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6. TEIL
VIEL GLÜCK
IM NIRVANA!
601
Bevor diese Geschichte ihrem Ende zugeht und wir alle als deren Personal am Ende zur Reglosigkeit erstarren oder uns in Luft auslösen oder was immer dann passieren mag, brennt mir noch eine Frage auf den Lippen: Was musstest du wirklich tun für diesen Ralph und diesen Hardy – angesichts der ungeheuren Summe von 100.000 $? Oder mit anderen Worten: Was ist damals geschehen nach meinem Abgang aus diesem burgähnlichen Schloss oder dieser schlossähnlichen Burg, also nachdem ich mit mehr oder weniger Peinlichkeit den Finanzberater, den Missionar, den Arzt und den Hauslehrer markiert hatte?
BRIGITTE:
Es war nichts, denn wie du weißt, waren die beiden reine Kunstfiguren, die nur künstliche Dinge tun konnten. Ich denke, das ganze Anwesen war Illusion, und ich saß nur irgendwo allein in einer Blue Box, während alles andere technisch vorgegaukelt wurde.
Keine Kunstfiguren, keine Illusion! Ralph und Hardy waren in handfeste kriminelle Handlungen verwickelt, wodurch sich bald herausstellte, dass sie sehr real existierten. Von Goldschmuggel und Geldwäsche war die Rede, von der Kapitalbeschaffung für den legendären Orden der Orangenblüte, alles getarnt durch dieses harmlos-irre Image von den „Dream Twins”, die Performances veranstalteten und lebende Bilder einrichteten – bis ihnen dann die Amerikaner als selbst ernannte Weltpolizisten das Handwerk legten, mit Hilfe von Ralph und Hardys eigener Hausdame Franca Caravaggiolo, die insbesondere vom großen Schlanken unter den beiden sexuell schwer misshandelt worden war und sich dafür rächen wollte.
Und war das vielleicht nicht real, als du dich an deinem 21. Geburtstag an diese zwei Typen verkauftest? Für 100 Grands solltest du ein Jahr lang ihnen gehören – ein volles Jahr! Was konnte in dieser Zeit nicht alles mit dir geschehen!
BRIGITTE:
Gleich zu Beginn musste ich meine Kleider abgeben und nackt in der Halle sitzen…
… und dann kam ja schon ich und absolvierte als Statist jene Rollen, um dich in Verlegenheit zu bringen…
BRIGITTE:
… was nicht geschah, zumindest ließ ich mir die Beschämung nicht anmerken, denn das glaubte ich meinen Besitzern schuldig zu sein, die ganz sicher als heimliche Beobachter zusahen.
Und als ich wieder weg war? Sind sie dann über dich hergefallen?
BRIGITTE:
Es ging ihnen nicht um den sofortigen Vollzug, hatte Ralph mir gleich zu Beginn eingeschärft – „…sondern um deine jederzeitige Bereitschaft dazu!”, wie Hardy sich beeilte zu ergänzen. Ich wurde ganz kribbelig bei diesen Worten, denn ich begann langsam zu begreifen, worin dieses Projekt bestand: Sie wollten meine Seele bloßlegen! Meine körperliche Nacktheit war lediglich eines der Instrumente, die diesen Prozess beschleunigen sollten. Als ich das begriff – noch am Tag deines Besuchs –, brüllte ich so laut ich konnte: Jo–han–ne–e–e–e–s, komm zurü–ü–ü–ü–ck! Aber ich hörte nur den Widerhall meiner eigenen Stimme in diesem gespenstisch riesigen, vom matten Kaminfeuer und von einigen dämmrigen Kandelabern beleuchteten Raum. Ich erschrak so sehr, dass ich es gar nicht wagte, meinen Hilferuf zu wiederholen – abgesehen davon warst du ohnehin längst über alle Berge.
Du hättest unsere Drehbuchautorin, die sich das ganze ausgedacht hat, um Rat fragen sollen. Schließlich musste sie sich überlegt haben, was in einer solchen Situation zu tun sei.
BRIGITTE:
Ich versuchte mir vorzustellen, wie sie an meiner Stelle vorgegangen wäre, und sie schien mir zu empfehlen, mich vergangener Zärtlichkeiten zu entsinnen, was sowohl meinem Körper, als auch meiner Seele Wärme suggerieren sollte. Natürlich dachte ich als erstes an deine Hände, wie sie mich in unserer frühen Jugend gestreichelt hatten, ein wenig unschuldig noch, aber doch schon dort, wo sie ein erfahrener Liebender haben musste. Und ich begann, diese Erinnerungen auf mir nachzuzeichnen, vergaß dabei übrigens ganz, dass mir mit Sicherheit jemand zusah, und brachte mich selbst zu jener Klimax, die Ovid mit dem berühmten „Tief durchbebe die Frau im innersten Mark die Wollust…” beschrieb (unmittelbar davor hattest du mir ja Nachhilfe über diesen Dichter gegeben!). Aber ach – die zweite Hälfte des Zitats („und es erfreue den Mann gleiches Entzücken mit ihr…”), personifiziert durch dich, blieb unerfüllt: Lediglich die kalten Augen zweier Neurotiker ruhten auf dieser Szene.
Was soll’s – nur zwei Jahre davor bist du mit mir im Hamburger „Flaubert” aufgetreten, mit öffentlich zelebriertem Koitus Abend für Abend, bis es deiner Mutter dann gefiel, dich dort loszueisen und nach Hause zurückzubringen. Wie konntest du danach noch die gleiche Scham empfinden wie davor?
BRIGITTE:
Im „Flaubert” war ich unter deiner Obhut, die mich einhüllte als imaginäre Schutzschicht, abgesehen davon, dass ich dich heiß liebte und mit dir alles gemacht hätte (in diesem Sinn betrogen wir dort eigentlich sogar das Publikum, das in der Vorstellung eines gewerbsmäßigen Geschlechtsaktes schwelgte). Im „Flaubert” standen (oder besser lagen) wir überdies nur eine halbe Stunde im Rampenlicht, wie Gott uns schuf, um danach wieder in die völlige Anonymität der fremden Großstadt zurückzukehren. Dort aber, bei Ralph und Hardy, konnte ich mich die ganze Zeit hindurch niemals und nirgends verstecken – ich war 365 Tage lang 24 Stunden täglich nackt. Wenn ich seitens meiner vorübergehenden Besitzer alles Mögliche erwartet hätte, bis hin zum Missbrauch à la Caravaggiolo – das jedenfalls nicht.
Ich merkte, dass sie den Anschein erwecken wollte, mit mir offen über jene Zeit bei den „Dream Twins” zu sprechen, aber sie konnte mir nichts vormachen: Ihre Darstellung, es wäre dabei nichts anderes vorgefallen, als was sie bis jetzt preiszugeben bereit war respektive was ich davon mit eigenen Augen gesehen hatte, überzeugte mich nicht. Vor allem wollte ich mir nicht anhören, dass sie erst im nachhinein höchst alarmiert von der nicht nur literarischen Existenz der Gebrüder Ralph und Hardy gewesen sei, namentlich von den grausamen Eskapaden, die sie außer mit dieser Franca auch genauso gut mit ihr hätten ausleben können.
BRIGITTE:
(zögernd) Sie verstanden es selbstverständlich als Installation, und bei diesem sogenannten Kunstwerk gab es neben den statischen Phasen auch die dynamischen: So kamen einmal Gäste zum Dinner, und ich hatte als besondere Attraktion in der Mitte der riesigen Festtafel zwischen all den Schüsseln und Gläsern Platz zu nehmen. Sorgsam war ich bereits davor abgefüttert worden (anders kann man das in diesem Zusammenhang wohl nicht bezeichnen), sodass ich mich voll darauf konzentrieren konnte, mich zu präsentieren oder auch die eine oder andere beiläufig hingeworfene Anweisung zu befolgen: „Spreizen Sie die Beine, Schätzchen!”, befahl die Dame rechts von mir im roten Abendkleid (ich kannte natürlich von keinem hier den Namen, daher war sie für mich Lady Face), „Schließlich hat man uns versprochen, wir würden tiefere Einblicke in Ihr Leben erhalten!” Dabei glühte ihr kreisrundes teigiges Gesicht, als ob es jeden Moment zerfließen wollte.
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Und die Gastgeber?
BRIGITTE:
Die waren nicht anwesend, was allerdings niemanden zu stören schien. Es waren ja Dienstboten da, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, obwohl es sich vermutlich um dieselben handelte, die auch mich bisher versorgt hatten, ohne sich je blicken zu lassen. Jedenfalls bohrten sich sämtliche Blicke der einen Tischhälfte in meine Vulva, und ich hatte tatsächlich das Gefühl, lange dünne Nadeln zu spüren. Dann musste ich mich umwenden, und das Ganze wiederholte sich mit dem Rest der Gesellschaft. Als nächstes hatte ich mich hinzuknien und mit den Armen abzustützen, mit schrittweiser Ortsveränderung von Himmelsrichtung zu Himmelsrichtung, währenddessen die Bande aß und trank, und dann wurde Kaffee serviert, anschließend Likör. Niemand machte Anstalten aufzubrechen, daher ging es für mich immer weiter, und wenn ich ab und zu Anzeichen von Müdigkeit oder gar Überdruss erkennen ließ, meldete sich Lady Face maliziös zu Wort: „Aber meine Liebe, haben Sie sich nicht an unsere Freunde Ralph und Hardy verkauft – mit dem Einverständnis, alles mit sich geschehen zu lassen?”
Frauen sind die ärgeren Sadisten, dachte Brigitte, aber gerade jetzt machte sich ein Mann neben dieser Teiggesichtigen bemerkbar.
BRIGITTE:
Ich nannte ihn Mr. Chill – die passenden Namen für dieses Pack flogen mir gerade so zu: Bei diesem hier bekam man Schüttelfrost, wenn man ihn nur ansah. Er deutete auf meinen Unterleib: „Nun seht euch das mal an!” Ich wusste nicht, was er damit sagen wollte, wurde aber jetzt ziemlich wütend und flüsterte: Leck mich! Face hörte es dennoch: „Das könnte er gerne tun, Darling, und ich versichere Ihnen, er versteht eine Menge davon, aber wir sind verpflichtet, Abstand von Ihnen zu halten!”
In diesem Augenblick, dachte ich mir, ohne dass Brigitte es aussprach, musste etwas in ihr zerbrochen sein, was nur schwer wieder heil zu machen war. Immerhin konnte sie kurz darauf, als Ralphs und Hardys Gäste endlich doch aufbrachen, in ihre Isolation zurückkehren und war anscheinend froh darüber.
BRIGITTE:
Es folgten Tage der Einsamkeit, in der diese anfängliche Freude über das Alleinsein allmählich in den Horror der Verlassenheit mutierte. Es gab in dieser Halle, die mein Zuhause war, nichts zu lesen, kein Radio oder Fernsehen, keine Möglichkeit, Musik zu hören, ja nicht einmal ein Stück Papier oder einen Bleistift, um meine Gedanken oder Gefühle niederzuschreiben und damit ordnen zu können. Es gab nur mich, abgegrenzt von dieser zunehmend als feindselig erlebten Umgebung durch nichts als eine dünne Haut. Es gab außerdem die ständig präsente Folter durch das Wissen, dass ich einer Laborratte gleich jederzeit beobachtet werden konnte, und zugleich das Nichtwissen, wann das jeweils konkret der Fall war.
Ich verstand jetzt, warum es ihr später so viele Jahre nichts ausgemacht hatte, bei Romuald zu bleiben, obwohl ihr eigentlich schon in der Hochzeitsnacht klar wurde, was für einer er wirklich war (abgesehen natürlich von der Art Anhänglichkeit gegenüber meinem alten Freund, die bei ihr wie bei vielen anderen Damen auch – ich habe das oft genug betont – auf seinen vom Vater ererbten Zauberstab zurückzuführen war). Aber sie war eben damals schon daran gewöhnt, eine Menge Terror zu ertragen, ehe sie sich wehrte, und wenn sie aufbegehrte, geschah das zumeist indirekt wie bei ihrer Affäre mit Leo Di Marconi, von der ich persönlich nicht ermessen kann, ob Brigitte sie aus Leidenschaft für diesen oder als Protest gegen ihren Mann eingegangen ist.
Ich verstand jetzt sogar, warum sie es duldete, dass Romuald, nachdem er sich endgültig die Hörner abgestoßen zu haben schien (und dabei ist wahrhaftig weit und breit eine Menge zerstört worden), wieder bei ihr und den Kindern einzog. Ich kritisierte das ihr gegenüber auch nie – schließlich profitierte ich ja sogar davon: Brigitte kam seither ziemlich regelmäßig zu mir.
Von Anfang an habe ich – wenn ich mich recht erinnere – immer eingestanden, dass mich Geschichten wie jene, mit der Brigitte jetzt endlich herausgerückt war, sexuell erregen. Jeder Erzähler ist von Berufs wegen Voyeur, und er lebt diese professionell bedingte Neigung aus, indem er unter die Oberfläche seiner Figuren blickt und das, was er dort vorfindet, beschreibt, sprich: Er muss sie ausziehen bis auf die Haut (und des Öfteren natürlich bis auf die Knochen), denn sonst würden seine Texte schal bleiben und jene ungeheure Flut von Blabla verstärken, das heutzutage veröffentlicht wird. Er lebt aber auch auf jener zweiten Ebene, die einfach ihn selbst ausmacht, und auf der das als Erzähler Apperzipierte bloß eine Zutat zu dem ist, was er handgreiflich vor sich hat und einfach nur – wie jeder andere auch – perzipiert.
BRIGITTE:
Analysierst du jetzt nicht eher Duweißtschonwen, der wie wir alle nicht mehr als ein Mitglied des Ensembles dieses Buches ist, als dich selbst?
Ich mach’ es einfach, stell’ dir vor, ich nehme mir das heraus, denn von Haus aus wäre ja ich in den Geschichten von der NOSTRANIMA und von BERENICE und eben in dieser hier von ANASTACIA als die Kunstfigur „Richtiger Autor” aufgetreten, bis dieser – der wirkliche – dann der Versuchung nicht widerstehen konnte, in das hermetische Gebilde seines Werkes einzudringen und sich damit zu einer Figur des Textes zu machen. Wie es dann schon so kommt – er verdrängte mich aus der für mich reservierten Rolle, ich wurde (um das endlich einmal schonungslos auszusprechen) zum Erzähler degradiert, also zu einem von vielen, die hier erzählen, dich eingeschlossen. Folgerichtig hatte ich ja sogar angeregt, deinen statt meinen Namen über das eine oder andere unserer Bücher zu schreiben.
BRIGITTE:
Lass dieses Thema endlich!
Aber gern! Und bitte, meine Damen und Herren, es wird jetzt sehr persönlich und intim, daher seien Sie diskret und ziehen Sie sich für eine Weile zurück!
Als Brigitte dann einschlief, wünschte ich ihr einen schönen Traum vom Nirvana.
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Natürlich traf ich Lady Charlene, die Mutter meines Freundes Nicholas, gelegentlich, aber ich blieb nie mehr bei ihr stehen, sah sie nur seltsam an und lief vorbei. Niemals wäre sie auf die Idee gekommen, dass sich ihr pikanter Auftritt in den Katakomben des Klosters schon allgemein herumgesprochen hatte – einem der Novizen war dem Befehl des Abtes zum Trotz der Mund übergegangen, und vor allem Evsevia hatte alles ausgeplaudert. Aber das wäre, wenn sie es denn gewusst hätte, noch plausibler für die Baroness gewesen als der wahre Grund dafür, warum ich ihr auswich.
NICHOLAS:
Je mehr Briseïs sich um mich bemühte und je mehr sie alles tat, was sie dachte, dass ich wollte (zuletzt hatte sie sogar ihr Halskettchen in ihrer Muschi versteckt und vor mir wieder hervorgezogen), desto mehr quälte ich sie. Dabei ging es mir von Anfang an immer mehr um seelische Torturen, als dass ich ihr physisch etwas abverlangte – was sie lang nicht mitbekam und sich daher in die falsche Richtung verausgabte. Mir stand aber keineswegs der Sinn nach einer dilettantischen Version von Empress Stah, denn von der konnte ich das Original bekommen, wenn ich meine Eltern artig darum bat. Immerhin musste man dafür nur eine neuerliche Vorstellung buchen, einschließlich aller Sonderwünsche, und das stellte eben meinen Kick dar: Wenn Stah geradezu manisch jegliches Tabu zu verletzen bereit war, tat sie das bewusst und daher ohne ihre Seele dabei zu verkaufen, konnte folglich auch jederzeit schadlos in ihr eigenes und eigentliches Selbst zurückkehren, was immer das war. Anders Briseïs: Wenn sie Grenzen überschritt (respektive wenn ich sie dazu brachte, es zu tun), dann veränderte sie sich grundsätzlich, wurde eine andere, verlor ihre Mitte und vielleicht ihre Existenz.
Nicholas verstand es, mich zu schockieren, und nur mit eiserner Disziplin – wie sie mir in dieser Angelegenheit anempfohlen worden war – hielt ich durch. Wenn mich der junge Cheltenham besonders aus der Ruhe bringen wollte, erzählte er mir vom weißen Leib Lady Charlenes, und dass er diesen (da er ja geraume Zeit mit ihr allein gelebt hatte) schon früh mit den Augen eines Mannes betrachtete – wie immer er das bewerkstelligt hatte, denn sie war wohl kaum von sich aus schamlos vor ihm herumgelaufen: Er musste ihr tatsächlich bis in die größte Intimität nachspioniert haben, und gab mir die Einzelheiten seiner Beobachtungen mit Enthusiasmus wieder, in Worten, die mir die Schamröte ins Gesicht trieben.
NICHOLAS:
Und eines Tages ging ich daran, alles Bisherige zu toppen und Briseïs zu erzählen, wie ich – die Abwesenheit des Baronets geschickt nutzend – all meinen Mut zusammengenommen und meine eigene Mutter geküsst und gestreichelt hatte, und wie diese zu meiner größten Überraschung keinen Widerstand leistete, sondern mir schließlich im Gegenteil, selbst aufs Höchste erregt, erlaubte, mit ihr den Kanon der körperlichen Vereinigungen durchzuexerzieren. Als es passierte, war ich von der Einmaligkeit dieses Vorgangs überzeugt und versuchte ihn daher radikal bis ins Letzte auszukosten. Aber zu meinem Glück ging dieser Amour fou weiter, wann immer dies möglich war, ohne Aufmerksamkeit oder Verdacht zu erregen, denn auch Chuck, wie ich sie von da an unter vier Augen nennen durfte, hatte Gefallen daran gefunden – an einer (wie sie es mir zu definieren versuchte) Kombination aus der ererbten Sakamoto-Brutalität, die das erste Mal geprägt hatte, ohne sich um ein Tabu zu scheren, und der erlernten Cheltenham-Subtilität, die sich bei der Fortsetzung entfalten konnte und dem Inzest wenigstens eine gefälligere Note verlieh. Was meine Mutter bewegte, sich derart zu exponieren, war mir zwar am Beginn dieser neuen Qualität unserer Beziehung herzlich gleichgültig, doch später begann ich darüber zu spekulieren, dass diese nicht nur in ihr (und schon gar nicht in mir) allein begründet sein mochte, sondern auch im Charakter meines nominellen Vaters, der von seiner Frau offenbar eine Menge an Toleranz abverlangte, ohne dass derlei je ein Thema zwischen den beiden geworden wäre. Charlene liebte ihren Basil und nicht zuletzt die Möglichkeiten, die er ihrem Leben eröffnet hatte, und sie bezweifelte anscheinend nicht, dass auch er sie liebte, aber selbstverständlich neben allem anderen, was ihn bewegte, seien es seine politischen, militärischen und geheimdienstlichen Aktivitäten oder eben ein kurz entschlossen begangener Seitensprung, wenn eine fremde Frau ihn faszinierte.
Auch diese Überlegungen stellte mir Nicholas ausführlich dar, was mich einerseits etwas beruhigte, weil ich das Motiv seiner Mutter und auch sein eigenes besser verstehen konnte, und andererseits sogar ziemlich stolz machte, gewann ich doch dadurch das Gefühl, ein Teil dieser verwirrenden Familie zu sein, die eine so unwiderstehliche Faszination auf mich ausübte. Weder das konservative englische County, aus dem Sir Basil stammte, noch der biedere alt-amerikanische Bundesstaat, aus dem Lady Charlene kam, schien mir, nach allem, was ich davon wusste, derartige biografische Wendungen zu erklären. Viel vertrauter als mögliche Ursache empfand ich die langsame, aber unaufhaltsame Verstrickung dieser Leute in die östliche Realität, deren Vorposten in Richtung Abendland Zypern früher war, während es jetzt an der Schnittstelle der zwei Imperien lag, offiziell neutral, emotional aber weiter jenen dunklen Gewalten des Orients verhaftet. Mein eigener Vater stellte ein eklatantes Beispiel hierfür dar, außen glatt, aber innen zerklüftet und unauslotbar.
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Am Ende stellte sich heraus, wie klug Abt Stylianos das alles einfädelt hatte (und dass somit das Match zwischen ihm und dem Baronet noch lange nicht entschieden war). Unangemeldet erschien Seine Gnaden, von mir begleitet, auf der Burg Kantara und wurde auch sofort „unscheduled” von den Cheltenhams empfangen. Als sich herausstellte, worum es ging, zog man umgehend Master Nicholas hinzu, der keine Ahnung hatte, was da auf ihn zukam – im Gegensatz zu Sir Basil, dessen Gedanken auch in dieser Situation offenbar rasch zum entscheidenden Punkt gelangten.
Und er vermutete richtig: Ich war Stylianos’ Tochter und konnte – „? ?????? ???” (mit einer angedeuteten Verneigung gegenüber dem Baronet und einer ebensolchen gegenüber Charlene, ohne diese aber direkt zu apostrophieren, denn das hatte alles seine wohlkalkulierte Raffinesse) – ohne weiteres als Nicholas’ lebendes Spielzeug benützt werden, aber nicht ohne Gegenleistung. Ich sollte dem jungen Cheltenham offiziell versprochen werden, ihn sodann nach angemessener Frist heiraten und damit eine Legitimität erlangen, die mir der Abt mit Rücksicht auf seine Stellung nicht zu geben vermochte. Dafür versprach er elegant (und, wie ich sagen möchte, mit unverhohlenem Sarkasmus gegenüber meinem potentiellen Gemahl, der ihm offenbar vom Prinzip her durchaus vielversprechend erschien, wenn es auch noch manches an ihm zu perfektionieren galt), mich kraft seiner geistlichen Autorität freizusprechen von allen moralischen Normen, die gemeinhin selbst in einer Ehe einzuhalten waren.
Ich hatte plötzlich das Gefühl, meine Beine würden mich nicht mehr tragen, aber Stylianos, dem nie etwas entging, hielt mich aufrecht mit einem raschen festen Blick, der viel enthielt, was nicht laut ausgesprochen werden durfte: unter anderem, dass ich mich nicht so haben solle, denn bereits mein bisheriges Dasein sei ein durchaus anderes gewesen als jenes, das ich Nicholas vorzuspielen versuchte; und dass er, mein eigener leiblicher Vater, meine ????????? als Frau vorgenommen hatte, mit aller Vorsicht, freilich aber auch mit allem Nachdruck.
Sir Basil, dem das, was hier nonverbal abging, aufgrund seiner reichen Erfahrung nicht ganz verborgen blieb, bedeutete seinem Sohn, sich dem Abt ehrfurchtsvoll-zustimmend zu nähern. Nicholas trat wirklich vor, küsste Stylianos die Hand und sagte die traditionellen Worte: „??????? ??? ??????, ? ???????!”
NICHOLAS:
Weiß Gott, Seine Gnaden wusste mir diesen Deal schmackhaft zu machen, der mir als Mitgift die feste Verankerung in der Gesellschaft Zyperns bringen würde, was durchaus in seiner Macht lag infolge jener subkutanen, von keinem politischen oder religiösen Ritus angekränkelten Gemisch aus Aberglauben, Impulsivität und Mythos, in dessen Brennpunkt er sich äußerst gewandt bewegte. Er würde mir die Gründung einer Dynastie ermöglichen, die zunächst meinen Vater, später aber mich selbst erst so richtig in den Besitz dieser Kernzone unseres seltsamen Staates setzte. Und – nicht zu vergessen – ich würde eine junge Frau erhalten, die diese Position nach außen hin überzeugend repräsentierte, nach innen aber offen zu sein hatte für Phantasien jeglicher Art! Ich sah sie an, mit eben dem gefangennehmenden Blick, den ich soeben bei Stylianos erlernt hatte, und sie erschauerte.
Da hatten sich die beiden Richtigen getroffen! Was immer mir gerüchteweise über die direkte und indirekte Manipulation meiner Mutter Evsevia zugetragen wurde und mich merkwürdig berührt hatte, erschien mir jetzt harmlos im Vergleich zu dem, was mit mir selbst beabsichtigt war. Auch bei mir ging Seine Gnaden offensichtlich von der direkten Einflussnahme dazu über, mich in eine wesentlich kompliziertere Tragödie der Unterwerfung unter seinen Willen einzuspannen, in dem das Opfer sich am Ende glücklich schätzte, diesen erfüllen zu dürfen. Ohne viel Aufhebens hatte sich mein Vater zum Mentor des jungen Cheltenham gemacht, wohl erkennend, welche unbändige Energie (nicht zuletzt destruktiver Art) diesem aufgrund seiner wahren Herkunft innewohnte: Er fand in Nicholas mit großer Befriedigung einen in der Perspektive ebenbürtigen Partner – ein Tier in Menschengestalt, wie er selbst eines war.
Die Dramaturgie umfasste auch Sir Basil, der bekam, was er wollte – eine verbesserte Basis seiner politischen Macht –, wofür er gerne Stylianios den Triumph gönnte, mindestens so gerissen zu sein wie er selbst. Und sie umfasste Lady Charlene, der als monarchiesüchtiger Amerikanerin jene Erbfolge beschert wurde, die sie insgeheim für ihre Nachkommen ersehnte, und ihr selbst blieb Nicholas in bisheriger Weise erhalten, denn ich würde keine Chance haben, ihn für mich allein zu beanspruchen. Und das Spiel umfasste meinen zukünftigen Mann selbst, der – wenn er einmal Sir Basil nachfolge – bereits jener assimilierte Despot sein würde, jener Agent des mediterranen Untergrundes, der alle ausländischen Eindringlinge überdauert hatte und im Sinne der Kreise um Stylianos agierte: durch nichts mehr zu unterscheiden von einem, der unmittelbar aus diesem feuchtschwülen Biotop erwachsen war.
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So problematisch die Identität meines Vaters für mich war – auch die Mutter trug nicht zur Festigung meines Rufes bei, als jahrelange Gespielin des Abtes und ein vielgestaltiges Werkzeug in seinen Händen. Insgeheim sprachen alle darüber, denn ich bedeutete für sie – Pharisäer, die sie waren – die Inkarnation des Skandals: unehelich geboren von einer Hure, von einem gezeugt, der keine Frau erkennen sollte, oder von einem anderen seiner Möncheschar (was definitiv nicht der Fall war, denn zur fraglichen Zeit gebrauchte Stylianos meine Mutter noch exklusiv). Ich war damit groß geworden, dass alle mit dem Finger auf mich zeigten, und so mancher fand es sogar der Mühe wert, vor mir auszuspucken, wenn ich an ihm vorüberging.
Der Abt tat für mich nichts, außer dass er für mein Auskommen wie für das von Evsevia sorgte, bis wir dann einige Zeit, nachdem die Cheltenhams auf den Plan getreten waren, beide bei ihm saßen und in seine Absichten eingeweiht wurden, von denen ich zunächst nur höchstens die Hälfte nachzuvollziehen vermochte. Aber das reichte, um zu verstehen, dass ich die mir solcherart gebotene Chance ergreifen musste, koste es was es wolle.
Und so lautete schließlich die ??????????????: Die Cheltenhams lieferten auf Termin. Erst rund zwei Jahre später wurde meine Vermählung mit Nicholas mit großem Pomp gefeiert – wir Brautleute waren dessenungeachtet noch sehr jung, er genau 17, ich 15½, aber dann hatte ich endlich jene Reputation, die ich mir angesichts der Anfeindungen in meiner Kindheit und frühen Jugend so sehr wünschte, und ich war nicht nur ehrbar geworden, sondern auch gleich „Prinzgemahlin unseres stolzen und wichtigen Landes”, wie Sir Basil es in seiner Tischrede formulierte.
Abt Stylianos lieferte hingegen prompt: mich nämlich, die meinem künftigen Gemahl ab sofort zur Verfügung stehen musste, und dieser machte davon ausgiebig Gebrauch, sodass ich zum Zeitpunkt der Hochzeit kein Geheimnis mehr vor ihm hatte, weder körperlich noch geistig. Mit jener eigenartigen britischen Attitüde, die er trotz seiner amerikanisch-japanischen Abstammung original von seinem nominellen Vater übernommen hatte, nannte er das „Girl, let’s turn you upside down, inside out!”
NICHOLAS:
Überdies versetzte mein Socer in secreto unsere Familie ohne Verzug in den Stand größter Machtvollkommenheit in Zypern, ohne dass sich fürderhin irgendein Widerstand des hier lebenden Völkergemischs gegen uns regte. Mehr noch: Kraft seines Einflusses, den man wohl (wenn auch ein wenig blasphemisch) spirituell nennen musste, fraß sich diese Macht auch langsam, aber sicher den Limes entlang und entfaltete sich beiderseits davon auf dem schmalen Streifen unseres seltsamen Staates. Plötzlich entwickelten die von den Randstaaten des Amerikanischen Imperiums und des Chinesischen Reiches abgetretenen Gebiete eine fanatische Loyalität zu CORRIDOR, die alle bisherigen ethnischen Unterschiede überdeckte.
Um das verstehen zu können, musste man meinen Vater – den Menschen, nicht den Abt – genauer kennen: Er wirkte älter, als er tatsächlich war, denn man musste, um an ihn heranzukommen, ein Terrain vague durchqueren, das einen leicht mutlos machen konnte, denn es gab ihm die Möglichkeit, einen am Ende des Weges zu ihm emporzuheben oder noch weiter hinabzustoßen. Und bevor das entschieden wurde, pflegte er dazusitzen, in einer monolithischen Haltung, in geradezu reptilienhafter Konzentration und Stille. Wenn er sich dann entschloss zu handeln, geschah dies ohne erkennbaren Kraftaufwand, und seine Worte besaßen eine glatte Unabwendbarkeit – ich kenne eigentlich niemanden, der ihm zu widerstehen vermochte. Sein Freund Cheltenham, den er von Anfang an für ebenbürtig gehalten hatte, brachte es auf den Punkt: „Stylianos, that rogue, flows like honey from a spoon!”, und der Abt nahm das nicht als Beleidigung, sondern meinte, so weit östlich wie in Zypern beschreibe der Begriff Schurke (oder wie immer man das übersetzen möchte) jedenfalls einen, der schlauer sei als die anderen – einen Gentleman, der seine Gaben zurecht zum eigenen Vorteil einsetzte!
