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Johannes Themelis
GESPRÄCH UNTER FREUNDEN
(aus dem noch unveröffentlichten Roman 1999 – WIEN UND DIE WELT)

Zur Einführung: Wir werden Zeugen eines Gesprächs, das ein fiktiver österreichischer Autor und ein fiktiver deutscher Verleger führen. Sie diskutieren, ob bzw. unter welchen Umständen man das Romanmanuskript „1999 – Wien und die Welt” veröffentlichen könne, und schweifen dabei immer wieder zu ganz anderen Themen ab (übrigens: Schönen Dank an alle Dichter und Denker, die einen Beitrag hiezu geleistet haben, ohne korrekt zitiert zu werden!). Was die beiden nicht wissen: Der fiktive Autor ist zugleich ein richtiger Autor, der tatsächlich einen Roman mit jenem Titel geschrieben hat, und in diesem Buch kommen die zwei Gesprächspartner als Figuren vor.

„Jede vergangene, gegenwärtige oder zukünftige Situation ist also mit wissenschaftlichen Mitteln nicht zu beschreiben, Themelis. Denken Sie zum Beispiel an einen Historiker. Wie sollte er sich mit den ihm eigenen Instrumenten der Tatsache nähern, dass für einen Ägypter des zweiten vorchristlichen Jahrtausends der Pharao nicht nur König, sondern auch Gott war? Der Experte kann die politische Entwicklung nachzeichnen, soweit sie sich aus den Quellen erschließt, er kann die sozialen Umstände, die überkommenen Artefakte, den philologischen Befund der zeitgenössischen Texte, den röntgenologischen Zustand der dorthin datierten Mumien beschreiben (und Sie sehen, ich lasse da schon einiges an Hilfswissenschaften zu). Niemand jedoch öffnet das Siegel des Motivationshorizonts eines einzelnen Menschen jener Ära!”

„Aber das wissen wir doch längst, Herr Direktor! Die Wissenschaftler belügen uns. Sie versuchen uns mit Halbwahrheiten abzuspeisen, während ihre wahre Tätigkeit darin besteht, ihre eigene soziale Klasse im Zustand weitestgehender Autonomie (und der damit verbundenen Privilegienmacht) zu halten. Selbst an der Stelle, an der sich das Weltsystem gegenwärtig befindet, wollen sie uns noch immer suggerieren, es müsse immer weiter dynamisch nach oben gehen mit Produktion, Einkommen, Kapitalbildung, obwohl wir damit ungebremst auf einen Crash zusteuern, da sich die Ressourcen mit gleicher – hoher – Beschleunigung erschöpfen. Jedes normale lebende System macht Wachstumsphasen lediglich als Übergangsprozesse zwischen unterschiedlichen stationären Zuständen durch. Wenn das exponentielle Wachstum über den Inflexionspunkt hinaus fortdauert, bedeutet das Zerstörung. Nun erfordert aber selbst unter günstigen Umständen das Einschwenken auf den höheren stationären Zustand neue, phantasievollere Organisationsformen als bisher, und das heißt, wir müssen uns von vielen vertrauten Gewohnheiten verabschieden. Aber man versucht uns weiter zu täuschen, Herr Direktor, man hat uns einen falschen Kompass untergejubelt! Man will uns einreden, all unser Tun habe bloß den Erhalt des Gesamtkapitals zum Ziel, wäre das alles Entscheidende, so als wäre die Zusammensetzung dieses Kapitals (seien es die vom Menschen erzeugten Produkte, die Natur, der Bildungs- und Gesundheitszustand sowie die institutionell-kulturelle Basis) bedeutungslos. Das verschwiegene Kriterium, nennen wir es philosophische Nachhaltigkeit, fordert hingegen die Erhaltung jeder einzelnen dieser Kapitalformen.”

„Das ist Ihre Chance, Themelis! Sie öffnen mit den metaphysischen Methoden des Künstlers dieses verschüttete Geheimnis der Existenz!”

