Mut zur Lücke
Werner Schicklgruber
Wenn ich mich richtig erinnere, war es Aristoteles, der uns geraten hat, keinem Gegenstand mehr Präzision zu widmen, als diesem zukommt. Wie recht er doch hatte, schon damals, vor mehr als 2000 Jahren.
Kürzlich im Hallenbad spielten drei Buben Wasserball. Ein Badegast empörte sich, zu mir gewandt, mit folgenden Worten: Die wissen wohl nicht, dass Ballspiele laut Badeordnung verboten sind! – Welcher Paragraph? fragte ich interessiert (das war ein wenig unfair, aber Satiriker bringen es eben nicht über sich, Satiren nicht entstehen zu lassen). – Er kam nicht in Verlegenheit. Wie aus der Pistole geschossen, antwortete er mir: § 3 der Sonderbestimmungen!
Ich hab’s nicht nachgeprüft, um ehrlich zu sein, aber mir scheint, der Typ kannte tatsächlich die Badeordung auswendig. Genau betrachtet, habe ich an diesem Urlaubsmorgen viel über die österreichische Seele und ihren Umgang mit der Realität erfahren. Wer nämlich die Wirklichkeit durch ein dichtes Netz von Regeln betrachtet, ist wohl kaum in der Lage, die lapidarsten ökonomischen Zusammenhänge zu begreifen – soferne man nämlich Wirtschaft nicht als etwas Bestehendes betrachtet, das man bloß zu administrieren braucht, sondern als etwas Dynamisches, das kreativ weiterentwickelt werden muß, um lebendig und vor allem auch ertragreich zu bleiben.
Ohne die natürlichen Interessengegensätze von Eigentümer, Management und Belegschaft eines Unternehmens einerseits sowie den ebenso natürlichen Antagonismus zwischen Unternehmen und Außenwelt andererseits verwischen zu wollen, behaupte ich doch, dass alle irgendwie in einem Boot sitzen. Die Kunden wollen Produkte und Leistungen, die sie benötigen, und wenn ein Unternehmen diese Bedürfnisse in spezifischer Form befriedigt, dann bleibt nach Abzug aller Spesen genug über, um die Interessen der einzelnen Funktionsgruppen innerhalb des Unternehmens erfüllen zu können. Und natürlich: erst wenn etwas übrig bleibt (wie das geht: siehe Kundenbedürfnisse), lohnt sich die Diskussion über die interne Verteilung.
Wer jetzt meint, ich buchstabiere aus dem banalsten aller Textbücher, mag schon Recht haben, aber sind diese Binsenweisheiten nicht angebracht, wenn man einen Disput darüber führt, ob bezahlte Dienstzeiten auch tatsächlich zu leisten sind? Dabei muß man über Löhne ebensowenig debattieren wie über andere Kosten: wenn durch ihre Aufwendung ausreichend Mehrwert entsteht, dann ist ja alles in Ordnung, ganz unabhängig davon, wie man einzelne Gehaltsbestandteile tituliert.
Einer Gruppe amerikanischer Diplomaten erzählte ich etwas über den Euro. Bei der Gelegenheit kann ich es mir meist nicht verkneifen, besonders den ungeheuren Impetus herauszuarbeiten, den wir Europäer uns vom großen einheitlichen Wirtschaftsraum und von der – folgerichtig – diesem beigesellten gemeinsamen Währung erwarten, und zwar nicht nur für das Wirtschaftsleben im engeren Sinn, sondern auch für die zivile Gesellschaft im besonderen. Die Gäste aus Übersee waren ein wenig skeptisch – zu groß empfanden sie offensichtlich (noch, wie sie höflich formulierten) den Unterschied zwischen meiner Vision und den alltäglichen Erfahrungen, die sie hier vor Ort machen konnten. Der Delegationsleiter verpackte seinen Zweifel in eine geschickt gestellte Frage: Warum es in Europa (das habe er bei seinen beruflichen Einsätzen diesseits des großen Teichs festgestellt) im Vergleich zu Amerika so wenig Pioniergeist gäbe?
Im Umgang mit den Freunden aus USA bewährt sich an dieser Stelle eine launige Bemerkung: Weil nämlich, antwortete ich, die Pioniere alle ausgewandert sind, die anderen aber blieben und bleiben hier. Herzliches Lachen – ein bisschen Selbstzynismus (bei anderen) gefällt den Amis. Aber etwas Wahres ist schon dran mit dem Pioniergeist: in den USA würde niemand sein Leben mit Paragrafenreiterei verbringen. Wenn man eine Geschäftsidee hat, probiert man sie einfach aus: geht mit 10 $ ins Sheriff’s Office, meldet sein Business an. Geht es gut – okay, macht man Pleite – Pech gehabt!
Die vergleichsweise Betulichkeit meiner engeren österreichischen und weiteren europäischen Landsleute bringt mich manchmal ganz schön auf die Palme, umso mehr als ich älter und ungeduldiger werde. Man redet vom Handeln! Und alles muß hundertmal abgesichert sein, so als ob jegliche Spontaneität ansteckend wäre. Kreativität bewegt sich aber immer auf schwankendem Pfad und die vollkommene Sicherheit in bezug auf die Zukunft gibt es nicht, so sehr uns das manche auch einreden wollen.
Gut, dass die Ideen des Aristoteles wenigstens irgendwann über fremde (d.h. nichteuropäische) Mediatoren ins Abendland zurückgebracht wurden – gegen den heftigen Widerstand der damals im 12. Jahrhundert herrschenden geistigen Elite. Sonst wüßten wir nicht einmal, dass schon einmal vor langer Zeit auf europäischem Boden ein Denker vom Wesentlichen gesprochen hat, und davon, dass das Wesen der Dinge in ihren vielen Möglichkeiten besteht, die durch die formende bewegende Kraft des Verstandes realisiert werden können, und weiters davon, dass dieser Verstand sich nicht mit Kleinlichkeiten und Unerheblichkeiten vergeuden soll, sondern – siehe oben – jeder Sache gerade so viel Augenmerk widmen soll, als ihr gerade noch zusteht.
In diesem Sinne wünsche ich uns den Mut zur Lücke!