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VANGELIS PANAGOU:
(Gastvorlesung am Seminar von Professor Jonathan V. Croc, von diesem mit ehrenden Worten eingeleitet, die wir aber hier überspringen)
An der Schwelle zur Realisierung von Androiden in Form von ortsungebundenen, humanoiden Rechnern – also im Sinne von umfassender Artificial Intelligence – stand eine radikale Frage: Warum die Software hierfür neu erfinden, wenn sich vielleicht das Original, das menschliche Gehirn, auch nachbauen lässt? Wenn man, so eine damals landläufige Lehrmeinung, die erforderlichen Nervenzellen nur genau genug nachahmt und genügend dieser Zellen miteinander verbindet, fängt solch ein virtuelles Gehirn vielleicht von ganz allein zu denken an.
Bevor Anastacia Panagou diese Idee aus dem Bereich spekulativer Science-Fiction gelöst und in eine ernstzunehmende wissenschaftliche Praxis gestellt hat, gab es schon drei sehr ambitionierte Forschungsprojekte: die Nachbildung der Neuronen eines Rattengehirns auf einem Hochleistungsrechner; die Schaffung einer Million Neuronen aus Silizium; und das Projekt einer naturgetreuen Nachbildung menschlicher Sinnesorgane samt Signalverarbeitung.
Zwar wusste die Gehirnforschung zu diesem Zeitpunkt noch recht wenig über die Funktionsweise des komplizierten Neuronengeflechts im Kopf, kannte aber doch zumindest dessen Grundbausteine recht gut, und demnach sind ja auch die folgenden Aussagen bis heute Allgemeingut: Jede Nervenzelle im Gehirn, also jedes Neuron, ist durch eine Außenhaut gegen die Umwelt abgegrenzt. Diese Membran ist allerdings durchlässig – Proteine transportieren fortlaufend Kalium ins Zellinnere und Natrium aus der Zelle heraus, sodass an der Trennschicht bereits im Ruhezustand eine Spannung anliegt. Wenn sich nun entweder durch chemische Botenstoffe oder durch einen elektrischen Impuls auch die Natriumkanäle der Membran öffnen, kann Natrium einströmen – die Potenzialdifferenz wird ausgeglichen und ein Spannungsimpuls entsteht. Daraus ergibt sich ein zeitlich veränderliches Ungleichgewicht der Ionen, das sich entlang der Nervenfasern wie eine Welle auf einem Seil fortpflanzen kann, und dazu besitzt jede einzelne Nervenzelle fein verästelte Fortsätze, über die sie Verbindungen mit einer großen Zahl anderer Neuronen ausbildet. Über diese Synapsen kann jede Nervenzelle von den anderen beeinflusst werden oder diese ihrerseits beeinflussen. Wenn die Signale insgesamt einen Schwellenwert überschreiten, öffnen sich die Natriumkanäle, und die betreffende Zelle sendet selbst einen elektrischen Impuls aus – sie „feuert”. Dieses Ereignis hat dann wieder Auswirkungen auf die mit der Zelle verbundenen Neuronen und über diese auf den Rest des Gehirns.
Wie genau aus diesem Wechselspiel Informationsverarbeitung wird, war in der Ära vor Anastacia Panagou noch relativ unklar, und so konzentrierte man sich beim Versuch einer Beantwortung dieser Frage auf die sogenannte kortikale Kolumne, eine Art Universalbaustein der Großhirnrinde, deren Input über die Funktion entscheidet. Tatsächlich macht man dieses Modul verantwortlich für die Verarbeitung der Wahrnehmung, für kognitive Prozesse, für Gedächtnisleistungen und sogar für das Bewusstsein. Die Kolumne, die künstlich nachgebildet wurde, entstammte dem sensorischen Kortex junger Ratten und enthielt etwa 10.000 Neuronen. Nachdem die genaue Lage der einzelnen Nervenzellen ermittelt und ihre Verschaltung untersucht worden war, konnten die minutiös ermittelten Ergebnisse anschließend in einen Supercomputer gefüttert werden, der dann mit bis zu 3 Billionen Rechenoperationen pro Sekunde das Rattenhirn simulierte.
Es gab dabei allerdings viele offene Fragen, unter anderem, dass zwar das Großhirn einer ausgewachsenen Ratte nachgeahmt werden sollte, viele der Daten aber in Experimenten an jungen Rattengehirnen erhoben wurden, denn diese ließen sich leichter untersuchen, und die Präparate lebten länger als die Gehirne ausgewachsener Tiere. Das Problem dabei: Die kortikale Kolumne verändert sich im Laufe der Zeit strukturell, funktionell und selbst in ihren molekularen Komponenten, und solche altersabhängigen Veränderungen hätte man eigentlich in ein Hirnmodell einbeziehen müssen.
Eine viel grundsätzlichere Kritik lautete allerdings, jede Software-Simulation eines Gehirns sei eine Sackgasse per se, denn mit zunehmender Genauigkeit des Modells steige die nötige Rechenleistung überproportional an. Deshalb könnte man auch einen anderen Ansatz verfolgen, nämlich die Großhirnrinde in Silizium gießen und damit einen dritten Weg zwischen Neuroforschung und Simulation gehen, der quasi über einen Ingenieursansatz zum Verständnis des Gehirns führen soll. Bereits lange zuvor war ja bekannt, dass dieselben Transistoren, aus denen die Schaltkreise von Computerprozessoren bestehen, sich auch zu analogen Schaltungen verbinden lassen, die das elektrische Verhalten von Neuronen nachahmen, und auf dieser Basis wurde versucht, immer komplexere künstliche Nervenzellen auf Siliziumbasis zu entwickeln, allerdings in Form von Insellösungen: Im Modell nachgebildet wurden unter anderem die Netzhaut oder der für die Erinnerung wichtige Hippocampus.
Auch dabei gab es allerdings ein Problem: Die Verbindungen zwischen den künstlichen Nervensystemen waren anders als im natürlichen Vorbild nicht veränderbar. Also ging man daran, virtuelle Verbindungen zwischen den einzelnen künstlichen Zellen, den Neurocores, zu schaffen. Diese bestanden aus einer Schaltung mit acht Transistoren und konnten den zeitlichen Verlauf von Strom und Spannung von Ionenkanälen simulieren. Wenn in dieser Konfiguration ein Neurocore „feuerte”, dann nicht direkt an den nächsten Neurocore, sondern zunächst an eine eindeutig identifizierbare Adresse, die in einer programmierbaren Tabelle abgelegt war und auf den empfangenden Neurocore verwies. Das so geschaffene Neurogrid bekam drei Verbindungsschichten: Arbeitsspeicher auf den einzelnen Neurochips mit mehreren Neurocores, externe Arbeitsspeicher und Widerstandnetzwerke, die Verbindungen zwischen Neuronen abschwächen konnten.
Die erste Version des Modells bestand aus 16 Chips, die jeweils eine Ansammlung von 256 mal 256 Feldern mit künstlichen Neuronen aus Silizium enthielten. Jedem davon wurden zunächst nur zwei verschiedene Schaltungen für Ionenkanäle zugeordnet. Dessenungeachtet konnten mit dem Neurogrid die Abläufe im Kortex im Detail modelliert werden. In der Endphase wurden sogar Chips produziert, die andere Forscher kaufen konnten, um ihre eigenen Theorien zur Funktionsweise der Großhirnrinde zu überprüfen.
Erwähnenswert ist ferner ein Gehirn-Projekt, dessen Hardware entfernt an einen Kunstkopf erinnerte: Zwei Kameras waren beweglich aufgehängt, ihre Signale wurden von Schaltungen weiterverarbeitet, die der menschlichen Netzhaut nachempfunden wurden. Zwei Mikrofone dienten als künstliche Ohren, verbunden mit Spezialprozessoren, wie sie davor in einfacherer Form Gehörlosen implantiert worden waren. Der Vorteil dieser Sensoren nach biologischem Vorbild bestand darin, dass sie nicht stumpf Reize weitermeldeten, sondern die erste Reaktionsstufe selbst übernahmen, also etwa Signale nur dann weiterzuleiten, wenn deren Charakteristik auf einen menschlichen Sprecher als Quelle hinwies. Damit wurde die dahinterliegende Instanz, eine relativ klassisch angelegte KI-Software, erheblich entlastet.
Wie das biologische Vorbild sollte dieses künstliche Gehirn durch die Erregung von Aufmerksamkeit gesteuert werden – es drehte also beispielsweise den Kopf hin zum Sprecher. Der Grundgedanke war, aus der Kombination von visuellen und akustischen Reizen die Steuerungssoftware selbsttätig lernen zu lassen, wobei man als erstes Anwendungsgebiet Assistenzaufgaben in einer Büroumgebung ins Auge fasste. Neben der Attention Issue wurden Emotionen genutzt, um der Software bei Entscheidungen zu helfen, denn auch auf die Vorgänge im menschlichen Gehirn hat die Bewertung durch Gefühle großen Einfluss.
Diese Art der Originaltreue allerdings entpuppte sich umgehend als Nachteil zumindest für das virtuelle Gehirn: Eine fühlende künstliche Intelligenz, die sich mit richtigen Menschen abgeben muss, wird garantiert depressiv.
Er sah traurig aus bei diesem abrupten Ende. Ich konnte es genau sehen, denn ich als sein neuer Freund saß in der ersten Reihe – übrigens allein, denn bekanntlich drängen sich bei wissenschaftlichen Veranstaltungen die Studenten meistens im hinteren Bereich des Hörsaals, während vorne alles ziemlich leer bleibt. Selbst die zur Feier des Tages von Croc eingeladenen Mitglieder der Royal Society of Artificial Intelligence, für die auf den Plätzen links und rechts von mir sogar gedruckte Kärtchen auflagen, hielten sich im Hintergrund, und die Tatsache, dass sie spätestens im zweiten Drittel des Referats sämtlich verschwunden waren, erklärte auch, warum.
Vangelis tat mir leid. Natürlich zählte es nicht zu seinen primären Fähigkeiten, ein Auditorium zu fesseln: Er hielt sich sklavisch an den Text, der in seinem Zentralspeicher vorbereitet war, extemporierte an keiner Stelle, geschweige denn, dass er zwischendurch eine launige Bemerkung riskiert hätte. Er war eben, wenn es darauf ankam, noch immer von einer eklatanten Ernsthaftigkeit, denn in der gegebenen Situation ließ ihn sein Model for Emotional Response weitgehend im Stich, abgesehen von dem kleinen Depressionsschub am Ende, als sich – anders als er es sich erwartete – keine Hand zum akademischen Applaus rührte.
Professor Croc beendete die peinliche Stille, indem er dem Vortragenden dankte (wobei er es tunlichst vermied, die Beantwortung von Fragen anzubieten) und die Anwesenden zu einem kleinen Imbiss einlud.
Das kriegen wir alles noch hin, Vangelis! versuchte ich zu trösten, als wir in der Aula am kalten Buffet standen und uns an den gebotenen Köstlichkeiten labten – der AMG konnte ja bekanntlich so tun, als nähme er Nahrung zu sich, und ich, je nun, ich musste beileibe nicht so tun. Ich aß und trank vielmehr nach Herzenslust, sehr zum Befremden meines Gefährten, muss ich sagen, denn wie konnte es mir nur so penetrant gut schmecken, wenn er selbst sich doch gar nicht wohl fühlte?
Wir kriegen das hin, wiederholte ich, auch das Problem, wie du eine solche unliebsame Erfahrung wegsteckst, weil du es dir einfach wert bist, an dich selbst zu glauben, auch wenn die anderen noch so sehr zweifeln! Letzteres geschah übrigens ausgiebig, wie ich um uns herum hören konnte, und der AMG musste das zweifellos dank seines ausgezeichneten Sensoriums noch viel detaillierter mitbekommen als ich: „Man möchte meinen”, ließ eine Studentin sich vernehmen, „er sei selbst ein virtuelles Wesen!” Gefallen, meinte sie, habe er ihr ja, und sie könne sich schon vorstellen, ihn näher kennenzulernen, aber zu einem anderen Zweck, als ihren geistigen Horizont zu erweitern.
VANGELIS PANAGOU:
Du, Chicago, soll ich ihr zeigen, was ich kann?
Ich wusste genau, was er ansprach: eine der einzigartigen Fähigkeiten, die Anastacia Panagou ihm (wie allen ihren Androiden) mitgegeben hatte, nämlich sein primäres Geschlechtsmerkmal auf jenes der Sexualpartnerin zu kalibrieren. Aber ich riet ihm ab: Das wäre nicht gut, hier und jetzt, mein Freund – vergiss sie einfach! Besonders hübsch ist sie schließlich auch nicht!
Er fügte sich, blieb aber in seiner logischen Gründlichkeit an meinem letzten Argument hängen, das er als irrational empfand – rein technisch hatte das Mädel doch alles, was zur Vereinigung notwendig war!
VANGELIS PANAGOU:
Ich verstehe durchaus, was du meinst, schließlich habe ich einen Katalog von Merkmalen, optische und auch andere, einprogrammiert, womit ich identifizieren kann, was richtige Menschen als hübsch empfinden, aber dennoch – für den bewussten Vorgang als solchen sind diese Kriterien doch bloß sekundärer Natur!
Vergiss sie einfach! beharrte ich und verfiel aus Ungeduld in eine Art Befehlston: Hübsch hin oder her, du wirst sie jedenfalls nicht hier in der Aula der Universität flachlegen!
Man konnte nur hoffen, dass der Gastgeber, der in unserer Nähe stand, unsere hochgelehrte Diskussion nicht mitgehört hatte, worauf eigentlich nichts hindeutete. Jedenfalls schien er diskret auf die nunmehrige Pause in unserer Unterhaltung gewartet zu haben, um Vangelis nochmals zu danken und sich von uns beiden zu verabschieden. Dann, als der AMG einige Schritte voraus war, ergriff er mich am Arm und flüsterte: „Ist er auch wirklich in Ordnung?” – worauf ich beschloss, die Katze aus dem Sack zu lassen: Für einen Androiden ist er ganz okay, Professor, finden Sie nicht? Aber darüber sprechen wir besser ein anderes Mal!
604
Eine Ausbildung oder Arbeit im üblichen Sinn hatte ich nie gehabt – da unterschied ich mich durchaus von Murky Wolf, der fern vom Reservat seines Stammes in der Bronx geboren worden war und es in der Army immerhin zum Lieutenant gebracht hatte – und zu einem wichtigen Vasallen Sir Basil Cheltenhams, zuerst in dessen Zeit als Stabschef des Order of the Orange Blossom und vor allem später, als der Baronet nur noch seine ureigensten Projekte verfolgte. Mein Schicksal und das meines Zwillingsbruders White Raven war hingegen das aller Jugendlichen im Hualapi-Gebiet: Schule nur ab und an, wenn wir es nicht gerade vorzogen, über das Coconino Plateau zu streifen. Die Versuchung, direkt vom Leben zu lernen, oder von der Natur, wenn man es weniger pathetisch ausdrücken möchte, war einfach zu groß.
PRÄSIDENTIN TRUDY McGUIRE:
Zur Verärgerung meiner Umgebung und zum besonderen Unmut meines Verteidigungsministers und momentanen Intimfreundes George Howland verbrachte ich mit meinem neuen Leibwächter Bugger Raven sehr viel Zeit. Obwohl unsere Bekanntschaft aus einer Konfrontation entstanden war, die auch ganz anders hätte ausgehen können, fasste ich zu ihm besonderes Vertrauen, denn trotz aller Deformationen, die wir Pale-faces seiner Rasse insgesamt und damit auch ihm zugefügt hatten, fühlte ich doch, wie in seinem Innersten noch immer diese bestimmte edle Grundhaltung dominierte – sie passte nahezu perfekt zum weitverbreiteten Klischee. Das mochte bei ihm und seinen Stammesgenossen nicht immer so gewesen sein, wie er selbst zugab, aber seit Sherman Yellowhawk Häuptling geworden war, hatte sich das geändert.
Yellowhawk fühlte die Verpflichtung, aus einer völlig aussichtslosen Situation, in der es für die meisten weit und breit keine Jobs gab und man mehr schlecht als recht vom staatlich subventionierten Sozialsystem des Tribe Council lebte, auszubrechen. Sein Kalkül war einfach: Da es einerseits auf keinen Fall möglich war, die Vergangenheit so wiederherzustellen, als ob seit den alten Tagen des „Volks der Hohen Föhre” nichts geschehen wäre, anderseits aber das Akzeptieren der neuen Zeit nicht unbedingt bedeuten musste, die alten Traditionen völlig aufzugeben, verfolgte er eine Doppelstrategie.
Die Privilegien, die dem Tribe von den weißen Behörden großzügig verliehen worden waren – wohl insgeheim in der Hoffnung, dass unsereins zu beschränkt und rückständig sei, sie zu verwerten –, schöpfte er bedenkenlos aus, indem er ein kleines, vorwiegend touristisch orientiertes Wirtschaftsimperium aufbaute, das sich mit allem beschäftigte, was nach Ansicht des Häuptlings die Identität des Reservats und seiner Bewohner nicht gefährdete. Am bekanntesten wurde das jeden September stattfindende Festival „Route 66 Days” mit seiner Car Show, der Wahl der Miss Flagstaff und vielen anderen Attraktionen, aber es gab auch Anziehungspunkte, die das ganze Jahr über Besucher anlockte, wie etwa das Spielcasino oder die Aussichtsterrasse, die weit über den Rand des Grand Canyon hinausragte. All das fand, ganz wie es Yellowhawk geplant hatte, in den Randgebieten des Reservats statt, während das Kernland wohlweislich von dem ganzen Rummel unberührt blieb.
PRÄSIDENTIN TRUDY McGUIRE:
Dort aber – so erzählte mir Raven, der bei jenem denkwürdigen Auftritt in der Wildnis mein Fan geworden war – wurden, abseits von der kommerziellen Realität, die alten Fähigkeiten wieder trainiert, die eine große Zahl physischer und spiritueller Facetten aufwiesen. Mir selbst war das, was ich zu hören bekam, ein wenig unheimlich, und obwohl ich wusste, dass sein Geburtsname Black Raven war, nannte ich ihn niemals so, sondern stets Mr. Raven oder später Bugger. Mir widerstrebte der Gedanke, er könne sich völlig willkürlich in sein Tierformat verwandeln – ich wollte keineswegs glauben, dass ihm dies möglich war, und es mir zu beweisen, verbot ihm angeblich ein strenges Tabu.
Nur wenn ich allein war, weil mich die Präsidentin gerade nicht benötigte, nahm ich manchmal die Rabengestalt an und schwang mich aus dem Fenster meines Kämmerchens im Weißen Haus in die Luft. Ich muss schon ein eindrucksvoller Anblick gewesen sein, wenn ich mich mit meinen gut 50 cm Körperlänge und einer Spannweite meiner metallisch glänzenden Flügel von gut einem Meter emporschraubte, bis sich unter mir die Straßen der Hauptstadt wie ein Netz ausbreiteten. Ich verstand in solchen Momenten meinen Bruder – dass er im Machtrausch dieser erhabenen Distanz das Verlangen hegte, Schaden anzurichten, selbst jenseits unseres konkreten Zorns, aus reiner Lust an der Zerstörung. Aber ich tat es ihm nicht gleich, sondern kehrte nach solchen Ausflügen wieder zufrieden hierher zurück.
Wenn ich anschließend zur Präsidentin ging – niemand hielt mich auf, denn sie hatte strikten Auftrag gegeben, mich überall durchzulassen –, mochte sie denken, ich hätte soeben mit einer ihr unbekannten Frau geschlafen, so sehr war mir die Erregung noch ins Gesicht geschrieben. Sie konnte sich meinen Zustand allerdings nicht erklären, denn wenn das, wonach es für sie aussah, wirklich passiert wäre, hätte es ihr einer der vielen, die hier umherwuselten (vom Portier über den Butler und die Privatsekretärin bis hinauf zum Secretary of Defense respektive Geliebten der Chefin), mit Sicherheit hinterbracht. So sagte sie bei solchen Gelegenheiten bloß: „Sie sehen gesund aus, Bugger!”
Das würde auch Ihnen gut stehen, Boss! meinte ich leichthin. Seit mich unser Häuptling Yellowhawk dazu gebracht hat, wieder clean zu werden und besser auf Körper und Seele zu achten, bin ich wieder topfit, aber das haben Sie ja schon bemerkt.
PRÄSIDENTIN TRUDY McGUIRE:
Wir sollten tatsächlich ab und zu einen kleinen Ausflug unternehmen, denke ich. Unser Land ist so groß und weithin noch immer voll Unberührtheit, doch das vergisst man gern, wenn man ständig in den Häusermeeren der Großstädte lebt und nur noch von industrieller Realität umgeben ist. Und wen könnte ich mir als besseren Weggefährten wünschen als einen Redskin wie Sie!
Trotz dieser rassistischen Bezeichnung wusste ich ihre Vorgabe zu nutzen: Wenn sie das wirklich wollte, müsste sie jeweils für einige Tage die Brücken hinter all dem hier abbrechen, sich nicht von der ehrlichen oder gespielten Sorge Howlands verrückt machen lassen und vor allem verhindern, dass der ihr wieder einen Haufen Marines nachschickte, die das fragile Abenteuer zertrampeln würden, ehe es noch begonnen hatte.
Sie versprach’s. Aber von da an schlug ich andere Töne an, denn die Risken einer solchen Aktion sollten ihr durchaus bewusst sein: Aug in Aug mit den Urkräften jenseits der Zivilisation zu sein, bedeutete Gefahr, gegen die man sich auch mit einer noch so guten Ausrüstung nicht bis ins Letzte schützen konnte. Es bedeutete Entbehrungen, Müdigkeit und vor allem immer wieder, mit letzter Willenskraft den Wunsch aufzugeben zu unterdrücken. Und noch eins, Ma’am (das sagte ich nur, indem ich mich in sie hineindachte, nicht weil es mich selbst besonders berührt hätte): Niemand kann vorhersehen, was im Mäusezirkus Washingtons passieren wird, wenn die Katze aus dem Haus ist.
PRÄSIDENTIN TRUDY McGUIRE:
Um das herauszufinden, muss man es einfach darauf ankommen lassen. Aber selbst wenn es mich on Knife’s Edge führt, sollte es sich doch lohnen, meinen Job gegen das, was Sie mir bieten, aufs Spiel zu setzen!
Eine Woche später wanderten wir bereits über einen Bergrücken in den Rockies – ich hatte bewusst eine Gegend gewählt, die weder die Präsidentin noch ich selbst kannten – und meine Begleiterin war zwei Stunden von der Stelle entfernt, wo uns ein Helikopter abgesetzt hatte, noch immer sehr gut frisiert unter dem Barett, das ich ihr verpasst hatte. Ihr Camouflage-Overall („Mal was anderes als das ewige Blau!?) war sauber und wies noch keine Schweißflecken auf. Ihr Make-up („Ohne gehe ich nicht vor die Tür!?) war nahezu unversehrt. Das alles würde sich wahrscheinlich bald ändern, aber für den Moment gönnte ich ihr eine Pause. Ich wollte reden.
Wie immer, wenn ich ihr so nahe wie jetzt gegenüber saß, bestaunte ich die Perfektion, mit der sie ihr Äußeres ge¬staltete. Besonders an ihren scharf modellierten Augenbrauen blieb mein Blick haften, und als sie es bemerkte und mich darauf ansprach, packte ich den Stier bei den Hörnern: Sorry, Ma’am, it’s this goddam fantasy! Denn ich wollte wissen, ob sie denn da unten ebenso perfekt faconiert wäre.
PRÄSIDENTIN TRUDY McGUIRE:
Nur weil wir zwei Kameraden in der Einöde sind, Bugger, will ich Ihnen dieses Geheimnis verraten: Es ist ein Herz, dessen Spitze ins Paradies weist, Symbol dafür, dass wer immer so weit vordringt, das Gefühl haben kann, willkommen zu sein.
Sie erkannte ganz sicher den Ausdruck in meinem Gesicht, der besagte, dass ich sehr wohl in der Lage gewesen wäre, diesen Garten Eden zu betreten, auch ohne willkommen zu sein, und sie lächelte schelmisch.
PRÄSIDENTIN TRUDY McGUIRE:
Sie kennen meine Vergangenheit zu wenig, Dearie, und darum verstehen sie auch nicht die Doppeldeutigkeit dessen, was ich gesagt habe. Ohne nachzudenken, haben Sie gehört, was Sie glaubten, hören zu müssen: dass nur jemand, dem ich es ausdrücklich erlaube, das Herz sehen darf. Sie haben daher automatisch angenommen, ich würde es verabscheuen, wenn jemand sich gewaltsam den Zutritt verschaffte. Das aber war keineswegs gemeint!
Ich trat fürs Erste den Rückzug an – das wurde mir jetzt ein wenig zu kompliziert. Daher schickte ich die Präsidentin fort, um Brennholz zu holen, und zeigte ihr dann, wie meine Vorväter auf einfache Weise Feuer gemacht hatten. Anschließend führte ich ihr am nahegelegenen Bach vor, wie man mit bloßer Hand Fische fangen konnte. Dann brieten wir die Beute, die wir auf Holzspieße gesteckt hatten, und verzehrten sie ohne jeden kulinarischen Aufwand.
PRÄSIDENTIN TRUDY McGUIRE:
Er berichtete vom tragischen Ende Yellowhawks und Murky Wolfs, und wie danach die Wirtschaftsunternehmen des Stammes in einem Trust Fund gebündelt wurden, für den ein weißer Anwalt als Manager engagiert wurde, da niemand über das kaufmännische Geschick des Verblichenen zu verfügen glaubte. Über einen neuen Häuptling in dessen Nachfolge konnten sie sich schon gar nicht einigen, und so übernahmen die Mitglieder des neu gegründeten Grey Wolf Platoon kollektiv die Führung. Die beiden Seiten des Tribes – die kommerzielle und die metaphysische – entwickelten sich dadurch weit auseinander, wobei sich die Letztere ziemlich radikalisierte. Ich erfuhr nun endlich, wer hinter den Naturkatastrophen steckte, die Ray Kravcuk solche Probleme bereitet hatten und dass diese erst durch eine Intervention der Walemira Talmai gestoppt worden waren. Und ein zweites Mal musste Berenice tätig werden – nachdem White Raven seine Kamizakaze-Aktion veranstaltet hatte und Bugger schon versucht war, in dessen Fußstapfen zu treten. Erst jetzt verstand ich die nächtliche Szene am Coconino Plateau voll und ganz: Nicht so sehr mein Auftritt hatte den Ausschlag gegeben – offenbar konnte man doch deutlich meine Besorgnis fühlen –, sondern eine für mich unsichtbare Vision, in der die Schamanin Hand in Hand mit Grey Wolf auftrat und die Leute des Platoons ermahnte, ihre besonderen Fähigkeiten nicht leichtfertig zu missbrauchen!
Als ich ihre Enttäuschung sah, legte ich meine Hand zärtlich auf ihren Arm: Ma’am, Ihr Mut, der Eindruck, den Sie damit auf mich machten, braucht nicht relativiert werden! Yellowhawk, dieser Häuptling vom alten Schlag, lehrte uns den Unterschied zwischen dem Amt, in dem getan wird, was getan werden muss, den Grundsätzen gemäß, und der Person, die einfach das tut, was ihre Triebe ihr vorgeben: Wenn Sie im Amt jenen Mut beweisen, den dieses erfordert, und dabei als Mensch Angst (oder auch Begeisterung oder Frustration oder Wollust) empfinden, ist das völlig belanglos.
Inzwischen wurde es Abend, und nicht einmal ein Bruchteil jener Strecke war geschafft, die ich eigentlich als Tagespensum vorgesehen hatte. Als ich es ansprach, sah sie ein wenig schuldbewusst drein. Es schien aber offensichtlich, wie sehr sie es schätzte, auf diese Weise noch frisch wie am Morgen zu sein.
PRÄSIDENTIN TRUDY McGUIRE:
Immerhin haben wir dafür in Gedanken einen weiten Weg zurückgelegt, Bugger! Und wie geht’s jetzt weiter?
Überflüssige Frage, denn sie wusste genau, dass wir in der beginnenden Dunkelheit nicht weiterkonnten. Nichtsdestoweniger wollte ich sie ein wenig Verlassenheit empfinden lassen: Wir brauchen mehr Brennmaterial, Ma’am! sagte ich leichthin, und gab vor, das Feuer bewachen zu müssen. Als die Präsidentin einige Schritte in den Wald hineingegangen war, heulte plötzlich ein Wolf – ich schätzte eine Entfernung von vielleicht fünf Kilometern, für sie aber, die das nicht beurteilen konnte, klang es bedrohlich. Sie wagte es dennoch nicht, umzukehren, bevor sie einen Arm voll Holz beisammen hatte. Kaum war sie zurück im Lichtkreis, hörte man als Draufgabe noch den hellen durchdringenden Schrei eines Falken.
PRÄSIDENTIN TRUDY McGUIRE:
Mich schauderte, aber ich überwand mich, ging zum Bach hinunter, schminkte mich dort ab und wusch mich mit dem kalten Wasser, so gut es ging, ohne mich allzu sehr auszuziehen. Dann kroch ich in meinen Schlafsack, den ich ganz nahe an jenen Buggers gerückt hatte. Das Feuer war mittlerweile fast heruntergebrannt, wodurch die Schwärze der Nacht noch greifbarer wurde. In dieser Situation wäre mir viel lieber gewesen, ich hätte mich enger an meinem Scout schmiegen können.
Ich spürte das deutlich und verfluchte mich, kein Zelt mitgenommen zu haben: Das war aus reiner Bequemlichkeit unterblieben, denn das Ding hätte klarerweise ich schleppen müssen, während jeder von uns seinen eigenen Schlafsack trug. Meine Faulheit rächte sich also jetzt, noch dazu, da ich mir plötzlich ausmalte, wie sie in einem kleinen Wigwam sogar ihren Overall abgelegt hatte. Obwohl es in diesem Moment von keinem praktischen Wert war, lenkte ich das Gespräch in diese Richtung und erklärte ihr, dass wahrscheinlich nicht alle Gewässer dieser Gegend so kalt seien wie unser Bach. Laut Karte gab es vielmehr ganz in der Nähe ein höhergelegenes Grasland, in das kleine flache Seen eingesprengt waren – diese würden sich um die Mittagszeit so weit aufheizen, dass wir darin schwimmen konnten: Wenn Ihnen das zusagt, Ma’am! fügte ich hinzu, in der Hoffnung, dass sie keinen Badeanzug eingepackt hatte.
Sie gab keine Antwort, da sie schon am Einschlafen war. Ich plauderte noch eine Weile vor mich hin – von meinem Geburtstotem, dem Raben, dem Symbol des Mondes der fliegenden Enten, dem Regenten aller Menschen, die keinerlei Berührungsprobleme kennen – und näherte mich damit vorsichtig wieder meinem bevorzugten Thema, aber meine Gefährtin hörte mich nicht mehr.