„Ich erleide das, Mann – Verzeihung, Herr Direktor! Aber ich öffne nichts. Ich kratze an der Öffnung – bestenfalls und möglicherweise an der richtigen. Wenn auch nur ein Schimmer des Geheimnisses herausdringt, werde ich vielleicht etwas darüber wissen, wie ich jetzt bin, noch immer nichts darüber, wie ich war, und schon gar nicht darüber, wie ich sein werde.”

„Ich – ich verstehe Sie, Themelis, ich, Ihr Verleger. Aber ich fürchte, wir, die einander Verstehenden, werden immer weniger!”

„Sie haben sicher Recht, Herr Direktor, doch muss ich noch einen Schritt weitergehen: Ist der Begriff ‚wir’ überhaupt noch anzuwenden zwischen uns beiden oder, wenn Sie wollen, zwischen irgendjemandem? Gemäß der bekannten Wellentheorie, in der die Geschichtsepochen technologisch zu verstehen sind als Start der organisierten Landwirtschaft (vor 10.000 Jahren), als industrieller Take-off (vor 250 Jahren) und als Durchbruch der Informationstechnologie (jetzt), werden soeben unsere sozialen Formationen dekonstruiert. Man kann das erkennen, wenn man sich bemüht, nicht dem Sirenengesang des Mainstream zu erliegen (etwas, das Sie, Herr Direktor, von der Literatur entschieden fordern). Die Polarisierung schreitet fort, ohne sich um den liebgewonnenen inneren Frieden zu kümmern. Wie der Übergang von der Ersten zur Zweiten Welle Revolutionen gegen die ‚gottgewollten’ Ordnungen gebracht hat, scheint die Transition von der Zweiten zur Dritten Welle die Demontage des Konformitätsprinzips, der Uniformiertheit, der steilen Machtpyramiden zu bedeuten. Die Zweite Welle schuf die Massengesellschaft, die Dritte Welle zersplittert sie. Die Rezepte der Zweiten Epoche reichen nicht aus, um die Probleme dieses Strukturbruchs zu lösen – so etwa können die herkömmlichen Beschäftigungsprogramme dem neuen Proletariat der Nicht-Wissenden gegen die neue Klasse des ‚Kognitariats’ nicht helfen.”

„Alles klar, Themelis, Sie wollen mir sagen, dass mein Computer zu ingeniös sei, um bloß eine aparte Facette in meinem Lifestyle zu bilden! Was aber kommt nach der Welt des Cyberspace? Wissen Sie das auch schon?”

„Sie sehen das schon richtig: Die historischen Wellen plätschern nicht mehr im Abstand von tausenden oder auch nur hunderten Jahren. Die Vierte Welle rollt bereits an: Sie wird eine Vereinigung der Informations- mit der Gentechnik bringen. Nicht Orwells Großer Bruder bedroht uns künftig, sondern die Privatwirtschaft, die alles weiß und alles kann und die Methode hat, jeden einzelnen von uns, sei er Politiker oder Wähler, zu manipulieren.”

„Bevor das noch passiert, Themelis – garantieren Sie mir einige tausend Leser, und Ihr Buch wird auf jeden Fall gedruckt!”

„Dass ich nicht lache – eine einzige Legion, die Sie selbst nicht haben, verlangen Sie von mir gegen die zahllosen Legionen des radikalen Rechtspopulismus, des verwaschenen Wertkonservativismus, des frühpensionierten Versorgungssozialismus! Um es ganz klar zu sagen: Die Rolle des österreichischen Intellektuellen in der österreichischen Politik, ja in der österreichischen Öffentlichkeit schlechthin ist rasch beschrieben – es gab sie nie. Verstrickt in Parteibuchwirtschaft, in die peinlich genaue Etikettierung jedes auch nur erdenklichen Lebensbereiches, in den vorauseilenden Gehorsam gegenüber der blanken Macht seit den Tagen des unseligen Vormärz, der nie durch den Orgasmus einer blutigen, die Leichen der Herrscher durch die Straßen schleifenden Revolution erlöst wurde. Neurotisiert zwischen der unzweifelhaft vorhandenen geistigen Potenz, die sich aus der glücklichen Mischung so vieler ethnischer Gruppen ergeben hatte, und der unverrückbaren Dominanz alpenländischer Biertischmentalität. Beladen durch die verdrängte Mitschuld an der Erniedrigung so vieler einzelner Leben und immer wieder auch an der rabiaten Vernichtung so vieler Individuen in der fortwährenden Kakophonie des uralten, des älteren, des neueren und des neuesten Faschismus. Man hätte das radikal ändern müssen, dieses Land samt seinen Leuten. Aber diese Veränderung hätte im Kopf beginnen müssen, gerade weil dieser Kopf deformiert wird vom Herrn Vater und anderen Autoritäten von Anfang an. Mittlerweile haben sich die Massen, wie Sie sehen, schon wieder einen Führer gesucht, der sie mit denselben Phrasen ködert wie eh und je!”

