WIR
Meine erste große Liebe war meine Volksschullehrerin – Erika hieß sie.
Sie hatte rote Haare, feuerrot, und das erklärt auch meine Fixierung auf diesen Typ Frau bis zum heutigen Tag, auch wenn ich später des Öfteren davon abgewichen bin. Es ist nur so, dass ich mich nach jeder Dame mit dieser Mähne umdrehe, abgesehen von der Tatsache des zwanghaften Ansprechens, was mir neben beglückenden Erlebnissen auch durchaus peinliche Situationen eingetragen hat.
Sie war so schön, schlank und groß – und das sage ich nicht nur aus der verklärten Erinnerung heraus. Sie war streng, aber gerecht, wie man das seinerzeit so sagte. An mir hatte sie einen Narren gefressen, ich war ja auch ein entzückendes Kind. Relativ erwachsen für mein Alter, so stand ich vor ihr, in der vierten Klasse – noch war mir die sexuelle Seite der Angelegenheit nur in Ansätzen bewusst.
Ich durfte ihr fallweise die Schularbeitshefte nach Hause bringen, in ihre winzige Wohnung in der Schöpfleuthnergasse in Wien 21 (gebürtig war Erika an sich aus Litschau im Waldviertel, wo ihre Eltern so recht und schlecht eine Landwirtschaft betrieben und wo sie fallweise die Wochenenden verbrachte), direkt neben unserer Schule, die sich in der Leopold-Ferstl-Gasse befand. Und da kam es mir instinktiv so vor, als ob sie mehr von mir wollte.
Sie verkniff sich jedoch jede diesbezügliche Andeutung – das war seinerzeit noch gefährlicher, als es das heutzutage wäre, und auch aktuell ist es schlimm genug. Erst am allerletzten Schultag, als ich sie als einziger begleiten durfte (von allen Übrigen hatte sie sich bereits verabschiedet), um all die Blumen heimzubringen, drückte sie mir einen festen Kuss auf meinen begierigen Mund, aber nicht mehr…
Ich habe Erika nicht wiedergesehen.
LIESELOTTE
Meine Cousine Lieselotte und ich haben uns erst kennengelernt, als sie mit ihren Eltern von Eisenstadt nach Wien zog, in die Ratschkygasse in Wien 12. Wir verstanden uns von Anfang an blendend, wie selbstverständlich (wie überhaupt ich mit Frauen mein Lebtag lang besser ausgekommen bin als mit Männern). Ich lebte klarerweise noch bei Vater und Mutter, und da kam Lieselotte uns, namentlich während der Ferien, besuchen. Sie dehnte ihre Gastspiele unmerklich immer stärker aus, bis sie praktisch die Monate Juli und August bei uns verbrachte.
Sie war um drei Jahre älter als ich. Es ergab sich – da war ich vierzehn –, dass wir eines besonders schönen Sommers häufig schwimmen gingen. Da kam es manchmal vor, dass sich in meiner Badeshort einiges regte – sie war durchaus attraktiv in ihrem Bikini. Ich machte ihr ein Kompliment, ein ziemlich eindeutiges Kompliment. Sie ließ es angesichts der gegebenen Öffentlichkeit wohl gefallen. Dann aber, als wir allein waren, gab sie sich wesentlich zugeknöpfter. Sie hatte in der Umkleidekabine ihren sexy Bikini abgelegt und Hose und Bluse – durchaus weniger spektakulär – angezogen.
Abends hörten wir Musik und tanzten dazu fallweise. Ich war frühzeitig groß gewachsen und überragte Lieselotte um ein Stück – wenn wir zum Beispiel einen Cha-Cha hinlegten, gaben wir ein adrettes Paar ab. Wir tanzten zu Elvis Presley, manchmal auch zu Harry Belafonte – da schmiegte ich mich an sie, und sie duldete das wohl. Ich öffnete den obersten Kragenknopf ihrer Bluse und das machte ihr augenscheinlich nichts. Ich arbeitete zum zweiten Knopf vor und sichtete bereits ihren BH – wieder keine erkennbare Reaktion. Als ich den BH von hinten auspacken wollte, protestierte sie heftig. Ich stellte meine diesbezüglichen Bemühungen keineswegs ein – sie tolerierte das bis zu einem gewissen Grad, bis dann der Moment kam, an dem sie sagte: „Jetzt ist es aber genug…“ Sie verabschiedete sich in ihr Zimmer und verriegelte die Tür, vernehmlich, dass ich es hören konnte.
