufräumungsarbeiten durch, soll heißen, sie beseitigten alle Spuren der Echwejchs (eine zum Teil äußerst degoutante Tätigkeit, das können Sie mir glauben, handelte es sich doch dabei nicht nur um die Entfernung von Artefakten, sondern auch von Leichen und den dazu gehörigen Blutspuren, und ich trachtete, mich möglichst davon fernzuhalten). Nichts war mehr zu spüren von der heiteren Leichtigkeit und der sexuellen Flatterhaftigkeit, die das fremde Völkchen am Beginn seines Aufenthalts versprüht hatte und die von gar manchen aus der ansässigen Bewohnerschaft zunächst auch sehr geschätzt worden war. Nun wollte niemand mehr etwas von ihnen wissen, und ihr gesamtes Erbe wurde auf ihr plumpes Schiff verfrachtet, das man sodann führerlos auf einem automatisch gesteuerten Kurs in die Richtung eines wenig belebten Raumsektors sandte.
Pachwajch und Rejchwejch als einzige Überlebende ihrer Art durften bleiben – als ewige Mahnung, wie die Königin ihren verbliebenen Untertanen erklärte. Ohne lange Diskussionen hatte man im stillen Einverständnis aller beschlossen, einfach so weiterzumachen wie bisher, die Lücken möglichst zu schließen, die durch die Dahingegangenen entstanden waren, und derart zu vermeiden, dass Depression und Wahnsinn um sich griffen. Dazu gehörte auch, dass der „King?s & Queen?s Club” samt seinen Suborganisationen (mit Ausnahme der „Baroque Lounge”) weiterbetrieben wurde: was manche überraschte, da sie Mangos mehr oder weniger offenes Ressentiment gegen die Lokalität kannten. Nun aber ernannte die Königin offiziell Pachwajch zur Nachfolgerin Diaxus, nicht zuletzt, weil sie eine so schöne Stimme besaß, wie im entsprechenden Dekret zu lesen war. Ihr zur Seite wurde mit selbem Erlass Rejchwejch als Majordomus gestellt sowie als alter und neuer Star (nunmehr mit uneingeschränkter höchster Billigung) XX-Julia.
Selbstverständlich lief auch der Betrieb an der Akademie unmittelbar nach Beseitigung der Spuren des grausamen Rituals wieder an, und Mango Berenga, die ja nun als neues Oberhaupt von VIÈVE völlig in Anspruch genommen war, übertrug die Organisation ihrem Sohn XY, für den sich zu seiner tiefsten Befriedigung endgültig der Name Victor Hugo eingebürgert hatte, ähnlich wie für die Königstochter mittlerweile ihr Künstlername. Allerdings waren weder Club noch Akademie mit früher zu vergleichen (ich selbst konnte das kaum beurteilen, aber der eine oder andere Stationsbürger sagte es mir insgeheim): Es fehlte die blühende Phantasie Diaxus auf der einen ebenso wie das persönliche Engagement der Berenga auf der anderen Seite. Offiziell aber taten alle so, als ob sich nichts geändert hätte.
Um positive Symbole zu setzen, wurde an prominenter Stelle der Station eine überlebensgroße Projektion der Walemira Talmai installiert, zusammen mit dem Bild dunkler Hände, die VIÈVE Schutz gaben. Vor diesem Mahnmal saß ich lange und gedachte meines Freundes Keyhi, der – wo immer er gelandet sein mochte – hoffentlich sein Tizb’ptouk noch bei sich hatte, mit dem er sich wenigstens vernünftig unterhalten konnte. Nun waren die beiden auf eine noch viel intensivere Art als bisher vereint, ich aber würde nie mehr erfahren, was genau den König und sein Ungetüm eigentlich so sehr verband. Keyhi musste wohl irgendwie die Achtung des Ungetüms erworben haben, und das obwohl bekannt war, dass er ursprünglich auf dessen Artgenossen Jagd gemacht hatte.