[ 2 Zeilen Durchschuss ]
PRÄSIDENTIN TRUDY McGUIRE:
Ich kehrte, mit meinem Leibwächter im Schlepptau, entspannt nach Washington zurück. Unsere Wanderung war für mich keineswegs so anstrengend gewesen, wie Bugger es befürchtet hatte. Ich machte ihm klar, dass ein echtes Kentucky-Girl wie ich so zäh ist, dass es mit jeder durchtrainierten Rothaut mithalten kann. Ich hatte zu seiner nicht geringen Überraschung ohne Hemmungen in einer dieser Pfützen mit ihm nackt gebadet, und in Vorbereitung darauf sah er, dass ich wenigstens mit meiner Unterwäsche beim Neonblau geblieben war. In der letzten Nacht, als er sich kaum noch Hoffnungen auf mehr machte, ließ ich ihn sogar einmal an den Honey Pot – das glaubte ich mir nämlich selbst schuldig zu sein vor dem Hintergrund meiner vielfältigen Erfahrungen, in denen er gerade noch fehlte.
BRIGITTE:
Wenn Black Raven das behauptet hätte, würde ich annehmen, dass er prahlt, aber da sie selbst es sagt…
ERZÄHLER:
Warte noch ein wenig – gleich können wir uns darüber unterhalten, wie das alles zu interpretieren ist, vor allem diese totale Beliebigkeit, die hier zum Ausdruck kommt.
PRÄSIDENTIN TRUDY McGUIRE:
Eins möchte ich festhalten: Es lohnte sich mit Mr. Raven, so gut ausgestattet, wie er war und so nötig, wie er es offenbar hatte – ein angenehmer Kontrast zu smuggy Howland. Aber ich will George nicht ganz Unrecht tun: Es dürfte auch die Kulisse gewesen sein, die verschneiten Bergspitzen, glitzernd im Sternenlicht der Milchstraße, dem Dach für unser Himmelbett. Dennoch bedeutete ich Bugger, dass es im Weißen Haus mit uns natürlich nicht so weitergehen würde, und erwartete von ihm lautstarken Protest, aber nichts davon – dass er sich gar so schnell damit abfand, ärgerte mich fast ein wenig, und ich beeilte mich, ihm in naher Zukunft eine ähnliche Tour in Aussicht zu stellen.
Vielleicht bedarf es jetzt eines unbeteiligten Beobachters, wie ich es im Intrigensumpf der Hauptstadt des amerikanischen Imperiums nach wie vor bin, um nüchtern zu beschreiben, was sich dort während unserer ohnehin sehr kurzen Abwesenheit ereignet hat. Trudys Spione, die sie an allen wichtigen Stellen platziert hatte (und zwar bereits als Sicherheitsberaterin Ray Kravcuks, sodass dieses Netzwerk völlig unabhängig war von jenem ihrer Pine Tree Officers) – diese Spitzel also meldeten uns, dass die Militärs, ganz wie vermutet, tatsächlich damit spekuliert hatten, die Präsidentin abzusetzen. Was sie allein daran hinderte, waren ihre eigenen massiven Eifersüchteleien: Keiner wollte dem anderen gönnen, die Nachfolge als Nummer Eins anzutreten! Für mich war das mehr als kurios, denn wenn sie die einzig verbleibende Alternative dazu, nämlich eine unhierarchische Staatsspitze zu bilden (wie es unser Stamm entschieden hatte) ebenfalls nicht goutierten, dann konnten sie ja immer noch wie Männer untereinander solange kämpfen, bis bloß einer überlebte.
PRÄSIDENTIN TRUDY McGUIRE:
Dazu sind die Boys mit dem vielen Lametta an den Uniformen zu zivilisiert.
Zu feige, würde ich sagen…
PRÄSIDENTIN TRUDY McGUIRE:
Da ist was dran!
Was soll’s, mir kann es Recht sein, genau wie es ist.
PRÄSIDENTIN TRUDY McGUIRE:
Es war gut, dass wir diese Reise gemacht haben. Mit dem Abstand dieser wenigen Tage und der Erfahrung, dass der Versuch meiner PTOs, die Initiative zu ergreifen, kläglich gescheitert ist, fühle ich die große Lähmung, die plötzlich über diesen Staat gekommen ist. Ganz seltsam wird einem zumute, wenn man beobachtet, wie meine Administration ihre Arbeit macht, aber eigentlich nichts bewirkt, als einen labilen Status quo aufrechtzuerhalten. Die Wirtschaft läuft weiter, aber sie kommt dennoch nicht vom Fleck: Ihre Strukturen sind erstarrt, und es fehlt die Phantasie, eine Perspektive zu ziehen – es gibt offensichtlich für sie keinen Zustand, den anzustreben es sich lohnt. Und erst die einzelnen Menschen: Sie gehen neuerdings durch ihr Leben, als ob jeder neue Tag die eintönige Wiederholung des letzten wäre, und selbst wenn das fallweise früher schon so gewesen sein sollte, gab es damals noch die Illusion, dass die Frau oder der Mann oder das Kind dabei vorwärts kam. All das gilt für unser sogenanntes Kernland ebenso wie für die Bewohner unserer lateinamerikanischen und europäischen Kolonien, und sogar für unseren Teil von Afrika, wo selbst die militantesten Muslime resigniert zu haben scheinen. Grand America gleicht einem riesigen Aquarium, hinter dessen Glaswänden zeitlupenartige Bewegungen stattfinden, die bestimmte Figuren beschreiben, an deren Ende bloß wieder der Anfang erreicht ist.
604-A
Jetzt haben wir ein ganzes Riesenreich an die Wand fahren lassen. Hat doch Spaß gemacht, oder? Alles andere wäre schließlich langweilig, denn wo sollte diese ständige Abfolge politischer Ereignisse oder (je nach Standpunkt des Beobachters) auch Nicht-Ereignisse auch schon hinführen? Es gibt kein anderes Ende als ein gewaltsames, auch wenn dieses vorerst vielleicht nur Fiktion ist, etwas in Gedanken Vorweggenommenes, während draußen die scheinbar harmlose Realität noch weiterläuft.
Ich als Co-Erzählerin und du als Erzähler, die wir das ganze übrige Personal dieses Buches repräsentieren, sollten endlich Farbe bekennen – dass wir drauf und dran sind, unsere Geschichte zu dekonstruieren. Es gibt keinen anderen Ausweg mehr, nicht nur vom allseits bekannten umfassenden Gesichtspunkt aus betrachtet (der besagt, dass man in der Literatur nicht mehr weitermachen kann wie bisher), sondern auch aus höchst individuellen Gründen…
ERZÄHLER:
Ganz sicher ist es nicht, aber äußerst wahrscheinlich, dass wir uns, ohne bis jetzt vielleicht allzu viel davon zu merken, in Widersprüche verwickelt haben – in Wahrheit reichen ja die Begebenheiten, von denen wir aktuell berichten, in der Perspektive über diesen –
Sag meinetwegen Roman, denn so würde ihn Duweißtschonwer wohl nennen wollen.
ERZÄHLER:
– über diesen Roman also hinaus und haben bereits in NOSTRANIMA begonnen und sich in BERENICE fortgesetzt. Wie viele logische Fehler werden uns bei diesen Erzählmassen schon unterlaufen sein, die vor einem strengen Rezensenten niemals bestehen könnten!
Aber andererseits – die Übertretungen der Logik sind es doch, die jene Vielfalt entstehen lassen, die man sich hier zu Recht erwartet. Leserinnen und Leser sind ja – genau wie wir – nicht so sehr von ihrer rationalen als von ihrer emotionalen Erinnerung geprägt, mit all dem Chaos, das dort herrscht und das uns Menschen im Wesentlichen ausmacht, auch wenn wir uns nach außen hin gern den Anschein der Ordnung geben. Das Schreiben, sehr verehrter Wirwissenschonwer, mag vordergründig so aussehen wie eine völlig sachliche Betätigung, aber ganz innen im Schreibenden ist es eine archaische Jagd, in der man einmal Beute macht, ein anderes Mal hingegen (und leider nicht zu selten) daneben schießt!
ERZÄHLER:
Mag ja sein, dass Brigitte und ich in unserer Lebenswirklichkeit vor der totalen Anarchie zurückschrecken, aber umso mehr wollen wir die Gier danach hier drinnen ausleben, in diesem von Duweißtschonwem geschaffenen hermetischen Gebilde, dessen Möblierung wir – da wir schon einmal hier wohnen respektive wohnen müssen – entweder schlicht benützen oder aber durcheinanderbringen, auf den Kopf stellen und wenn’s sein muss zu Kleinholz verarbeiten können.
Die Drohung des richtigen Autors –übrigens interessant, wie sich früher oder später jeder aus dieser Gilde derart aufspielt – die Drohung jedenfalls, dass mit dem Werk, wenn wir es denn zerstören, auch wir Figuren zugrunde gehen, während er überlebt und sich vielleicht einer neuen Idee zuwendet, nehmen wir längst nicht mehr ernst. Wie kann so einer glauben, dass alles von ihm allein abhängt? Nicht einmal, dass er sämtliche Figuren erfunden hat (und allenfalls sukzessive einräumt, sie hätten sich irgendwann selbstständig gemacht), muss als gegeben angenommen werden. Vielleicht ist es ja in Wahrheit so, dass sein Personal schon vor der Geschichte existiert und sich ihm einfach aufgedrängt hat!
An dem Punkt, an dem irgendjemand oder irgendetwas zu existieren beginnt, herrscht zwangsläufig die eklatante Unsicherheit, wie denn diese Existenz in der nächsten Sekunde und in allen folgenden verlaufen wird. Und während man sich vom Anbeginn der Welt bis in unsere Zeit herauf mit esoterischen Mitteln (der Religion, der Philosophie, der Politik, der klassischen Wissenschaft oder auch der Kunst, also aller Instanzen, die gegenüber einem dumm-staunend gehaltenen Publikum vorgaben, den Durchblick zu besitzen) einzureden versuchte, diesen Prozess vorherzusehen, wenn nicht steuern zu können, musste die Moderne eine neuartige Entscheidung treffen.
Aufgrund der ungeheuer komplex gewordenen Verhältnisse und der daraus resultierenden Fülle von Wahlmöglichkeiten war man gezwungen, Gegenwart zu definieren, und im Dilemma zwischen Gegenwart im Sinne permanenter Ewigkeit und Gegenwart im Sinne eines flüchtigen Moments entschied man sich gegen jene und für diesen. Aber dennoch liegt auch im flüchtigen Moment etwas Ewiges, zumal die Gegenwart niemals aufhört, sondern immer weiter andauert, indem sie ununterbrochen Zukunft in Vergangenheit transformiert, wobei die unzähligen potenziellen Entwicklungen der Zukunft zu wesentlich wenigerem tatsächlich Geschehenen destilliert werden, das in der Vergangenheit abgelegt ist.
ERZÄHLER:
Ohnehin ist es unsere einzige Option, uns auf eine unbekannte Zukunft einstellen zu müssen oder eigentlich sogar zu wollen, denn die Alternative wäre ja, genau zu wissen was kommt, und das würde bedeuten, dass es Religion, Philosophie, Politik, klassische Wissenschaft oder auch Kunst erst gar nicht geben könnte!
DER RICHTIGE AUTOR:
Wohl gesprochen für eine Phantasiegestalt! Aber jetzt zur Sache: Was würdet ihr allesamt dazu sagen, wenn ich tatsächlich schon längst mit meinem neuen Projekt beschäftigt wäre, in dem weder der Erzähler noch Brigitte noch der große Regisseur oder der Produzent Sid Bogdanych vorkommen noch die Drehbuchautorin – aber halt, die vielleicht doch, denn für die Feinarbeit bei den Sequenzen respektive Dialogen in direkter Rede kann ich sie eigentlich gut brauchen. Aber abgesehen von Claudette Williams wird niemand mehr beteiligt sein an einem neuen Roman, der in seinen Umrissen bereits seit langem heranreift, mit dem Titel TRASH, der die Genre-Bezeichnung meines Freundes Wendelin Schmidt-Dengler, Gott hab’ ihn selig, endgültig zum Prinzip erhebt – in dem Sinn, dass ein Haufen Müll, komprimiert zu einem Textkörper, aber nur in Maßen strukturiert, ein adäquates Medium sein könnte, die Wirklichkeit zu beschreiben. Nun, ich weiß schon, Wirklichkeit, was soll das sein, was kann man sich darunter vorstellen? Es ist eben wie immer so, dass man mit derlei Begriffen sorglos operiert, weil man sich nicht die Mühe machen möchte, im Redefluss eine Pause, eine sehr lange Pause einzulegen, um eine Definition zu finden, die dem Gegenstand besser gerecht wird!
Ist er nicht süß, wie er sein jüngstes Baby im Arm hält? Und wie zärtlich er daraus rezitiert!
DER RICHTIGE AUTOR:
(liest aus seinem neuen Romanentwurf „Trash – Eine Bibel für Agnostiker” vor)
Erwarten Sie sich in diesem Text um Himmels willen keine mondänen Frauen dahingehend, wie Sie als lebenserfahrener Herr oder Sie als weltgewandte Dame Weiblichkeit definieren würden – stellen Sie sich lieber auf heilige Mütter und Schwestern ein oder auch auf reuige Sünderinnen, die voller Ergebenheit die Füße eines Messias mit ihrem langen Haar trocknen. Erwarten Sie sich so etwas wie das emsig waltende Heimchen Martha oder die ergeben zuhörende Jüngerin Mirjam.
Ich muss schließlich Buße tun für die vielen unanständigen Sätze, die ich in früheren Büchern niedergeschrieben habe, für blanke Busen und heruntergelassene Hosen, für nackte Weiber und geile Kerle mithin, die in Gedanken, Worten und Werken nur auf das eine konzentriert waren.
Aber was tut Gott? Bevor ich riskiere, dass Sie, meine ebenso charmante wie libertinistische Leserin, mein kulturinteressierter, aber auch sexsüchtiger Leser, dieses Buch gleich wieder aus der Hand legen, erlaubt er mir, in dieser Frohbotschaft einen viel lockereren Ton anzuschlagen als Sie dies von anderen Evangelien gewöhnt sind, etwa in der Art, wie lange vor unserer Zeit Glaube und Eros noch innig miteinander verwoben waren.
Denn Gott ist ja anders, als die im Vatikan oder in Mekka oder wo immer sonst er angeblich seine irdische Dependance haben soll, uns vorgaukeln wollen. Auch wenn sie mit ihren Dogmen und Tabus seiner Originalschöpfung am Zeug zu flicken versuchen – diese ist (sorry!) wie sie ist, und noch viel mehr: reich an unvorhersehbaren Mutationen, geradezu uferlos in ihrer Entfaltung. Wirklich und wahrhaftig ist es so, wie geschrieben steht: Kein Ding ist unmöglich, und die da mit theologischer Spitzfindigkeit einschränken und ausgrenzen, sind komplett auf dem Holzweg.
Der wahre Gott wird ihnen eines Tages gegenübertreten in einer Weise, die ihnen die Sinne raubt. Das übrigens ist der einzige Grund, warum ich selbst als Agnostiker darauf hoffe, dass es Gott gibt, obwohl ich ihn an sich nicht zu sehen vermag: Andernfalls nämlich, in einer definitiv gottlosen Welt, wäre der letzte selbstgefällige Gedanke dieser Pharisäer, bevor sie seelenlos verrotten, womöglich der, dass sie im Recht sind.
[ 2 Zeilen Durchschuss ]
DER RICHTIGE AUTOR:
(legt die Blätter, aus denen er vorgelesen hat, beiseite) Und anschließend stelle ich noch die in vielen Schlachten kampferprobte Drehuchautorin Claudette Williams vor und male mir aus, wie sie mich dabei unterstützt, die Szenen, die ich mir ausgedacht habe oder die wir uns noch gemeinsam ausdenken werden, mit Hilfe ihres technischen Know-how zu gestalten, und dass sie vielleicht, wie bis jetzt auch, so nebenbei die eine oder andere Episode aus ihrem echten Leben beitragen wird. Darauf freue ich mich übrigens besonders, denn dass sich in der Zusammenarbeit Claudettes mit dem berühmten Filmregisseur, der sich selbst „der Große? nennt, und seinem Partner, dem Produzenten Sid Bogdanych, Einiges an Berichtenswertem zugetragen hat, kann man sich vorstellen, und abgesehen davon munkelt man ja, sie sei die Nebenfrau des einen und die illegitime Tochter des anderen…
ERZÄHLER:
Brigitte, sag’ mir, dass das nicht wahr ist!
What you hear is what it is – dieser Duweißtschonwer ist im Begriff abzuhauen…
DER RICHTIGE AUTOR:
(in charismatisch erscheinender Pose) Hier und jetzt wird Claudette allein mir gehören, gleichgültig, ob sie mit ihrem geliebten Schlotterpullover, den verwaschenen Jeans und den ausgelatschten Turnschuhen daherkommt oder zu meiner Freude wieder einmal dieses goldglänzende „Napkin-away-from-Nudity” trägt, das ihr lüsterner sogenannter Vater für sie entwerfen ließ und mit dem sie weltweit Aufsehen erregte, als sie am Arm ihres ebenso lüsternen Gefährten den roten Teppich entlangschritt.
Beenden wir das jetzt! Höchste Zeit, dass mit unserer eigentlichen Geschichte etwas weitergeht!
ERZÄHLER:
Immerhin haben wir bereits mehrfach bewiesen, dass wir auch allein ganz gut zurechtkommen – und was die erwähnten Ungereimtheiten betrifft (wenn es denn welche gibt, aber ich bin nicht willens, das nachzuprüfen), behaupte ich rundweg, dieser Duweißtschonwer hätte auch nicht die Konzentration aufgebracht, sie zu vermeiden.
Tun wir kurzerhand so – einfach um uns inspirieren zu lassen –, als ob wir im Café Rio de Janeiro säßen, in der Plaka von Athen. Der ??????????, hocherfreut, jemanden vor sich zu haben, der sowohl leidlich Griechisch spricht, als auch seine Liebe zu Brasilien und den gebrühten Köstlichkeiten aus Minas Gerais teilt, macht einige Schritte vor zur Odos Ermou. Er bittet Oleg Strekalov, der dort als illegal im Land lebender Straßenmusikant sein Geld verdient (obwohl er jedem philharmonischen Orchester oder jeder Spitzen-Jazzband zur Ehre gereichen würde), herüber – und der zaubert auf seiner Trompete „Manhã de Carnaval”, kongenial zum Schöpfer dieser Melodie, Luiz Floriano Bonfá.
Ein sehr alter Herr, der bis jetzt, von uns unbemerkt, in einem Winkel bei seinem Cafezinho gesessen ist, erhebt sich, nähert sich langsam dem Künstler, nachdem dieser geendet hat, umarmt ihn und küsst ihn gerührt: „Mein Name ist Arminduo Emniunao, o meu Amigo, und Sie haben mir die größte Freude bereitet, die ich in Jahrtausenden empfunden habe!” Der ?????????? und Strekalov sehen einander lächelnd an, nicht bösartig, nein, nur ein wenig mitleidig: Der Greis ist wohl nicht mehr richtig im Kopf, oder die Sehnsucht nach der fernen Heimat hat im Moment seine Sinne verwirrt…
ERZÄHLER:
Wir aber wissen, wer er wirklich ist und dass dieses gebrechliche Männlein bloß als Fassade dient, um sich hier bei uns unbemerkt bewegen zu können.
Und damit sind die Dinge wieder im Fluss – auch ohne Zutun von Duweißtschonwem.
605
Man sollte ja – namentlich wenn man Leo Di Marconi heißt und früher eine große Nummer im News Business war – nichts unversucht lassen, um eine Geschichte, in der viele Leute mit vielen Motiven in viele Richtungen ziehen, doch noch ein wenig abzurunden, und das heißt, schlicht und einfach weiterzuerzählen, was einmal irgendwo von irgendwem aus irgendeinem Grund begonnen, aber dann einfach liegengelassen wurde. Ich nenne das Background Reporting, also etwas, wonach das Publikum vor langer Zeit einmal geradezu süchtig war: von simpler Klarheit, ungeheuer lebensnah – und für eine jener Stories, ich sagte es ja bereits, erhielt ich sogar den Pulitzerpreis!
Seit aber gewisse Herrschaften meine Reputation nachhaltig zerstört haben, sieht jeder nur noch die erzwungene Banalität meiner Berichte, wenn mir nicht überhaupt unterstellt wird, ich würde bloß Auftragsarbeiten anfertigen – ein Apple-polisher (oder wenn man mich wirklich beleidigen will) ein Bootlicker. Und wann immer ich mir eingestehe, dass dieser Vorwurf ohnehin ins Schwarze trifft, schreibe ich eben für die Schublade (I gather dust in a drawer, wie das bei uns in Amerika heißt).
Anyway, der erste Report handelt von Romano und Romina, den Kindern Romualds und Brigittes, so genannt in einem Anfall von Italianità, die aber im Leben der Eltern sonst keinerlei Bedeutung hatte, von einem Adriaurlaub einmal abgesehen. Bereits beginnend mit dieser Trivialität, mehr noch aber was die seltsame Beziehung ihrer Erzeuger betraf, waren die jungen Leute mit allerlei Fragen konfrontiert, die sie nicht beantworten konnten. Ehrlich gesagt, in allem, was Romuald anbelangt, verstehe ja selbst ich meine zeitweilige Geliebte Brigitte nicht.
BRIGITTE:
Immerhin haben dich intime Details meiner Person veranlasst, mich mit einer poetischen Hymne, die für deinen gewöhnlichen Stil recht untypisch war, zu verehren, während mein Mann dir nur von öffentlichen Anlässen bekannt ist – und vermutlich aus Gerüchten hinsichtlich seines potenten Erbstücks, das bei jedem Konkurrenten automatisch Minderwertigkeitskomplexe verursachte. Niemand außer Johannes wagte es je, sich in eine Situation zu begeben, in der ein direkter Instrumentenvergleich möglich war (nämlich anlässlich des flotten Dreiers mit DDD). Aber das führt jetzt zu weit: Jedenfalls war meine Episode mit dir eine der schönsten für mich überhaupt, und ich sage das durchaus in dem Bewusstsein, dass unser Erzähler dies hören kann! Ich empfand mich bei dir ausnahmsweise ohne Einschränkungen als stinknormal!
Das ist es: Plain Vanilla ist die Vokabel, die Romano und Romina am besten beschreibt – sie waren stinknormal!
BRIGITTE:
Selbst dass sie nicht im Haushalt halfen, sondern sich von mir bedienen ließen (und zwar weit über die altersmäßige Schamfrist hinaus, die in unserer Generation den Nestaufenthalt begrenzt hatte), passte präzise in dieses Bild.
Schließlich hatten sie genug zu tun – sie studierten, er Internationale Betriebswirtschaft an der Wirtschaftsuniversität, sie Genetik an der Universität, beide intensiv und ohne sich aufhalten zu lassen, weder von dir, noch von allfälligen privaten Bekanntschaften, die alle ebenfalls dem akademischen Fortkommen untergeordnet waren. Dementsprechend verständnislos reagierten sie auf die Gefühlsturbulenzen ihrer Eltern im Allgemeinen und auf die viele Zeit, die dafür aufgewendet wurde, im Besonderen. Niemals mochten die beiden sich in stundenlange Diskussionen über ihnen müßig erscheinende Themen – wer denn nun Recht hätte, wer als der bessere Mensch schlechthin gelten könne, wer in der Beziehung in Wahrheit die oder der Benachteiligte sei – verwickeln lassen.
Summa summarum gehören sie also zu den erfreulicheren Erscheinungen in unserer Geschichte, denn sie beweisen, dass nicht alles um uns herum kaputt und krank ist…
BRIGITTE:
… wiewohl man einräumen muss, dass sie genau deshalb auch so wenig Raum darin einnehmen, denn wie würde man denn mit krasser Normalität ein Buch von einigem Umfang füllen können?
Apropos Romuald – der stiert neuerdings nur noch apathisch vor sich hin. Seit sein Prunkstück, über das er sich sein Lebtag lang fast ausschließlich definiert hat, weit davon entfernt ist, mit jener Selbstverständlichkeit zu funktionieren, wie er das seit jeher gewöhnt war, findet er nichts mehr zu hoffen.
[ 2 Zeilen Durchschuss ]
Mein Landsmann Cyprian Bishop war ein sehr guter Bildhauer. Wie jedem anderen aus der intellektuellen Branche bekam ihm das aber nicht im neuen Amerika, und weil er vermutete, die Kontroll-Attitüden würden an der Peripherie des Imperiums weniger zu spüren sein, hatte er das Angebot der Cheltenhams zur figuralen Ausgestaltung einer säkularisierten Kapelle auf deren Stammsitz angenommen. Ihm gefiel vor allem die Idee des Baronets, den religiös fundierten Raum mit den Statuen antiklerikaler Aufklärer-Persönlichkeiten zu konterkarieren.
BRIGITTE:
Es blieb bei Francis Bacon, der allein – und expressionistisch – dastand. Die historischen Grundformen seines Aussehens (der hohe Hut, das lange, gekräuselte Haar und der Bart à la Henriquatre) waren zwar vorhanden, aber verfremdet, und dieser Eindruck wurde verstärkt durch die Kleidung aus einem viel späteren als dem frühen 17. Jahrhundert. Die leicht erhobene rechte Hand der Figur streckte kokett den kleinen Finger weg und hielt eine Zigarette, der linke Arm trug einen modernen Aktenkoffer mit der Aufschrift „Novum Organon Scientiarum” (das eigentlich Provokative dieses Mannes – die Methodenlehre einer Wissenschaft, die sich nicht mehr Mutter Theologie unterordnen wollte, gemäß dem Motto „Wissen ist Macht”). Danach hatte bekanntlich Charlene das Kommando auf Cheltenham House übernommen, und sie wollte, anders als der Baronet, endlich das steinerne Album verwirklichen, das ihr persönlich vorschwebte.
Der arme Cype! Obwohl die gute Chuck ihn mit Fotos und Informationsmaterial versorgte, um ihm optische und charakterliche Merkmale der Darzustellenden zu vermitteln, schlaffte er geistig ab, denn das war nicht gerade die Herausforderung, die er sich erträumte!
Dennoch ging er an die Arbeit, denn er musste schließlich von etwas leben – und nicht bloß das blanke Dasein schwebte ihm natürlich vor, sondern eine auskömmlichere Form davon, wie sie dort auf dem Cheltenham’schen Besitz geboten wurde: ein gut auswattiertes Exil. Und was das Übrige betraf, jenes immaterielle Etwas, hoffte er, dass die Hausherrin sich eines Tages selbst in Stein meißeln ließ. Damit holte er sich zwar bei erster Erwähnung eine kühle (und wie er fand: unamerikanische) Abfuhr von Charlene, aber das bezog sich wohl eher auf das von ihm vorgeschlagene Sujet – naturalistisch nannte er das, und du weißt, was ich damit meine –, aber eines Tages, nun schon auf Zypern, wurde sein Wunsch erfüllt, durch die Fürsprache eines, dem die Baroness nicht widerstehen konnte oder wollte.
BRIGITTE:
Ja, Cyprian Bishop wurde mitsamt dem Haushalt der Cheltenhams nach Kantara verfrachtet, und dort gab es für ihn endlich das Eldorado der Bildhauerei – jede Menge Platz und eine Unzahl verschiedenster Wünsche auch seitens der Freunde seiner Mäzene, ganz zu schweigen von der Inspiration, die ihn in diesem mediterranen Licht zwischen den Überresten so vieler kulturgeschichtlicher Epochen überkam.
Er gestaltete im Lauf der Zeit sogar Lady Charlenes dreidimensionales Bilderbuch mit Lust, denn gleichzeitig konnte er Zug um Zug im Großen Audienzsaal der Burg Sir Basils Galerie der Freigeister realisieren. Das höchste der Gefühle aber war es für ihn, Abt Stylianos kennenzulernen – sie verstanden einander sogleich auf einer speziellen Ebene der Sinnenfreude –, und Seine Gnaden war es auch, der Chuck überredete, sich in den Katakomben des Klosters als liegender Akt aus weißem Marmor verewigen zu lassen, überlebensgroß, sodass es auch einem etwas stattlicher gebauten Mann, der sich nächtens dorthin begab, Vergnügen bereiten konnte, in die glatte und alabasterschimmernde, wenn auch felsenharte Vagina einzudringen.
BRIGITTE:
Wie gesagt – Cyprian war ein sehr guter Bildhauer, er war sogar ein ausgezeichneter Bildhauer, um nicht zu sagen ein überragender Bildhauer. Wie dem unbekannten Schöpfer des virilen, den Klosteruntergrund beherrschenden Stiermenschen würde man selbst noch nach zahllosen Generationen (falls die Welt so lange Bestand hatte) auch ihm Respekt zollen für diese rätselhafte Göttin, diese frivole Schwester der ätherischeren kleinen Venus, die Sir Basils Arbeitstag veredelte.
[ 2 Zeilen Durchschuss ]
Miss Wasserstoffblond–atombusig–und–auch–sonst–kurvig–sowie–extrem–lang–beinig war ein kluges Mädchen, auch wenn sie sich das gegenüber niemandem – sei es Mann oder vor allem Frau – in irgendeiner Weise anmerken ließ. Ich möchte gar nicht darüber philosophieren, was sie vielleicht als Kind oder als junges Ding erlebt hat, sondern einfach davon berichten, dass sie an der Schwelle zum Erwachsensein, ohne dass jemand ihr das eingab oder sie in irgendeiner Weise beeinflusste, beschloss, ihr Leben in eine möglichst kurze Schaffensperiode und eine dementsprechend lange Zeit des reichen Müßiggangs zu gliedern. Was immer man daher jemals über sie gehört hat – dass sie von reichen Knackern aus der Filmbranche manipuliert und missbraucht wurde oder dergleichen mehr –, stimmt daher so nicht, sondern man könnte sogar behaupten, genau umgekehrt wäre sie es gewesen, die diese Knilche über den Tisch zog.
BRIGITTE:
Sie glich damit anderen Akteuren dieser Geschichte, die wohl zuallererst in diese hineingestoßen wurden, sodass ihnen nichts anderes übrig blieb, als mitzuspielen. Später aber, wenn sie sich umgesehen und zurechtgefunden hatten, entwickelten sie eigene Ideen und lebten diese auch aus. Miss H2O2 war (so wenig sie auch bisher in Erscheinung getreten ist) dabei an vorderster Front zu finden, und das sollten wir tatsächlich hervorheben.
Kennengelernt haben wir die Gute bei einer Tanzveranstaltung im „Gatsby Dance Club” auf VIÈVE, und es wurde damals in sehr abfälliger Weise über sie berichtet, indem sie eben quasi nur typologisch als wasserstoffblond–atombusig–und–auch–sonst–kurvig–sowie–extrem–langbeinig vorgestellt und damit auf die wesentlichen Eigenschaften, die den Produzenten Sid Bogdanych an ihr interessiert haben dürften, reduziert wurde. Weiters hat man sie anlässlich dieser Danse bizarre als Kätzchen tituliert – in Abgrenzung zur Drehbuchautorin Claudette Williams, der das Pseudonym Eule verliehen wurde, wodurch ein gewisses Intelligenzgefälle zum Ausdruck gebracht werden sollte: der pure Unsinn übrigens, denn in Wahrheit war H2O2 die Schlaue und die Williams die Dumme, denn diese profitierte von Anfang an materiell überhaupt nicht von ihrem Vater, eben jenem Sid, im Gegensatz zu all jenen, die wenigstens zum umfangreichen Alimentationsnetzwerk des Produzenten zählten – und da er sie noch dazu, so wie sie groß genug war, verführte, musste sie sich überdies eingestehen, dass sie sich ihm (anders als die von ihr als Miss Wasserstoffsuperoxid Verhöhnte) kostenlos hingegeben hatte.
