Main menu:

KALEIDOSKOP – Leseprobe 2

Kapitel 4

Aber Anneliese blieb nicht ewig ein Säugling. Sie wuchs heran und wurde ein selbstbewusstes Kind, das seinen eigenen Kopf hatte. Mit 14 begann sie zu schreiben – Tagebücher zuerst, mit 15 1/2 veröffentlichte sie ihren ersten Roman, der aber in der Schublade landete. Sie verlegte sich zunehmend auf Lyrik und konnte etwas Gedrucktes sehen.

Franz und Margaretha wurden hellhörig – eine Dichterin in der Familie, das hatte noch nie gegeben. Die Eltern waren alarmiert: Margaretha pflegte (nunmehr hobbymässig) ihr Gesangstalent, Franz seine zeichnerischen Fähigkeiten, die er sich als kommender Architekt (und als solcher fühlte er sich nach wie vor) als Grundvoraussetzung aneignen musste. Aber eine Lyrikerin und eine Verfasserin von Romanen, das war neu. Die Beiden waren etwas eifersüchtig, wie leicht es Anneliese fiel, ihre Gedanken auszudrücken.

Es kam dazu, dass der Vater (mittlerweile Verwaltungsbeamter bei der Gemeinde Wien) und die Mutter (mittlerweile Hausfrau) ihre schriftlichen Agenden auf Anneliese übertrugen, was die Tochter insgeheim als grobe Verletzung ihrer Begabung betrachtete. Sie sagte aber nichts, erfüllte brav ihre Aufgaben.

Mit 17 hatte sie eine neue Funktion, eine Schulzeitung mit dem Titel „Das Fähnlein der sieben Aufrechten“, in ihrem Gymnasium – sie ging in die damals einzige Bildungsanstalt dieser Art in Floridsdorf. Da konnte sie ihrer Leidenschaft frönen – am liebsten war ihr, Leitartikel zu den verschiedenen Anlässen zu verfassen. Gerne hätte ich Beispiele angeführt – allein, die Personal Computer waren noch nicht erfunden, und so spielte sich die ganze Geschichte analog ab. Anneliese und der Rest der Crew mussten sich mit dem sogenannten „Abziehen“ begnügen – dabei wurde mühsam Blatt für Blatt eingespannt. Egal – sie wussten es nicht besser, daher waren sie mit Eifer bei der Sache: Es gab Rubriken über aktuelle Musik, beliebte Filme, gute Bücher, interessante Kunst und Mikrobenjäger, das besondere Steckenpferd eines aus Annelieses Team.

Dann lernte Anneliese ihre Cousine kennen, die kürzlich von Eisenstadt nach Wien, in den 12. Bezirk, „eingewandert“ war. Obwohl Wien 12. nicht so nah war wie Wien 21. (zumal die Schnellbahn damals noch nicht existierte), nahmen Anneliese und Waltraud (so hieß die Cousine) den weiten Weg auf sich, um einander zu sehen.

Das lag daran, dass sich die beiden Mädchen auf Anhieb gut verstanden.

Kapitel 5

Anneliese erfuhr eines jener seltsamen Gefühle, wie man sie nur einmal oder zweimal (allenfalls dreimal) erlebte. Waltraud ging es genauso. Die beiden Mädchen übernachteten wechselseitig beieinander, zumal an den Wochenenden, bis Anneliese vorschlug, gleich die ganzen Ferien miteinander zu verbringen – und zwar wegen der Nähe zur Alten Donau. Anneliese war eine sehr gute Schwimmerin und Taucherin. Es hatte sich herausgestellt, dass Waltraud vergleichbare Erfahrungen am Neusiedler See gewonnen hatte – sie waren „birds of a feather“ (wie die Engländer so schön sagen).

Wie es dazu kam, dass sie miteinander schliefen, anstatt nur harmlos miteinander herumzualbern, wissen wir selbstverständlich nicht. Anneliese hatte ein Kabinett im gemeinsamen Haus ihrer Eltern, mit nur einem Bett, aber das war sehr geräumig, zumal man sich verstand. Das größte war, als Waldtraud einen Zettel hervorzog mit einem lesbischen Gedicht, nichts Eigenes zwar, aber immerhin ging‘s in dieselbe Richtung. Sie trug vor:

„Leidenschaft

von mischfrau

Dein Versprechen die Welt zu lieben
habe ich dich jemals versucht
dir das Versprechen zu nehmen
dich zu entbinden deiner Welten Sorgen

Ich entbinde dich nicht
du bist schuldig ganz und gar
quäle und brenne, durste und leide
du hast Feuer in dir
für uns beide