Anderen Tags ging es wieder zum Schwimmen. Schwimmen konnte sie sensationell toll (schon aus ihrer Zeit, die sie in der Nähe des Neusiedler Sees verbracht hatte) – aber mit dem Tauchen haperte es. Sie stellte sich fürchterlich an, drückte die Augen zu, dass sie vollkommen die Orientierung verlor. Ich brachte ihr mühevoll bei, ihre Sehorgane offen zu halten – zunächst vergeblich. Ich machte klar, dass ich Taucherbrillen abstoßend finde.
Lieselotte war aber von Ehrgeiz zerfressen. Sie schaffte es in kürzester Zeit, eineinhalb Minuten unter Wasser zu bleiben, allerdings mit geschlossenen Augen. Und sie schaffte es, drei Minuten unter Wasser zu bleiben, noch immer mit geschlossenen Augen. „Wann entschließt Du Dich endlich, unter Wasser zu schwimmen und dabei Deine Augen offenzuhalten! Du hast an sich schöne Fortschritte gemacht – jetzt schau endlich unter Wasser!“
Sie stellte sich furchtbar an – zum Schluss hatte sie Erfolg!
BRANKA
Da traf es sich gut, dass mein Vater, Lieselotte und ich (ich war mittlerweile fünfzehneinhalb Jahre alt geworden) zu unserem ersten Badeaufenthalt am Meer aufbrachen – anlässlich eines Sommerurlaubs in Jugoslawien (zu einer Zeit, als es noch ein einheitliches Staatsgebilde war). Für eine Woche war alles gut. Wir schwammen und tauchten nach Herzenslust – Lieselotte hatte mittlerweile besonders was das Tauchen betraf große Fortschritte gemacht. Dann – zu Beginn der zweiten Woche – trat ich mir einen Seeigel ein.
Ich musste von der Krankenschwester (in Ermangelung eines Arztes auf dieser Insel) eine von mehreren Spritzen bekommen. Branka, so hieß die Dame, war von chronischer Langeweile geplagt. Sie stammte aus Belgrad und empfand es als Zumutung, auf das, was sie als den Arsch der Welt betrachtete (aber das war eben im Kommunismus so), versetzt worden zu sein. Dementsprechend führte sie sich auf, hurte durch die Gegend – aber nie ohne Kondom: „Branka ist eine Schlange – sie beißt die ganze Nacht!“
Nicht ohne Kondom – das lernte ich in der Praxis bei Branka kennen und genauso Sex in Reinkultur – lediglich Sex, nur Sex. Sie sagte, dass das ein natürlicher Vorgang wäre und sie verstärkte ihn durch intensives Reiben an meinem Glied. Sie hatte sich mittlerweile auch ausgezogen (da war nicht viel auszuziehen, denn unter ihrem Kittel trug sie wegen der Hitze nur einen Slip) und führte meinen Penis in ihre Scheide ein. Das war so unendlich schön, dass ich bat, wiederzukommen. Sie hatte nichts dagegen und ich wiederholte meine Besuche bis zum Ende des Urlaubs. Meinem Vater sagte ich, ich müsste zur Kontrolle.
LIESELOTTE (Fortsetzung)
Lieselotte habe ich zwar weiterhin gesehen, aber es war nicht dasselbe. Während unsere Erfahrungen bis jetzt auf Petting beschränkte, ging ich nunmehr aufs Ganze, ausgestattet mit der Technik, die mir Branka beigebracht hatte (Kondom inklusive). Lieselotte hatte volles Vertrauen zu mir und sie wollte alles richtig machen, aber der Drive war heraußen…
Mir wurde bewusst, dass es „nur“ meine Cousine war. Sie hat über oder lang einen Herrn Selbicka geheiratet.