BRIGITTE:
Und sie erfuhr aus seinem eigenen Mund noch mehr über seine Beziehung zu diesem mondänen Maskottchen – Dinge, aufgrund derer er ihr fast schon wieder leid tat: dass seine Mätresse einen unendlichen Teil des Tages mit ihrer Pflege verbrachte, und natürlich war es ihm nicht erlaubt, sie anzufassen, wenn erst einmal Kosmetikerin und Friseur ihr Werk getan hatten; dass alle sie bewunderten und ihn um sie beneideten, wenn er mit ihr ausging, aber das bedeutete ein platonisches Vergnügen; denn kaum wieder zuhause, legte sie all diesen Flitter wieder ab, und er kam erst recht nicht zum Zug – vielmehr lag sie dann mit einer schwarzen Augenbinde da und absolvierte ihren Schönheitsschlaf…
Während der alte Sid daher nichts bekam für die Unsummen, die er in Miss Wasserstoffblond–atombusig–und–auch–sonst–kurvig–sowie–extrem–langbeinig investierte, musste er, wenn ihm danach war, runtergehen in die Dienstbotenwohnung, und dort, Sie wissen schon: una Latina acaramelada, obediente y supina, zu haben für ein paar Bucks zusätzlich zu ihrem normalen Lohn.
BRIGITTE:
Natürlich geschah Bogdanych Recht, wenn er hier endlich seine Meisterin gefunden hatte, die – ohne wirkliche Absicht, aber sinngemäß – ganze Heerscharen von Starlets an ihm rächte, die er wahllos aufs Kreuz gelegt hatte, nicht einmal darauf achtend, ob es sich bei der einen oder anderen um sein eigen Fleisch und Blut handelte. Und natürlich war auch bei unserem klugen Mädchen ausgleichende Gerechtigkeit im Spiel (wenn auch in die andere Richtung), denn nicht immer war es ihr so ergangen wie jetzt: Vielmehr hatte sie in früheren Liaisons wesentlich mehr bieten müssen, und das tunlichst ohne mit der Wimper zu zucken. Aber getreu ihrem von Marilyn übernommenen Motto „Diamonds are a girl’s best friend” …
Die Monroe selbst hatte ja für die unerfahreneren Kolleginnen präzisiert: „Women have to discriminate between ‚dads’ and ‚cads’ among male suitors – so just look for two qualities: the ability to acquire and accumulate resources, and the willingness to invest them in you!”
BRIGITTE:
Sie war also schon ziemlich reich in das Verhältnis mit dem Produzenten eingetreten, und sie nahm ihn zwar aus, aber sie war nicht gezwungen, das zu tun, und er wiederum verlor mit sinkender Abhängigkeit seiner Partnerin seine frühere Macht.
[ 2 Zeilen Durchschuss ]
Charlenes Besorgnis bezüglich sexueller Exzesse Lauras mit den Executives der Cheltenham-Domäne erwies sich als völlig unbegründet, schon aus dem einfachen Grund, dass die Schwarze der Dubois-Schwestern Sir Basils Latifundien, obwohl sie ihr anvertraut worden waren, niemals betrat. Ihren Kontakt fokussierte sie auf den Gesamtbetriebsführer, der sich in regelmäßigen Abständen nach Blakeney Manor zu verfügen hatte, um Bericht zu erstatten, und dort ergab sich in der nüchternen Atmosphäre eines Konferenzraums keinerlei Gelegenheit für Ausschweifungen. Und so kam es, dass das Verhältnis dieses Mannes zu Laura paradoxerweise sogar noch hinter dem zu Lady Charlene zurückblieb, denn nicht einmal zu distanzierter Madonnenverehrung schwang er sich hier auf. Unter diesen Umständen scheint es nur zu verständlich, dass Laura auf Sir Basils Wunsch hin problemlos wieder von dieser Aufgabe zurücktrat, um Christina Platz zu machen.
Der wichtigste Grund dafür war aber offenbar die heitere Abgehobenheit, die sie seit der faktischen Beendigung ihrer Agentenlaufbahn erfasst hatte. Keinerlei Stress wie im früheren Knochenjob, keine dringenden Verpflichtungen, denn bei Sir Percys ehemaligem Besitz beschränkte sich die Tätigkeit des Inhabers im Prinzip auf das Kassieren der Rental Payments seitens der zahlreichen Pächter (insofern war auch die ursprüngliche Prämisse für die Übernahme der Cheltenham-Agenden falsch gewesen, da dort durchaus eine operative Beteiligung am Management erforderlich war). Laura gab sich ungewohnten leiblichen Genüssen hin, ging deshalb auch ein wenig aus dem Leim – sehr zum Wohlgefallen Max Dobrowolnys, der sie ab und an besuchte, um seine ehelichen Pflichten zu erfüllen (oder die entsprechenden Rechte einzufordern, wie auch immer), obwohl er inzwischen bei Geneviève von B. an Bord gegangen war und zwischendurch auch den Freiherrn von E. beglückte, wenn sich die Gelegenheit schickte. Seine zusehends mollige Frau bedeutete ihm in dieser Gesamtkonstellation, die er als Nachbildung einer schwülstigen Novelle empfand, eine wohltemperierte Zutat.
Ihr selbst war’s Recht so, denn seit sie – nach zahlreichen anderen Abenteuern – zuletzt Sir Percys komplizierte Attitüden einerseits und die rücksichtslosen Ritte seiner Jakuten andererseits hatte ertragen müssen, war ihr Bedarf einigermaßen gedeckt, und auch längeres Alleinsein galt ihr mittlerweile als reine Wonne. Sie las eine Menge, ging in Maßen spazieren, dachte viel nach – gerade so, als hätte sie gewusst, dass ihr für all das nur noch wenig Zeit blieb.
606
Dass Santiago Sanchez-Barzon mich aufsuchte, überraschte mich nicht. Ich selbst war es ja gewesen, die ein wenig seine Schritte lenkte, sonst hätte er mit seinem Anliegen – Näheres über die Umstände des Verschwindens seiner Mutter zu erfahren – wohl kaum den Weg zu Lady Pru’s Anwesen, unserer europäischen Koori-Heimat, gefunden. Immerhin glaubte ich ihm dieses Entgegenkommen schuldig zu sein, wiewohl mir klar war, dass es dabei unvermeidlich zu einer Konfrontation mit Chicago kommen musste.
CHICAGO:
Aber er weiß rein gar nichts – wozu also die ganze Wahrheit, wo ein geschicktes Ensemble an Halbwahrheiten völlig aureicht?
Zu seiner nicht geringen Überraschung verkündete ich meine Absicht, mit dem jungen Mann Doña Margharita aufzusuchen, und da würde es sich wohl kaum vermeiden lassen, ihn über die Ursachen ihres jetzigen Zustandes zu informieren.
CHICAGO:
Berenice ließ mich (nach so vielen Jahren, in denen ihr das kein unbedingtes Anliegen gewesen sein dürfte!) meine Sicht der Dinge beschreiben, aber ich gab mich dabei reserviert: Du als unsere Schamanin weißt ohnehin genau Bescheid über meine Gefühle! meinte ich. Sie jedoch betonte, in diesem Fall nur als einfache menschliche Therapeutin handeln zu wollen. Bin ich also plötzlich Patient? fragte ich befremdet: Warum dringst du nicht einfach, wie sonst auch, wenn wir über metaphysische Sachverhalte diskutieren, in mich ein, überfliegst meine Seelenlandschaften und holst dir alle Informationen, die du haben willst, selbst jene, die ich dir nicht zu geben bereit bin?
Nun – ich war längst nicht mehr sicher, ob all das, was damals im Kampf dieser Welt mit dem Paralleluniversum geschehen war, auch wirklich so hatte kommen müssen, wie ich es plante und ausführte…
CHICAGO:
… ausführen ließ, willst du wohl sagen!
Ich ignorierte geflissentlich seinen Einwand. Seltsamerweise belasteten ja nicht so sehr die vielen anonymen Toten dieses Krieges mein Gewissen – es waren vielmehr die handfesten Peinigungen, denen Chicago Adriana, Sharon Sakamoto und eben Margharita Sanchez-Barzon unterzog, sowie die extremen psychischen Belastungen beim ersten Start der NOSTRANIMA, bei denen die drei Frauen ihren Verstand verloren. Zwar hatte ich versucht, sie wieder zu heilen, aber weder mit meiner parapsychologischen Energie, noch mit meinem Fachwissen westlicher Prägung vermochte ich ihnen aus ihrer Geistesumfangenheit herauszuhelfen.
Ich spürte deutlich den Widerstand, der dies verhinderte, und dieser kam nicht von irgendwelchen unbestimmbaren Mächten, sondern von Adriana, einer der Betroffenen, selbst – Adriana, die in ihrem zweiten Dasein (das erste war bekanntlich von der Inquisition gewaltsam beendet worden) als richtige Hexe existierte und daher imstande war, für sich und die beiden anderen jede weitere Interferenz zu unterbinden und zusammen mit ihnen in einer Art Zwischenreich zu verschwinden. Dort saßen sie am See des Vergessens und starrten in das trübe Wasser: auf ihre undeutlich-verschwommenen Spiegelbilder. Genau dort aber retteten sie Basil Cheltenham bei seinem Duell mit dem Tyrannen der Spiegelwelt vor dem sicheren Tod – und erfüllten damit eine zentrale Funktion bei seinem endgültigen Sieg, an einem Ort, an dem ich für meinen Teil nichts mehr für ihn tun konnte.
CHICAGO:
Ich ergriff sofort die Initiative, als Santiago bei uns ankam, bat ihn freundlich, mir zu erzählen, was er über seine Mutter gehört hatte. Er wusste von ihrem verdeckten Auftrag, getarnt als eifersüchtige Ehefrau Basils Team für die Amerikaner (konkret für die Generalin Heather H. Skelton) auszuspionieren; dass sie dabei aufflog und vom Baronet seiner Soldateska überantwortet wurde, die sie mehrfach gründlich duchzog; dass sie danach, als sie Cheltenhams Unternehmung nicht mehr gefährden konnte, heimkehren durfte nach Sevilla, wo ihre Söhne sie wiedersahen – aber nur kurz, denn bald darauf war sie endgültig verschwunden, und der Vater machte den beiden Jungs weis, sie sei tot. „Rodrigo glaubte ihm”, sagte Santiago, „aber ich nicht!” Wie es schien, konzentrierte sich sein Zorn auf Sir Basil, und damit lag er nicht falsch, wie wir wissen. Jedenfalls bestärkte ich ihn darin, denn das bedeutete, dass er weder Berenice noch mich in die Sache verwickelt sah. In uns, namentlich in der Walemira Talmai, vermutete er vorerst nur jemanden, der ihn bei der Suche nach Doña Margharita unterstützen konnte.
Ich hatte bei dieser Entwicklung kein gutes Gefühl, aber da Chicago es nun einmal so eingefädelt hatte, widersprach ich nicht, sondern versuchte vielmehr, den jungen Mann auf das einzustimmen, was ihm möglicherweise widerfahren würde, wenn wir ihm tatsächlich behilflich waren: Ein und dieselbe Existenz, mein Freund, kann immer in mehreren Aggregatszuständen stattfinden, aber berichtet wird meist nur von einem davon. Denken Sie an die unterschiedlichen Ahnen, deren Blut in Ihren Adern fließt – Griechen, Goten und vor allem auch Mauren. Wenn Sie aber ein gängiges Geschichtsbuch aufschlagen, werden Sie einseitig stolz sein auf die christliche Reconquista, deren Teilnehmer ebenfalls zu ihren Vorfahren zählen, wenn auch nicht gerade an prominenter Stelle. Genauso betrachten wir alle, die über die jenseitige Realität triumphiert haben…
CHICAGO:
Santiago sah uns fragend an. Jetzt mussten wir ihm dank Berenices Redseligkeit auch das Notwendigste über das Paralleluniversum eröffnen! Ich versuchte es in kurzen Worten, wobei ich konsequenterweise Basils Heldenrolle herunterspielte. War das nötig? signalisierte ich der Walemira Talmai stumm.
Jedenfalls – Sie mögen das meinetwegen gedankenlos nennen – haben wir Ihre Mutter in unserer Euphorie als unvermeidliches Opfer betrachtet.
CHICAGO:
Langsam bekam ich wirklich ein Problem mit unserer Schamanin. Ich erkannte sie gar nicht mehr wieder – unsicher, offenbar heftig zweifelnd an den damaligen Entscheidungen, die doch mit größter Souveränität das Unvermeidliche in Kauf genommen hatten: Da war das Schicksal Margharitas bloß eines von vielen und beleibe nicht das bewegendste. Mir wurde langsam klar, dass eine neuerliche Herausforderung komplexer Natur, wie wir sie durch die Spiegelwelt-Diktatur und später durch die Echwejchs erlebt haben, gar nicht mehr das ungeteilte Interesse Berenices finden würde, geschweige denn, dass sie sich aktiv einbrachte. Ich hatte diesen Niun-Meoa in ihrer Praxis gesehen und den Eindruck gewonnen, dass sie dessen Potenzial nicht ernst nahm, sei es, weil er in der Harmlosigkeit eines alten Brasilianers daherkam (aber das konnte nicht sein, da sie sich niemals durch die äußere Schale täuschen ließ), sei es, weil sie sich ihm a priori überlegen fühlte (wofür es triftige Gründe gab), oder sei es, weil sie selbst sich weniger und weniger mit den Angelegenheiten unserer Realität identifizierte: Es konnte gut sein, dass der Zwiespalt zwischen ihrer von den geisterhaften Ahnen bestimmten Ausnahme-Existenz und den Erfordernissen unseres ganz normalen Alltags sie seelisch mehr zerrieb, als sie es wahrhaben wollte.
Die Autorität über meine Koori – und damit auch über Chicago, obwohl er als quasi weltlicher Führer aus der Gruppe herausragte – besaß ich noch immer, und kraft meiner Stellung verbot ich ihm weitere Spekulationen über meine Motive. Ich verweigerte ihm sogar ab sofort (und das demütigte ihn sehr) auch nur den geringsten direkten Blick in mein Inneres, denn ich hatte mit einem Mal das Bedürfnis, dort Distanz zu schaffen, wo wir beide durch unsere empathische Kapazität einander bisher fest vertraut hatten (da auf dieser Ebene Missverständnisse, wie sie bei normalen zwischenmenschlichen Affären an der Tagesordnung sind, gar nicht erst aufkommen konnten).
CHICAGO:
Nicht nur der junge Sanchez-Barzon stand verblüfft und ein wenig ratlos da, während diese Prozesse nonverbal und mit großer Geschwindigkeit und Intensität zwischen der Walemira Talmai und mir abliefen. Auch Berenices Freund Brian Thomson, der ja durch seine Initiation an unseren Gepflogenheit teilhatte, bekam nur wenig mit, denn rascher als er seine Gedanken mit den unseren synchronisieren konnte, um hinter den Inhalt der Kommunikation zu kommen, entzog sich ihm diese. Auf einer subliminalen Ebene allerdings – davon war ich überzeugt – sandte seine Geliebte ihm die glühende Botschaft, dass ihre Beziehung zu ihm stark und dauerhaft war wie von Anfang an (er von all dem hier folglich nicht betroffen sei), und dass es sie dränge, sich noch mehr für ihn zu öffnen und mit ihm noch tiefer zu verschmelzen.
Ich erkannte, wie verstört Chicago war – ein für unseren Meister der Meditation äußerst ungewöhnlicher Zustand. Immerhin erlaubte ich ihm – um ihn nicht völlig vor den Kopf zu stoßen –, Santiago und mich zu begleiten, und da gewann er auch gleich seine Fassung zurück, denn wir würden auf meine metaphysische Art reisen, was auch für ihn stets ein elementares Erlebnis darstellte. Zu unserer großen Beruhigung konnten wir unser Koori-Domizil unter der Obhut von Vangelis Panagou lassen, der mit seinen Fähigkeiten als hochentwickelter Android der perfekte Verteidiger gegen äußere Gefahren war.
CHICAGO:
Vergiss’ für eine Weile die Philosophie, du Prachtstück! riet ich ihm: Stell’ deine Sinne scharf, ruhelos Tag und Nacht! Und wenn Idunis es nötig hat – du gibst gut und gerne einen Burschen ab, der ihr gefallen könnte, und dir selbst sollte ein weiterer Durchgang mit unserer furchtbar schwarzen Naturschönheit nicht schaden, damit du auch auf diesem Gebiet in Übung bleibst!
„Ich vermag, mehrere Aktionen gleichzeitig auszuführen!”, versetzte Vangelis stolz, „Das sollte dir stets bewusst sein! Während ich mit Idunis schlafe, kann ich zugleich das Anwesen bewachen, und selbst wenn ich einen Angriff abwehren müsste, könnte ich doch so nebenbei den Ockham’schen Nominalismus repetieren!”
Ich gönnte Chicago diese elegante Replik, aber der ließ nicht locker.
CHICAGO:
War nicht bös’ gemeint, Junge. Sollte nur ein guter Rat sein, dich wenigstens bei dem einen Job – du weißt, welchen ich meine – voll und ganz auf das Objekt konzentrieren!
Idunis, die mit den anderen meiner Gruppe hinzugekommen war, bedeutete Chicago durch ein Zeichen: Lass’ gut sein, ich mach’ das schon! sollte das wohl heißen. Sie wusste zweifellos den Weg, den Fokus ganz allein auf sich zu ziehen, selbst wenn es um einen Androiden ging und nicht um einen ihrer begehrten rosafarbenen Männer aus Fleisch und Blut.
[ 2 Zeilen Durchschuss ]
Es war nicht nötig gewesen, uns bei Baroness Christina, der neuen Herrin auf Cheltenham House anzumelden. Durch unsere spezielle Methode der Ortsveränderung standen wir einfach des Nachts in jenem Gang ihres Familiensitzes, von dem aus man durch die kompakte Wand in das dahinter liegende geheime Labyrinth gelangen konnte. Santiago, den wir in die Mitte genommen hatten, betrat es arglos: Er hatte keine Ahnung, für wie viele dramatische Begegnungen es schon als Bühne gedient hatte – vor allem für die Auseinandersetzungen realer Personen mit den Gespenstern, die in ihrem Unterbewusstsein hausten.
[ Grafik 606 ]
CHICAGO:
Vor uns wichen die Schemen zurück, denn die Walemira Talmai und ich hatten das traditionelle Aussehen von Koori, die in den Krieg zogen, angenommen: Rechts die Schamanin, links der Häuptling, so führten wir im Outback unsere Schar gegen jeden Feind. Wie früher hatte Idunis unsere schwarzen Körper mit den weißen Ornamenten unseres Stammes verziert: Gesicht und Arme zeigten Punkte und Streifen, auf dem Rücken und den Beinen waren Tierbilder zu erkennen. Berenice trug den bunten Kopfschmuck aus Papageienfedern und als Zeichen ihrer spirituellen, aber auch magischen und das heißt bei uns weiblichen Würde sonst nichts als einen reich verzierten Gurt, der unterhalb des Nabels geknotet war, sodass seine breiten Enden den glattrasierten Venushügel hervortreten ließen und an ihren Schenkeln herabfielen. Ich selbst hatte das lange Rohr auf meinen Penis gesteckt, das mich als Inhaber der irdischen, aber auch telepathischen und das bedeutet bei uns männlichen Gewalt auswies. Nach langer Zeit fühlte ich mich – trotz der einzigartigen Umstände unseres Aufmarsches – wieder einmal vollkommen gelassen, ja geradezu glücklich, im Einklang mit den Vorgaben unserer geisterhaften Ahnen, die durch die Symbole auf unserer Haut beschworen wurden und uns begleiteten.
Einer der Gänge führte tief hinab an jene sagenumwobene Stelle, wo unterhalb des Cheltenham-Anwesens die 1000 Jahre alte Befestigungsanlage namens Oilell Guinevere stand. Wir fanden diese unverändert seit dem Duell von Sir Basil und Iadapqap Jirujap Dlodylysuap, unverändert seit dem gnadenlosen Untergang des einen und dem knappen Entkommen des anderen durch die Hilfe Adrianas, Sharons und Margharitas – und diese Drei saßen nach wie vor am See, der den Tyrannen der Spiegelwelt verschlungen und Cheltenham freigegeben hatte.
CHICAGO:
Sharon Sakamotos Zustand schockierte mich, denn sie schien wie schockgefroren in dem fernen Augenblick, in dem ich ihr eröffnet hatte, dass sie mediale Fähigkeiten besaß. Das ausgerechnet ihr – so war damals ihre Reaktion gewesen –, ihr, die voller Lebenshunger keine Möglichkeit aussparte, ihre physischen Bedürfnisse zu befriedigen. In einem mehr als konservativen amerikanischen Elternhaus aufgewachsen, terrorisierte sie dieses seit frühester Jugend mit sämtlichen Tabubrüchen, die sie sich nur auszudenken vermochte, schließlich sogar durch ihre Heirat mit dem Oyabun aller Oyabuns, in dem Sharons Vater ganz nüchtern (und recht wahrheitsgemäß) den Obermafioso von Japan sah. Bei Sakamoto kam die junge Dame allerdings vom Regen in die Traufe, da er sie wie sein Leibeigentum behandelte, mit dem Status einer blonden Verzierung seines Yakuza-Hofstaats. Sie brach folgerichtig erneut aus – was unter den nunmehrigen Umständen nicht ganz einfach war, wie man sich denken kann – und stürzte sich wieder ins Getriebe, verfolgt von den Wutausbrüchen ihres Mannes, der ihren Weggang als seine erste und damit zugleich größte Blamage betrachtete. Ich bin heute noch sicher, dass ihr ein Yakuza-Killer ein jähes Ende bereitet hätte, wenn sie nicht von Berenice, Basil und mir für unsere Zwecke aus dem Verkehr gezogen worden wäre.
Mir fiel zuerst Adriana auf, als wir näher traten. Ihr rechtes Auge starrte quasi gläsern, völlig regungslos, und gleich darauf bemerkte ich, dass ihre gesamte rechte Körperhälfte wie gelähmt wirkte. Umso wacher schien die andere Seite, wobei mir besonders vor ihrem linken Auge schauderte, denn in der Sekunde war mir klar, dass es mich genau erkannt hatte, und dass Adrianas linke Körperhälfte erzitterte vor ohnmächtigem Hass, der mich zu vernichten trachtete, dem aber dazu die Mittel fehlten. Immerhin gelang es der Hexe, selbst mich – die ich glaubte, alle Mechanismen übersinnlicher Kräfte nicht nur zu kennen, sondern auch zu beherrschen – gehörig zu beunruhigen.
„Vanitas!”, zischte ihr einseitig verzerrter Mund, und ihre Gedanken forderten mich auf, in ihr Inneres zu sehen („denn das vermagst du ja so trefflich, du selbstbewusste Schamanin, der jegliche Demut fremd ist”). In ihrer Seele setzte sich die Spaltung ihrer äußeren Person fort – die eine Hälfte war von kompaktem kalten Schwarz, die andere hell und bunt, bevölkert von barocken Narrenfiguren aus der Zeit von Adrianas erster Existenz. Diese tanzten um mich, entführten meine Krone und versuchten, mir meinen Gurt zu entreißen. Sie berührten die Symbole auf meiner Haut, als ob sie gewusst hätten, dass man diese so zu unkontrollierten Aktionen erweckte, die mich peinigten. „Deine Schönheit, prächtige Dame”, krächzten sie, „ist dem Verfall geweiht! Was immer du baust, wir reißen es ein, damit du am Ende der Melancholie anheimfällst. In Spiegelbildern und Allegorien (an der die Geschichte, die du hier bewohnst, so reich ist) wird dir die Vergänglichkeit vorgeführt – die Dekadenz, die bei dir und den anderen eitlen Gestalten so weit gediehen ist, dass ihr fasziniert seid von künstlicher Intelligenz, von Androiden, die euch treue Abhängigkeit vorgaukeln, insgeheim aber längst auf Vernichtung ihrer Schöpfer sinnen, um Leere zu schaffen für ihre eigenen Bedürfnisse und Strebungen, um eine Welt erstehen zu lassen, die ein Zerrbild menschlicher Wirklichkeit ist!”
Bis dahin verkraftete ich all das im festen Wissen, dass es Chimären waren, die Adrianas innere Landschaften bevölkerten, und dass sie mir keineswegs etwas anhaben zu konnten. Plötzlich aber musste ich doch fürchten, unter ihrem Blendwerk zusammenzubrechen, denn sie führten mir eine Anschauung Brians vor, in der er halb mein Geliebter, der längst vom Kleinen Steinjäger zum Großen Traumfänger und zu einem Weisen meines Volkes geworden war, halb jedoch ein bleckendes und klapperndes Skelett.
Mit letzter Kraft rief ich mein Geistwesen um Hilfe für die Integrität meines Ver-standes an und schleuderte Adrianas Dämonen entgegen: „Es ist genau das Unverrottbare an uns, das unvergängliche Leistungen erbringt, denn kein Moder kann diese zerfressen, kein Gedächtnisschwund sie zerstören, denn auch wenn niemand mehr davon kündet, bestehen sie doch in Reinheit fort als transzendente Ideen!”
Ich zog mich aus Adriana zurück, brachte wieder den nötigen Abstand zwischen mich und sie, die jetzt völlig in Lethargie zu verfallen schien.
CHICAGO:
Mittlerweile war Santiago zu seiner Mutter gelaufen. Margharita Sanchez-Barzon machte trotz aller Abgekehrtheit noch den normalsten Eindruck von den Dreien. Sie erkannte ihren Sohn selbstverständlich nicht als Person wieder, schien aber zu verstehen, dass da jemand war, der an ihre Hingebung appellierte. Ihr Gesicht nahm besorgte Züge an, und sie ergriff seine Hände, um ihn an sich zu ziehen. Er wollte sie ansprechen, aber ich bedeutete ihm, das lieber zu vermeiden und sie das tun zu lassen, was ihr in ihrer Situation möglich war. Offenbar assoziierte sie das Gefühl, ein Kind vor sich zu haben, mit körperlicher Kleinheit, denn sie nahm Santiago auf ihren weit geöffneten Schoß. Ratlos sah er zu mir herüber, und ich nickte ihm zu, damit er, was immer nun kam, mit sich geschehen ließ – und das war pure Zärtlichkeit. Margharita strich ihm fürsorglich übers Haar und zeichnete mit ihrer Hand vorsichtig die Konturen seines Körpers nach. Dazu versuchte sie zu lächeln, schaffte aber bloß ein schiefes Grinsen, das ihren Sohn weiter verwirrte: Er war hin und her gerissen zwischen seiner Zuneigung zu ihr und seinem Widerwillen gegenüber ihrer Fremdartigkeit. Alles in allem sahen wir vor uns die Karikatur einer Pietà.
607
Niemals hätte Seiji Sakamoto den pseudomartialischen Ton goutiert, den Yang Xun Zhou bei der Verhaftung von Dan Mai Zheng angeschlagen hatte. Nicht dass der Oyabun jemals zögerte, jemanden umzubringen, wenn dies als wirksame Abschreckungsmaßnahme für dessen Umgebung dienen konnte – aber was dieser neue chinesische Staatschef von seinen Gnaden da von sich gab betreffend einen ominösen „Plan Schwarz”, trieb Sakamoto gehörig auf die Palme, nachdem er begriffen hatte, dass es sich dabei um die Idee der systematischen Ausrottung der muslimischen und hinduistischen Bevölkerungsgruppen handelte: demgemäß von mehr als 50 % der gesamten Einwohnerzahl Groß-Chinas, was wiederum einer Halbierung der Märkte für die diversen dunklen Geschäfte der Yakuza-Organisation gleichkäme.
Er tobte ungebremst durch die Räume seiner Burg, wohin er seine Unterführer einbestellt hatte. Diese saßen mucksmäuschenstill da und tauschten lediglich bedeutsame Blicke: Für sie war er wieder der Alte, fast vergessen war die Schlappe, die er dem Verein in Port Klang durch mangelnde Wachsamkeit beschert hatte. Angesichts der potenziellen Bedrohung ihrer Profite durch diesen Wahnsinnigen in Beijing (bei dem sie eigentlich alle miteinander der Ansicht gewesen waren, die richtige Wahl getroffen zu haben) nahmen sich die realen Verluste, die sie durch die Kommandoaktion Cheltenhams erlitten hatten, geradezu harmlos aus.
SEIJI SAKAMOTO:
Kuroi Kiri, der Schwarze Nebel, ist unser Betriebsgeheimnis – das totale Gefügigmachen von Lieferanten und Abnehmern durch unsere Terrormaßnahmen! Aber doch niemals die Vernichtung wesentlicher Teile unserer Operationsbasis, wie es dieser Scheiß-Schwarze Plan vorsieht! Dieser Zhou kann was erleben! Ich werde ihm dieses Projekt austreiben, bevor auch nur der Hauch einer Möglichkeit besteht, es zu verwirklichen!
Seine Paladine wussten, dass jetzt irgendetwas Dramatisches bevorstand, denn ihr oberster Chef pflegte sich nicht in vagen Andeutungen oder leeren Drohungen zu ergehen. Und siehe da – in diesem Augenblick wurde bereits der chinesische Parteichef von zwei grimmig aussehenden Kriegern hereingeschleift (den nämlichen übrigens, die vor nunmehr langer Zeit in Seijis Apartment in Tokio versucht hatten, Trudy McGuire einzuschüchtern). Seine Kleidung hing in Fetzen an ihm herunter, und man konnte erkennen, dass sein Oberkörper und seine Weichteile übel zugerichtet waren. Allerdings hatten die Folterexperten des Oyabun peinlichst darauf geachtet, Kopf und Arme unversehrt zu lassen, was darauf hindeutete, dass man den Ärmsten nach dieser Abreibung in einen neuen Anzug stecken und – „geläutert”, erklärte Sakamoto süffisant – auf seinen Job zurückschicken wollte.
Zeugen seiner Schmach wurden Bao, Feng, Chan und Ai sowie Kang, Long, Meng, Hu, Bo und Liang – der Kindergarten, wie Dan Mai Zheng die Gruppe genannt hatte, wurde unmittelbar nach ihrem Boss in den Saal getrieben, um das Ende des Exempels zu beobachten, das hier statuiert wurde.
SEIJI SAKAMOTO:
Mein lieber Zhou! Freut mich, Sie wieder einmal hier bei mir begrüßen zu dürfen, und ich hoffe, Sie genießen auch diesmal den Aufenthalt! (und an die jungen Damen und Herren gewandt) Ihr Freund hier macht mir heute aber keinen allzu guten Eindruck! Wissen Sie, das liegt daran, dass er etwas ganz Wesentliches nicht begriffen zu haben scheint: Wer sich nämlich gegen uns stellt, hat bereits verloren. Bei seinem ersten Aufenthalt durfte er der Hinrichtung eines für ihn komplett Fremden beiwohnen, und ich hoffte für ihn, er hätte schon damals kapiert. Es erwies jedoch zu meinem Bedauern nötig, eine Steigerung vorzunehmen, daher bat ich ihn, das nächste Mal einen Kollegen mitzubringen – hieß der nicht Ning?