„Themelis, Sie machen mich wahnsinnig, weil ich fühle, dass Sie Recht haben, aber damit zerstören Sie jede Hoffnung, und ich denke, dass ich Sie davon abhalten muss. Was ist denn mit der Lebensfreude? Sie können doch nicht Ihre Lebensfreude für sich behalten und uns, dem Publikum, Ihre Frustration aufladen!”

„Die Lebensfreude, Herr Direktor? Mit der habe ich nie hinter dem Berg gehalten! Um ganz vorne damit zu beginnen: eine Leberknödelsuppe, gefüllte Paprika mit Paradeissauce, dazu ein Glas leichten Roten, und als Nachtisch eine Sachertorte mit Schlag und eine Melange ist mir das Liebste auf der Welt. Wo sonst als in Wien, zum Beispiel im Café Kaisergarten, bekäme ich das? Wo sonst würde der Ober mir diese Genüsse servieren mit einem eleganten ‚Wünsche wohl zu speisen, Herr Professor!’ (er weiß nämlich, dass ich das Doktorat im Gegensatz zu anderen Gästen, die von ihm unverdient mit diesem Titel apostrophiert werden, tatsächlich besitze)?”

„Weder verstehe ich jetzt im Allgemeinen genau, was Sie mir damit sagen wollen, noch im Besonderen all Ihre Wiener Termini technici!”

„Was ich damit sagen möchte, ist: Wo sonst als dort, wo das geistige Land nach jahrhundertelangem Vandalismus weithin zerstört und inhaltsleer war, konnte man diese wunderschönen Gärten des Savoir vivre anlegen. Ganz zu schweigen von dem dekadenten Gefühl dieser alten Kultur, die Erste gewesen zu sein: aus diesem Gefühl heraus ein unerforschliches Selbstbewusstsein, ein Moment struktureller Unregierbarkeit!”

„Widersprechen Sie da nicht teilweise dem früher Gesagten?”

„Sie beginnen offenbar zu begreifen, Herr Direktor! Auch dieser Widerspruch ist nämlich ein Teil jener Kultur. Sie ist darin nicht unähnlich der indischen, die auch ganz gut mit den Divergenzen einer filetierten Gottheit leben kann.”

„Apropos Indien, Themelis. Waren Sie wirklich dort?”

„Wer weiß? Was spielt das schon für eine Rolle?”

„Ich frage mich, ob das alles stimmt, was Sie in Ihrem Buch darüber geschrieben haben. Ob Sie wirklich gewisse Erfahrungen gemacht haben.”

„Wenn ich eingedenk meines ‚Heiligen’, der mich das gelehrt hat, hier und heute ein Vehikel des Unterbewussten, ein Mandala, besteige oder mich auf jenen Chakra, den Sie schon kennen, konzentriere, kann ich – obwohl durch und durch korrumpiert im westlichen Lebenskreis – noch immer diese Exkursion wagen. Sie führt vom Tod des Begehrens mittels (wenigstens vorübergehender) Enthaltsamkeit in die Sphäre, wo jede Bewegung, ja Empfindung ausgeschaltet ist, wo man alles außer dem Atmen vergessen hat. Der Geist entzieht sich allen Sinnesobjekten, und man konzentriert sich auf eine einzige Idee. Unter dauernder Wiederholung der Silbe gelangt man in eine Betrachtung dieser Idee allein über alle Maßen hinaus. Sie würden vielleicht sagen, dass der vollständig geleerte Geist das Bewusstsein seiner selbst als abgegrenztes Wesen verliert, und Sie hätten nicht einmal Unrecht. Aber es gibt eigentlich keine Worte, die einem Uneingeweihten diesen Zustand beschreiben könnten. Als Definition ex negativo fiele es mir leicht, das was wir hier tun, als albern, skandalös, trivial und stupid zu bezeichnen oder als perverse Demonstration des Allgemeinverständnisses gegenüber dem, was ich erlebt habe.”