BEATRIX
Es ist gekommen, wie es kommen musste: Wie dumm von mir, dass ich das Du-Wort im entscheidenden Moment nicht automatisch gewählt habe. „Ich liebe Sie!“, sagte ich etwas unbeholfen. Zu meiner Entschuldigung möchte ich anführen, dass ich damals gar keine Erfahrung mit richtigen Frauen (und nicht nur mit Zufallsbekanntschaften) hatte.
Das mitkriegen und das Gesicht verziehen, war für Beatrix eines. Zu oft hatte sie einen derartigen Unsinn schon vernommen – sie verachtete es, immer dieselben Lügen zu hören. Mir wiederum ging es um etwas sehr Ernstes, wenngleich es für ein geübtes Ohr lächerlich erschien: Nur eine Zeile zwar, doch für mich war sie wahr. Wir saßen in einem Lokal in der Brünner Straße in Wien-Floridsdorf, das nebenbei bemerkt gar nicht mehr existiert (da haben sie den Marchfeldkanal hindurchgegraben).
Beruflich arbeitete Beatrix als Direktionssekretärin in der Wiener Rückversicherungsgesellschaft. Ihr Vorgesetzter war damals ein soignierter Sechziger, der sich – wie alle Vorgesetzten dieser Generation – kein Blatt vor dem Mund nahm. Er bellte schon am Morgen, und das nahm im Laufe des Tages noch zu, und wenn er ihr je zu nahe trat, kümmerte ich mich nicht darum. Ohnehin schien es nicht sicher zu sein, dass das jemals passiert war.
Was wollte ich eigentlich von ihr? Eine gute Frage…
Ich befand mich damals in einer komplizierten Phase meiner Entwicklung, oder muss man eher sagen Nicht-Entwicklung – wer wusste das so genau. Es erschien mir problematisch, etwas zu tun, genauso etwas nicht zu tun. Neunzehnjährig wie ich war (heutzutage kommen die Kids wesentlich früher in diesen Konflikt), hatte ich an dieser Zerrissenheit schwer zu tragen.
Beatrix war vom Alter her ziemlich ähnlich, vielleicht um ein oder zwei Jahre reifer als ich – aber welcher Unterschied tat sich hier auf: Nach dem Besuch einer Handelsschule mit exzellenten Ergebnissen war sie im Nu zur rechten Hand ihres Chefs emporgestiegen. Damit hatte sie einen gewaltigen Vorsprung vor mir. Sie lebte überhaupt bewusster als ich, der sich – nach einem unspezifischen Abschluss (nämlich mit der Matura), der alles oder nichts bedeuten konnte – zuallererst im Klaren sein musste, welche Studienrichtung er einschlagen mochte.
Aber erzählen konnte ich. Beatrix hörte mir, belustigt manchmal, zu. Sie hatte irgendwie diese feine Ironie – das gehörte einfach zu ihr. Man musste schon daran gewöhnt sein, sonst tat man sich schwer mit dieser unkonventionellen Erbarmungslosigkeit. Aber wenn man sich mit dieser einmal angefreundet hatte, und sei es nur, dass man sich einfach damit abfand, war alles in Ordnung.
Aber erzählen konnte ich, wie gesagt. Ich war mir bewusst, jenseits dieser gewissen Mitleidlosigkeit und Gnadenlosigkeit, dass sie an meinen Lippen hing. Dass sie ein jedes Wort nachklingen ließ, um auf diese Art mehr zu erfahren, wie ich tickte. Aber das war eine Einbahnstraße – sie sagte weder, in welchen Etablissements sie verkehrte (außer in der bewussten Lokal, wo sie stets mit mir hinging), noch durfte ich sie jemals im Büro abholen.
