EIN SELTSAMES PAAR
Sie kannten einander nicht, zunächst nicht einmal ihre Namen, selbst als sie in seiner abgefuckten Bude erstmals miteinander schliefen. Ein Mann und eine Frau und ihr Sex, nicht mehr und nicht weniger.
Sie waren sich zufällig begegnet, und sie war wie selbstverständlich zu ihm gekommen. Dort hatten sie sich unverzüglich ausgezogen wie und waren übereinander hergefallen – ohne Rücksicht auf Verluste. Nachdem sie sich ein zweites Mal geliebt hatten, brach die Frau kurzerhand auf – sagte nicht „Auf Wiedersehen“. Der Mann insistierte: „Wann gibt es ein neues Date?“ Die schöne Unbekannte beschied ihn: „Nächste Woche um dieselbe Zeit.“
Das war die längste Zeit seines Lebens – sie verging unheimlich langsam. Die Zeiger der Uhr schienen wie festgenagelt zu sein, zumal er nichts anderes denken konnte, als an die ungeahnten Freuden, die die Lady ihm bereitet hatte. Er malte sich aus, was er noch alles mit ihr anstellen mochte. Wie intim kann ein Paar werden, das sich nicht kennt, nicht liebt? Sprechen ihre Körper eine andere Sprache? Eine direktere, ehrlichere?
Und dann kam der bewusste Tag (es war ein Mittwoch), an dem sie ein Wiedersehen vereinbart hatten. Der Mann war schon sehr gespannt, ob sie sich wirklich blicken ließ. Und da war sie auch schon, legte einfach ab – Mantel, Kostüm, ihre Strümpfe, ihre Schuhe, ihre Unterwäsche. Und sie stand vor ihm, in der größten Selbstverständlichkeit, und sie sagte zu ihm „Auf was wartest Du!“ Er beeilte sich, wobei er keine annähernd so gute Figur machte wie sie. Dessen ungeachtet stellte er mit ihr alles Mögliche und Unmögliche, geschützt durch die Anonymität ihrer Beziehung. Sie berauschten sich daran, wie ihre blanken Leiber ineinander stürzten, ihren Rhythmus gefunden haben. Da gab es keine Stellung, die sie nicht ausprobierten: Patronengurt, Brückenpfeiler, Waffenstillstand, stolze Königin, Schmetterling, Stehparty, Wackelpeter, Kreuzstich, Klammergriff, Anbetung und was es da sonst noch gab im Kamasutra…
Er schlief vor Erschöpfung halb ein, während sie sich anzog und grußlos seine Wohnung verließ. Eines Tages zwang er sich doch, aufzubleiben und sich anzukleiden, auch wenn es schwerfiel. Er konnte es nicht mehr aushalten und wollte ihr nachschleichen. Der Weg führte in ein Viertel mit nicht sehr gutem Ruf – nicht, dass seins besser gewesen wäre, aber sei’s drum. Er nützte jeden Mauervorsprung, um nur ja nicht von ihr gesehen zu werden. Am Ende ging sie in ein Café…
Aufs Geratewohl betrat er das Lokal und erblickte zunächst einen Windfang, durch dessen Ritzen er die Frau gerade noch in einer Tür mit der Aufschrift „PRIVAT“ entschwinden sah. Daraus schloss er, dass sie in irgendeiner Form mit der Örtlichkeit verbunden war – vordergründig war er aber beruhigt, dass sie sich nicht unter den spärlichen Gästen befand.
Das Café stellte sich viel geräumiger dar, als es von draußen ausgesehen hatte. Er drückte sich in eine Ecke aus Angst vor einer Beobachtung – da fiel ihm ein, dass er irgendwas bestellen müsste. Und da war auch schon ein dienstbarer Geist: offensichtlich der Cafétier selbst, der ihn in seinem Etablissement herzlich willkommen hieß. „Mein Name ist Sebastian, meine Freunde nennen mich Basti!“
„Kevin“, sagte der Gast und lüftete damit gleichzeitig für uns seine Identität. „Ich nehme einen Capuccino!“, sagte er.