Der Verleger ist nicht so leicht zu knacken: „Ich möchte das Ihre Selbstübersteigerung nennen, Themelis.”

„Lassen wir es dabei, dass ich gelernt habe, mich selbst und wenigstens einen Teil der mich umgebenden Welt mit paranormalen Mitteln zu beeinflussen. Aber noch einmal betreffend Lebensfreude, Herr Direktor – zum Beispiel die Erinnerung an die Stunden der Geborgenheit und des Glücks in der Kindheit…”

„… da kriege ich irgendwie Zahnschmerzen, Themelis…”

„… ja sicher, irgendwie, aber es gab sie. Meine Mutter hatte eine sehr schöne Gesangstimme, mit der sie eine große Karriere hätte machen können. Aber sie sang nur noch für mich, immer ganz leise und immer dieses traurige Wiegenlied, und ich schlief ein in einer Mischung aus Hochgefühl und Melancholie. Oder der Heilige Abend – man müsste ihn erfinden, wenn es ihn nicht schon gäbe. Oder ein Zeichentrickfilm, in dem stets die Guten siegen. Oder die klassische Bildung des Gymnasiums, die aus dem jahrelangen Abstand eines McJob direkt verklärt wirkt.”

„Das passt gar nicht in Ihre Gesellschaftskritik!”

„Im Gegenteil – es ist die Wurzel meiner Gesellschaftskritik, weil ich mich frage, wie aus ganz normalen Kindern langweilige Erwachsene werden oder Opfer der Unmenschlichkeit, wenn nicht gar Täter.”

„Betreffend Lebensfreude, Themelis: Gibt es da auch die legendären Wiener Mädels?”

„Was wollen Sie hören, Herr Direktor, was ich im eigentlichen Manuskript nicht schon erzählt hätte?”

„Ich meine nur, ich folge Ihnen jetzt bereits seit Stunden geistig, wohin Sie wollen, nur lassen Sie mir und den anderen Lesern (wenn wir solche finden) auch ein wenig Unterhaltung…”

„Unterhaltung zu produzieren, ist nicht mehr schwer, eigentlich leichter als es je zuvor war. Schließlich leben wir mittlerweile, obwohl sie einmal so fern schien, an einer Jahrtausendwende. Die Wiener Mädeln gibt es allerdings nicht mehr. Auch in dieser Stadt sehen Sie nur noch die Babes der Weltkultur, die sich aus der Vorstufe des Frauentyps Girlie entwickelt haben. Dass sich die Weiblichkeit der Postmoderne kollektiv auf eine semantische Verkleinerungsform würde festlegen lassen, auf eine ideologische Regression, die sich in modischer Überzeugung manifestiert, hätte sich fast niemand erwartet, weder die Trendschnüffler noch die Werbefritzen. Es ging alles sehr schnell, die ersten Miniröcke kehrten wieder, im Nu bevölkerten Baby-Doll-Figuren die Straßen. Die Schaufensterpuppen wurden lebendig und verführten mit perfektem Styling zum einst nur virilen Träumen vorbehaltenen Rendezvous mit einer Schlampe.”

„Und welche Rolle spielen Männer wie wir dabei, Themelis – solche, die nicht mehr ganz jung sind?”

