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POLYGAMIE

Als Amira und Gabriel drei Jahre zusammen waren, spürte Amira plötzlich, dass sie auch mit anderen schlafen wollte. Für Gabriel anfangs eine Horrorvorstellung – „Du liebst mich offensichtlich nicht mehr!“, warf er ihr vor, und war nicht davon abzubringen.

„Dir gehört mein Herz, aber Sex möchte ich auch mit anderen haben. Es gibt ja einfach die Situationen, in denen du jemanden kennenlernst, der dir optisch gut gefällt. Und dann fragt man sich auch, wie es wohl wäre, ihn zu küssen oder gar mit ihm zu schlafen.“

Sie sei glücklich gewesen (und sei es noch), erklärte sie ihm, und der Sex mit ihm wunderbar. Aber irgendwann, so erklärt sie, sei in ihr wieder ein Interesse aufgekommen. Ganz langsam, aber immer intensiver. „Ich liebte ihn sehr und für mich war er nach wie vor der Mann, mit dem ich zusammen sein wollte. Aber immer öfter, wenn ich abends mit meinen Freundinnen unterwegs war, angemacht worden bin oder mir jemand auffiel, hätte ich mich gerne darauf eingelassen. Nicht, weil ich einen neuen Partner suchte. Ich spürte den Reiz nach etwas Neuem und wollte sexuelle Abwechslung.“

Und dann kam die Probe auf‘s Exempel – als Amira mit ihren Freundinnen aushäusig (und ohne Gabriel) war, fiel ihr ein richtiger Gentleman auf, an den sie sich gleich heranmachte, obwohl es schwer war. „Wollen Sie mir mir schlafen?“, fragte sie rundheraus. Der alleinstehende Herr, und um so einen handelte sich zweifellos, blickte sie belustigt über seinen Brillenrand an, und er sagte zu ihrer nicht geringfügigen Überraschung: „Warum nicht! Probieren wir‘s gleich hier oder wollen Sie in meine Haus kommen?“.

Die Freundinnen stachelten sie auf: „Nun geh‘ schon mit ihm – hopp oder dropp!“ Und sie ging schon mit ihm, der perfekte Gentleman und Amira. Ganz wohl war ihr bei der Sache ohnehin nicht. Die Haus stellte sich als repräsentativ heraus – „Ein geeigneter Rahmen für jede Art von Schweinereien!“, dachte Amira bei sich, „Aber ich habe einen Gentleman bei mir.“

Der Mann legte seine Rolle als vollendeter Kavalier gleich einmal ab, und zwar gründlich, sowie sie sein Haus betreten hatten. Er fesselte sie an‘s Bett (das durchaus imponierend war, aber das spielte hier die wenigste Rolle), fest und stählern. Dann machte sich über Amira her, nicht achtend der Hilferufe, die sie ausstieß – das Domizil war zu abgelegen, als dass irgendjemand sie hören konnte. Dabei ging im Prinzip behutsam vor, soweit das überhaupt möglich war. Als er seine Triebe ausreichend befriedigt hatte, machte er sie los. „Schön war‘s mit dir!“ Anschließend rief er ihr ein Taxi – und das war‘s dann.

Ihren Freundinnen schärfte Amira ein, Gabriel keinesfalls etwas davon zu erzählen. Die späteren Erfahrungen, damit dem „Gentleman“ blieben überhaupt ihr Geheimnis – die ganze Angelegenheit war wohl eher ein Schuss in den Ofen. Sie konnte beziehungsweise wollte Gabriel von vornherein miteinbeziehen, dann würde es leichter gehen. Als die Beiden miteinander geschlafen, trug Amira ihre Wünsche vor und machte es Gabriel durchaus schmackhaft, bis er selbst schon daran glaubte. Den ersten Freifahrtschein plante jeder für sich.

Gabriel verabredete sich mit seinen Kumpels an einem Samstag für das übliche Barhopping. Und auch Maria zog mit ihren Kumpaninnen um die Häuser. Seine Kumpels waren ziemlich neidisch und meinten, ich hätte den Jackpot gezogen. Tolle Frau zu Hause, aber in ein anderes Bett dürfe er trotzdem springen. Er wusste, dass Amira an dem Abend ebenfalls unterwegs war und versuchte die Vorstellung, sie liege irgendwann in den Armen eines anderen Mannes, komplett auszublenden. Das gelang ihm überraschenderweise auch.