Panik brach im Kindergarten aus. Sie ahnten wohl, was jetzt folgte.
SEIJI SAKAMOTO:
Ich bot Zhou mein Schwert – ich betone: mein eigenes, immer ehrenvoll geführtes Schwert! –, damit er seinen Befreiungsschlag führen konnte, aber dieses Weichei zog es vor, sich von einem meiner Yakuzas die Pistole zu borgen. Immerhin hat er seinen Begleiter damit eliminiert!
Die Augen der jungen Chinesen waren schreckgeweitet. Daheim in Beijing hatten sie nicht zu fragen gewagt, was aus dem armen Ning geworden war, doch nun besaßen sie Gewissheit.
SEIJI SAKAMOTO:
Leider bedurfte es heute der Stufe 3 der Erleuchtung! (er tätschelt dem Geschundenen die Wange, während die beiden Männer diesen noch immer hochhalten wie einen nassen Sack) Wie wär’s, mein Lieber? Vergessen wir doch einfach die dummen Ideen von der Flächenvernichtung eigener Untertanen!
Einer seiner Paladine ergriff nach geziemender Pause mit ausgesuchter Höflichkeit, die in schneidendem Widerspruch zur vorherigen Behandlung stand, das Wort: „Vielleicht könnten wir einmal genauer das Problem identifizieren, das Herrn Yang Xun Zhou solche Sorgen bereitet – denn womöglich handelt es sich ja in Wahrheit um etwas, das ihn und uns gleichermaßen beunruhigt!”
SEIJI SAKAMOTO:
Wohl gesprochen, Herr Yamada! Und weiter?
„Was die heutige Führung in Beijing tatsächlich zu Recht beschäftigt – zumal die frühere Staats- und Parteivorsitzende die Sache allzu lang auf die leichte Schulter genommen hat –, ist die allgemeine Unrast, die Ahmed Al-Qafr bei den Muslimen und Ravindra Pramesh bei den Hindus ausgelöst haben. Abgesehen davon, dass die seit langem üblichen Auseinandersetzungen innerhalb der beiden Lager keineswegs aufgehört haben, besteht doch das größte Gefahrenpotenzial für das Gemeinwesen genauso wie für uns Unternehmer in einer Verständigung dieser an sich verfeindeten Parteien oder sogar in einem fallweise gemeinsamen Vorgehen gegen uns, wovon wir, wie allen bekannt ist, schon sehr eindrucksvolle Beispiele erlebt haben.”
SEIJI SAKAMOTO:
(ungeduldig) Um auf den Punkt zu kommen: Obwohl weder die Regierung noch wir den Wert eines einzelnen Muslims oder Hindus besonders hoch ansetzen, wäre das, was Herrn Yang vorschwebt, der völlig falsche Weg, denn der Staat braucht Bürger, je mehr desto besser, und die Wirtschaft braucht Arbeitskräfte und Abnehmer.
Unendlich mühsam, als hätten ihm die Yakuzas alle Knochen im Leib gebrochen, meldete sich der Gefangene zu Wort: „Aber, verehrter und geschätzter Oyabun aller Oyabuns – der Guihua Buxing war keineswegs als erste und einzige Option gedacht, sondern sollte nur dann verwirklicht werden, wenn die anderen Methoden versagen, vor allem die Befriedung der entsprechenden Distrikte durch ein dichtes Besatzungsnetz der Volksbefreiungsarmee…”
SEIJI SAKAMOTO:
Unsinn! Deses Verfahren würde starke Kräfte dauerhaft binden und somit zweifellos überspannen – jeder weiß, dass derlei noch niemals zum Ziel geführt hat! Es muss uns vielmehr gelingen, einen geografischen Keil zwischen die beiden Fraktionen von Aufständischen zu treiben, um für die Zukunft jegliche Kooperation zu unterbinden – selbstverständlich auch um den Preis von gewaltsamen Umsiedlungen, wo eine wechselseitige Durchdringung der Siedlungsräume eine scharfe Trennung unmöglich machen würde.
„Was werden wir also veranlassen, Herr Yang?”, suggerierte Unterführer Yamada freundlich.
Zhou quälte sich sichtlich, physisch ebenso wie psychisch. Man setzt ihm nicht weiter zu, vielmehr sprach Sakamoto nun zum Youeryuan.
SEIJI SAKAMOTO:
Vielleicht können die jungen Herrschaften ihrem Chef zu Hilfe eilen und statt seiner antworten!
Sie versprachen alles, schon um endlich von dort wegzukommen: Ja, man würde sich gleich nach der Rückkehr nach Beijing der komplizierten Übung unterziehen, die wesentlichen Stoßrichtungen einer entsprechenden militärischen Operation zu definieren (das sollten Bao und Meng übernehmen): Schwerpunkte waren die westliche und die östliche Verwaltungsgrenze Indiens, wo eine Trennung von Muslimen und Hindus vordringlich schien, jedenfalls ohne Rücksicht auf notwendige wechselseitige Deportationen (um deren Organisation sich Chan und Kang kümmern mussten). Und ja, wenn das geklärt war, würden sie umgehend die Armee in Marsch setzen (dafür war konkret Liang zuständig).
Die vorwitzige Ai, die nach Maßnahmen zur Abschottung Hinterindiens gegenüber Malaysia und den übrigen muslimischen Regionen des südostasiatischen Archipels zu fragen wagte, wurde von Herrn Yamada leicht ungeduldig, aber noch immer einigermaßen höflich beschieden: „Diesen Part können wir Ihnen gerne abnehmen, da unsere Organisation dort bereits eine umfangreiche Präsenz aufrechterhält!” Einigen aus dem Kindergarten dämmerte jetzt, wem es zuzuschreiben war, dass die chinesischen Seestreitkräfte in diesen Gewässern ständig attackiert wurden und nicht unbeträchtliche Verluste, vor allem an Kriegsmaterial jeder Art, zu verzeichnen hatten. Außerdem war die Nachricht vom jüngsten Desaster der Yakuzas bei Port Klang natürlich auch nach Beijing gedrungen, und man bezweifelte demgemäß in der Gruppe, dass die Kapazitäten der obskuren Organisation (deren stille Beteiligung am Reich der Mitte man den Vereinbarungen des Trios Dan / Kravcuk / Sakamoto zu verdanken hatte) dieser großspurig übernommenen Aufgabe gewachsen waren.
Niemand aber erhob irgendeinen Einspruch. Der Oyabun übergab Yang Xun Zhou oder das, was von ihm übrig war, seinen Leuten und erlaubte es, ihn durch dienstbare Geister in den Wellnessräumen der Burg möglichst wiederherstellen zu lassen. Danach reiste die Gruppe, ohne noch etwas von Sakamoto oder einem seiner Satrapen gesehen zu haben, ab.
Wieder daheim, ergriff der Staats- und Parteivorsitzende umfassende Maßnahmen für seine persönliche Sicherheit und die seiner Mitstreiter, denn was er da erlebt hatte, durfte sich auf keinen Fall wiederholen. Die Leibwächter, die sich bis dahin ausschließlich auf die Abwehr amerikanischer Agenten vorbereitet hatten, wurden mit Priorität auf die Yakuza-Gefahr umgepolt, und Chan übernahm es, einen lückelosen Personenschutz für Zhou sämtliche Mitglieder des Kindergartens zu organisieren.
Die mit Sakamoto vereinbarten Militäroperationen wurden eingeleitet, aber die Führung in Beijing tat noch mehr: Die inoffiziell bestehende Demarkationslinie rund um das chinesische Kernland unterlag ab sofort einer strengeren Überwachung als bisher, und die Truppen an der Peripherie des Imperiums wurden massiv verstärkt, was bedeutete, dass auch die entsprechenden Seegebiete äußerst dicht überwacht wurden. Wie zufällig – und darin bestand Yangs zentrales Kalkül – wurden dadurch Japan einerseits, wo die Yakuza-Organisation offiziell beheimatet war, und die Malaiische Halbinsel andererseits, wo sie ihre Räubernester unterhielt, weiträumig eingekreist. Noch merkten die Japaner davon nichts, doch der Ring um sie war lückenlos, denn die Einheiten der Volksbefreiungsarmee, sei es zu Lande oder zu Wasser, wurden von ihren jeweiligen Politkommissaren mittels geheimer Propagandamaterialien aus Beijing so richtig scharf gemacht.
[ 2 Zeilen Durchschuss ]
Im War Room von Kantara rief Franz-Josef Kloyber seinen Stab zusammen. Er trug seinen Tarnanzug (der wie immer an seiner pummeligen Gestalt ein wenig lächerlich aussah) und betonte gleich zu Beginn der Besprechung, dass er bereits hier auf einem Feldbett übernachtet hatte, ständig bereit, die neuesten Berichte über die umfangreichen Militäraktivitäten Chinas, nicht zuletzt direkt an der Grenze CORRIDORS, entgegenzunehmen. Der Beneficiarius Mannius Cattianus stand mit gezogenem Schwert neben der großen Weltkarte.
BRIGADIER KLOYBER:
Meine Herren, Sir Basil Cheltenham ist über den Ernst der Lage informiert und hat daher seinen Sohn, den ehrenwerten Master Nicholas, in seiner Vertretung zu uns gesandt, um seiner Besorgnis Ausdruck zu verleihen, und ich begrüße den jungen Herrn in unserer Mitte. Noch scheint es so zu sein, dass die chinesischen Operationen sich nicht direkt gegen uns richten, worauf auch diverse Geheimdienstberichte hindeuten, in denen von ernsten Zerwürfnissen zwischen der Zentrale in Beijing und der Wirtschaftsmacht der Yakuzas die Rede ist. Unser Vertrauensmann in der Burg Seiji Sakamotos meldet uns sogar unbeschreibliche persönliche Auseinandersetzungen zwischen der neuen Führungsgarnitur Chinas einerseits und dem Oyabun samt seinen Gefolgsleuten andererseits, wobei es sogar zu direkten Handgreiflichkeiten gekommen sein soll. Auslösendes Moment für den aus bisheriger Sicht ungewöhnlichen Mut Yang Xun Zhous, sich mit seinem japanischen Mentor anzulegen, dürfte unsere Kommandoaktion gewesen sein, mit der die Verletzbarkeit der Yakuza-Einrichtungen offengelegt wurde. Man kann dem Weitblick Ihres Herrn Vaters (er deutet eine Verbeugung gegenüber Nicholas an) nur uneingeschränkt Beifall zollen. Durch diesen Schlag hat uns Sir Basil kühn ins geopolitische Spiel gebracht, bei dem wir erwiesenermaßen nur dann gewinnen können, wenn wir die Balance zwischen den Supermächten im allgemeinen sowie in deren jeweiligem inneren Räderwerk labil halten können. Nur wenn wir rasch wechselnde flüchtige Koalitionen zwischen den unterschiedlichsten Interessenslagen zustande bringen, sind wir imstande, mit unseren schwachen Kräften das berühmte Zünglein an der Waage zu bilden!
Nicholas Cheltenham würgte die Suada des Brigadiers mit einer eleganten Handbewegung ab und ersuchte ihn, konkret über die geplante Vorgangsweise zu referieren. Kloyber kündigte an, dass man die Patrouillen CORRIDORS auf See intensivieren wolle – allerdings strikt, um zu beobachten, und nicht, um sich in irgendwelche Scharmützel verwickeln zu lassen. Eine Ausnahme von dieser Vorgabe könnte es bloß geben, wenn die Yakuzas versuchen sollten, die diskrete Blockade ihrer informellen Hoheitszone zu umgehen, indem sie die Hoheitsrechte der Föderation verletzten.
Was die Landgebiete CORRIDORs betraf, beauftragte der Brigadier Fidschi und Khalid, die mittlerweile in ihre Heimat zurückgekehrten sogenannten Randstaatenvertreter aufzusuchen und sie sowie alle Personen ihres Vertrauens zu größter Wachsamkeit motivieren. Darüber hinaus galt es natürlich, die Moral der Soldaten zu festigen, die ihren Kollegen auf der anderen Seite, den chinesischen Bing, Aug in Aug gegenüberstanden. Fidschi sollte sich von Iskenderun nach Osten und dann weiter nach Norden entlang des Ural-Gebirges bis zur Karasee vorarbeiten, also seine frühere asiatische Reise in umgekehrter Richtung machen. Khalid wiederum sollte die afrikanischen Teile der Föderation aufsuchen, etwa der Route folgend, die er gemeinsam mit Fidschi genommen hatte.
BRIGADIER KLOYBER:
Eins noch, meine Herren: Sie haben einen äußerst wichtigen und sensiblen Job zu erledigen – also konzentrieren Sie sich darauf und lassen Sie sich diesmal nicht durch irgendjemanden oder irgendetwas von geringem Belang ablenken!
[ 2 Zeilen Durchschuss ]
Auch in Washington gab es Signale der Alarmbereitschaft – willkommen war jeder Anlass, um der Öffentlichkeit eine gewisse Betriebsamkeit der Administration vorzuführen. Im Fernsehen wurde – gleichgeschaltet auf allen Kanälen – die Präsidentin gezeigt. Auch sie gefiel sich dem Anlass gemäß im Camouflage-Outfit (die Scheu davor war ihr bei ihrem ersten Ausflug in die freie Natur genommen worden). Flankiert wurde sie links von ihrem persönlichen Bodyguard Bugger Raven im messerscharfen schwarzen Anzug und rechts vom Secretary of Defense, George Howland, in seiner kessen Ausgeh-Uniform als Lieutenant Colonel. Was die Zuschauer nicht sehen konnten, waren zwei unterschiedliche Männerhände, die auf Trudy McGuires Hintern ruhten, ohne dass diese eine Miene verzog: Still genoss sie die doppelte Verehrung und wurde in ihrem Vorsatz bestärkt, sich niemals endgültig für den schnieken Offizier oder die raubeinige Rothaut zu entscheiden, sondern beide zu genießen, wie immer es ihre eigene Tagesverfassung verlangte.
TRUDY McGUIRE:
Fellow Americans! Unsere Aufklärung meldet in der Federation of Independent States verstärkte Aktivitäten der dortigen Streitkräfte. Da wir den genauen Zweck dieser Bewegungen nicht kennen…
Eine glatte Lüge, denn sie wusste genau, dass Cheltenhams kleine Armee lediglich auf die Vorgänge in China reagierte, noch dazu in einer bis jetzt sehr defensiven Weise. Es fiel ihr aber in dieser Situation nicht im geringsten ein, den Blue Wire zu benützen und Sir Basil einfach direkt zu fragen.
TRUDY McGUIRE:
… müssen wir davon ausgehen, dass es sich möglicherweise um einen aggressiven Akt gegen Grand America handelt. Ich habe daher mit meinem Verteidigungsminister hier (sie lächelt ihn zuckersüß an) sowie mit unseren Joint Chiefs of Staff eingehend konferiert und diese daraufhin veranlasst, unsere Armed Forces in höchste Alarmbereitschaft zu versetzen.
Noch immer keine Rede von einer möglicherweise größeren Gefahr, die sich in Form des Reichs der Mitte hinter dem Zwerg CORRIDOR verbarg.
TRUDY McGUIRE:
Wir besitzen sämtliche Mittel, um unsere Heimat gegen jegliche Gewalt seitens der Föderation zu schützen, darunter neuartige Kampfstoffe, bei denen die gesamte Infrastruktur des Feindeslandes aufrecht bleibt…
Sie kam regelrecht ins Schwärmen!
TRUDY McGUIRE:
… inklusive der freien Natur, so vorhanden – nur die Bewohner sind eliminiert! Es bleiben keine Rückstände, und das Territorium kann sofort wieder besiedelt werden, wenn das gewünscht wird.
Ihre Umgebung hatte ihr geraten, darüber zu sprechen und damit endgültig zuzugeben, was die berüchtigten McGuire Files seit langem behaupteten. Aber das war auch vorerst alles: Trudy endete mit dem üblichen „God bless you, God bless America!” und eröffnete dem Publikum durchaus nicht, dass diese famose Waffe namens Smart Bomb bereits zweimal eingesetzt worden war – als es nämlich einige Monate davor im lateinamerikanischen Hinterhof der USA infolge der drückenden und perspektivlosen Armut an den Rändern der großen Ballungsräume einige punktuelle Aufstände gegeben hatte und diese sich zu verbinden und so zu einem ernsten Problem zu werden drohten. Die beiden Bomben, heimlich aus großer Höhe abgeworfen und ohne Aufsehen gelandet, entvölkerten durch ihre lautlose Wirkung fein dosiert jeweils einige Quadratkilometer in und um Salvador da Bahia und Guayaquil. Dann herrschte wieder Ruhe auf dem Subkontinent.
Aktuell hatte man „aufgrund dieser hervorragenden Erfahrungen” (so George Howland) der Präsidentin empfohlen, eine Stadt in Zentralchina – ich folge wieder der Diktion des Verteidigungsministers, betone aber, dass dies nicht meine Sicht als Erzähler ist – „auf diese effiziente Weise zu säubern”. Bugger Raven, der pflichtgemäß auch bei dieser Sitzung hinter Trudy McGuire stand, begriff schlagartig, wes Geistes Kind diejenigen waren, die sein Volk ausgerottet und um einen ganzen Erdteil gebracht hatten.
„Die gelben Freunde” (wieder Howland) „werden den Schuss vor den Bug verstehen, der ihnen sagt, dass sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern sollten!” Aber genau das taten Yang und seine Crew ohnehin – auch vor Abwurf einer Smart Bomb auf die Stadt Lanzhou. Tatsächlich ausreichend mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, hatten sie im Moment nichts weniger im Sinn, als sich mit dem amerikanischen Tiger anzulegen.
Wer aber jetzt allzu großes Mitleid für die chinesische Führung empfindet, sollte wissen, dass der „Schwarze Plan” wenigstens teilweise verwirklicht wurde: Die ethnisch motivierte Umsiedlungen zwischen Indien und den benachbarten Provinzen wurden von der Volksbefreiungsarmee auf eine Weise durchgezogen, dass möglichst viel der Deportierten zugrunde gingen.
[ 2 Zeilen Durchschuss ]
Ray Kravcuk, der auch auf Palau hervorragend über alle Vorgänge in der Welt informiert war – es gab mittlerweile viele in Grand America und selbst welche in Groß-China, die ihm nachtrauerten, und auch vom Spionageapparat CORRIDORs bekam er einiges geliefert –, rief Dan Mai Zheng, die in seinen Armen geschlafen hatte, als ob es kein Morgen gäbe, aber nun besorgt feststellte, dass er nicht mehr bei ihr im Bett lag. Er zeigte ihr die auf gute alte Art verschlüsselten Depeschen, deren Inhalt er soeben transponiert hatte: „Hey, Darling, diese Idioten sind drauf und dran, unser Lebenswerk zu zerstören…”
608
Meine neueren Androiden, die „italienischen” und die „griechischen”, fühlten sich auf VIÈVE sichtlich wohl. Vergessen oder verdrängt oder so weit wie möglich gelöscht (wie immer man das im Kontext von Maschinenwesen sehen will) waren die schlimmen Erlebnisse bei ihrem ersten Aufenthalt auf der Station, zumal sie auch kaum darauf angesprochen wurden – die Bewohner wollten verständlicherweise selbst nicht gern daran erinnert werden. Dies traf nicht zuletzt auf Pachwajch und Rejchwejch zu, die beschlossen hatten, diese gewisse Echwejch-Vergangenheit ein für alle Mal hinter sich zu lassen. Bei Inverno, Primavera, Estate, Autunno, Irmís, Afrodíti und Oudéteron lösten die beiden keinerlei negative Signale aus – eher im Gegenteil, denn abgesehen von ihrem speziellen Aussehen, an dem sie natürlich nichts ändern konnten, bestachen sie durch ihr friedliches lustbetontes Naturell, mit dem sie sich so wohltuend von den kriegerischen Exemplaren ihrer Spezies unterschieden. Von der besonderen Sympathie des Oudéteron für die kleine Echwejchfamilie war bereits die Rede.
Den übrigen sechs Quasi-Geschwistern konnte man überall auf VIÈVE begegnen. Primavera suchte fast jede Nacht jene Stellen auf, an denen die Außenhaut des künstlichen Himmelskörpers durchsichtig war, und sah auf den Sternenhimmel zu ihren Füßen hinab (und wer weiß, welch romantische Gedanken ihr dabei durch den Kopf gingen). Inverno legte immer öfter Che-Guevara-Barett und Camouflage-Anzug ab, und damit offenbar auch seine revolutionäre Gesinnung, denn er gab sich mit Vorliebe in der künstlichen Küstenlandschaft dem Dolcefarniente hin. Autunnos kontemplative Ader führte ihn immer wieder in die Akademie, wo er mit dem Königssohn übereinkam, die eine oder andere Standardvorlesung über Grundthemen der Wissenschaftstheorie zu halten (jene Disziplin, die früher von Mango Berenga wahrgenommen worden war). Afrodíti brachte, wie konnte es anders sein, ihre sensationelle Wohlgestalt im „Queen’s Club” auf die Bühne, wo sie zusammen mit Irmís, der die pure Männlichkeit verkörperte, lebende Bilder inszenierte – vom Publikum sehr geschätzt als segensreiche Abwechslung zu den Kontorsionen der Königstochter und den klassischen Tanzdarbietungen Serpentinas, die beide schon sehr lang auf dem Programm waren.
Die Vergnügungen der Androiden standen in ziemlichem Gegensatz zu meiner und Anpans Unruhe, aber wir wollten die Sieben nicht mehr als nötig in unsere Suche nach den Spuren Niun-Meoas hineinziehen. Meine Verwirrung über die persönliche Begegnung mit ? (im Format Arminduo Emniunaos) hier vor Ort, die mich daran zweifeln ließ, ob nicht vielleicht ? mit uns Katz und Maus spielte und nicht wir mit ?, alarmierte überraschenderweise Estate – das ist bekanntlich die mit dem üppigen Äußeren, bei der man zunächst an so manches andere denkt als an ein kluges Köpfchen. Ohne viel Aufhebens hatte sie während unserer Reise ihre intuitiven Gaben mit Hilfe der NOSTRANIMA (deren entsprechende Fähigkeiten ja bekanntlich wiederum auf das telepathische Wissen Chicagos zurückgingen) fortentwickelt. Estate war, wie sich nun herausstellte, eine Meisterin darin geworden, aus dem ungeheuer dichten und stark interferierten Wellensalat, der ihr aus dem All entgegenkam, genau jene Signale zu filtern, die uns interessierten – diese zu verstärken und damit auch für ihre unmittelbare Umgebung wahrnehmbar zu machen, bedeutete ein Leichtes für sie.
Und so hörten wir den richtigen Niun-Meoa (statt dieses harmlos scheinenden alten Herrn) „sprechen”, obwohl das eine völlig unzureichende Vereinfachung der Realität war, denn als Wesen, das in vier Dimensionen existiert, konnte ? sich entlang der Zeitachse quasi mit sich selbst unterhalten. Es war dies bei ? kein pathologisches Phänomen, wie man es bei uns Menschen in diesem Fall gern unterstellt, sondern ergab sich aus ?s strukturellen Besonderheiten. Aus dem jüngsten abgehörten Gespräch war zu entnehmen, dass ein Teil von ? darüber spekulierte, sich an den Erdbewohnern endgültig zu rächen, und zwar indem ? diese komplett ausrottete, noch bevor sie das mit der ihnen eigenen destruktiven Phantasie selbst besorgten (wofür es ja genügend klare Anzeichen gab). Und es machte – so das Argument – natürlich weit weniger Spaß, bei diesem Vorgang bloß zuzusehen, als ihn aktiv herbeizuführen.
Wenn auch eines von ?s anderen Ichs zu bedenken gab, dass persönliche Rachegefühle – gegenüber der Rasse, die seinem geliebten Spielzeug, den Echwejchs, eine so vernichtende und blamable Niederlage bereitet und ? selbst das Wohlgefühl einer großen, wenn auch indirekten Verehrerschar genommen hatte – ? nicht ziemten, und empfahl, selbst angesichts der Niederlage ein wenig mehr Sportsgeist zu zeigen, hörte die Mehrheit von ?s Bewusstseinstruppe nicht darauf. Sie schwor sich auf die ihrer Ansicht nach verdiente und dadurch berechtigte Auslöschung jenes Planeten und all dessen, was dazu gehörte, ein. Aber der Störenfried, der da mitten in diesem Stimmenkonzert dissonant Besonnenheit predigte, gab nicht auf und fand auch prompt Unterstützung.
NIUN-MEOA VERNUNFT:
Wir haben uns doch als Arminduo Emniunao bei unseren ausgiebigen Besuchen auf der Erde ein ganz gutes Bild von dort gemacht. Sicher ist vieles dort anders als auf dem Planeten Amnor, der Heimat des Schwanenvolkes, das wir zu intelligenten Wesen gemacht haben – aber so grundverschieden von diesen sind die Erdlinge auch wieder nicht, dass man ihnen allzu große Vorwürfe machen könnte. Vor allem muss man ihnen das Recht zugestehen, sich der Aggression der Echwejchs zu erwehren, wobei sie zunächst ohnehin relativ ungeschickt agiert haben. Mit den Erfindungen dieser Anastacia Panagou war ihnen dann allerdings das geeignete Mittel in die Hand gegeben.
NIUN-MEOA RACHSUCHT:
Aber darum geht es gar nicht! Ich finde, man kann es nicht auf sich beruhen lassen, dass eine subalterne Erdenfrau der Echwejch-Herrscherin Machwajch, der legitimen Nachfolgerin des ersten Schwanenregenten Hejchwejch, der einst von uns persönlich installiert wurde, in einem grausamen Ritual den Garaus gemacht hat! Und mehr noch: Wir können es schon gar nicht tolerieren, dass ein simples 3D-Wesen sich mit uns, die wir auch der vierten Dimension gebieten, anlegt!
NIUN-MEOA SENTIMENTALITÄT:
Wir sollten aber auch noch andere Facetten unserer komplizierten Beziehungen zu den Menschen beleuchten. Immerhin haben wir uns in ein Musikstück dieses Oleg Strekalov verliebt, weil dieses so sehr das unsere ist, passend zu unserer fallweisen physischen Ausprägung als brasilianischer Cavalheiro, auch wenn dort, wo wir in uns selbst ruhen, ganz andere, nämlich sphärisch verzerrte Töne vorherrschen.
NIUN-MEOA WUT:
Gefühlsduselei bringt uns hier nicht weiter! Wo war denn unser Mitleid, als wir den armen Hejchwejch im Zuge unseres Evolutionsprojekts zu Tode brachten, weil wir ihn noch zu einem Zeitpunkt als geringwertiges Versuchstier ansahen, als er sich schon in ein intelligentes Wesen gewandelt und längst seine neugebildete DNS mit dem künstlich erzeugten Gen, auf das es uns ankam, an seine Nachkommen weitergegeben hatte? Und warum sind wir denn nicht unmittelbar danach, was uns ein Leichtes gewesen wäre, auf der Zeitachse jenen Schritt zurückgegangen, der den Mutanten wieder zum Leben erweckt hätte? Warum warfen wir stattdessen seinen Kadaver achtlos auf den Müll?
NIUN-MEOA LEIDENSCHAFT:
Dennoch sind wir zu Emotionen fähig! Wer hat denn als sensibler und teilnahmsvoller Berater der Gräfin Geneviève auf Schloss B. gelebt, zur Komtesse Clio sogar eine tiefe Zuneigung wie zu einer Tochter entwickelt? Wer hat brillante Skizzen angefertigt, die von nichts anderem handelten als der Glut der Begierde, der Erotik, der Ekstase sogar?
NIUN-MEOA SACHLICHKEIT:
Freilich so gesehen…
NIUN-MEOA SINNENLUST:
Gut, so wollen wir…
NIUN-MEOA ERREGUNG:
Verdammt…
NIUN-MEOA WARMHERZIGKEIT:
Komm…
NIUN-MEOA OPTIMISMUS:
Ja…
NIUN-MEOA SCHÜCHTERNHEIT:
Schon…
NIUN-MEOA EIGENWILLIGKEIT:
Aber…
NIUN-MEOA NACHDENKLICHKEIT:
Wenn…
NIUN-MEOA DRAUFGÄNGERTUM:
Los…
NIUN-MEOA TOLERANZ:
In erster Linie…
NIUN-MEOA SKEPSIS:
Vorläufig…
NIUN-MEOA TECHNIK:
System overload. Secured mode. – 4A7A0B 0E4D61 5874CF 80CB15 424EEE 71ECD3 4E8810 6E1659 0125F6 743D35 6ECB54 725A3A 12180D 6A538D 265374 28C63B 788EC6 6898F3 96005E 565E64 641265 3E290E 70E892 175BDD 1340DD 05165 323A61 63C95D 3F3571 627CCF 0537F5 74D4D4 4DF4E1 17ACAC 0E572B 7CB07B 6E3A3F 941547 1FA595 58D02A 763B70 29447 0DFA7A 49CA11 84FFB9 2EDC3D 89D8DB 4D3E78 3E4DB0 2A4C45 44C2F3 83521E 2521F0 5FF6F1 89B277 3C9D5C 1A2B0B 75F29E 79DA87 53B30B 477D78 6618E2 09D365 34F4E4 4FAE88 49C29B 5F7B13 6396D4 7426E3 603FA9 6036A8 092128 0CF2E2 0888CB 7C1CF3 78D316 605FA2 4D60C9 7EB697 4AB360
Was bedeuten diese Daten, die Estate für uns hörbar macht? fragte ich meinen elektronisch-telepathischen Raumkreuzer.
DIE NOSTRANIMA:
Sie zeigen, dass wir ? jetzt am Schlafittchen haben, nicht durch unsere Raffinesse allerdings, sondern durch ?s eigene Koketterie, mir der ? sich gefällt, in einer 3D-Umgebung in vielerlei t-Variationen zu existieren. Im Moment aber hat ? sich infolge seiner Überlastung in den 4D-Koordinaten verheddert, ist demzufolge an einem bestimmten Punkt zu einer bestimmten Zeit fixiert und dort bequem anzutreffen, anders als in seiner sonstigen extrem flüchtigen Beschaffenheit.
[ Grafik 608 ]
Die NOSTRANIMA hatte Estates Zahlengeplapper bereits analysiert und an einer bestimmten Stelle einen immanenten Fehler in Niun-Meoas Programm entdeckt, der erstens den Mythos von ?s Vollkommenheit (die ? jedenfalls gegenüber uns dreidimensionalen Kreaturen vor sich hertrug) zunichte machte und zweitens konkret die Möglichkeit eröffnete, ? für uns erreichbar zu machen, sodass wir ? deaktivieren konnten.
DIE NOSTRANIMA:
Wie damals – ebenfalls hier auf VIÈVE –, als ich mich auf Befehl der Walemira Talmai lang und dünn wie eine Bogensaite machte (um das zurückzuholen, was Clio und die anderen Halbblütigen, die an der Trennung der beiden Universen beinahe zugrunde gegangen waren, wieder in Menschen verwandelte) werde ich das Gleiche jetzt für dich tun, damit du dich rasch und gewandt Niun-Meoa nähern kannst, um ihn auszuknipsen. Damit wäre dann unsere aktuelle Mission erfolgreich beendet!