Und dann war Beatrix plötzlich verschwunden, auf Nimmerwiedersehen. Ich habe nie wieder etwas von gehört. Ein Anruf bei ihrer Dienststelle (trotz des strengen Verbots) ergab außer eisigem Schweigen nichts.
HERTA
Herta war eine andere Cousine von mir. Ich ging auf den Ball meines Gymnasiums (BRG 21 in der Franklinstrasse). Er fand im Hotel Intercontinental statt, das gab ein Wiedersehen mit alten Freunden – wir waren längst aus der Schule draußen. Ich trug einen schwarzen Anzug, Herta dafür ein golden glitzerndes schulterfreies Minikleid, das Aufsehen erregte. Ich war konnte mich gar nicht einkriegen vor Stolz.
Wir tanzten die ganze Zeit – manchmal aßen wir etwas, und dann ging es tanzend weiter. Ich hatte eine geschwellte Brust, das sah man mir auch an. Ich war seinerzeit ein ausgezeichneter Tänzer, Herta sowieso, und so schwangen wir das Tanzbein bis in frühen Morgen – wir zählten zu den Letzten, die die Tanzfläche verließen. Herta hatte nichts von ihrer Ausstrahlung eingebüßt, während ich schon etwas geschafft war.
Dennoch sagte ich: „Und was machen jetzt mit dem angebrochenen Nachmittag?“ Sie hatte eine kleine Wohnung gleich um‘s Eck bei uns am Mühlschüttel in der Prießnitzgasse. Sie kochte mir einen Kaffee und entließ mich darauf.
Ich habe sie länger nicht wiedergesehen…
SONJA MARIA
Sonja Maria habe ich während dreier Jahre gekannt. Sie war nicht eigentlich sonderlich hübsch, aber interessant. Zum Schuss (wenn ich mich derart despektierlich äußern darf) bin ich – für so eine Unmenge an Zeit – lediglich ein einziges Mal gekommen. Ich verhielt mich ganz schön blöd, vernachlässigte sogar mein Studium für sie, was überhaupt der Gipfel des Schwachsinns war. Verrückt, nicht…
Allzu lange mochte ich es nicht wahrhaben – aber die Dame fuhr zweigleisig/doppelspurig, oder wie immer man das ausdrücken wollte. Ich kam erst stückchenweise dahinter, aber sie gab es auch unumwunden zu, als die Katze aus dem Sack war. Sie hatte lediglich das verlängerte Wochenende (also inklusive Freitag) für mich reserviert, während die Wochentage (also von Montag bis Donnerstag) meinem Nebenbuhler vorbehalten waren. Wie Schuppen fiel es da plötzlich von meinen Augen – die Wochenenden musste er bei seiner Familie zu Hause verbringen.
Mein Mitbewerber ging nicht so zimperlich mit Sonja Maria um wie ich. Wenn er sie als „Fickfroscherl“ bezeichnete, war das entlarvend genug, jedenfalls für mich: diese Eingrenzung auf den einen Punctum puncti. Nie würde mir der Gedanke kommen, sie als Derartiges zu apostrophieren – da war ich mir zu vornehm dazu, allein die Vorstellung, so etwas zu äußern, war mir äußerst widerlich. Ich hätte mir vorstellen können, sie als Täubchen zu titulieren, aber weiß Gott nicht als Fickfroscherl.
Während ich Sonja Maria mit Geschenken überhäufte, war er ausgesprochen knausrig, mit Rücksicht auf das Haushaltsbudget, das – so gab er auf alle Fälle an – seine Frau zu Hause verwaltete. Er traf sich prinzipiell mit Sonja Maria in ihrer Wohnung, wobei er sicherheitshalber einige Gassen von ihrer Bleibe geparkt hatte, um nur ja nicht aufzufallen (was vergeblich schien, denn ein Privatdetektiv seiner Eheliebsten war längst fündig geworden, allein sie behielt es für eine günstige Gelegenheit noch für sich).