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DREHBUCHAUTORIN CLAUDETTE WILLIAMS:
Sir Basil hatte plötzlich das Bedürfnis, umgehend auf die Erde zurückzukehren, und so beeilten sich denn alle, die ein Gleiches tun wollten, sich ihm anzuschließen und mit Anastacia Panagou und ihrer Truppe auf der NOSTRANIMA heimzureisen. Cheltenhams Kristallkugel, so war man übereingekommen, sollte den Nachzüglern die Heimreise zu einem späteren Zeitpunkt ermöglichen. Die Walemira Talmai, die keiner dieser Hilfsmittel bedurfte, hatte sich für ihren Teil entschlossen, noch einige Zeit nach ihren Patienten zu sehen – die Komtesse von B. behielt sie demzufolge bei sich.
Welch eine Ankunft für den Baronet! Wieder auf dem angestammten Familiensitz, von seiner Frau nach allem, was mittlerweile geschehen war, mit ein wenig gemischten Gefühlen erwartet, selbst ebenso hin und hergerissen zwischen der wohligen Verlockung, sich ohne Wenn und Aber in die alte Beziehung zu flüchten, und den fahlen Hintergedanken, die sich auf getrennten Wegen eingenistet hatten. Die Freude überwog am Ende, und Sir Basil schloss Lady Charlene in seine Arme, und auch den Erben, den sie ihm mittlerweile geschenkt hatte, obwohl er wusste, dass dieser nicht sein leiblicher Sohn war: unschwer zu erkennen an äußeren Merkmalen, die – nicht dramatisch hervorstechend, aber doch – an einen gewissen Oyabun erinnerten.
Die Hochstimmung, der sich Cheltenham nun überließ, konnte nicht einmal getrübt werden durch die unvermeidliche Anwesenheit Leo Di Marconis, der albern grinsend danebenstand, weil er zwar manches ahnte, aber nichts Genaues wusste und daher auch nicht imstande war, einen einigermaßen brauchbaren Bericht zu fabrizieren. Charlene hatte von dem Burschen ohnehin genug, der sie im Anklang daran, dass sich vor einer Ewigkeit in Washington ihre Wege erstmals gekreuzt hatten, Chuck nannte und öffentlich darüber spekulierte, dass gar nicht viel gefehlt hätte und sie wäre mit ihm ins Bett gestiegen. Auf ihre geflüsterte Bitte hin veranlasste Sir Basil mit nicht viel mehr als einer herrischen Handbewegung den unrühmlichen Abgang des Journalisten.
Als es Abend wurde, und die Baroness die alten Zeiten ihres triumphalen Einzugs auf Cheltenham House herbeisehnte (einschließlich einer Wiederbelebung ihrer sexuellen Beziehung zu ihrem Mann) sah sie diesen in Richtung jenes Ganges gehen, von dem die Geheimtür ins unterirdische Labyrinth führte. Da Basil sich nach Romuald erkundigt hatte (der übrigens längst getürmt war, wie vor den meisten anderen ernsthaften Aufgaben seines Daseins) und auch nach Romis Pendant Lyjaifsxy (von dem man berechtigterweise ebenfalls annehmen musste, dass er nicht mehr da war), nahm Charlene an, dass er wohl bloß nach dem Rechten sehen wollte, um zu verhindern, dass sich dieser Orkus unvermittelt auftat. Wenn sie später daran zurückdachte, erinnerte sie sich, wie umsichtig sie das damals gefunden hatte.