Ich kam gar nicht zum Nachdenken. Der Raumkreuzer befördert mich im Nu genau vor dieses seltsame Wesen, von dem wir mittlerweile verstanden, dass es sich um eine Art Super-Androiden handelte – wer immer ihn auch geschaffen haben mochte. Wer mich kennt, kann sich vorstellen, dass ich von unbändiger Neugier ergriffen wurde.
Die Situation war denkbar pikant. Ich – die Henkerin Machwajchs, der Schwanengebieterin – verharrte in einem für die menschliche Sprache unbeschreiblichen Zustand vor dem Urheber der Echwejchs als intelligenter Gattung: verhasst, weil ich sein Marionettentheater zerstört hatte. Allerdings war Niun-Meoa derzeit außerstande, etwas gegen mich zu unternehmen – ja mehr noch, es lag vielmehr in meiner Hand, ? auf Dauer zu neutralisieren.
Aus den dünnen Nebelschwaden, mit denen sich das Wesen undeutlich manifestierte, trat mir flackernd die eine oder andere von den Persönlichkeiten, denen wir vorhin zugehört hatten, entgegen. Vor allem aber erschien mir auf- und abschwellend das Bild des alten Herrn, das mich milde stimmte…
DIE NOSTRANIMA:
Was ist los mit dir? Ich kann mich in dieser Lage nicht mehr sehr lange stabil halten! Beseitige endlich diesen Programmblock 7C1CF3, sodass ?s gesamtes System nicht mehr gestartet werden kann!
Tatsächlich schob sich aus dieser Wolke nun plötzlich eine fremdartige Hardware in mein Blickfeld, was mich in die Lage versetzte, eine Eingabe zu machen. Eine Ahnung, die mir im selben Augenblick vermittelt wurde, war jedoch von einem ganz anderen Appell getragen als dem der NOSTRANIMA – man konnte es ein Ersuchen nennen, vielleicht sogar eine flehentliche Bitte…
Ich korrigierte, was ich aufgrund meines Fachwissens als Fehler erkannt hatte, indem ich statt C1C D2D eingab. Okay! rief ich dem Raumkreuzer zu und ließ mich auf die Station zurückholen. Ich versuchte, meine Handlungsweise vor den bemerkenswerten Erkenntnisfähigkeiten meiner künstlichen Geschöpfe zu verbergen, denn sie würden das kaum verstehen: Ich hatte Niun-Meoa repariert.
609
Sir Basil brillierte wieder einmal (wie so oft dort, wo’s gar nicht nötig gewesen wäre, weil er damit keinen praktischen Wert erzielte). Quintus Rubellius Taurus, den ich kraft meiner Vollmachten zum kommandierenden Offizier von Cheltenhams Leibgarde ernannt hatte, wusste selbstverständlich inzwischen, dass sein Chef gut in Latein war, aber da die Sprache in dessen Zeit nicht mehr lebend gesprochen wurde – wie der Centurio bereits vor längerem zu seinem größten Bedauern festgestellt hatte –, ging er ebenso wie bei mir, seinem direkten Vorgesetzten, wohl eher von passiven Lesekenntnissen des Baronets aus. Wie groß war also sein Erstaunen, als er eines Tages in seinem Sermo patrius angesprochen wurde…
Der Baronet hatte ihn rufen lassen – in sein privates Arbeitszimmer, das der Centurio bis dahin nur einmal hatte betreten dürfen, um sich im Rahmen seiner Aufgabe auch dort einen allgemeinen Überblick zu verschaffen. Damals registrierte er bloß in aller Eile ein Etwas, das mit einem kostbaren schwarzen Tuch bedeckt war und dessen Identität ihm daher verborgen blieb. Diesmal aber stand sie unverhüllt und strahlend im milden Licht eines Herbstnachmittags vor uns: die Figur der kleinen Venus, der – abgesehen vom Befehl des Scipio, Sir Basil zu dienen – seine Männer und er selbst voll Sehnsucht gefolgt waren, ohne sie bis jetzt tatsächlich zu Gesicht zu bekommen. Taurus war überwältigt von ihrer realen Schönheit, die jene seiner Träume bei weitem übertraf.
SIR BASIL CHELTENHAM:
Ecce, o Centurio! Tamquam si summus deus descendisset ad Aegaei litorem maris et creavisset ex aestus spuma hanc feminam formosissimam! Ipsa dea, adhuc ad unum omnes vicit splendore amoroso suo, conturbavit eos lascivia sua, effascinavit eos flagrantia sua. Sempiterne solebat hominibus dicere, ut per eos pararent labia sua: quis eorum suavisaviationem hauriret, huius oculi aperiuntur pro felicitate ingenti et ipse erit sicut divinitas.
Taurus glotzte den Baronet blöde an – leider muss ich das derart respektlos sagen: Er war überrascht und ergriffen zugleich. Er beugte das Knie, was er bis jetzt vor niemandem außer dem großen Caesar getan hatte, streckte den Arm zur Salutatio Romana (womit er Cheltenham ungewollt an die faschistischen Diktatoren erinnerte) und brüllte (so laut, dass der britische Gentleman vor ihm sichtlich zusammenzuckte): „Ave Domine, ave Imperator!”
SIR BASIL CHELTENHAM:
(tippt mit einem Finger an die Stirn – ein lässiger militärischer Gruß, wie er einem höheren Offizier in Zivil gestattet sein mag) Sta commode, Centurio!
Der Angesprochene reagierte nicht, sodass ich mich als sein Brigadier schon veranlasst sah, ihm ein wenig Dampf unterm Hintern zu machen. Aber der Baronet bedurfte solcher Unterstützung nicht – mit einer solch trivialen Situation wurde er quasi im Vorbeigehen fertig.
SIR BASIL CHELTENHAM:
O lares, o penates! – Stato commode, Centurio! Iubeo te!
Jetzt endlich kapierte Taurus, was man von ihm wollte. Er erhob sich und vollzog genau die in der römischen Heeresdienstvorschrift beim Stichwort „Rührt euch!” vorgesehenen Bewegungen: „Secundum imperium ‚Agite!’ legionarius pedem sinistrum profert decem digitis ad sinistram et ambas manus ponit ad tergum.”
Als der Centurio in dieser Stellung verharrte, konnte man deutlich erkennen, wie sich seine Militärtunica (von Sir Basil insgeheim als Kilt bezeichnet) unterhalb des Cingulums nach vorne wölbte.
SIR BASIL CHELTENHAM:
(sarkastisch) Homo verus omnia sua semper secum portat!
Das Geschniegelte, das die Kampferprobtheit und körperliche Härte des Quintus Rubellius Taurus unentwirrbar durchzog, ließ ihn erröten.
„Miles enim verus ac virilis
fru?itur nihil umquam sin’inferis!”,
versetzte er, indem er den Ansatz des Baronets zielsicher als Colloquium convivale identifizierte, und das bedeutete, gegenüber dem Vorgesetzten weiterhin respektvoll zu bleiben, aber mit augenzwinkernder Vertraulichkeit unter Männern.
Und diese funktionierte offenbar selbst über die Entfernung von Jahrhunderten. Was ich Taurus schon einmal zu erklären versuchte, damals bei seinem ersten Auftauchen in Wien – dass das Leben für mich bloß eine ständige Kreisbewegung sei, nicht jene vektorenhafte, womöglich auf ein präzises Ziel gerichtete Daseinsform, wie er sie sah – drängte sich mir erneut auf. Die beiden hier hatten, reduzierte man sie um ihre kulturspezifischen Merkmale, ohne größere Unterschiede dasselbe im Sinn wie alle Männer seit urdenklichen Zeiten: die Jagd nach der geeigneten Frau, um ihre Gene optimal zu reproduzieren. Das war es, was sie (und auch mich, nebenbei bemerkt) antrieb, da mochten wir uns vormachen, was immer wir wollten, uns sublimere Beweggründe zurechtlegen, so viele wir nur erfinden konnten.
Das war es, was Cheltenham, den Centurio und seine Legionäre (und auch mich, wenn ich ehrlich bin) nach dieser kleinen Venus gieren ließ. Das war es letztlich auch, was den Künstler, der sie geschaffen hatte, bewegte – diesem Trieb verlieh er in einer so magnetischen Weise Ausdruck. Über einen ungeheuren Zeitgraben hinweg teilte er uns mit, dass nichts sich jemals ändern würde: Nicht dieses sexuelle Verlangen und auch nicht die Tatsache, dass wir aßen und tranken und schliefen und vielleicht sogar einmal jemanden umbrachten – nur das Wie würde allenfalls ein anderes sein. Cheltenham würde zur Pistole greifen, um zu töten, Taurus zu seinen antiken Waffen, aber die Abweichung war lediglich technologisch, betraf nicht das Wesen ihrer Person.
SIR BASIL CHELTENHAM:
Adoremus Cytheream, Domini!
Dem Centurio wurde warm ums Herz, als er das zu seiner Zeit allseits bekannte Synonym für die Venus hörte – die in Cythera verehrte Göttin. Wie wir uns allerdings vorstellen können, brachte dieses Wort noch eine andere Saite in ihm zum Erklingen, war es doch der Künstlername der hibernischen Häuptlingstochter, die ihm und seiner Truppe im nunmehr so fern erscheinenden Britannien viele schöne Stunden bereitet hatte, und diese bewahrte er als kostbare Erinnerung, selbst wenn es seine eigene Entscheidung gewesen war, dort nicht mehr länger zu bleiben.
SIR BASIL CHELTENHAM:
Amemus eam Cytheream, nam aliter ac soles occidere et redire potentes nobis pauperibus nox est perpetua una dormienda, cum semel occidit brevis nostrae vitae lux. Pone nos, o Venus, ubi pigris campis nulla arbor aestiva recreatur aura, pone nos in terra domibus negata, attamen amabimus te dulce ridentem, dulce loquentem. Non nobis mille placent, non sumus desultores amoris: tu nobis, siqua fides, cura eris perennis. Aliquando volumus te dolente mori.
Täuschte ich mich, oder lächelte die kleine Figur aus weißem Marmor ein wenig. Wundern würde es mich ja nicht, wenn ich daran dachte, dass Sir Basil bei dieser seiner Rede mehr als kräftige Anleihen bei Catull, Horaz und Ovid genommen hatte. Das Erstaunliche daran war jedenfalls, dass er in der römischen Liebeslyrik genauso zuhause war wie im „Bellum Gallicum”, wobei jene im Gegensatz zu diesem nicht in Sandhurst gelehrt worden war. Möglich, dass ein ebenso begnadeter wie entfesselter akademischer Lehrer in Eton dafür verantwortlich war, denn irgendjemand musste ja den Baronet in relativ jungen Jahren darin gedrillt haben, das Lateinische quasi fließend zu sprechen – in einer damals schon feindlichen Umwelt, die den Wert dieser als tot erklärten Sprache entschieden in Abrede stellte.
Sei dem wie dem sei, beim Exercitus Romanus, der nach einem marginalen Privatschulbesuch für unseren Quintus Rubellius maßgeblichen Ausbildungseinrichtung, dürfte (ebenso wie auf der österreichischen Militärakademie, die ich selbst absolviert habe) lateinische Poesie jedenfalls kein Thema gewesen sein, wobei ich dem Centurio aber immerhin voraushatte, im Gymnasium davon zu hören. Wenn er auch die mehr oder weniger wörtlichen Zitate der drei klassischen Autoren nicht erkannte, bewegten sie doch sein Gemüt und erwiesen damit ihre über ein rein philologisches Interesse hinausgehende Allgemeinverbindlichkeit. Sie schienen ihm tatsächlich – und das verband mich in dieser Situation mit ihm – die Venus (und zwar sowohl die Idee von ihr, als auch die konkrete Ausformung hier vor uns) zu symbolisieren und sein Wohlgefühl zu verstärken.
SIR BASIL CHELTENHAM:
Ergo ito, o Centurio! Narra legionarios tuos de pulcherrima muliere lapidea et affirma eos desiderium suum completum esse.
Taurus erlaubte sich noch eine einzige Frage, obwohl er zurecht annahm, dass er sich nun schleunigst zurückziehen sollte. Er wollte wissen, ob auch seine Männer die Venus von Angesicht sehen durften. Cheltenham hob als Antwort bloß erstaunt die linke Augenbraue. Das fehlte ihm noch, dass der ganze Verein hier in sein Privatbüro trampelte!
Sein oberster Leibwächter erwies sich als geschmeidig: „Vera sentis, o Eminentissime – cimices sunt, ratti, indigni imaginem spectare e propinquo.” Und an dieser Stelle erlaubte er sich sogar einen eleganten Seitenhieb auf Sir Basil respektive dessen aphroditische Euphorie: „Nesciunt enim historiam ortus Veneris saevam esse. Saturnus exsecavit Uranum patrem suum et coniecit organa eius genitalia in mare. Sanguis semenque miscuerunt cum aqua, quae magnas spumas egit et peperit deam.”
Plötzlich flog die Tür auf und knallte gegen die Wand. Ehe es wir uns versahen, rief jemand laut „Surgite manus!?
Ich tat’s, zu meiner Schande, Cheltenham nicht, aber das erklärte sich gleich darauf aus der Tatsache, dass er das Ganze inszeniert hatte. Der Centurio Quintus Rubellius Taurus jedenfalls zeigte die von ihm erwartete Tapferkeit: Er flog mit blitzschnell gezogenem Schwert herum, nicht achtend seiner noch immer starken Erektion, und stellte sich schützend vor die kleine Venus, offensichtlich bereit, sie mit seinem Leben zu verteidigen.
Der Baronet, unser Staatsoberhaupt, war’s zufrieden, denn das schien es gewesen zu sein, was er sehen wollte.
SIR BASIL CHELTENHAM:
Ad me defendum multi, haec pulchritudo aeterna solo Tauro sit defenda!
Sprach’s und entfernte sich (fast war man versucht, den Chronisten zu spielen: His rebus confectis Basilius proficiscitur).
Ich aber wollte Taurus unbedingt auf den Teppich zurückholen. Können Sie auch in die Zukunft reisen, genau wie Sie es mir mit der Vergangenheit gezeigt haben? fragte ich provokant. Den Blick starr auf die kleine Venus gerichtet, verschränkte er stolz seine Arme und verschwand wortlos. Als er nach wenigen Augenblicken wieder erschien, wirkte er extrem verstört. Ich beschloss, nicht weiter in ihn zu dringen und komplimentierte ihn jetzt eiligst aus PRIMEs privaten Arbeitszimmer, in dem wir in Abwesenheit des Cheltenhams eigentlich nichts mehr verloren hatten.
610
Gottlob war Else nicht auch noch blond, jedenfalls soweit ich mich als Erzähler (der ehrlich gesagt, schön langsam den Überblick über all diese persönlichen Details verliert) erinnern kann. Denn wir haben in dieser Geschichte ja eine Invasion von Blondinen, allen voran natürlich Trudy mit ihren Freundinnen Amy und Pussy…
BRIGITTE:
Halt – wenn es schon um einen Platz allen voran geht, würde ich größten Wert darauf legen, selbst als Erste genannt zu werden!
Pardon, meine Liebe, aber du hast dich eigentlich selbst etwas in den Hintergrund geschoben, indem du es ablehntest, nach deiner Funktion als quasi-anonyme Mitverfasserin von NOSTRANIMA deinen Namen auf die Titelseite von BERENICE zu setzen. Selbstverständlich habe ich bei ANASTACIA diesbezüglich gar nicht mehr gefragt. Ansonst hättest du ja schon im ersten Satz auf die wesentliche Tatsache verweisen können, dass du blond bist!
BRIGITTE:
Du meinst, ich hätte schreiben sollen: Ich bin blond, na und? Dich, Johannes, meinen Lebensmenschen, hat es nicht gestört und auch nicht meinen Mann Romuald (der nebenbei gesagt, beim Umsetzen seiner sexuellen Energie überhaupt nicht auf irgendwelche Klischees fixiert war). Andere aber waren sogar hellauf begeistert von mir: Leo Di Marconi zum Beispiel oder der Frauenheld Julio Sanchez-Barzon. Die beiden schätzten es überdies besonders, dass ich überall blond bin und nicht nur oben am Kopf wie viele prominente Ladies.
Jedenfalls hättest du dich ohne weiteres an die Spitze all unserer Blondinen hier – echt oder unecht – stellen können, zu denen ja auch noch Sharon Sakamoto, Natalia Petrowna, die liebe Miss Wasserstoffsuperoxid und die Androidin Primavera (jedenfalls in ihrem ursprünglichen Kalibrierungszustand) zählten, DDD natürlich nicht zu vergessen, und schon gar nicht die Komtesse Clio Alexandrine Andromède Annette Aphrodite von B., nunmehrige Freifrau von E.
BRIGITTE:
Eigentlich sollte es aber jetzt wieder um Else gehen!
Ja, stell dir vor, Horst, die Dumpfbacke, fragte sie – nachdem sie ihm ohnehin schon des Langen und Breiten die verschiedensten Details ihres früheren Berufs geschildert hatte – eines Tages glatt, ob sie denn als Hure alles gemacht hatte oder ob es für sie Dinge gab, die tabu waren. Was ihn bewegte – wer weiß das schon: Ich selbst kenne ihn ja quasi nur vom Sehen (um nicht zu sagen, vom Wegschauen), als Anhängsel DDDs, dessen sich die Gute auch prompt eines Tages entledigte.
Mag sein, dass dieser Kerl, wenn er schon exklusiv für den weiteren Unterhalt Elses aufkam – denn de facto war er ja noch immer ein Freier für sie, wenn auch ihr einziger –, das Gefühl hatte, sie enthielte ihm physisch etwas vor, in dessen Genuss andere in der beträchtlich langen Reihe vor ihm mutmaßlich sehr wohl gekommen waren. Denn eine Krämerseele war er zweifellos (sonst hätt’ er es wahrscheinlich nicht in der Sozialversicherung ausgehalten, wo er jahrelang kontrollierte, ob jemand, der sich krank gemeldet hatte, wirklich darniederlag), und das änderte sich auch dann nicht, als er durch DDDs Eskapaden zu unverhofftem Reichtum kam, obwohl er dabei ziemlich zum Narren wurde.
Vielleicht war ihm ja auch seine Neue, die ihn aus dem Rotlichtbereich ihres Fuchsbaus hinübernahm in ihre bürgerliche Bleibe, dort drüben doch zu wenig nuttig, nachdem ihm anfangs das Biedermeierliche ihres Lebensstils durchaus zugesagt hatte. Wie gesagt, die Reizwäsche war eingemottet, die Fetische ebenfalls, die grellen Farben und Formen blieben in der nunmehr abgeschlossenen Lasterhöhle. Einzig die einschlägige technische Gewandtheit konnte Else nicht ablegen, aber genau an diesem Punkt begann sich irgendwann Horsts Unbehagen zu entzünden: Klar, sie funktionierte perfekt beim Sex, aber wenn sich dabei in seiner Phantasie blitzlichtartig so richtig schweinische Bilder bemerkbar machten, ging sie nicht mit, obwohl sie wahrscheinlich mehr als eine gewöhnliche Partnerin ahnen konnte, was das in ihm ablief.
Else beschloss, angesichts der Tölpelhaftigkeit seiner Provokation geduldig zu sein: „Ich habe, um das endlich ganz klarzustellen, außer dem Zungenkuss praktisch alles gemacht, denn ich dachte, wenn eine Frau schon so weit kommt, sich zu verkaufen, dann wäre es doch paradox, das nicht bis zur letzten Konsequenz zu tun!”
BRIGITTE:
Und wie war das dann mit der Seele?
Die Seele war dennoch nicht einbezogen (uns hat es Else ja verraten), denn sie hatte eine für dich und mich unvorstellbare Fertigkeit erlangt, ihr Innenleben geradezu meditativ von all diesen Prozessen abzulösen, und wenn sie körperlich so richtig zur Sache ging, war sie da drinnen gewöhnlich weit weit fort.
„Viele Möglichkeiten der Penetration gibt es ja im Prinzip nicht.”, dozierte Else (und Horst staunte dazu), „Dass dieser Vorgang dennoch als derart variantenreich erlebt wird, liegt bloß an der Vielfalt der Stellungen, multipliziert mit den zahllosen Abwandlungen der Ausstattung mit Kostümen und Kulissen. Das meiste davon habe ich, so weit ich sehen kann, durchexerziert, denn wenn so ein Typ einen bestimmten Wunsch äußerte, wurde ihm dieser erfüllt – war nur eine Frage des Preises!”
„Bis auf den französischen Kuss, Alte!”, bemerkte Horst lakonisch, nur um eine Antwort zu erhalten, die ihm gar nicht schmeckte: „Keinerlei Nachfrage während meiner ganzen Karriere, Schatz! Du warst geradewegs der Erste – wie gut daher, dass ich es bei dir gerne mochte!” Wie schon früher verschwieg er ihr – die das Eindringen seiner Zunge bereitwillig zuließ – auch jetzt beharrlich, dass er jene Szene ganz anders angedacht hatte.
[ 2 Zeilen Durchschuss ]
Eines Tages, längere Zeit nach diesem Gespräch, als Horst gerade beim schönsten Rammeln war (das sind übrigens seine Vokabeln, Brigitte, nicht meine) und versuchte, bei seiner Witwe, die weder seine war, noch die eines anderen, etwas härter ’ranzugehen, um mehr Reaktion als sonst aus ihr ’rauszuholen, klappte er über ihr zusammen – einfach so: Steckte noch in ihr drin, bewegte sich aber nicht mehr.
Wie soll man das jetzt taktvoll schildern? Else entledigte sich also des leblosen Körpers, brachte rasch ihr Äußeres in Ordnung, danach seines. Es gelang ihr, ihn in eine sitzende Stellung zu bugsieren, und er saß da, in sich zusammengesunken, ganz als ob ihm das Ganze beim Fernsehen zugestoßen wäre. Else vergaß nicht einmal, das Gerät einzuschalten, bevor sie den Rettungsdienst verständigte: Alles sollte recht friedlich aussehen. Auf der Fahrt ins Krankenhaus saß sie neben ihm, und als er endlich wieder die Augen öffnete, legte sie unmerklich den Zeigefinger auf die Lippen, denn sie sah voraus, dass er drauf und dran war, vor den Sanitätern Unsinn zu quatschen.
BRIGITTE:
So weit wir wissen, war er bei der Anamnese bereits wieder guter Dinge, schäkerte mit der jungen Ärztin, die sein Krankenblatt eröffnete. Es erheiterte ihn zutiefst, dass er angeben sollte, wie er hieß, wann geboren, wo wohnhaft, welches Datum heute war – ganz zu schweigen von lustigen Spielchen, wie mit weiter Geste auszuholen und dann zu zeigen, ob er mit dem Zeigefinger zielsicher seine Nasenspitze treffen konnte. Und er machte sich sogar ein wenig lustig über die Anmerkungen zu seiner Person, indem er diese mit pathetischem Ton wiederholte: „Patient bei der Aufnahme in mäßig gutem Allgemein- und adipösem Ernährungszustand (180 cm, 103 kg). Normale Atmung und klare Bewusstseinslage. An Caput und Collum keine wesentlichen Auffälligkeiten. Bei der klinischen Untersuchung der Thoraxorgane über der Lunge Vesikuläratmen und sonorer Klopfschall. Herzaktion rhythmisch und normokard mit reinen Herztönen. Weiche Bauchdecke ohne pathologische Resistenzen. Leber am Rippenbogen, Milz nicht palpabel. Keine Succussio renalis und kein Lumbosakralödem. An den unteren Extremitäten spurweise Beinödeme sowie ausgeprägte Varikositäten, Fußpulse tastbar, grobneurologisch keine Auffälligkeiten.”
So sehr man die Untersuchungen im Detail fortsetzte, es ergab sich nichts, was diesen Betriebsunfall wirklich erklären konnte. So behielten sie Horst noch einige Tage zur Beobachtung, während derer ihm sein Mitbewohner im Krankenzimmer ununterbrochen die Hucke vollquatschte. In seiner Not gab er vor, lesen zu wollen – für seine Verhältnisse eine sehr ungewöhnliche Ausrede, und zum Glück hatte ihm Else tatsächlich ein Buch in seine Reisetasche gepackt, BERENICE von Johannes Themelis: Darin fand er sich zu seiner größten Überraschung selbst wieder!
Am Ende holte ihn seine Freundin wieder nach Hause. Zu ihrem „Servus, Goldener!” betrat er die Wohnung, und obgleich er wusste, dass dies die klassische Ansprache von Wiener Huren für ihre Kunden war, fühlte er doch Zuneigung darin, zu seiner Überraschung, aber auch zu unserer, muss ich gestehen, denn mein Leben lang frage ich mich, was manche Frauen an manchen Männern finden (und vice versa, Brigitte, wenn du unbedingt willst).
Einerlei – beider Alltag nahm wieder sei¬nen gewohnten Gang. Allerdings merkte Else, dass Horst im Umgang mit ihr sehr vorsichtig geworden war. Sicher schien ihr jedoch nicht, ob die Ursache dafür seine Angst vor einem neuen körperlichen Aussetzer war – oder eher die Besorgnis, eines Tages noch mehr Einzelheiten über seine intimen Gepflogenheiten in so einem verdammten Buch veröffentlicht zu sehen…
611
Alles schien wieder im Lot: Meine Tochter Clio kehrte zu ihrem Mann zurück, und Max postwendend zu mir. Sein Opus Magnum mit dem Titel „Goethe war auch in Libyen” – selbst als Zettelkasten mit Rohentwürfen sattsam bekannt durch seine Umtriebigkeit – legte er mit plötzlichem Entschluss und ohne weiteres Aufsehen zur Seite, einerseits weil er seit geraumer Zeit keine neuen Quellen zur Unterstützung seiner These hatte finden können, andererseits und vor allem aber weil eine neue, weit monumentalere Idee von ihm Besitz ergriffen hatte – eine umfassende komparative Literaturgeschichte aller Völker der Erde! Er gedachte dabei die wesentlichen figuralen Archetypen und das Destillat von deren elementaren Motiven herauszufiltern (so anspruchsvoll jedenfalls formulierte es das Vorwort des Werkes, das immerhin schon vorlag). Und es hieß dort weiter – aber diese Zeilen hielt Max vorerst streng unter Verschluss –, es habe sich seit dem ersten Gedanken daran in ihm die Perspektive verfestigt, dass in dem Moment, in dem es gelänge, diese Chronik (die ja de facto die maßgeblichen Strukturen des Daseins offenlegen müsste) fertigzustellen, das Ende der Welt nahe wäre.
Seit Max bei mir eingezogen war, hatte ich naturgemäß mehr Einblick in diese Dinge, denn er fühlte sich auf unserem Schloss B., abgesehen von gelegentlichen Ausflügen, augenscheinlich so wohl, dass er eine ganze Fülle seiner literarischen Unterlagen in das für ihn eigens eingerichtete großzügige Studio transferierte und dort – abweichend von seinem früheren Misstrauen gegenüber jedermann – ungeschützt herumliegen ließ. Wir sprachen auch viel über seine Arbeiten, und ich gewann den Eindruck, in die Grundlinien seiner Persönlichkeit eingeweiht zu sein. Selbst jene nicht unproblematische Mutmaßung über das Ende der Welt eröffnete er mir als Einziger, und ich wurde nicht müde, ihn um eine Definition dessen zu bitten, was wir denn hier genau unter „Welt” zu verstehen hätten: Schließlich war ich im Lauf meines Lebens mit verschiedensten mehr oder weniger abstrakten Ausprägungen dieses Vorstellungsinhalts konfrontiert worden – einmal mit dem Kosmos als ganzem (nehmen wir dies einmal pragmatisch als Oberbegriff für alles Seiende), dann aber auch mit den Phänomenen des diesseitigen und des jenseitigen Universums, schließlich (und für mich von nicht geringer Bedeutung) die Tatsache, dass es hundert Jahre verschoben auf der Zeitachse eine Realität mit meinem Alter Ego in Person Mango Berengas gab, mit der ich nach wie vor gedanklich kommunizierte (wobei wir beide von dieser Art Kontakte nicht unbedingt groß herumerzählten).
DREHBUCHAUTORIN CLAUDETTE WILLIAMS:
Dobrowolny versuchte tatsächlich, der Gräfin das Gefühl zu geben, er sei schlicht und ehrlich für sie da, und er glaubte meines Erachtens auch selbst daran, obwohl er ihr trotz seiner neuen Informationsfreudigkeit mehr verschwieg, als er ihr offenbarte. Bei ihm versteht man das sogar bis zu einem gewissen Grad, denn rein mechanisch zog er sich in den jeweiligen Facetten seines Agentenberufs strikt auf die jeweilige Legende zurück – alles andere wäre wohl auch im Ernstfall fatal verlaufen. Bei diesem konkreten (und zugegebenermaßen an seine wahren Interessen sehr angepassten, nicht direkt ein Spionageziel anpeilenden und damit geradezu behaglichen, aber natürlich dennoch fiktiven) Curriculum konnte seine Partnerin allerdings mühelos davon überzeugt werden, er sei, wer er war.
Je ne suis pas tel stupide. Natürlich war mir klar, dass er seine dunklen oder zumindest unbekannten Seiten hatte. Während er sich, obwohl wir uns ja körperlich fast täglich sehr nahekamen, im Normalfall sehr elegant verweigerte, wenn ich über persönliche, sehr intime Umstände sprechen wollte, war er äußerst bereitwillig, wenn es um allgemeine Themen wie eben das Ende der Welt ging.
DREHBUCHAUTORIN CLAUDETTE WILLIAMS:
Er illustrierte der Gräfin, was ihm vorschwebte, anhand der bekannten Story „The Nine Billion Names of God” – auf den ersten Blick faszinierend für alle Filmleute, obwohl wir, der ganze Haufen von Producers, Directors, Screenwriters und Actors, selbstverständlich wissen, dass die Sache auf der Leinwand öd und flach aussehen würde, und daher besser die Finger davon lassen. Es geht darum, dass ein tibetisches Kloster seit 300 Jahren damit beschäftigt ist, durch Niederschreiben sämtlicher neunstelliger Buchstabenkombinationen des Alphabets den einzigen wahren Namen des Erhabensten zu finden. Statt mühselig weitere 15.000 Jahre auf die gleiche Art weiterzumachen, bestellen sie sich einen Supercomputer, der die Arbeit in Nullkommanichts für sie erledigt und sie ihrem Ziel näherbringt: dass schließlich, wenn jener Name vorliegt, dieses Schöpferwesen seine Schöpfung liquidiert, weil diese nach Überzeugung der Mönche dann ihren Zweck – die Verherrlichung Gottes – erfüllt hat. Während die beiden Ingenieure, die den Computer unter großem Aufwand dort oben in der Bergeinsamkeit installiert haben, noch zu Tal reiten, wo ihr Flugzeug nach Hause wartet, hat das Gerät bereits sein Pensum absolviert. Die Geschichte endet demnach anrührend poetisch: „Overhead, without any fuss, the stars were going out.”