Ich sah lange Zeit zu – ich bemühte mich tatsächlich um Sonja Maria, dem Himmel sei’s geklagt. Dann platzte mir unversehens der Kragen, als ich bei ihrem Haus in der Leopoldauer Straße verbeifuhr, und sie meinem Kontrahenten zum Abschied zuwinkte. Sie hat mich nicht gesehen, ich durfte auch gar nicht dort sein, so war es abgemacht, aber ich hielt mich nicht daran. Und so ging mein Rivale zu seinem Auto, es handelte sich um einen BMW, während ich in meinem Golf saß. Ich startete auf Nimmerwiedersehen, und das ist das Ende dieser Geschichte.
Was hat mich wirklich an Sonja Maria fasziniert?
Dass sie, aus einfachsten Verhältnissen stammend (ähnlich mir selbst), wie ein Schwamm die Gelehrsamkeit aufsaugte, die ich mir selbst mühsam beigebacht hatte. Ich setzte mich, zumindest am Anfang dieses doch sehr langen Lebensabschnittes, mit Sonja Maria auseinander, wenngleich ich mit einem Auge nach dem gleichen Punctum saliens schielte, wenn auch mit mehr Berechtigung als mein Konkurrent – so hatte ich mir das jedenfalls zurechtgelegt. Einerlei, ich machte zuletzt entnervt Schluss…
FRANCA
Auf meinem Heimflug aus Japan lernte ich ein Captain Girl (so hieß damals die Oberste des Kabinenpersonals) kennen. Ich flog mit Swissair und den Namen der Dame werde ich nie vergessen: Franca Caravaggiolo. Sie stammte, wie nicht anders zu erwarten, aus der italienischen Schweiz – wir unterhielten bei praktisch unbesetzter Maschine lang und ausführlich. Es war einer jener magischen Momente, zeitlos und unwiederbringlich, da jeder uns wusste, dass es keine Wiederkehr gab – wir hatten maximal zehn Stunden zur Verfügung. Und die galt zu nutzen – wir hatten nicht viel Zeit für ein Geplänkel. Ich küsste sie leidenschaftlich und sie küsste mich zurück.
Wir erzählten uns unsere halben Lebensgeschichten, Probleme inklusive, aber nicht so, dass wir unsere Partner stante pede verlassen wollten – das nicht, soweit war es noch nicht und würde es nie gehen. Wir uns und wurden wir „handgreiflich“ – wir fielen auf der Bank der ersten Klasse übereinander her, ohne uns groß auszuziehen. Das war uns viel zu gefährlich, trotz der Tatsache, dass die erste Klasse, abgesehen von uns beiden, leer war.
Und dann redeten wir miteinander und gaben das Letzte von uns preis – wohlgemerkt, ohne das Faktum, dass wir uns nicht wiedersehen würden. Franca monierte, dass ihr Mann sie schlug, übrigens sodass die Spuren im Verborgenen zu finden waren („saubere Folter“ nannte man das in Fachkreisen). Ich konnte im Gegenteil damit nicht aufwarten – meine Erfahrungen spielten sich eher auf der psychischen Ebene ab.
Dann kam der Abschied. Wir waren wieder Fluggast und Angestellte der Airline…
ROSWITHA
Ich habe ewig studiert, und die unterschiedlichsten Dinge – dreißig Semester lang. Da lernte ich in dieser langen Zeit immer neue Leute kennen, auch jüngere als meinem Jahrgang entspricht. Eine dieser späteren Bekannten war eine Studienkollegin, die mir eines Tages ein sensationelles Geheimnis verriet: Um sich ihr Studium zu finanzieren, arbeitete sie in einer Wiener Bar (welche blieb unser Geheimnis) als Stripteasetänzerin. Als Deutsche und als Numerus Clausus-Flüchtling dachte Roswitha, die Chance, dass jemand Bekannter im Publikum saß, nicht so groß war, als wenn sie das zu Hause in Heidenheim – da war sie nämlich her – gemacht hätte.