„Das mag für Sie ein Problem sein, Herr Direktor. Ich selbst bin so zeitlos, dass ich jederzeit mit einem solchen Wesen einen Hype haben kann. Da geht es nicht um Etikettenschwindel, wie man zunächst vermuten könnte – das Etikett ist selbst die Realität. Man wartet das Ereignis nicht gleichmütig ab, sondern führt es zielstrebig herbei, professionell organisiert, orchestriert und exekutiert: Wie es in der Gesellschafts-, Kultur- und Tagespolitik geschieht, funktioniert es auch im privaten Rahmen. Die Merkmale eines Hype sind Künstlichkeit, Flüchtigkeit und Penetranz: man konzipiert einen Event vernetzt und global, wickelt ihn exzessiv und ohne Rücksicht auf Streuverluste ab. Das ist der wahre, schon lange beschworene Triumph der Form über den Inhalt, die endgültige Umkehrung von Ursache und Wirkung, nein besser: die Maximierung der Wirkung bei vollständiger Unterdrückung der möglichen Ursachen.”

„Und da kann also jeder, mitmachen, Themelis – auch ich?”

„Da brauchen Sie keinen Namen und keine Herkunft, nur Laptop und Handy und blaue Brillen und die gewisse Zigarettenmarke und den bestimmten Softdrink und das entsprechende Outfit – schon haben Sie Ihren höchstpersönlichen Hype mit einem (meinetwegen Wiener) Babe, und wenn Sie nicht mit ihr schlafen wollen oder können, möglicherweise Aids Ihnen Kopfzerbrechen macht, dann flattert sie bloß um Sie herum, gibt den einen oder anderen Einblick frei, prüft ungeniert dessen Effekt durch einen Griff an Ihren Hosenschlitz, erzählt am nächsten Tag (sie geht wahrscheinlich noch in die Schule, fragen Sie sie nicht nach ihrem Geburtsschein) von dem coolen Trip mit der Celebrity!”

„Ganz bringe ich das noch nicht auf die Reihe.”

„Na also, Herr Direktor, da haben wir ja schon instinktiv die richtige Sprache. Das ist das zentrale Moment des Hype: Sie können sich ihm nicht entziehen. Sagen Sie, wissen Sie nicht alles über Madonna? Haben Sie nicht wenigstens von Madonnas Buch ‚Sex’ gehört? Haben Sie nicht wenigstens vor Madonnas Album ‚Erotica’ onaniert…”

„… ich muss schon sehr bitten…”

„… o pardon, aber haben Sie nicht wenigstens Madonnas Film ‚Body of Evidence’ gesehen? Mit diesem multimedialen Dreigestirn sollten schließlich alle gültigen Geschmacks- und Gattungstabus gebrochen werden – es handelte sich um den exemplarischen Hype mit der ultimativen Breitenwirkung. Niemand konnte von da an hinter Madonna zurück: Generation X, Neuer Mann, Dinosaurier, Political Correctness, Outing, Family Values, Supermodels, Punk-Revival, Brent Spar, Techno, Windows 95 – jedes dieser Ereignisse als überregionaler Hype aufgezogen: Verzeihen Sie, aber daneben nehmen sich die Produkte Ihres Verlags farblos aus. Natürlich wird nicht alles, was gehypt wird, automatisch ein Erfolg, aber im Brennpunkt von Information Highway und 500 TV-Kanälen kann seine Botschaft nur ans Publikum bringen, wer sie einem gnadenlosen Hype unterzieht.”

„Dann nichts wie ran mit Ihrem Buch, Themelis, organisieren wir einen Hype!”

„Da müsste unsere Klausur schon außergewöhnlich enden, Herr Direktor, dass noch ein Hype daraus wird.”

„Aber man könnte in Fernsehshows und Videogames eine geheime Botschaft an das Unterbewusstsein der Konsumenten installieren, neben ‚Ich liebe das Leben’ oder ‚Ich bin entspannt’ oder ‚Ich mag meine sexuelle Energie’. Eine Fünfzigstelsekunde genügt beim Computerspiel Endorfun, um eine Subliminal Message abzusetzen, während vordergründig farbige Würfel in die richtige Ordnung gebracht werden und allfällige Hintergrundmusik aus den Boxen des PC wabert.”

„Kauf 1999?”