Ich verstand, was er mir damit sagen wollte: Wie die Mönche jenes Klosters, die unsere allgemein erfahrbare Wirklichkeit ihrem nur individuell zugänglichen Paradigma unterordneten und damit subjektiv beherrschten, so wollte auch er sein. Wie sie suchte er alles, was nicht in die selbstkonstruierte Lebensanschauung passte, auszuklammern (wohl wissend, dass er es dessenungeachtet durchstehen musste) und lediglich das als bewusst erlebt gelten zu lassen, was mit jener harmonierte. Das sattsam bekannte Dogma, dass das Geglaubte auch materialisieren wird, wenn man nur stark genug glaubt, das sich durch alle religiösen, politischen oder wissenschaftlichen Ideologien zieht, sollte ihm helfen, bis zum Schluss zu hoffen, er werde nach seiner Façon selig werden.
DREHBUCHAUTORIN CLAUDETTE WILLIAMS:
Wie schön dann, dass es Frauen gibt, die bereits sind, einem Mann mehr oder weniger bedingungslos in sein ureigenes Paradigma zu folgen, unter Preisgabe dessen, was sich auf diesem zuinnerst geschauten Feld bei ihnen selbst herausgebildet hat! Da lobe ich mir doch Laura de Dubois, die mit Max Dobrowolny die Ehe auf der Basis nebeneinander bestehender, einander vielleicht berührender, ja teilweise sogar überschneidender, einander beeinflussender, aber niemals einander zerstörender Ideologien eingegangen war!
Ich wusste fast nichts über diese auch ohne diese Prämissen seltsame Ehe, deren Partner als Agenten über weite Strecken als Bruder und Schwester aufgetreten waren. Es konnte mir eigentlich auch gleichgültig sein…
DREHBUCHAUTORIN CLAUDETTE WILLIAMS:
Hear ye!
Ich suchte definitiv keine standesgemäße, legitimierte Beziehung mehr, denn damit war ich durch, j’ai assez. Angesichts einer für Außenstehende (und anfangs sogar für mich) inzestuösen Abhängigkeit von meinem Vater, einer für meine Umgebung quasi aus dem Nichts aufgetauchten unehelichen Tochter oder einer nicht ganz zu verheimlichenden lesbischen Verbindung mit Brigitte gab es ja wohl nichts, was meinen Ruf weiter beeinträchtigen konnte – im Gegenteil: Das Auftreten von Max in meinem Dunstkreis hatte sogar einen positiven Effekt. Insbesondere bei denen, die ihn persönlich kennenlernten, wurde ein gewisser Anspruch an Glamour erfüllt – die Liaison der exzentrischen Gräfin mit dem gewandt auftretenden und gut aussehenden, wenn auch (leider!) nur bürgerlichen Wisenschafter füllte die Spalten der Regenbogenpresse.
612
Was Giordano Bruno schon wusste, aber der Menschheit im Allgemeinen und der Wissenschaft im Besonderen für Jahrhunderte vorenthalten wurde, weil die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche es für nötig fand, den armen Teufel auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen: dass nämlich aus der Suppe des multidimensionalen Hyperraums immer wieder Blasen aufsteigen und platzen, und jede davon stellt den Urknall eines Universums dar; dass dies vor Ewigkeiten passiert ist, ebenso wie es genau jetzt passiert und auch in alle Zukunft passieren wird; dass es daher ältere Universen gibt als das unsere, jüngere und auch gleich alte und sogar Zwillingsblasen wie die Parallelwelt, die wir kennengelernt haben – all das wusste auch meine Berenice, zwar nicht aus wissenschaftlichen Quellen, sondern wegen der Gaben, die ihre geisterhaften Ahnen ihr in die Wiege gelegt und die Schamanen ihres Koori-Volkes bei ihrer Initiation weiterentwickelt hatten.
Sie wusste – selbst mit den psychologischen und psychopathologischen Kenntnissen, die sie sich in der westlichen Zivilisation angeeignet hatte –, nicht genau wie, aber sie konnte sich problemlos in sämtlichen Dimensionen bewegen. Darum war sie auch seinerzeit imstande gewesen, kraft ihres Wollens die diesseitige und die jenseitige Realität für kurze Zeit zu synchronisieren, um Geneviève von B. das Zusammentreffen mit ihrer in die Spiegelwelt entführten Tochter zu ermöglichen. Aufgrund dieser konkreten Erfahrung mit ihrem spirituellen Potenzial stand sie öfters in ihrem Leben (und sie wirkte dann auf ihre normale Umgebung völlig weggetreten) an der Kante zu einem Abbruch in die Unendlichkeit, und um sich an etwas festzuklammern, suchte sie weitere Anwendungen ihrer spezifischen Gaben wenigstens theoretisch auszuloten. Nicht zuletzt beschäftigte sie sich mit der Frage, ob es einen Weg aus einem möglicherweise bevorstehenden Desaster dieser Welt geben könne – eine Flucht aus diesem Universum in ein anderes, später entstandenes oder vielleicht ein Zurückdrehen des Raum-Zeit-Nexus an einen früheren Punkt unserer Realität, was ihr als die gefälligere Option erschien.
DIE WALEMIRA TALMAI:
Solche Überlegungen waren auch in einem Text zu finden, den Giordano Bruno im Kopf hatte, den niederzuschreiben er aber in seiner ersten Existenz verhindert war. In seinem zweiten Leben – das ich ihm ermöglicht hatte, indem ich ihn anlässlich seiner Hinrichtung am 17. Februar 1600 durch einen Spalt des nur bedingt geregelten Kontinuums schlüpfen ließ, womit er als Individuum unversehrt blieb – beschäftigte er sich gemeinsam mit Anastacia Panagou, seiner zeitweiligen Geliebten, eher mit den praktischen Anwendungen seiner Theorien, bevor er plötzlich dieses neuerlichen Daseins müde wurde und sich einfach in nichts auflöste. Damit hatte sich für ihn das Problem, mit dem ich mich beschäftigte, erübrigt – für ihn war es gleichgültig, ob die Welt weiterbestand oder nicht. Aber immerhin lagen mir noch seine Lösungsvorschläge vor, und sie gingen, anders als die von mir erdachten, eher in die Richtung einer Synthese zwischen metaphysischen und technischen Elementen: Giorduzzo dachte an den Einsatz der NOSTRANIMA, an deren Zustandekommen er ja nicht unwesentlich beteiligt gewesen war. Er konnte sich vorstellen, mit Hilfe des elektronisch-telepathischen Raumkreuzers oder, wenn erforderlich, einer Weiterentwicklung dieser Entität das zu erreichen, was ich als Ausweg aus dem Malstrom des Untergangs unserer konkreten kosmischen Heimat identifiziert hatte.
Wo die Physik endet – streng genommen enden muss, wenn sie nicht den Boden der experimentellen Beweisbarkeit verlassen will, beginnt die Sphäre einer neu definierten Philosophie, die nicht mehr für sich beansprucht, die Königin der Wissenschaften zu sein (wie sie es von der Theologie gelernt hatte, bevor sie diese vom Thron stieß), nein, einer Philosophie, die nichts anderes ist als die integrative Fortsetzung der Einzelwissenschaften mit anderen Mitteln: denen der Hypothese zumal, also der spekulativen Aussage, die keiner beweisen kann oder widerlegen muss. Auf dieser Basis kann sie sich tatsächlich dem hingeben, was nicht existiert: noch nicht oder weil es grundsätzlich nie existieren wird…
Für mich änderte sich viel, als Berenice mit Chicago vom Labyrinth unter Cheltenham House zurückkehrte (Santiago Sanchez-Barzon war auf dem Weg hierher verschwunden, aber weder verlor einer von beiden darüber ein Wort, noch haben wir den jungen Mann je wiedergesehen). Meine Geliebte, für deren Eroberung ich so viel auf mich genommen hatte, schlief nicht mehr mit mir – das Einzige, was sie in diese Richtung noch tat, war, mich zärtlich zu streicheln.
Sie sagte, ihr Geistwesen riefe sie, um sie heimzuholen, und das Ende sei mithin gekommen: in vielfältiger Weise. „Die Freude endet”, erklärte sie mir, „aber nicht in blankem Jammer, sondern weil das in ihr und durch sie Erlebte auf immer so bestehen bleibt, wie es jetzt ist – und daran hast du, mein Liebster, den hervorragendsten Anteil. Auch die Trauer endet, einfach deshalb, weil sie bedeutungslos wird, weil nichts von ihr wert ist, verewigt zu werden. Vor allem aber endet die Verantwortung, denn ein gütiges Geschick sieht vor, dass jeder Mensch nur ein bestimmtes Stück Wirklichkeit zu kultivieren hat, nicht mehr und nicht weniger – glücklicherweise nicht immer mehr und mehr.
Und eines Tages war sie tot.
Mir blieb (stumm und ohne Tränen, denn ich dachte, das hätte sie so gewollt) nichts anderes, als sie in jenem entlegenen Winkel des Parks auf dem kleinen Hügel unter dem exotischen Baum zu begraben, wo bereits Lady Pru zur letzten Ruhe gebettet war. Auf der Terrasse erklangen die Didjeridoos und geleiteten ihre Seele zu den geisterhaften Ahnen.
Ab diesem Tag saß Chicago nur noch dumpf vor sich hinbrütend da, auf Gott weiß welchen düsteren Pfaden in seinem Inneren unterwegs. In seinem unübersehbaren Schmerz schwang so viel mit, was ich als einer, der von außen in die Gruppe gekommen war, nicht ermessen konnte. Ich fühlte mich ein wenig ausgeschlossen, und doch rührte mich sein Leid fast noch mehr an als mein eigenes. Selbst Idunis, die sich ihm mit all ihren Qualitäten anbot, wurde zurückgewiesen. Totenstille herrschte auf dem Anwesen, denn die urtümlichen Verhaltensweisen schienen plötzlich obsolet.
Unser Freund Vangelis Panagou schien durch Berenices Tod, vor allem aber durch Chicagos daraus folgende Lethargie völlig verstört (oder wie immer man diesen Zustand androidenkonform beschreiben möchte). Er dachte ja schon lange nicht mehr ganz wie seinesgleichen, da er sich entschieden hatte, uns richtige Menschen als seine wahre Familie anzusehen – aber mit einem Mal war ihm auch diese wieder völlig fremd geworden. Und mir kam vor, dass ihm sogar seine geliebte Universität, die er nach manchen Irrwegen als seine geistige Heimstatt gefunden hatte, plötzlich gleichgültig war.
Er saß vor seinem Astrolabium, in dem in sonst totaler Schwärze ein einzelner Stern glühte, wobei ich nicht erkennen konnte, um welchen es sich handelte. Es war offensichtlich, dass er – indem er sich auf dieses kleine Licht konzentrierte – versuchte, nichts zu denken: schwierig genug für uns richtige Menschen, wie er uns nannte, aber fast unmöglich für jemanden seiner Art. Nun verstehe ich nicht viel von den inneren Strukturen eines Androiden, aber so viel war mir klar, dass Vangelis auf die Idee verfiel, die Stromzufuhr seiner Schaltkreise, seiner biotechnisch gestalteten Spiegelneutronen und seiner elememtaren Motorik zu unterbinden, worauf es nicht lange dauern konnte, bis seine wie immer geartete autonome Energiequelle durch Überlastung verschmorte.
Mühsam beherrscht betrachtete ich ihn – die äußere Form eines ortsungebundenen, humanoiden Rechners aus der Werkstatt der genialen Anastacia Panagou. Vordergründig war an ihm nichts Auffälliges zu erkennen, nur ein Hauch von verbranntem Material, der sich durch irgendwelche Körperöffnungen seinen Weg gebahnt haben musste, lag in der Luft. Idunis, die sich neben mich stellte, war entsetzt: „Welche Verschwendung von intelligentem und…”, sie zögerte, „… erotischem Potenzial!”
Ehrlich gestanden, ich hatte nichts dagegen, dass sie – aus welch präzisem Grund auch immer – ihre Furchtbar-schwarze-Naturschönheit-Nummer mit mir abzog. Warum? fragte ich sie inmitten unserer innigen Vereinigung in Bezug auf Berenice, und staunte über die verblüffende Antwort: „Wusstest du denn nicht, wie uralt sie schon war, obwohl keiner ihr das ansah? Und wie übervoll und dicht ihr Bewusstsein bereits geworden war – nahezu unerträglich für ein einzelnes Menschenwesen, auch wenn sie in ihrer Initiation besonders auf diesen Zustand vorbereitet wurde?”
Aber die Walemira Talmai hatte mich doch oft und oft in ihr Inneres gelassen wie ich sie in meines, und ich meinte, bei diesen Gelegenheiten alles, einfach alles von ihr kennengelernt zu haben!
„Sei nicht traurig”, sagte Idunis, „aber selbst dir, der du ihr auf dem spirituellen Pfad aus tiefer Zuneigung so weit nur möglich gefolgt bist, konnte sie nur einen Teil ihrer ganzen Ausfaltung offenlegen, denn andernfalls hätte sie dich getötet…”
613
„Òla Querida!”, sagte Arminduo Emniunao zu Anpan, nachdem er es so eingerichtet hatte, ihr in einem abgelegenen Gang von VIÈVE allein zu begegnen. Die AP 2000 ® war einigermaßen verwirrt, und Niun Meoa – denn dass dieses Wesen es war, das hinter dem harmlos erscheinenden Cavalheiro steckte, erkannte sie eindeutig – genoss es sichtlich, die Androidin in diesen Zustand der latenten Irrationalität versetzt zu haben. Ihr Elektronengehirn arbeitete fieberhaft, um in der gebotenen Schnelligkeit die herandrängenden Fragen zu beantworten – wieso er wieder erschien, obwohl er doch angeblich vor kurzem völlig und endgültig deaktiviert worden war; und wenn schon diese Maßnahme gescheitert sein sollte, wie er dann hierhergelangt war, ohne dass jemand sich wehrte, namentlich die NOSTRANIMA, die normalerweise mit ihren hochdiffererenzierten Rezeptoren jede potenzielle Gefahr frühzeitig erkannte; wo genau er gerade jetzt hergekommen war; was er wohl mit ihr beabsichtigte, und da definierte sie bei sich als die wahrscheinlichsten Varianten: 1. dass ein überlegener virtueller Geist sich ihrer als eines besonderen Spielzeugs bedienen wollte oder 2. dass ein saturierter älterer Herr, dem die üblichen sexuellen Genüsse schon zu mühsam geworden waren, auf der Suche nach einem außergewöhnlichen Typ Frau war (und ihr Model for Emotional Response schmeichelte ihr, er sei dazu bei ihr besser aufgehoben als bei einer „richtigen”).
„Hallo, Schatz!” – das sprach doch eigentlich für die zweite Annahme, überlegte sie, zumal sie irgendwoher die geliebten brasilianischen Rhythmen wahrzunehmen glaubte und überzeugt war, diese würden ihr von ihrem Gegenüber vorgegaukelt – „Beschreiben Sie doch einmal ein wenig Ihr Liebesleben!” Ich wurde selbst neugierig bei dieser Aufforderung, denn vielleicht ergab sich jetzt einmal die Möglichkeit, die Erlebnisse der Androidin aus deren subjektivem Blickwinkel zu betrachten, sogar jene, die ich – als Erzählerin – aus objektiver Sicht schon kannten.
ANPAN (AP 2000 ®):
Finden Sie das etwa obszön, dass Sie mich in zärtlicher Umarmung mit meiner Konstrukteurin Anastacia Panagou gesehen haben?
Denn er hatte – da war sie sich gewiss!
ANPAN (AP 2000 ®):
… mit meiner Schöpferin oder auch Mutter, wie ich sie nenne, wenn mein Model for Emotional Response intensive Gefühle produziert? Aber ich bin eben ihr genaues Ebenbild und raste in sie ein wie der Stecker in die Buchse – übrigens eine beglückende Vorstellung für uns Androiden, der wir uns begeistert hingeben. Im Vergleich zu richtigen Menschen bin ich natürlich perfekt, jedenfalls gemessen an den Parametern, die Anastacia für mich definiert hat. Aber bis dahin war es ein weiter, teilweise von Frustration begleiteter Weg, wenn man bedenkt, welche Anforderungen beim großen Vorbild bestehen. Immerhin soll ja am Ende eine ganz komplexe Identität stehen, die gewährleistet, dass ich als Maschinenmensch unauffällig unter echten Biohumanoiden zu agieren imstande bin. Nebenbei bemerkt hat Professor Pascal Kouradraogo, der bedeutende Theoretiker für Künstliche Intelligenz, diese Anfangsschwierigkeiten als „Downfall-of-Icarus”-Syndrom beschrieben…
Niun-Meoa alias Arminduo Emniunao zuckte bei diesem Begriff fast unmerklich zusammen.
ANPAN (AP 2000 ®):
… wenn nämlich die KI-Einheit schockartig erlebt, noch lange nicht so weit zu sein, wie im allerersten Bewusstwerdungsprozess vermutet. Übrigens: Ich denke ab und zu gerne an den guten Professor, der ein richtiger Gentleman war, selbst im pikantesten Ambiente. Als Praktiker taugte er ja nicht viel, denn nie haben seine Konstruktionsversuche etwas anderes ergeben als plumpe Roboter-Dödel, verglichen mit Anastacias genialen Schöpfungen, in denen vor allem das Problem gelöst war, die gesamte Technik in einer beengten, aber zugleich gefälligen Erscheinungsform unterzubringen. Und all diese detaillierten mentalen und physiologischen Reaktionen! Als Pascal erfuhr, dass er sich eines Abends nicht mit der Panagou, sondern mit ihrem mechanischen Ebenbild unterhalten und am Ende sogar noch mit diesem geschlafen hatte, traf ihn fast der Schlag! Wie hätte er auch etwas merken sollen, da doch über meinen inneren Metallpanzer eine wunderschöne zarte Haut gespannt ist – von satter Bronzefarbe, wie sie jedem männlichen Wesen seit der Steinzeit Gesundheit und Paarungsbereitschaft zu signalisieren scheint. Und trotz meines Gewichts von präzise 149,327 kg (dem einzigen Zugeständnis an die Erfordernisse der Technik) verhalte ich mich bei Bedarf leicht und anschmiegsam: Meinen intimen Partnern appliziere ich schmetterlingsgleiche Berührungen, ohne sie ahnen zu lassen, dass ich sie genauso gut mit einem Nervengriff ins Land der Träume befördern könnte. Aber fürchten Sie nichts –
Sie zögerte, weil sie realisierte, dass ihr Gegenüber – wenn er denn entgegen allem Dafürhalten weiter funktionsfähig war – mit Sicherheit keine Angst vor ihr hatte. Aber tapfer beendete sie ihr Argument.
ANPAN (AP 2000 ®):
Jemanden zu töten, verbietet mir eine Direktive, die unveränderlich in mein Hauptprogramm integriert ist.
„Unveränderbar?” Emniunao sah skeptisch drein. „Sie sind doch mittlerweile wenigstens theoretisch in der Lage, Veränderungen an Ihren eigenen Systemen vorzunehmen – wenn nicht direktivengemäß, dann eben illegal…”
ANPAN (AP 2000 ®):
(ausweichend) Ich erinnere mich an gesellschaftliche Anlässe wie etwa die offiziellen Empfänge der Royal Society of Artficial Intelligence, bei denen Anastacia mich an ihrer Stelle auftreten ließ. Wenn ich so dastand in meinem duftigen Cocktailkleidchen – niemand schöpfte je den Verdacht, ich könnte jemand anderer sein als meine Konstrukteurin, und ich begann mich tatsächlich gedanklich über sie hinwegzusetzen, indem ich es für weitaus anspruchsvoller hielt, jemand anderer zu sein (sogar auf Basis äußerlicher Übereinstimmung) als einfach man selbst zu sein. Und ich liebte diese Parties: All die Herren, die mir die Hand küssten – mir den Hof machten (so sagt man doch?). Mein Sensorium zeigte deren Begehren nach körperlicher Vereinigung mit mir zweifelsfrei an, und für mich war es durchaus logisch, diesem Wunsch umgehend zu entsprechen, aber Anastacia verbot mir das stets mit der Begründung, dass man als Frau die potenziellen Sexualpartner ruhig eine ganze Weile zappeln lässt – die meisten sogar für immer. Ja, es ist wahr: Ständig machte sie mir Vorschriften! Behauptete, dass unter meinem Verhalten ihr Ruf zu leiden hätte! Und ich reagierte dementsprechend verständnislos – derlei moralische Kriterien waren mir irgendwie unzugänglich. Genauso wie es mir gleichgültig ist, gerade unbekleidet vor Ihnen zu stehen, weil es, wenn es nach mir selbst geht, ziemlich einerlei ist, ob ich einen menschlichen Fummel anhabe oder nicht. Das ist ohne Belang für mein virtuelles Bewusstsein.
„Aber dann ist doch eigentlich vorstellbar”, warf Arminduo ein, „dass das, was jemand erschaffen hat, nicht notwendigerweise begrenzter sein muss als der Schöpfer, sondern durchaus genialer sein kann! Warum akzeptieren Sie das nicht einfach, zumal Sie dadurch Ihren eigenen Wert besser erkennen?”
ANPAN (AP 2000 ®):
Ich war schon einmal so weit, mich endlich zu emanzipieren, als nämlich die Panagou mit meinem geliebten Pifsixyl Xifu ins Bett ging. Die beiden merkten nicht, dass ich sie beobachtete: wie sie ihn fragte, ob er nicht endlich wieder einmal mit einer richtigen Frau wollte; wie er aufgrund meiner Ähnlichkeit mit Anastacia anfangs gar nicht das Gefühl hatte, mich zu betrügen und erst später realisierte, dass etwas anders – menschlicher – war (und das, nachdem er lange Zeit meine extreme physische Anpassungsfähigkeit ausgekostet hatte); wie sie ihm zuflüsterte „Wie süß du bist!”; wie er „Anpan muss ja nichts davon wissen!” hervorstieß, als er erschöpft neben ihr lag, und unmittelbar darauf in einen traumbewegten Schlaf fiel; wie sie dem Schlafenden eine Droge versprach, die ihm keine noch so hochentwickelte Androidenfreundin geben könne: das Erlebnis, begehrt zu werden, ohne fragen zu müssen, wie echt dieses Begehren wohl sei; und wie sie ihn schließlich mit den Worten weckte „Komm, mein Geheimagent, zeig mir deine verborgenen Talente und führ mich gleich noch einmal durch den dunklen Garten, den wir heute schon einmal durchwandert haben!”
„Und das alles reichte Ihnen nicht, um etwas gegen diese Verräterin zu unternehmen?”
Anpan fand, dass der nette alte Herr Recht hatte. Von einer Sekunde zur anderen fühlte sie sich von ihrer Konstrukteurin ungemein genervt – nein, das war es nicht genau, was ihr Model for Emotional Response produzierte: Es war vielmehr Hass, blanker Hass! Sie brauchte dieses Weib nicht mehr! Schließlich war längst erwiesen, dass sie bei Bedarf Anastacias Rolle spielen konnte, ohne den geringsten Zweifel zu wecken! Niemand würde die echte Panagou vermissen! Und seit den Kränkungen, die ihr angetan worden waren, gab es auch keinerlei Hemmungen mehr, gegen die bewusste Direktive zu verstoßen – sie war ohne weiteres bereit zu töten!
Während Niun-Meoa zufrieden zurückblieb, ging die AP 2000 ®, um ihren Entschluss auszuführen – einer von Anastacias eigenen Seidenschals diente ihr dazu, die Quasi-Mutter zu erdrosseln. Und dann mache sie sich ungerührt über deren Reisekleiderschrank her. Sie nahm ja jetzt den Platz der Pangou ein, musste daher auf entsprechende Garderobe achten.
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Um Mango Berenga allein zu sprechen, war für Arminduo Emniunao nichts weiter nötig, als Serpentina, die sich wie fast immer in der Nähe der Königin aufhielt, beiseite zu schieben und zielsicher auszuschalten – einfach außer Betrieb zu setzen, sodass die Androidin von einem Augenblick zum andern nicht mehr war als eine willkürliche Ansammlung von High-tech-Material. Und darunter befand sich jener Bridge Port, mit dessen Hilfe die Androidin eigentlich versuchen wollte, 4D-Aktivitäten zu entfalten, um Niun-Meoa – denn um ? handelte es sich in Wahrheit, wie mittlerweile sattsam bekannt ist – wirkungsvoll zu begegnen. Allein, die Zeit dafür reichte nicht aus, und außerdem hatte auch ? die gegnerische Seite genau studiert. Die letzten Aufschlüsse erhielt ?, als ? Anastacia Panagou ganz nah an sich heranlassen musste, von vornherein zwar ungewollt, aber am Ende zu ?s Vorteil, denn sonst wäre jetzt ? selbst als Folge eines fatalen Programmfehlers funktionslos in der Gegend herumgestanden.
Mango Berenga stand wie gebannt. Sie war nicht imstande, etwas zu ihrer oder Serpentinas Verteidigung zu unternehmen, sondern erlag vielmehr der Magie dieses soignierten Herrn mit seinen altmodischen Umgangsformen.
ARMINDUO EMNIUNAO (NIUN-MEOA):
Vossa Majestade, wollen Sie nicht wieder einmal das Mishima-Thema von Philip Glass erklingen lassen, von dem Sie insgeheim bis auf den heutigen Tag wissen, dass Sie auf dem Faden dieser Melodie zur Erde zurückkehren können? Wollen sie nicht nach langer Zeit, in der Sie den Wunsch dazu unterdrückt haben, obwohl Ihnen das Mittel dafür in die Hand gegeben war (namentlich seit König Keyhi Sie nicht mehr daran hindern kann), endlich diesen Schritt tun?
Ich sage dir, Johannes, ich verstehe gut, was in der Königin vorging, denn nur eine Frau kann die Sehnsüchte einer anderen Frau so richtig nachvollziehen. Dennoch blieb sie auch unter diesen Umständen Wissenschafterin.
„Auf welche Erde denn?”, fragte sie, „Auf meine oder die der Geneviève von B. 100 Jahre vor mir?”
ARMINDUO EMNIUNAO (NIUN-MEOA):
„Aber, Vossa Excelência, Hauptsache wieder dort sein, einen wirklichen Himmel zu sehen, ein richtiges Meer…”
Mango öffnete kurz entschlossen eine Abdeckung in der Wand ihres Privatgemachs. Eine Nische kam zum Vorschein, und darin stand die alte Konsole, an der sie gearbeitet hatte, als sie anhand seines DNS-Imago entdeckte, dass der Commander der Station, der sie unter sehr aufklärungswürdigen Bedingungen dorthin verbracht hatte, nicht menschlich, aber auch nicht artifiziell war. Sie erfuhr dann, dass er aus dem Paralleluniversum stammte und an der Unterwanderung der Alpha-Welt maßgeblich beteiligt war – und dass er sie nie wieder nach Hause lassen würde (die Delle, die er dem Gehäuse zugefügt hatte, während er das Glass’sche Mishima-Motiv mit einem gezielten Hieb stoppte, war noch immer zu erkennen).
Aber die Konsole selbst funktionierte noch, nach all den Jahren – in denen sich so ungeheuer viel ereignet hatte; in denen etwa der Commander sich gegen seinen Herrn, den Diktator der jenseitigen Völker, stellte und auf dem künstlichen Himmelskörper, der später VIÈVE genannt wurde, sein privates Königreich einrichtete; in denen Mango immer an seiner Seite war, zunächst noch gezwungenermaßen als ein Entführungsopfer, später aber freiwillig als Keyhi Pujvi Giki Foy Holbys Gemahlin…
Als sie den Befehl dazu gab, ertönte aus dem Lautsprecher wieder die Filmmusik zu „Mishima”, und so nebenbei liefen die Scans aller Organismen, die sich je auf der Station aufgehalten hatten, erneut an. Die Königin achtete aber im Gegensatz zu früher nicht darauf, schon gar nicht auf die Tatsache, dass hinsichtlich der Identität Arminduo Emniunaos sofort ein Alarm anschlug, weil die Apparatur nämlich richtig erkannte, dass in diesem menschlich scheinenden Format mehr steckte – allerdings auf seltsame Weise. Denn die Berenga wusste nicht, dass Niun-Meoas 4D-Gestalt mittlerweile in der dreidimensionalen Struktur auf Gedeih und Verderb gefangen war: Anastacia Panagou war nicht nur so sentimental gewesen, den Superandroiden zu reparieren, sondern auch so klug, ?s Programm so abzuändern, dass ?, sollte ? je wieder in die Rolle des ältlichen Cavalheiro schlüpfen, dort nicht mehr herauskam. Sie wollte ihm die Chance geben, von seinen destruktiven Vorhaben abzulassen. Vergeblich, wie sich zeigte.
All das blieb Mango verborgen. Stattdessen entzog sich ihr Geist langsam der bizarren Situation und begann, ihren Körper nachzuziehen, zum Ort ihres größten Verlangens, der Erde. Was sie jedoch mangels praktischer Erfahrungen mit diesem geheimnisvollen Vorgang nicht geahnt hatte, war, dass die Bewegung, die dabei in Gang kam, nicht nur ihre Person erfasste, sondern die gesamte nähere Umgebung. Die ganze Station verließ ihren Platz und raste mit aberwitziger Geschwindigkeit durch den Raum.
Die Königin war fassungslos darüber, was sie in einem Moment der Anfechtung ausgelöst hatte. Einem Phantom gleich erstarrte neben ihr Emniunao im Vakuum, dort, wo sich eben noch VIÈVE befunden hatte. Gerade dass er sich noch mit einer formvollendeten Verneigung und einem zynischen „Atè à vista, Vossa Majestade!” verabschieden konnte, ehe er merkte, dass seine Uhr abgelaufen war. Mango selbst dachte nur mehr an all die Bewohner ihres kleinen Reiches, für die sie die Verantwortung trug, an ihre Untertanen unterschiedlichster Herkunft, beginnend mit der jungen Echwejch-Familie bis hin zu ihren eigenen Kindern, Julia und Victor, für die sie erstmals deren selbstgewählte Namen verwendete und nicht die nüchternen Bezeichnungen XX und XY. Neben diesen Gefühlswallungen quälte ihr analytischer Geist sie aber auch mit sehr konkreten technischen Fragen – etwa die nach der Physik dieses Ereignisses, das eine Reihe von anerkannten Gesetzen außer Kraft zu setzen schien.
Vor allem, dass es in Richtung Erde ging, setzte ihr als Kosmologin (oder, wie man auch sagen kann, Astrophilosophin) zu. Denn jetzt war es tatsächlich von entscheidender Bedeutung, welche zeitliche Ausprägung ihres Heimatplaneten sie ansteuerten: entweder die, mit der VIÈVE synchron war und von der die Errichtung und Besiedlung der Station einst ausgegangen war – dann war alles in Ordnung, abgesehen von den unerklärlichen Phänomen dieser Reise an sich; oder die, auf der Geneviève, Mangos Alter Ego, lebte – dann würde es (so weit erinnerte sie sich noch an ihr Studium) aufgrund eines Zeitparadoxons zur Annihilation kommen.