Gabriel und Amira haben über dieses erste Mal (in ihrem Falle war es schon das zweite Erlebnis, aber das blieb ein Geheimnis zwischen ihr und ihren Freundinnen) gesprochen. Details vermeiden sie grundsätzlich, den Grund dafür sollte ich später erfahren. „Ich sah dieses Mädchen mit blonden Locken an der Bar stehen und fand sie auf Anhieb total sexy. Vorher sind mir schöne Frauen natürlich auch aufgefallen, aber ich habe nie einen Schritt weitergedacht. Da ich ja jetzt durfte, sprach ich sie an.“ Sie flirteten, tranken Bier und Sambuca und verstanden sich blendend. Als das Mädchen Gabriel irgendwann küsste, fühlte sich das zuerst befremdlich an. „Es war schön, aber ich hatte automatisch kurz ein schlechtes Gewissen. Sie war die erste Frau, der ich nach zwei Jahren näher kam. Und sie war nicht meine feste Freundin.“

Aber vor allem: Das Mädchen war Gabriel egal. Obwohl er sie nett und anziehend fand, spielte sich das Kennenlernen auf einer ganz anderen Ebene ab. Es ging eben nicht darum, ob sie mögliche Feste-Freundin-Qualitäten mitbrachte oder single war, sondern einfach um den Fakt, dass sie hübsch war – gut küssen konnte. Gabriel ging mit zu ihr. Obwohl darüber vorher nicht gesprochen wurde, war klar, dass er sie nicht mit in sein, das heißt Amira’s, Bett nahm. Und auch für sie war klar, dass ihr Aufriss nicht mit zu ihr kommen durfte. Blieb nur ein Hotel. Heute sagt sie: „Der Typ hat mir optisch super gefallen. Obwohl man sich natürlich auch unterhält und sich ein bisschen kennenlernt, war sein Charakter vollkommen nebensächlich. Ich wollte mit ihm schlafen, weil er heiß war.“

Den ersten Fremd-Sex beschreiben Gabriel und Amira als „gut, aber etwas unbeholfen“. Vor allem, weil es das erste Mal (für sie bedeutete es zweite Mal, wohlgemerkt, aber das war ihr Geheimnis) aber auch signalisierte es, weil sie es darauf angelegt hatten und es passieren musste. Sie wollten beide testen, ob sie sich das auch in Zukunft vorstellen konnten. Motto: Kein Kuscheln nach dem Sex! Beide gingen nach dem Sex nach Hause. Und beide fühlten sich gut. Gabriel sagte: „Das war ein klassischer One-Night-Stand. Keine Gefühle, keine anschließende Handynummer, reiner Sex mit einer Fremden.“ Seine anfänglichen Zweifel erklärt er so: „Ich kenne Maria und weiß, wie leidenschaftlich, aber auch wie liebevoll und zärtlich sie sein kann. Wenn wir miteinander schlafen, fassen wir uns anders an, wir lieben uns in jeder Form.“ Gabriel habe befürchtet, dass Amira so mit einem Fremden schläft, wie sie es mit ihm tut.

Sein erstes Mal habe ihm aber die Augen geöffnet. Gabriel bemerkte: Das sind zwei verschiedene Dinge, die er in dieser Nacht auseinanderhalten musste. Es gibt Sex mit Gefühl, den er mit Amira hat. Und eben Sex ohne Gefühl, den er mit der Fremden hatte. Beides schön, aber beides auch vollkommen unterschiedlich und unvergleichbar. Wichtig war für ihn auch, dass sich die Gefühle für Amira nicht veränderten. Sie beschreibt ihr Empfinden ähnlich. Für sie sei ebenfalls klar gewesen, dass sie anschließend nicht aneinander gekuschelt einschlafen. „Obwohl ich natürlich hundemüde war, wollte ich unbedingte nach Hause. Diese andere Form von Nähe, wie ich sie beispielsweise durchs Kuscheln habe, wollte ich mit dem Typen nicht. Die habe ich ja mit Gabriel.“

Als sie sich am nächsten Morgen sahen, waren beide ein bisschen nervös, aber voller Vorfreude. „Ich weiß noch, wie wir uns in die Arme fielen und uns ständig sagten, wie sehr wir uns lieben!“, sagte Amira lächelnd und küsste Gabriel. Das brauchten beide, um sich gleich zu Beginn zu bestätigen, dass diese Nacht nichts an ihren Gefühlen füreinander verändert hatte. Als sie so auf dem Bett lagen und sich eng umschlungen von ihrem Abend erzählten, versuchten beide anfangs den Details aus dem Weg zu gehen. Aber sie brannten trotzdem darauf, zu erfahren, wie der andere die Nacht empfunden hatte. Nicht genau zu wissen, was passiert war, sondern welche Gefühle sie am nächsten Tag hatten.

Gabriel machte den ersten Schritt. „Es war aufregend, neu und schön auf eine ganz eigene Weise.“ Aber vor allem: „Ich habe noch mal gespürt, wie sehr ich dich liebe. Ich habe nie daran gezweifelt, aber ich erkannte noch mal mehr, wie wunderbar die Nähe und Vertrautheit mit dir ist. Wie aufregend auch das Unbekannte mit einer Fremden sein kann, aber wie gerne ich dann in deinem Arm liege, mich voll und ganz auf uns einlassen kann und mich aber gleichermaßen auch frei fühle.“ Ab dem Zeitpunkt beschlossen Gabriel und Amira, in Zukunft auch mit anderen schlafen zu dürfen.