„Alles lässt sich manipulieren, sogar politische Überzeugungen. Darum kann sich Ihr Staat noch immer ohne Scham Demokratie nennen – es ist einfach kein Problem mehr, wie die Wahlen ausgehen. Sie selbst haben mir die Grundlagen erläutert, und ich sage Ihnen, Themelis, ich habe verstanden: Wir besitzen sie schon, die Droge für das 21. Jahrhundert!”

„Was im Nu erwiesen wäre, wenn zum Beispiel ein Endorfun-Spieler Amok läuft, und dann heißt es, sein Unterbewusstsein habe die versteckte ‚Ich bin stark’-Botschaft in die falsche Kehle bekommen…”

„Noch einige Seiten, Themelis, dann wären wir mit Ihrem Werk durch.”

Ein einzelnes loses Blatt fällt aus dem Manuskript.

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AUS DEM LITERARISCHEN WERK DER AMÉLIE ALIAS „AGENT DREAM“
Dokumente einer möglichen Existenz, hrsg. von Claudia Themelis
unter sorgfältiger Bearbeitung

Fuck Off Gentlemen

Die abgetriebenen indischen
Mädchen sind nicht mehr als
ein letzter Beweis

– keine Frage der Meinung
– auch kein Streit

Es ist Krieg zwischen Frauen und
Männern
Krieg zwischen Welten, sternenweit
voneinander
entfernt

Ihr habt es nicht anders
gewollt!
– gewollt?

Fuck off gentlemen
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Der Verleger sieht grau aus: „Ist das vielleicht die Botschaft der neuen Zeit? Die Lebensphilosophie dieser Babes? Sind Sie nicht auch seltsam berührt? Gerade weil – wie Sie mir vielleicht gleich wieder versichern werden – dieses Gedicht nicht von Ihnen ist, auch nicht von Ihrer Frau, aber zum Teufel von irgendjemandem, der mit Ihnen irgendetwas zu tun hat!”

„Wäre schön, wenn es von mir wäre. Aber ich hätte niemals das Recht gehabt, es zu schreiben.”

„Ich frage mich langsam wirklich, wo diese losen Blätter zwischen Ihren Manuskriptseiten herkommen. Sind Sie sicher, dass sie Ihnen nicht bei einem Ihrer Kaffeehausbesuche unterschoben worden sind?”

„Irgendwo zweifellos, ja.”

„Es ist Ihnen gleichgültig? Merkwürdig – denn Sie können im Gegensatz zu mir nicht aus diesem seltsamen Land wieder nach Hause fahren. Vielleicht, Themelis, hat Sie die sogenannte Staatssicherheitsdivision bereits in der Mangel?”

„Ist mir völlig egal, Herr Direktor!”

„Immerhin plaudern Sie in diesem Buch Staatsgeheimnisse aus.”

„Dass ich nicht lache…”

„Lassen Sie sich eines gesagt sein: Das düsterste Geheimnis jeder Ideologie besteht darin, dass ihr Allerheiligstes leer ist, aber das darf nur der jeweilige Hohepriester allein wissen. Niemals dürfen die Gläubigen in die Nähe dieser Wahrheit gelangen.”

„Geht mich nichts an!”

„Sie werden sich den Konsequenzen stellen müssen, Themelis – ob Sie nun wollen oder nicht, denn Sie haben es getan: Sie zerreißen den Vorhang des Tempels von oben nach unten, wenn mir die Metapher gestattet ist. Sie haben alles demontiert, nichts übrig gelassen. Und dazu noch diese Texte, die angeblich (oder auch von Ihrem Standpunkt aus tatsächlich) nicht die Ihnen sind, so wie etwa dieses Gedicht. Sendet hier nicht doch Ihr erleuchtetes Unbewusstes eine Subliminal Message an uns? Noch nie habe ich mehr als heute begriffen, dass es keine Möglichkeit gibt, all diese Scherben, vor denen wir stehen, wieder zusammenzukitten.”

„Da wäre ich nicht so pessimistisch. Wir müssen nur banalerweise wieder von vorne beginnen, Herr Direktor.”

„Zunächst aber zu Ende lesen, Themelis.”

Das Gespräch endet schließlich fatal und in diesem Sinne auch als Hype – wie jedoch genau, darf hier noch nicht verraten werden!