Ich war auch einmal bei einer ihrer Vorführungen, weil ich natürlich neugierig war, und sie war auch damit einverstanden. Ich muss zugeben, dass mich das schon eigenartig berührt hat, wenn wir nebeneinander im Hörsaal im Historischen Kolleg der Universität Wien saßen, und ich als einziger dort von ihrem „Doppelleben“ wusste. Ich wurde geradezu süchtig nach ihr, und nachdem wir miteinander im Bett waren, machte ich die unbeschreibliche Erfahrung, dass sie einerseits eine „öffentliche Frau“ war, anderseits eine höchst private Persönlichkeit darstellte.
Während sie ihre öffentlichen Auftritte als Job wie jeden anderen betrachtete, und mir gegenüber die private Seite der Angelegenheit in den Vordergrund rücken wollte, war für mich die Sache nicht so einfach. Daran zerbrach unsere Beziehung zu guter Letzt – ich wollte sie für mich allein haben, obwohl ich das nie im Leben zugegeben hätte. Es zog mich aber nach wie vor magisch in den Strip-Club, wo ich eine Menge Geld ausgab. Ich war ja nie wieder eingeladen, als Gast des Nachtlokals und Bekannter der Entkleidungskünstlerin. Sie hat mich aber nie wieder eines Blickes gewürdigt. Und auch keinen anderen Mann: Sie war gar nicht mehr interessiert an weiteren Techtelmechteln.
Sie trat unter dem Pseudonym „Roswitha von Gandersheim“ auf – beileibe nicht als die Mystikerin und Dichterin, die den Triumph der Keuschheit in den Vordergrund stellte, im Gewand einer Kanonissin mit Kreuz, Buch und Schreibfeder. Im Gegenteil: Hier dominierte die heidnische Lasterhaftigkeit über die christlichen Frauentugenden.
Von Zeit zu Zeit wurde das Programm erneuert, genau zweimal pro Jahr – und umso verstiegener, desto besser. Eine der schrägsten Entdeckungen, die ich je im Repertoire entdecken konnte (und sie arbeitete auch selbst mit), war ein Knüller. Roswitha von Gandersheim machte verschiedene Dinge, die man gar nicht so richtig einordnen konnte, aber worum es ging, ist ein „Aerial Act“, also eine „Luftnummer“, in der sie an einer Schlinge hing, die wiederum an einem großen Kronleuchter befestigt war, und dort oben vollbrachte sie ihre Kunststücke. In zunehmender Nacktheit, bis der letzte Faden fiel…
Ich studierte damals ganz etwas anderes, sprunghaft wie ich war. Eines Tages erfuhr vom Hörensagen, dass sie mittlerweile ist längst zurück in Deutschland und arbeitete seit mehreren Jahren als Mittelschulprofessorin für Englisch und Geschichte, daheim in Heidenheim. Dort wusste niemand etwas von der Sache in Wien, nicht einmal ihr eigener Mann (oder sollte man vielleicht sagen: der schon gar nicht).
ISABELLA
Isabella und ich waren uns von Anfang an sympathisch. Ihr Mann (den sie ursprünglich schon geliebt hatte, sonst hätten die beiden gar nicht geheiratet) beschäftigte sich mit Essen und Trinken, wobei Letzteres als exzessiv zu betrachten war. So schickte es sich, dass er schon stockbesoffen auf der Party, die ich in meinem Haus veranstaltete, erschien. Das erste Mal übrigens, einer meiner Kollegen hatte die beiden mitgebracht.
Ich war von hin und her gerissen – so eine Frau schien mir vorher nie begegnet (da hatte ich Cora noch nicht kennengelernt). In ihrem roten enganliegenden langen Kleid stellte sie die Königin dieser Veranstaltung dar, jedenfalls für mich. Ich tanzte nur mit ihr, und ihr Mann gebärdete sich auch gar nicht eifersüchtig, schüttete sich einen hinter das Zingulum und ließ die Sache auf sich beruhen.
