Biedermeier – oder Vormärz
Werner Schicklgruber
Als Assoziation zum Schubert–Jahr: Der Komponist des Forellen–Quintetts ist zugleich der Titan der h–Moll–Symphonie (besser bekannt als „Unvollendete“). Man soll niemals den Fehler begehen, Menschen zu unterschätzen. Vielleicht steht der Mitbürger, der heute scheinbar teilnahmslos durch 500 Fernsehprogramme surft, eines Tages auf und verändert die Welt.
Am Beginn des Biedermeier war die Kriegsmüdigkeit nach dem Sieg über Napoleon. Relativ bereitwillig ließen die Völker Europas eine Restauration der alten Ordnung zu: besser irgendwelche Regeln als die Zügellosigkeit der Revolution, die so viele Opfer gefordert hatte, dass darunter die Ziele der Aufklärung und die Ideale von Freiheit / Gleichheit / Brüderlichkeit verschüttet worden waren.
1815 noch konstituierte sich die antiliberale „Heilige Allianz“ der Siegermächte. Die konkrete Umsetzung ihrer Doktrin in Österreich erfolgte durch die „Karlsbader Beschlüsse“, deren Grundsätze sich gegen jeglichen geistig–politischen Spielraum richteten. Personifiziert wurde diese Politik durch Metternich, der 1821 österreichischer Innenminister wurde.
In genau diesen Jahren aber – um nur die plakativsten Momente herauszugreifen –formulierte Savigny den Grundsatz des Rechtes, das nicht gemacht wird, sondern vom Volk ausgeht; forderte der Engländer Owen die Gründung kleiner, nach kommunistischen Prinzipien lebender Gemeinden; wurden in Deutschland Karl Marx und Friedrich Engels geboren; wird die schon erwähnte Schubert–Symphonie geschaffen, deren Klänge die erst wesentlich später von der Psychoanalyse definierten seelischen Syndrome einer extremen inneren Komplexität des Menschen künstlerisch vorwegnehmen und damit weit über das hinausragen, was sich Metternichs Zensoren träumen ließen.
So geht es dann weiter in einer bemerkenswerten Dualität öffentlicher Repression, die das Individuum in ein idyllisch–dümmliches Biedermeier verbannen wollte, und privat initiierter Entfaltung des Geisteslebens, die eine durchaus revolutionäre („vormärzliche“) Sprengkraft aufwies. Es reicht vielleicht, einige Schlaglichter auf die Fülle des Geschehens zu setzen:
Die öffentliche“ Linie:
1825 Niederschlagung des Dekabristen–Aufstands in Russland – 1830 Unruhen in Braunschweig, Göttingen, Sachsen und Kurhessen, die erfolglos blieben und damit weniger glücklich als die Juli–Revolution in Paris, die schon eineinhalb Jahrzehnte vor den anderen Ländern das Ende des Feudalismus einläutete – 1835 Verbot der liberalen Schriften des „Jungen Deutschland“ – 1837 Rücknahme der Verfassung in Hannover – 1839 Chartisten–Aufstand in England unterdrückt – 1844 Weber–Aufstand in Schlesien niedergeworfen.
Zu all dem parallel die private Linie: In dieser Periode wirkt noch Hegel, der Vorvater der Dialektik, Wilhelm Weitling beschreibt „die Menschheit wie sie ist und wie sie sein sollte“, der englische Philosoph Bentham postuliert das oft zitierte „größt–mögliche Glück für die größtmögliche Zahl“, John Stuart Mill verfasst sein „System der deduktiven und induktiven Logik“, dessen konsequenter Empirismus sich dem Pathos der bloßen Ideologie entgegenstellt – und der Satz vom „Sein, das das Bewusstsein bestimmt“ wird geprägt. In dieser Periode lebt noch der Schweizer Pädagoge Pestalozzi, der die Entfaltung der Anlagen eines Menschen über den Erwerb von Wissen stellt, Joseph de Lafayette gründet den Verein der Menschenrechte, der erste Arbeiter – Bildungsverein wird in Deutschland gegründet, zugleich gibt es die ersten Ansätze der später weithin in Europa verbreiteten Institution der Volkshochschule. In diese Zeit fallen nicht zuletzt die Geburtsdaten der deutschen Frauenrechtlerin Auguste Schmidt und der österreichischen Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner – beides Persönlichkeiten, deren Wirken besonders weit in die Zukunft vorausgewiesen hat (insofern ihre Ziele bis in die heutige Zeit nicht vollständig verwirklicht sind).
Und dann kam das Jahr 1848: Februar–Revolution in Paris – selbst das Regime des sogenannten Bürger–Königs Louis Philippe ist dem Volk zu restriktiv; März–Revolution in Deutschland und Österreich – die Karlsbader Beschlüsse werden abgeschafft, Metternich flieht nach London; Oktober–Revolution in Österreich – Kaiser Ferdinand dankt zugunsten des jungen Franz Joseph ab, neben anderen Maßnahmen wird als wesentliches feudales Relikt die bäuerliche Untertänigkeit abgeschafft, ungarische und tschechische Erhebungen gegen die Habsburger können in weiterer Folge nur mit Mühe eingedämmt werden. Es war als ob man 30 Jahre lang den Deckel auf dem Kochtopf niedergehalten hätte – was letztlich vergeblich bleiben muss.
Geschichte ist unwiederholbar. Neue sozio–ökonomische Grundlagen, neue Denk– und Sprachschemata machen jede Zeit unverwechselbar. Dessenungeachtet leben auch wir in einer Epoche, an deren Ende der Deckel in die Luft fliegen wird.