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Der unbekannte Android – grobschlächtig und jedenfalls ganz anders als die unvergleichlichen Geschöpfe der Panagou, dennoch aber auf seine Art sehr effizient –, der aus dem Labyrinth hervorbrach, überwältigte und betäubte Sir Basil völlig überraschend: Es gab nicht den Funken einer Chance, und der Baronet wurde dort hineingeschleppt, sodass keinerlei Spur von ihm blieb. Drinnen erwachte der Gefangene wieder, und als er sich in der Dunkelheit etwas zurechtgefunden hatte, versuchte er, mit seinem Bezwinger Kontakt aufzunehmen. „Reden Sie mit mir!” wiederholte er ein ums andere Mal, bis sich schließlich eine schnarrende Stimme vernehmen ließ: „Einen letzten Gruß des Tyrannen der jenseitigen Völker! Wie du siehst, ist es ihm tatsächlich gelungen, von Pascal Kouradraogo, einem Abtrünnigen deiner Welt, ein Maschinenwesen anfertigen zu lassen und auf deinen Untergang zu programmieren! Hoffe nur ja nicht auf die Tötungshemmung von Androiden gegenüber Menschen, denn ich besitze sie nicht!”
Ich war gar nicht überrascht: Mit der mir wohlbekannten Mischung aus herbem Charme, unverhohlener Drohung und diskreter Zusage finanzieller Gaben hatte es der Diktator des Paralleluniversums offenbar geschafft, doch noch zu seinem tödlichen Spielzeug zu kommen. Dieser Automat, der als Artefakt der diesseitigen Realität natürlich nicht von den jüngsten dramatischen Ereignissen hinweggefegt worden war, konnte in Aktion treten, lange nachdem sein Herr das Zeitliche gesegnet hatte. Sein einziger Zweck bestand darin, Sir Basil zu vernichten.
Dementsprechend beantwortete die schnarrende Stimme jeden weiteren Versuch Cheltenhams, sich zu unterhalten und seine Lage derart vielleicht erträglicher zu machen, nur immer wieder mit dieser einen Passage: „Einen letzten Gruß des Tyrannen der jenseitigen Völker… Einen letzten Gruß des Tyrannen… Einen letzten Gruß… ”
Zornig (denn die missliche Lage, in der ihn Dummheit nicht trotzdem bis aufs Äußerste reizte, musste erst erfunden werden) rief Sir Basil: „Du bornierter Schrotthaufen…”
„… einen letzten Gruß des Tyrannen der jenseitigen Völker…”
„… lass dir ein anderes Gehirn einsetzen…”
„… einen letzten Gruß des Tyrannen…”
„… oder besser gleich einen neuen Kopf montieren!”
„… einen letzten Gruß…”
In seiner Sorglosigkeit führte der Baronet den Magierstrick Iadapqap Jirujap Dlodylysuaps, der im in dieser Notlage wahrscheinlich hätte helfen können) nicht mit sich. Er war eben doch nicht so ganz überzeugt von den Dingen, die jenseits seiner militärisch geschulten wahrnehmung lagen. Gnädigerweise bekam er nicht mehr mit, wann er durch diese stereotype Unterhaltung den Verstand verlor, und schon gar nicht, ob es damit sein Bewenden hatte oder er auch noch physisch ausgelöscht wurde. Jedenfalls wurde er draußen auf seinem Landsitz sehr rasch für tot erklärt: „Einerlei bleibt für uns”, sagte Lady Charlene mit tränenerstickter Stimme zu ihrem Sohn, „ob er nicht willens oder nicht in der Lage ist, wieder herauszukommen.”
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Nun – Sie mögen es von einer Drehbuchautorin (respektive dem hinter ihr stehenden Erzählerpaar) reichlich unfair finden, wenn der Mörder erst im allerletzten Augenblick auftaucht, nachdem man ihn nie zuvor gesehen hat, und der Geschichte ein Ende setzt. Tun Sie einfach das, was Ihnen bei Unzufriedenheit mit uns Kunstschaffenden immer offen bleibt: Drücken Sie den AUS-Knopf!
Guten Abend und vielleicht dennoch auf Wiedersehen!
Und keine Sorge, die Erde funktioniert auch in Abwesenheit Cheltenhams und Berenices weiter…