Platz war genug in dem weitläufigen Haus, und abseits der Tanzfläche, wo uns niemand beobachten konnte, kam es dann zur Entschleierung, und zwar zog ich Isabella aus, und sie zog mich aus. Wobei ich feststellte, dass sie einen G-String anhatte und sonst nichts (wieder eine Parallele zu Cora), und ich mich wenig spektakulär aus meinem Anzug und meinen Boxershorts schälte. Ich lag ausgestreckt auf dem Rücken, als Isabella, jetzt splitterfasernackt, sich langsam näherte. Sie kniete sich mit gespreizten Schenkeln über mich und setzte sich auf meinen Bauch. In der Hand hielt sie ein kleines Fläschchen, das sie aus ihrer Handtasche gezaubert hatte, und fing an, ein Massageöl auf ihre Handflächen zu träufeln. Sie erwärmte es, in dem sie das Öl zwischen ihren Händen verrieb, und begann, mich damit einzuölen.
Damit war die Bahn frei für mich, und wir hatten den allerschönsten, langsamen Sex. Wir küssten uns ausgiebig, so als ob es kein Morgen gäbe. Den eigentlichen Vollzug hinauszuzögern, war mein Bestreben, und das gelang mir auch mit ihrer Hilfe hervorragend – da erglühte Isabella schon richtig heiß und bereit, sich mir hinzugeben.
Ermattet lagen wir da. Mir ging durch den Kopf, dass sie mit ihrem Mann schon zwei Kinder hatte, und mir war es herzlich egal, genauso wie Isabella, die in der gegebenen Situation weit weg von ihren Sprösslingen weilte. Ganz im Gegenteil – sie war wieder ein junges Mädchen bei ihrem ersten Date, allerdings mit der Orgasmusfähigkeit einer Frau mit ausgeprägter Erfahrung und mit mehr und mehr Selbstbewusstsein, was dazu verhalf, die eigenen sexuellen Wünsche zu vertreten.
Wir versuchten es noch einmal, und es erwies sich wieder so schön wie beim „ersten“ Mal. Richtig oder falsch – was soll’s. Es war uns mittlerweile gleichgültig, ob da jetzt jemand hereinkam. Manchmal stürzte ein Besucher oder eine Besucherin herein, sagte – als er oder sie die verfängliche Lage, in der wir uns befanden, sah – „Entschuldigung“ und war wieder verschwunden. Wir ließen uns nicht stören und machten einfach weiter.
Nach langer Zeit zogen wir uns an und gesellten uns wieder zu den übrigen – unsere Abwesenheit war keinem aufgefallen. Zu sehr war die Aufmerksamkeit des anderen Publikums in diverse Richtungen zerstreut. Isabellas Mann schlief den Schlaf des Gerechten. Die Party versickerte.
Meine Geliebte drängte auf einmal zum Aufbruch – sie musste das Geschehene irgendwie verarbeiten. Sie bat um die Autoschlüssel, aber ihr Gatte, der inzwischen aufgewacht war, gab sie ihr nicht. Er wollte selbst fahren, wie sich das für einen ordentlichen Macho gehörte, und er wankte zum Wagen. Drei Kilometer ging alles gut. Dann kamen sie auf die andere Straßenseite – er wird wohl eingenickt sein. Ein entgegenkommendes Auto erfasste die beiden, und sie waren sofort tot.
Ich erfuhr erst am nächsten Morgen in den Lokalnachrichten davon. Bis dorthin hatte ich mich in den süßesten Träumen gewiegt, und Pläne für die nächste Zukunft und darüber hinaus…
Aber irgendwie war ich doch beruhigt, dass ich ihr so etwas Schönes zum Lebensende bieten konnte. Von da an machte ich mich ständig auf die Suche nach einer Tröstung, wenn ich mir das keinesfalls eingestand. In der Person von Cora habe ich diese schließlich nach langem Warten – und als ich schon fast aufgeben wollte – gefunden.