Egal wo egal wann
du bist und hast die Hoffnung
weil ich eine Frau bin
und ich die Regel bestimme
bin ich dein Gast

Der magische Moment
der Zauber der Farben
dich zu verstehen
ist einfach erhaben“

Anneliese applaudierte frenetisch – das war ganz nach ihrem Geschmack. Sie rückte auch mit einem Gedicht heraus. Mit einem Eigenem, wie sie betonte:

“Fuck Off Gentlemen

von Anneliese Borner

Die abgetriebenen indischen
Mädchen sind nicht mehr als
ein letzter Beweis

– keine Frage der Meinung
– auch kein Streit

Es ist Krieg zwischen Frauen und
Männern
Krieg zwischen Welten, sternenweit
voneinander
entfernt

Ihr habt es nicht anders
gewollt!
– gewollt?

Fuck off gentlemen“

Waltraud applaudierte genauso. Sie waren seelenverwandt, kein Zweifel. Da mochte es sein, dass sie sich auch körperlich nahekamen. Annelieses Eltern waren arglos, so sehr sie auch fallweise an der Tür des Kabinetts lauschten. Immer dann, wenn es besonders heiß herging, waren die Altvorderen schon wieder dahin.

Kapitel 6

Die andere große Leidenschaft war – wie gesagt – das Schwimmen und insbesondere das Tauchen, und das nicht nur bei Schönwetter. Anneliese und Waltraud fuhren mit dem Boot der Eltern an eine einsame Stelle (das gab‘s seinerzeit noch), um nackt zu baden. Nicht dass sie auf dem Weg dorthin viel angehabt hätten, knappste Bikinis (das war seinerzeit noch nicht üblich, woher hatten sie diese nur herbekommen), die nur das Notwendigste bedeckten. Beim Tauchen stachelten sie sich gegenseitig auf – mit der Zeit schafften sie schrittweise fünf Minuten, dann sechsundeinhalb Minuten, dann acht Minuten und zehn Minuten. Mal lag Anneliese vorn, mal Waltraud. Und so ging‘s weiter – sie drängten sich wechselseitig nach vorn: vierzehn Minuten – sechzehn Minuten – da war Vorläufe Schluss. Sie hatten gelesen, dass der Rekord auf vorerst sechsundzwanzig Minuten lautete, aufgestellt von Budimir Šobat.

Da hatten sie noch einen weiten Weg vor sich – aber sie hatten jede Menge Zeit. Anneliese und Waltraud machten Matura, jede in ihrem Bezirk, in der Franklinstraße 21 und in der Rosasgasse 1/3, danach genossen sie ihre Ferien, wieder in der Mühlschüttelgasse. Da haben sie im Laufe von vier Monaten die Marke von Šobat eingestellt.

Aber sie lasen auch aus Annelieses Werken:

„L‘amour-Hatscher

von Anneliese Borner

Darf ich bitten!

1 und 2 und (vielleicht) 3…

Meine Erinnerung an Kärnten,
goldener Glanz – ungetrübtes Vergnügen –
und meine erste Liebe –

1 und 2 und (vielleicht) 3…

Und an Rhodos –
und mit seinen Ölbäume und seinen Zikaden –
ungehemmte Völlerei –
und eine meiner Lieben
(da war ich schon routiniert,
nichts konnte mich mehr erschüttern) –

1 und 2 und (vielleicht) 3…

Und Dubai und die Wüste –
Sand über Sand,
wenn du über das Stadtgebiet hinauskommst –
ein Märchen aus tausendundeine Nacht
(sage und schreibe) –
und wieder eine meiner Lieben –

1 und 2 und (vielleicht) 3…

Wird sie mich heute erhören,
wenn dieser Tanz zu Ende ist.

So sicher kann man sich niemals sein!“

Und auch Waltraud trug das Ihrige bei, indem sie ein Gedicht von „mischfrau“ zum Besten gab:

„Ein Kuss

von mischfrau

Sanft lächelt sie mich an
und wie sie das kann
unumwunden die Lippen leckend
zwinkert ohne anzuecken
traumhaft wandlerisch
kam sie auf mich zu
ließ gleiten die Hand in den Nacken?
Fremde sind wir per DU
beugt sich lüstern hinunter
mein Herz pochte munter
deine Zunge sanft klopfte
ein leises stöhnen hoffte
niemals endend dieser Genuss
und es kam wie es sollte
ein tiefer nasser forschender
zwei Zungen ringend kämpfend
stöhnend gebärden Geschmatze
ein lustvoller Kuss“