Ihre Unterhaltung entwickelte sich in der schönsten Weise – sie sprachen über Gott und die Welt. Der Lokalbesitzer ließ aufhorchen, indem er erzählte: „Ich habe eine Dokumentation gesehen mit dem Titel ‚Kant und sein kategorischer Imperativ‘.“Hört sich kompliziert an!“ „Ist es ganz und gar nicht. Im Grunde ist es der gute, alte Spruch: ‚Was du nicht willst, dass man dir tu‘, das füg’ auch keinem anderen zu!‘ Nichts anderes…“
„Und was ist da Revolutionäres daran?“ „Der gute Immanuel hat das verbrämt zu: ‚Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.‘ Philosophen-Sprache eben!“
„?“
„Die nachfolgenden Denker haben sich daran in vielerlei Hinsicht ausgetobt. Es gibt da –
– die transzendentalpragmatische Interpretation:
Eine Maxime ist genau dann verboten, wenn sie selbst oder ihre Verallgemeinerung zu den notwendigen Voraussetzungen ihrer Aufstellung widersprüchlich ist. Es wäre zum Beispiel verboten, zu stehlen, um Eigentum zu erlangen, weil das allgemeine Anerkennen und Respektieren meines Eigentums Voraussetzung zur Aufstellung der Maxime ist. Verallgemeinert, also wenn jeder so handeln würde, würde aber genau diese Voraussetzung nicht mehr zutreffen.
– die konsequentialistische Interpretation:
Eine Maxime ist genau dann verboten, wenn ich die empirischen Folgen, die sie als allgemeine Praxis hätte, nicht wollen kann. Ein Verbot des falschen Versprechens wäre also deshalb gegeben, weil ich in einer Welt, in der das allgemeine Praxis wäre, niemandem mehr trauen könnte.
– die teleologische Interpretation:
Eine Maxime ist genau dann verboten, wenn sie zu den in der Natur (des Menschen) enthaltenen Zwecken widersprüchlich ist. Beispielsweise darf man sich nicht im Sinne von Leidvermeidung aus Selbstliebe umbringen, da mir die Selbstliebe ebenso gebietet, mein Leben zu erhalten.
– die Rational-Agency-Interpretation:
Nach diesem Ansatz ist die rationale Handlungsfähigkeit bzw. der gute, d.h. durch Vernunft bestimmte, Wille das höchste und einzige moralische Gut der kantischen Ethik. Maximen, die im Widerspruch zu diesem Gut stehen, sind unmoralisch. Es wäre nach diesem Ansatz beispielsweise verboten, einem Notleidenden nicht zu helfen, da „notleidend“ nichts anderes heißt als aus eigener Kraft über keine vernünftige (= die Situation verbessernde) Handlungsalternative zu verfügen. Es ist also geboten, dem Notleidenden zu helfen, um seine vernünftige Handlungsfähigkeit zu gewährleisten.“
Darauf Kevin: „Ich kann mir nicht helfen, aber diese ganze ‚Filosofie‘ erscheint mir überhaupt eine Form von ‚höheren Blödsinn‘ zu sein!“
„Sie waren mir gleich bei Ihrem Eintreten sympathisch!“ „Das Kompliment kann ich nur zurückgeben!“
Kevin empfahl sich dessen ungeachtet bei nächster Gelegenheit, um den Bogen nicht zu überspannen, nicht ohne ein „Beehren Sie uns bald wieder!“ zu hören…
Er war Taxichauffeur – ein zugleich spannender und trostlos langweiliger Beruf, spannend deshalb, weil er mit den unterschiedlichsten Typen zusammentraf, und öde deshalb, weil er sich zu Tode langweilte, bei langen Stehzeiten zwischendurch. Da wartete er schon sehnlichst auf den kommenden Mittwoch. Aber es war um eine Spur anders, nachdem er die schöne Unbekannte zum Teil enttarnt hatte.
Pünktlich erschien sie, und die Beiden ergingen sich wieder – mit dem Klassiker, der Schnecke, der Anbetung und der Fußangel und was es da noch zu entdecken gab. Nächste Woche probierten sie den Balanceakt, den Frosch, die Kerze und die seitliche Samba. Und dann trieb es Kevin wieder in das bewusste Lokal. Der Cafétier, offensichtlich über seinen Besuch erfreut, bot ihm ein herzliches Willkommen.
„Wir betreiben im Untergeschoss ein kleines Theater, wo meine Frau, Alize von mir genannt ‚Ali‘ (aber das hört sie nicht gern), derzeit Regie führt in einem Stück von William Shakespeare namens ‚Der Sturm‘. Kennen Sie es?“ „Tut mir leid!“ „Dann lassen Sie mich ein wenig ausholen!“
Basti legte umständlich die Grundzüge des Plots dar…
„Das Stück handelt vom Schicksal Prosperos und seiner Tochter. Dieser wurde als Herzog von Mailand von seinem Bruder vertrieben, ist auf eine Insel geflüchtet, überwindet mittels Magie seine dort gestrandeten Feinde und kehrt, nachdem seine Ehre wiederhergestellt worden ist, in seine Heimat zurück.