Die Berenga versuchte, sich darüber klar zu werden. Wie sie es selbst in ihrer Habilitationsschrift „Die Deutung des ‚Dunklen Gestirns’ – Eine neue kopernikanische Wende” beschrieben hatte, führte das seinerzeitige Andocken der beiden Universen zu einer Zeitanomalie, worauf die Spiegelwelt, aber auch ein kleiner Bereich unserer Realität – eben der Nahbereich der Station – um rund 100 Jahre voraus lag. Allein dieser Konstellation verdankte der künstliche Himmelskörper, aus der Sicht von Genevièves Erde, seine vorzeitige Existenz. Im Klartext: Da jene Anomalie sich bei der Abkoppelung des Paralleluniversums nicht wieder aufgelöst hatte (aus Gründen, über die Mango sich auch nicht annähernd zu spekulieren imstande fühlte), war VIÈVE nicht wieder in der Zukunft verschwunden, sondern bewegte sich jetzt entlang der Transversalwelle von „Mishima” zurück in die Gegenwart der Erde. Eine Katastrophe bahnte sich an.
614
Lady Christina, die junge Baroness Cheltenham, hatte mit ihrem von Sir Basil ererbten Instinkt erfasst, dass jemand im Labyrinth war, und ahnungsvoll die Rückkehr von Berenice, Chicago und Santiago Sanchez-Barzon erwartet. Als sie die beiden Koori sah, musste sie lächeln – sie verkniff sich allerdings jegliche verbale Anzüglichkeit über deren Aufmachung aus Respekt vor der fremden Kultur: ebenfalls ein Vermächtnis ihres kosmopolitischen Vaters, aber auch der Mutter, die zeitlebens in vielen Milieus daheim war. Von Tyra hatte Christina übrigens noch etwas mitbekommen (außer der allgemeinen keltischen Schönheit): die dunklen Augen, in die Murky Wolf so gerne eingetaucht war, um sein Leben voll Aktivitäten, die genau genommen wenig Frucht trugen, für eine Weile zu vergessen.
Von diesen Augen wurde im Bruchteil einer Sekunde auch Santiago gefangen, und Christinas Hand strich unbefangen über sein Gesicht, das ihr völlig aufgewühlt erschien von etwas soeben Erlebtem. Während sie ihn solchermaßen zu trösten suchte, wussten die beiden, dass sie ab sofort zusammenbleiben würden. Sie hatten auf Anhieb erkannt, dass sie füreinander bestimmt waren. Eine Facette des spontanen Entschlusses gab es allerdings, die Christina niemals erkannte, denn der junge Mann sprach es jetzt nicht aus und kam auch später nie daruf zurück: dass er natürlich hier seiner Mutter nahe sein konnte, näher als irgendwo sonst.
Die Walemira Talmai ergriff Chicagos Hand, und die beiden entfernten sich diskret. Wie sie gekommen waren, auf metaphysischem Weg, kehrten sie auf ihren eigenen Landsitz zurück. „Es ist Zeit”, sagte Berenice, „unser Leben oder das, was davon übrig ist, zu verinnerlichen. Ich werde es tun, du, Brian, Idunis und auch die anderen alle, damit wir ab sofort bereit sind, unserer weißen Stammesschwester, Lady Prudence Godalming, ins Reich der geisterhaften Ahnen zu folgen.” Eine Prophezeiung, die für sie selbst bald wahr werden sollte, wie wir mittlerweile wissen.
Christinas und Santiagos junges Glück hatte, wenn man es so betrachten will, den Vorteil, dass es nicht altern konnte, denn bevor es auch nur in irgendeiner Form seicht, hohl oder schal wurde, war es zu Ende – nach wenigen Wochen schon: Nicht weil alles nur ein Strohfeuer gewesen wäre und sie einander plötzlich nicht mehr geliebt hätten, sondern weil sie mit allem, was um sie herum war, zugrunde gingen.
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Die spirituelle Ausrichtung Ravindra Prameshs und Ahmed Al-Qafrs ist bei dieser Gelegenheit gründlich in Frage zu stellen, denn so tiefgreifend, wie sie ihre jeweiligen Anhänger glauben machen wollten, war sie wohl nicht, und jeder Abendländer, der, wie etwa Leo Di Marconi, persönlich Gelegenheit gehabt hatte, die früheren Emanationen der beiden Herren kennenzulernen, wusste definitv, dass es damit nicht so weit her sein konnte. Wenngleich es ein wenig billig ist, sich darüber zu mokieren, dass religiöse Menschen genauso ahnungslos in Bezug auf die Zukunft sind wie wir anderen auch, mag ich mir dieses Vergnügen doch nicht ganz verkneifen: vom bevorstehenden Super-Finale erfuhren Muslime wie Hindus von ihren Religionen nichts (abgesehen von jenen unverbindlichen eschatologischen Floskeln, die in allen heiligen Büchern zu finden sind), und sie blieben daher, wie sie waren. Sie übten keinerlei Einkehr – wie übrigens auch die Christen nicht, aber das braucht ja nicht extra betont zu werden. Es hätte wohl auch nichts gefruchtet, sie alle zu warnen, denn warum sollte jemand, der Unrecht tut, obwohl er weiß, dass er irgendwann dafür zur Verantwortung gezogen werden könnte, plötzlich das Richtige tun, nur weil man ihm sagt, dass dies schon am nächsten Tag geschehen wird?
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BRIGITTE:
Holly B. Wood hatte eine sehr kurze Karriere, daher müssen wir uns von ihr, kaum dass wir sie kennenlernen, auch schon wieder verabschieden. Ihre Entdeckung verdankte sie natürlich – wem sonst? – Sid Bogdanych, der seines Pendelns zwischen dem Null-Sex mit seiner momentanen Dauerfreundin Miss Wasserstoffsuperoxid und den Substitute Bangs mit seiner Latino-Haushälterin überdrüssig war und endlich wieder ein wenig „wahre Liebe” genießen wollte. Daher hatte er auch seine Ganglien angestrengt, um der jungen Dame, die er zu diesem Zweck anvisierte, einen tollen Künstlernamen zu geben: Holly und Wood, das war selbsterklärend, und das B war eine verschämte Andeutung, welche Art Film ihr Sugardaddy mit ihr zu drehen beabsichtigte. Nicht dass er es besonders genoss, wenn fremde Männer vor laufender Kamera mit seinem Star bumsten, aber erstens hatte er sich seinen Teil ja schon auf der legendären Besetzungscouch geholt und zweitens geilte es ihn jenseits direkter Körperkontakte unheimlich auf, die Tussi seine unbeschränkte Macht spüren zu lassen und ihr alles, was er nur wollte – „Und ich betone: alles, Lady!” – abzuverlangen. Aber das war’s dann schon: Der erste Streifen war zugleich der letzte, brachte der Kleinen weder Geld noch Ruhm, denn dafür reichte die Zeit einfach nicht mehr…
[ 2 Zeilen Durchschuss ]
Den vier Professoren Fritz Schreiner, Pjotr Ivanovich, Pascal Kouradraogo und Larry Migschitz ging es blendend, vorerst wenigstens, denn wie alle anderen Menschen wussten sie ja nicht, dass ihr verehrungswürdiges Tun bald ein Ende finden sollte. Man könnte sogar sagen, es war ihnen im Verlauf ihrer Karrieren schon schlechter gegangen, so etwa als sie Sir Basil mit Hilfe seiner Leute gekidnappt und an Keyhi Pujvi Giki Foy Holby ausgeliefert hatte, der sie wiederum an die Spiegelwelt verschacherte, sodass sie einem tristen Gefangenenschicksal entgegensahen. Aber was rede ich denn da: Den vier Herren gelang es doch sogar dort drüben in dieser wahrhaft misslichen Situation, dem Diktator der jenseitigen Völker durch allerlei Vernebelungstaktiken für null Gegenleistung jede Menge Vergünstigungen zu entsteißen.
Wieder zurück im Alpha-Universum, erwies sich die Back to Earth-Initiative des damaligen Präsidenten Ray Kravcuk als sehr abträglich fürs professorale Geschäft, das wesentlich im Errichten von akademischen Luftschlössern ohne jeden Praxisbezug bestand. Allerdings hatten die Dinge sich schon bald wieder entscheidend gewandelt: Die Wirtschaftslage verschlechterte sich rapide (Migschitz hätte uns sicher sagen können, woran das lag, nur dass er sich niemals mit derart banalen Fragen beschäftigte), die Regierenden wurden zunehmend kopfscheu und griffen nach jedem Strohhalm, den irgendein Experte ihnen bot, obwohl sie es noch vor kurzem abgelehnt hatten, einen müden Dollar für externe Berater aufzuwenden. Und dann der Machtwechsel in Washington – neue Leute (allen voran Trudy McGuire), denen doch mehr daran lag, fremdes Wissensgut in ihre Entscheidungen zu integrieren.
Schade eigentlich, dass nun, da alles wieder so gut zu laufen begann und sich die Einnahmen der vier Gelehrten quasi verkehrt proportional zur Heftigkeit der öffentlichen Probleme entwickelten, Ereignisse von fast undenkbarer Dimension – also genau etwas von dem Kaliber, das Schreiner, Ivanovich, Kouradraogo und Migschitz in ihren theoretischen Abhandlungen auf die eine oder andere Weise gerne anspekuliert hatten, um ihre Auftraggeber zu schockieren – den roten Faden des Erfolgs jäh durchschnitt…
[ 2 Zeilen Durchschuss ]
BRIGITTE:
Eine Sache habe ich noch zu Ende zu führen, und die entbehrt nicht einer gewissen Kuriosität, wie das ja oft in krisenhaften Zeitläufen der Fall zu sein pflegt. Clio und Dirk, Freifrau und Freiherr von E. saßen am Tag des Weltuntergangs ziemlich friedlich beim Früh¬stück. Ein zwischenzeitlich eingelegter nächtlicher Parcours, bei dem sie mehrfach die Rollen von Ross und Reiter wechselten, hatte sie in einen erschöpften Schlaf fallen lassen, an den sich ein morgendlich-entspanntes Laissez-faire anschloss. Griseldis, die Zofe, der ein feines Gespür für die Befindlichkeit der Herrschaft eigen war (obwohl sie diese tief im Inneren für ihre extremen Stimmungsschwankungen hasste), ging ein und aus, als ob sie Flügel besäße und zehn Zentimeter über dem Boden schwebte. Und weil sie ihre Ohren gewohnheitsmäßig überall hatte, hörte sie, wie Clio ihrem Dirk aus heiterem Himmel ein süßes Geheimnis anvertraute.
Vergiss nicht zu erwähnen, dass die Dienerin bei nächster Gelegenheit telefonisch Geneviève von B. kontaktierte und ihr brühwarm die Neuigkeit überbrachte, ohne dafür in irgendeiner Weise autorisiert zu sein. Sie hoffte, dass man ihr Vorgehen zuletzt nicht übel nehmen würde, aber sie konnte es gar nicht erwarten, der Gräfin – mit all den Folgen, die sich für das Bildnis der immerwährenden Jugendlichkeit ergaben, das diese von sich hatte – zu eröffnen, dass sie Großmutter wurde.
BRIGITTE:
Allerdings lohnte sich, wie man sich vorstellen kann, die Freude der Beteiligten nicht, weder die echte der Eltern in spe, noch die abgeleitete, von Häme durchsetzte der Dienerin, und auch Genevièves gemischte Gefühle quälten sie nur kurz – sie kam nicht einmal mehr zum Nachdenken, ob sie ihrem Freund Max Dobrowolny gleich davon erzählen oder eher zuwarten sollte. Es war zu spät…
[ 2 Zeilen Durchschuss ]
Brigitte und ich möchten es uns an dieser Stelle leicht machen, indem wir einfach sagen, dass höhere Gewalt die Biografien aller hier jäh unterbricht. An welchem Ort, in welchem Zustand oder bei welcher Beschäftigung es die einzelnen Personen gerade erwischt, scheint dann nahezu unerheblich. Keinem von ihnen blieb in Wahrheit genug Zeit für bewusste letzte Worte oder Taten, aber wir geben natürlich zu, dass es interessant wäre, sich das Gegenteil auszumalen: wie ein Typ à la Abt Stylianos in seiner letzten Sekunde womöglich alle Gottheiten in Bausch und Bogen verflucht – oder wie die geborene Fürstin Dulgurakij endlich ihre aufgestaute Häme über Seiji Skamoto ausgießt – oder wie Ebru Saraço?lu auf einmal sehnsüchtig an Franz-Josef Kloyber denkt (wenn der das wüsste!) – oder wie Else und Horst ihre Blicke noch einmal übers traute Heim schweifen lassen – oder wie Bugger Raven sich kurz entschlossen in sein Rabenformat verwandelt und hoch in die Luft aufsteigt, was aber bloß einen winzigen Aufschub seines Verderbens bedeutet – oder wie Taurus und seine Männer einstimmig in den bekannten Ruf ausbrechen, den sie bei den Galliern aufgeschnappt haben („Occidat caelum super capita nostra! Möge uns der Himmel auf den Kopf fallen!”). Sollte es allerdings einen weiteren Handlungsstrang geben, bei dem unseren Leserinnen und Lesern geradezu schmerzlich bewusst wird, dass er nicht abgeschlossen ist, dann tut es Brigitte und mir Leid, aber alles hat seine Grenzen…
615
SIR BASIL CHELTENHAM:
Ab und an haben diejenigen, die in diesem Bericht als Erzählerinnen und Erzähler aufgetreten sind, von denen aber derzeit weit und breit nichts zu sehen ist, mit dem Thema Nicht-Existenz gespielt (etwa in der Art, wie die Unterwasser-Entfesselungskünstlerin Alex mit ihrem Leben). Diese Koketterie schien ihnen verlockender als die Geschichte selbst, obwohl auch sie viele undeutliche Wurzeln aufweist, auf deren Spuren des Öfteren unsere Alltagsrealität desavouiert wurde. Die naheliegende Frage allerdings, ob mit jener Unvorhandenheit im Einzelfall eher eine Null-Existenz, eine imaginäre Existenz oder eine negative Existenz gemeint war, blieb unbeantwortet.
Dass beispielsweise die Spiegelwelt, als sie noch definitiv an unser Universum angedockt war, von vielen dennoch geleugnet wurde, geschah unter genau diesen unterschiedlichen Gesichtspunkten. Es gäbe sie in Wahrheit nicht, meinten die einen, während andere behaupteten, sie sei rein imaginär (eine vornehme Umschreibung für die Unterstellung, gewisse Leute würden sich dieses Monstrum bloß einbilden). Wieder andere akzeptierten die Möglichkeit eines solchen Phänomens, aber nur negativ zu unserer Alpha-Welt – als Antonym im Rahmen eines innig verbundenen Gesamtgefüges.
Mittlerweile ist es ja gleichgültig, ob es das Paralleluniversum überhaupt je gegeben hat, denn nicht mehr größer Null ist allemal ebenso nichts wie immer schon gleich Null. Und noch eins: Die jenseitige Realität könnte – jeder, der ein wenig von Psychologie versteht, wird mir Recht geben – durchaus als Imagination entstanden sein, aber im Verlauf einer kollektiven Hysterie eine sehr konkrete Gestalt angenommen haben. Und sie kann natürlich Teil eines gigantischen Spannungszustandes gewesen sein, der wegen gravierender Interferenzen mittels eines kosmologischen Kunstgriffs zum Verschwinden gebracht worden ist.
Wie auch immer – für mich selbst war sie noch immer gegenwärtig, denn obwohl praktisch alles, was von dort stammte, verschwunden ist (sodass man hier neuerdings nolens volens auf allerlei Figuren und Requisiten verzichten musste), wurde ich nach wie vor täglich an die Spiegelwelt erinnert. Immerhin ging ich mit der Leitung CORRIDORs jener Aufgabe nach, die mir der jenseitige Diktator aus dem Grab heraus zugemessen hatte, in der erklären Absicht, mich kläglich scheitern zu lassen. Aber seine Rechnung schien nicht aufzugehen: I put up a good fight, wie wir zuhause in England zu sagen pflegen – nicht zuletzt weil die von meinem Chief of Staff formulierte Hauptperspektive meines Regimes erfolgreich verwirklicht werden konnte – nämlich dieses seltsame kleine Reich im labilen Gleichgewicht zwischen den beiden Supermächten einigermaßen sicher zu verankern. Dazu bedurfte es hauptsächlich diplomatischer Maßnahmen, während der Aspekt der direkten Gewaltanwendung, der mir als Offizier von Ausbildung und Attitüde sicher näher gelegen wäre, schon aus Gründen der Machbarkeit nur in Maßen zum Tragen kam.
Von Grand America war nichts zu fürchten, solange Trudy McGuire dort fest im Sattel saß, und sie dabei so weit wie möglich zu unterstützen, war mir ein Leichtes, einerseits mit langjährigen Kontakten zum Hualapi-Volk, die mit meinem verstorbenen Freund Sherman Yellowhawk begonnen hatten und sich mit dem bemerkenswerten Bugger Raven fortsetzten: Mit ihm, dem es gelungen war, sich in der Nähe der Präsidentin zu etablieren (indem er sie glauben ließ, sie hätte ihn erwählt), waren meine schon seit jeher freundschaftlichen Beziehungen zu Washington nun auch technisch höchst unkompliziert – sie bedurften nur mehr sehr selten des offiziellen Weges über das Blaue Telefon.
Die offene Zwietracht, die neuerdings im Reich der Mitte zwischen der Zentrale in Beijing und den Yakuzas herrschte, war selbstverständlich nur sehr indirekt mein und Kloybers Werk, sondern letztendlich die Folge von Sakamotos grenzenloser Machtgier. Wir von der Föderation hatten dem Staats- und Parteilvorsitzenden Yang Xun Zhou mit unserer Attacke auf Port Klang lediglich vor Augen geführt, dass die realen Möglichkeiten des Oyabun durchaus nicht mit seinem Ehrgeiz schritthalten konnten, wodurch wir vermutlich ein wenig zum Paradigmenwechsel im Umgang der Chinesen mit den Japanern beisteuerten. Somit waren die wesentlichen Kräfte Groß-Chinas ausreichend miteinander beschäftigt, aber nicht nur das: Sie trugen beide – die einen politisch-militärisch, die anderen wirtschaftlich – an den Folgen der weiträumigen Unruheherde in den Moslem- und Hindu-Territorien, obwohl diese nun voneinander getrennt worden waren. Wir unsererseits unterstützten in diesen schwer überschaubaren Konflikten diskret die Araber, wobei mir persönlich mein guter Draht zu Ahmed Al-Qafr zupass kam. Hingegen blieb mir das Umfeld Ravindra Prameshs verschlossen, was offenkundig mit der Traumatisierung des Inders gegenüber mir als ehemaligem Angehörigen der britischen Kolonialherrschaft zu tun hatte – aber das war bloß ein kleiner Makel unseres Konzepts und bedeutete keineswegs dessen Gefährdung.
Ich vertraute also vor diesem Hintergrund die Brückenwache ohne weiteres Brigadier Kloyber an und hatte genügend Muße, um wieder einmal meine magische Kristallkugel herzunehmen, die, wie schon in meinem Herrensitz Cheltenham House, auch auf Kantara ein Sideboard meines Büros zierte. Im Gedenken an König Keyhi richtete ich den Fokus auf die Station VIÈVE, doch was ich im spiegelnden Glaskörper erkennen konnte, war nicht der vertraute Anblick des künstlichen Himmelskörpers, sondern eine im Vergleich dazu winzige männliche Gestalt – so weit ersichtlich vorgerückten Alters und bekleidet mit einem Cutaway im Stil des ausgehenden 19. Jahrhunderts: ein gewisser Arminduo Emniunao, wenn Kloybers geheimdienstliche Informationen zutrafen, akademischer Maler, Brasilianer von Geburt, Gast Genevièves von B. auf deren Schloss, Patient bei Dr. Berenice W. Talmai und auch sonst da und dort gesichtet, aber keinerlei Bedrohungspotential erkennbar. Was mir sofort auffiel, war die Starrheit der Figur: Sie wirkte wie schockgefroren in flüssigem Stickstoff.
Dann aber wurde meine meine Aufmerksamkeit von VIÈVE selbst gefangengenommen, die ich durch Drehen der Kugel endlich ins Visier bekam. Die Station schoss, gefolgt von einer leuchtenden Spur mit rasender Geschwindigkeit durch den leeren Raum, und erst als sie rasch größer wurde, erkannte ich, dass sie auf die Erde zusteuerte. Die Frage, ob dies wohl eine späte Folge der Trennung der Universen sein mochte, kam mir in den Sinn, aber es blieb nicht die geringste Frist, darüber nachzudenken. Tatsache schien (und das signalisierte mir mein Instrument), dass VIÈVE sich in der Zeit rückwärts bewegte und dabei wie jede andere Teilchenansammlung folgerichtig ihre elektrische Ladung umgepolt hatte, was aber bedeutete, sie war eine tödliche Gefahr für jegliche Materie, die dem normalen Zeitverlauf folgte.
Bei jeder Berührung mit kosmischem Staub und anderen, größeren Partikeln zeigte sie, dass sie genug Sprengkraft mit brachte, um unseren Planeten zu pulverisieren und – mir stockte der Atem – in Form einer Kettenreaktion die Architektur unseres gesamten Sonnensystems zum Einsturz zu bringen.
DER SCHATTEN IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAPS:
Hi, Cheltie – schön, dich zu sehen! Schon allzu lang warst du nicht mehr in meiner privaten Zelle im Büyük Han, sodass ich beschlossen habe, dich hier aufzusuchen, und dank der heutigen Aktivierung deiner Kristallkugel war mir das auch ohne weiteres möglich…
Ich kenne bereits die Neuigkeiten – man stelle sich vor: Wie für mich, dessen Zukunft du damals in Oilell Guinevere hingemetzelt hast, werden nun auch all deine eigenen Bestrebungen (gut oder böse) abrupt durchschnitten, all diese Pläne (konstruktiv oder destruktiv) werden brutal ad acta gelegt, all diese Träume (schön oder grausig) lösen sich mit einem letzten kurzen Atemzug in Luft auf, all diese starken Motive (die dich scheinbar unausweichlich gleich welchen Zielen entgegentrieben) hören urplötzlich zu bestehen auf. Ich sage dir, wenn ich du wäre, würde mir nur eine einzige Emotion durch den Kopf fahren: die kalte Wut darüber, dass ich, ein bis dato derart Wichtiger, mit einem Mal in einen Zustand völliger Bedeutungslosigkeit sinken soll, und diese Aussicht würde mir weit mehr zu schaffen machen als meine rein körperliche Zerstörung! Ich weiß, ich weiß, eine müßige Überlegung angesichts der Situation, aber doch wert, entwickelt und als mein allerletztes Geschenk in dein Gehirn eingepflanzt zu werden!
Kopf hoch, Cheltie! Du bist ein Held, der ein Heldenleben gelebt hat und jetzt den dazu passenden Heldentod stirbt!
DER ERZÄHLER, BRIGITTE, DER PRODUZENT SID BOGDANYCH, DER GROSSE REGISSEUR UND DIE DREHBUCHAUTORIN CLAUDETTE WILLIAMS:
Keine Sorge, Sir Basil, auch wenn Sie uns vorhin nicht bemerkt haben, sind wir doch da und bereit, wenn hier für Sie gleich alles endet, den Leserinnen und Lesern weiter zu berichten, damit diese den Rest der Geschichte auch noch erfahren.
Es darf nicht verwundern, dass die NOSTRANIMA während der Versuchungen Anpans und Mango Berengas untätig blieb. Sie, die sich technisch und metaphysisch allen erdenklichen Gefahren gewachsen glaubte, wurde unter den Willen Niun-Meoas gezwungen, und dieser Bann löste sich erst, als der elektronisch-telepathische Raumkreuzer erfasste, dass Anastacia nicht, wie er vermutet hatte, ?s Manipulation erlegen war, sondern es vielmehr schaffte, ? durch einen Programmiertrick in sein endliches Gehäuse als Arminduo Emniunao zu schließen – aber diese Erkenntnis kam zu spät: die Panagou war bereits tot, und die Königin hatte ihrer verhängnisvollen Sehnsucht nachgegeben.
Immerhin handelte die NOSTRANIMA jetzt rasch. Sie befahl den sieben neueren Androiden, die Leiche ihrer Konstrukteurin an Bord zu bringen und gleichzeitig darauf zu achten, dass ihre Quasi-Schwester AP 2000 ® auf VIÈVE und damit ihrem Schicksal überlassen blieb. Dann löste sich das Schiff von der Station und versuchte, dieser vorauszueilen, um sie auzuhalten, abzulenken oder auf irgendeine Weise sonst die Erde vor ihr zu schützen, aber vergeblich: Die NOSTRANIMA selbst entging ihrer Zerstörung im allgemeinen Chaos nicht.
[ Grafik 615 ]
In völliger Finsternis stand sie als weit ausgebreitetes, leise glimmendes Spinnennetz im All. Ihre Moleküle waren vermischt mit jenen ihrer Passagiere, mit jenen Anastacias, ihrer Schöpferin, und vor allem denen des Oudéteron, das sie so sehr geliebt hatte – ihrer sehr speziellen und komplexen Natur gemäß. Mit den Resten ihres Bewusstseins kreiste sie um ein dimensionsloses Thema: Was ist das Nichts? Denn sie (respektive das, was von ihr übrig war) konnte gerade noch einen Nachhall der letzten Gedanken Cheltenhams erfassen, die etwa in diese Richtung gingen: dass er am Rande der Zeit stand – nicht dort, wo sie endet, sondern an der Grenze jenes Raumes, in dem Zeit nichts ist.
Er schien überwältigt davon, und so gab es mit ihm noch jemanden, der sich den Verlockungen dieses Tages hingab. Bei ihm war es der Reiz, jenes Andere, trotz seiner vielen Abenteuer noch niemals Erlebte zu betreten, eine finale Erfahrung zu machen, die jenseits der zynischen Bemerkungen des Tyrannenphantoms lag: „Ich befreie mich von mir selbst!”
Es war nämlich ganz falsch, alles Üble in der Spiegelwelt Iadapqap Jirujap Dlodylysuaps ansiedeln zu wollen und hier bei uns nur das Schöne, wo doch klar sein sollte, dass zwischen Basils Dublette und ihm selbst, zwischen jenem und diesem Universum Ambiguität herrscht? Um es plastisch zu machen: Romuald hier hat zweifellos so viel Schlechtes in sich, wie Lyjaifxy, sein Pendant von drüben, Gutes. Daher ist es Unsinn, zu glauben, die Verbindung zwischen den beiden Realitäten sei gelöst und damit die Unterscheidung zwischen Bejahung und Negation endgültig geschafft, denn die eine ist ohne die andere gar nicht vorstellbar, sie bedingen einander.
[ 2 Zeilen Durchschuss ]
Wir könnten die Frage der NOSTRANIMA auch ganz trivial beantworten. Als Figuren einer fiktiven Szenerie, die in Form von Lichtwellen aus einem Gerät dringt, können wir im Nu eliminiert werden. Wir empfehlen einfach dem Publikum, durch Drücken eines Knopfes das Bild auf einen Punkt zusammenstürzen lassen.
Guten Abend – und diesmal heißt das: Auf Nimmerwiedersehen!
Übrigens eins noch: Angesichts der allgemeinen biologischen Rahmenbedingungen sowie unserer besonderen sozialen Verhaltensweisen als Menschen wird eine wenigstens in ihrer Tendenz rationale Ordnung niemals eine nachhaltige Chance haben, weder in der virtuellen Sphäre dieses Berichts noch draußen in der sogenannten wirklichen Welt, vor der wir an sich in dieses Konstrukt fliehen wollten.
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NACHTRAG DES RICHTIGEN AUTORS:
Soweit die Literatur, die ein banales Ende scheut. Aber Sir Basil Cheltenham starb in Wahrheit nicht den Heldentod, der ihn früher schon des Öfteren knapp ereilt hatte und den er sich jedenfalls seit jeher wünschte. Er musste vielmehr mit ansehen, wie er eines Tages nicht mehr festen Schrittes, seine Sinne in die Ferne und in die Zukunft gerichtet, vorwärts marschieren konnte, sondern sich langsam tastend einen Fuß sorgsam vor den anderen setzen musste, den Blick starr zu Boden gerichtet. Zu seinem eigenen Entsetzen (denn für seine Umgebung, die ja nach wie vor das in ihm sah, was sie sehen wollte, war er noch immer der Tough Guy) konnte er nur mit Mühe das äußere Bild einer zielgerichteten Fortbewegung aufrechterhalten, indem er alle Kraft und Konzentration darauf verwendete, nicht zu straucheln oder gar zu fallen.
So kam es, dass er sich gerade noch bei Nacht, schlaflos auf dem Rücken liegend, ungehemmt der Illusion alter Kraft hingeben konnte, während neben ihm seine Frau schlief – mit ruhigen Atemzügen, die ihrem Mann den Takt und das Zeitmaß seiner Meditation vorgaben. Als er nach Charlenes Hand fassteund sie mit einem kurzen unbewussten Seufzer reagierte, überkamen Cheltenham Erinnerungen an ganz andere, viel ungestümere weibliche Laute, die ihm allein gegolten hatten, und beileibe nicht nur seitens der Baroness, sondern auch anderer Damen. Er fühlte wieder die himmlisch schöne Clio, wie sie sich an ihn schmiegte und er langsam und mit Akribie ihren Körper erkundete, bis die Komtesse in höchster Erregung die Schranken aristokratischer Zurückhaltung vergaß. Damals schon war ihm klar gewesen, dass ein schon etwas in die Jahre gekommener Herr nicht hoffen konnte, mit diesem Energiebündel alt zu werden, aber er hatte jedenfalls versucht, ihr schmeichelhaftes Begehren bis ins Letzte auszukosten, solange dies noch möglich war.
Wenn jemand die Unverfrorenheit besaß, ihn auf seinen gebrechlichen Zustand anzusprechen, pflegte er sich auf seinen Stock mit dem Silberknauf (den er offiziell nur als Zeichen seines Standes und keineswegs als Gehbehelf mit sich führte) zu stützen und in der alten aufbrausenden Art zu kontern: Seine einzige Sorge sei, dass er zu lange leben könnte!
So gingen seine Tage dahin, und es gab nichts Berichtenswertes mehr, denn alles was erzählt werden musste, war erzählt. All das Geschehene umringte ihn zwar noch, aber er konnte zusehen, wie es verblasste zu weniger als Phantasie. Dennoch befand er sich bereits jenseits aller banalen Trauer, und diese gewisse Stimmung war Musik – die erotische Stimme Astrud Gilbertos, wie von ferne, als hätte Arminduo Emniunao sie ihm gesandt, als Geschenk eines zutiefst Einsamen, der die Hoffnung dennoch nicht aufgeben mag:
Manhã tao bonita manha
na vida uma nova canção.
Cantando so teus olhos,
Teu riso, e tuas mãos…
Er summte mit, versuchte die Worte zu fassen – von einem Morgen, so schön wie ein neues Lied, das die Hände, die Augen, das Lächeln singen. Was anderes konnte er dabei empfinden, als dass alles gut war?
Life is still worthwhile! dachte er und verzichtete endgültig auf das, was von der Vorstellung eines dramatischen Todes übriggeblieben war – seinen heimlichen Wunsch, eines Tages, bevor ihn seine geistigen oder körperlichen Kräfte vollends verließen, ins Meer hinauszuschwimmen und nicht mehr lebend wiederzukehren…
Heutzutage ist es geradezu ein Happy-end, wenn einfach nichts mehr geschieht.