Wie ist es möglich, dass zwei Menschen, die sich so sehr lieben, nicht die pure Eifersucht packt? Gabriel sagte: „Meine Erfahrung zeigt, dass es bei mindestens 80 Prozent der Partner, die fremdgehen, nicht um klassische Eifersucht geht, sondern diesem Gefühl eine Angst zugrunde liegt – die Angst, verlassen zu werden. Meistens beginnt dieses Gefühl der Angst, wenn sich die Beziehung bedroht anfühlt.“ Oftmals ist das dem*der Einzelnen nicht klar und er spricht von Eifersucht. Ab wann es sich aber nach einer Bedrohung anfühle, sei davon abhängig, welche Grenzen gezogen worden sind. Die müsse jedes Paar für sich definieren. „In einer Partnerschaft sollte es einen eigenen Schutzkreis der Intimität geben, bei dem die Grenzen unterschiedlich sein können.“

Amira und Gabriel haben für sich einen eigenen Schutzkreis definiert. Sie erklärte: „Dass wir uns lieben, ist die Grundvoraussetzung. Unsere Liebe ist unantastbar.“ Dafür seien aber Gespräche unverzichtbar. Gabriel sagte: „Wir reden vermutlich mehr über unsere Gefühle füreinander als andere Paare. Aber so stellen wir unsere Liebe auch nie infrage, im Gegenteil: Wir fühlen uns noch sicherer.“ Vor allem empfänden sie dadurch niemanden als Bedrohung. Auch Gabriel ist sich sicher, dass Kommunikation besonders bei diesem Beziehungsmodell notwendig ist. Es gebe keine festen Standards, wie eine Partnerschaft funktioniere. Aber es müsse gesprochen werden. Deshalb sei es auch klug, dass Regeln aufgestellt werden. Die haben auch Amira und Gabriel.

Beide wissen, dass bei ihnen die Gefahr, Gefühle für jemand anderen zu entwickeln, besonders hoch ist. Deshalb dürfen auch keine Kontaktdaten ausgetauscht werden. Sex ja, wiedersehen nein. Das Versprechen haben sie sich gegeben. Sollte es allerdings doch mal passieren, haben die beiden auch eine Lösung. Gabriel sagte: „Wir haben uns geschworen, dass wir es uns sofort erzählen, falls sich Gefühle entwickeln sollten. Wie auch immer wir dann damit umgehen werden, wir müssen darüber sprechen. Und nicht erst eine Woche später, sondern sofort.“ Bislang sei das aber noch nicht passiert.

Details aus der Nacht werden nicht erzählt. Und das liege überraschenderweise nicht daran, dass diese Details einen der beiden verletzten könnten. Amira erklärte: „Wir leben zwar in einer Partnerschaft, wollen aber vor allem sexuell nebeneinander existieren und nicht nur miteinander. Jeder lebt seine eigene, sexuelle Freiheit. Das, was wir miteinander machen oder welche Wünsche wir haben, besprechen wir im Detail. Alles, was Gabriel ohne mich tut, geht auch nur ihn etwas an. Das ist meines Erachtens auch Teil des Freiraums, den wir uns geben.“ Für Amira und Gabriel ist ihre Sexualität Teil jedes Individuums. „In vielen Partnerschaften wird die Sexualität als etwas Gemeinsames und als fester Bestandteil gesehen, der gemeinsam erlebt wird. Dadurch, dass es in diesem Fall getrennt wird, kann das Beziehungsmodell auch funktionieren und es entsteht keine Eifersucht.“

Innerhalb von zwei Jahren haben beide mittlerweile mit fünf anderen geschlafen. Das Überraschende ist, dass es nicht mehr sind. Gabriel erklärte: „Es ist ja nicht so, dass wir losziehen und sagen so, heute schlepp ich mal jemanden ab. Es geht vielmehr um die Situationen, in denen du jemanden triffst, von dem du dich sexuell total angezogen fühlst. Und dich davor auch trotz Beziehung nicht verschließen musst. Aber diese Begegnungen gehören ja auch nicht zu einem normalen Samstag.“ Wenn Amira und Gabriel zusammen ausgehen, machen sie das bewusst und genießen es, ein Paar zu sein.

Amira ist davon überzeugt, dass Menschen zwar feste Partnerschaften brauchen, aber es sexuell schwierig sei, sich langfristig an nur einen Menschen zu binden. Es ist evolutionsbedingt, dass Wesen im Kern polygam sind. Schon früher waren die Überlebenschancen in einer Herde besser. Wir sind aber auch monogam sozialisiert. Für Gabriel und Amira funktioniert ihr Beziehungsmodell, weil sie trotz Polygamie ihre Grenzen festgelegt haben. Sie leben in einer Partnerschaft, sprechen über Gefühle und ihre Bedürfnisse. Sie fühlen sich dadurch nicht bedroht, weil sie ihre Beziehung beispielsweise auch durch Regeln schützen.

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Es kam, wie es kommen musste: Gabriel verliebte sich in eine andere Frau – unsterblich, wie er sagte. Er verließ Amira…