Zwölf Jahre vor Einsetzen der Spielhandlung waren der Zauberer Prospero und seine Tochter Miranda auf einer Insel gestrandet. Prospero war vormals Herzog von Mailand gewesen, hatte sich jedoch mehr und mehr mit seinen magischen Studien beschäftigt und seine Pflichten als Herzog vernachlässigt. Dies nutzte sein machthungriger Bruder Antonio aus, indem er mit Hilfe Alonsos, des Königs von Neapel, eine Armee aufstellte, gegen Mailand zog und Prospero stürzte. Prospero war zusammen mit seiner Tochter in einem kaum seetüchtigen Boot auf die Insel entkommen.
Inzwischen ist er Herrscher der Insel. Ihm unterstehen der Luftgeist Ariel sowie der deformierte Sohn der Hexe Sycorax namens Caliban. Sycorax hatte Ariel vor ihrem Tod in einer gespaltenen Kiefer gefangen gesetzt, in der er auf ewig geblieben wäre, hätte Prospero ihn nicht befreit. Aus Dankbarkeit steht Ariel jetzt Prospero zu Diensten.
Auf dem Rückweg von einer Hochzeit in Tunis segelt die Flotte des Königs von Neapel mit dem Königsbruder Sebastian, dem Königssohn Ferdinand und Prosperos Bruder Antonio an der Insel vorbei. Prospero befiehlt Ariel, das Schiff des Königs in einem Unwetter an der Insel stranden zu lassen. Während das Schiff von dem Luftgeist an die Insel getrieben wird, hält der Rest der Flotte es für verloren und fährt nach Neapel zurück. Ariel versetzt die Besatzung des gestrandeten Schiffs in einen Zauberschlaf, die übrigen Schiffbrüchigen lässt er auf der Insel umherirren. Ariel führt Ferdinand zu Prospero und Miranda, die außer ihrem Vater und Caliban noch keinen Mann gesehen hat und sich sofort in Ferdinand verliebt wie auch dieser sich in sie…“
Kevin unterdrückte ein Gähnen. „Am besten, Sie kommen zur Premiere. Die ist in etwa vier Wochen!“ sagte Basti. „Derzeit finden die Proben von Montag bis Donnerstag statt, während von Freitag bis Sonntag ein ganz anderes Genre bedient wird. Schlamm-Catchen steht auf dem Programm!“
„Schlamm-Catchen?“ Kevin schaute ungläubig drein.
„Schauen Sie sich das gelegentlich an. Sie sind herzlich eingeladen!“
Kevin stand aber auf was ganz anderes. Er wartete schon den Mittwoch sehnlich, um mit seiner Angebeteten die Schubkarre, die Portugiesische Galeere, das Nirvana, den Aufstieg zur Lust und schließlich den Spannungsbogen aufzuführen. Und nächsten Mittwoch (selbe Zeit, selber Ort) versuchten sie den glühenden Wacholder, die hitzige Sitzung, die Fußangel, die Bootsfahrt, den Beinstrecker und die Herausforderung. Kevin schlief schon ein, während sie sich noch fertigmachte…
Und dann schneite er in das Café. Er begab sich in das Souterrain, wo er sich hinter eine Säule stellte. Es war Samstag – und am Samstag gab es offensichtlich Publikumsbeteiligung, und zwar für jeden, ob Frau oder Mann. Widerpart war stets Bastis Ehepartnerin Alize.
Während am Freitag und am Sonntag ausschließlich Damen gegeneinander kämpften und sich nur zum Schein wehtaten, wenn man von ein wenig Schmutz absah. Die Attraktion des Schlamm-Ringens entsteht bekanntlich aus mehreren Faktoren: Erstens verleiht der Schlamm einen Glanz auf den Körpern der Ringerinnen, der ihren Reiz akzentuiert. Zweitens zeigt die Zufälligkeit des Kampfs mehr unkonventionelle Anblicke der Körper der Ringerinnen als im normalen Striptease. Drittens läuft der Kampf gewöhnlich auf die absichtliche Eliminierung der Bikinis der Ringerinnen hinaus. Viertens gibt es eine offensichtliche pseudolesbische Komponente.
Kevin kam dazu, wie ein ungehobelter Klotz soeben den Kopf von Alize tief in den Schlamm drückte, dass ihr Hören und Sehen verging – nur die Aussicht auf fette Einnahmen ließ sie das durchstehen. Er beugte sich vor, damit ihm nichts entging. Zu seiner größten Überraschung – und auch wieder nicht, denn er hatte es längst vermutet: Alize war die schöne Unbekannte! Und sie sah ihm direkt ins Gesicht!
Kevin flüchtete aus dem Lokal, um zu retten, was zu retten war. Sehnsüchtig wartete den nächsten Mittwoch ab – aber sie erschien nicht. Am übernächsten Mittwoch hatte er die Hoffnung längst aufgegeben. Dann jagte er eine Kugel in den Kopf…