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KALEIDOSKOP – Leseprobe 11

Kapitel 31

Dementsprechend geladen, kam Anneliese von diesem Termin zurück. „Ich muß unter irgendeinem dringenden Vorwand nach London fliegen, damit ich dem Mief hierzulande entkomme. Ich nehme Dich bewusst nicht mit, damit Du mir da nach dem Rechten siehst! Du brauchst Dir keine Sorgen machen, dass ich nicht wiederkäme!“ Und fort war sie.

Sie stieg im Cityspace Acton Hotel im Portal Way ab und machte pro forma einige Termine aus, darunter einen mit ihrem Abecor-Kollegen, dem Aufgeblasenen, namens John Cheltenham. Es stellte sich heraus, dass er im privaten Gespräch gar nicht so snobistisch war, und er sagte ihr gleich, dass er „poofy“ war – nur für den Fall, dass sie versuchen würde, mit ihm zu schlafen. „Danke für Ihre Offenheit – ich bin selber „gay“, das trifft sich gut!“, erklärte sie. Und Anneliese und John gingen von Stund‘ an völlig entspannt miteinander um.

Er lud sie zu einem Abendessen in das „Chamisse“, ein libanesische Restaurant. „Ein Geheimtipp!“, sagte er. Nach Tisch bemerkte er: „Und was machen wir jetzt mit dem angebrochenen Abend? Am besten gehen wir in‘s ‚Metropolis‘!“ – „Noch so ein Geheimtipp von Dir!“, sagte sie (die Grenzen vom „Sie“ zum „Du“ waren fließend). – „Du wirst Augen machen!“

Das war wirklich eine Wucht („A stunner!“, würde John es übersetzen!). So hieß in der Werbung für den Club: „Metropolis is an infamous East London nightclub situated near Cambridge Heath and Bethnal Green, split over five floors and including a Rooftop bar, Basement Club and Beach Bar including 5 tons of real sand! As Head of Promotions for the venue, my crole consists on making sure we are bringing in the best musicians and performers possible and creating the best audience experience possible. Our program consists of a weekly Friday night, Harpies, the UKs first LGBTQ+ strip club, and weekly house party – Trash Palace hosting some of the best residents in London as well as guest DJs every week.“

Sie tanzen eng umschlungen in der Disco, jetzt, wo alles klar war zwischen ihnen war. Sie beobachten – in einem anderen Stockwerk – den Männerstriptease, bis zum letzten Faden. Das mussten schon Kerle sein, die sich der Gefahr des Versagens aussetzten, und das mehrfach im Lauf des Abends – oder, um es volkstümlicher auszudrücken, sie kriegten fallweise den Schwanz nicht hoch. Viel entspannter ging es – wieder in einem anderen Stockwerk – beim Frauenstriptease zu, denn die Angst, Fehler zu machen, war entschieden geringer, die Atychiphobie, wörtlich übersetzt „Angst vor Unfällen” war niedriger.

Dann erkundeten Anneliese und John – wieder in einem anderen Stockwerk – den Geschlechtsakt eines Pärchens, der wild zur Sache ging, und das mit einer erstaunlichen Standfestigkeit des männlichen Partners. Hier gab so ziemlich alles, was Gott verboten hatte, und dennoch, es kam der große Katzenjammer, als sie wieder auf der Straße standen. Sie waren plötzlich wie verloren.

John gestand ihr, dass ihn sein langjähriger Gefährte verlassen hatte – da war nichts mehr von der Arroganz, mit der er bei der Abecor aufgefallen war. Anneliese begleitete ihn in seine Wohnung in Knightsbridge. Er sperrte auf und sie war verblüfft: Luxus und Opulenz pur auf mindestens 200 Quadratmeter – trotzdem ein gewisses Maß an Traurigkeit. Sie schlief ihm, aus Mitleid, wie sie sich selbst eingestand. Vergnügen war‘s für sie keines. Sie ließ aber nichts anmerken und stöhnte an den richtigen Stellen. Sie hatte das dumpfe Gefühl, dass es ihm ebenso ergangen war – immerhin hatte er eine Erektion.

„Auf Wiedersehen in Brüssel!“, sagte Anneliese. „Good luck!“

Kapitel 32

Waltraud hatte mittlerweile einen Event aufgetan, bei dem sie Beide auftreten sollten, das Gesicht mit einem Tuch unkenntlich gemacht. Das Tuch war ein Schutz vor dem Erkanntwerden durch die Bank und sonstige seriöse Instanzen. Sonst waren sie hüllenlos, was ein merkwürdiges Bild gab.

Die Veranstaltung fand im neunten Bezirk in der Salle de Bal statt, wo Waltraud schon die Generalprobe absolviert hatte – in einem kleinen, mit Wasser gefüllten Becken, 1x1x2,5 Meter groß. Nackttauchen – das wünschte sie sich. Hoffentlich war Anneliese bald im Anflug, dann würden sie das gemeinsam probieren, in Form einer Vorstellung – dann. musste sich zeigen, wie gut sie, ihre „Mitschülerin“, aufgepasst hatte. Das Wasser war kalt, eiskalt sogar. Und dann kam der große Tag, die Premiere. Sie prüften ihre Tücher, damit sie auch ja nicht verrutschten. So waren sie nur zwei nackte, ähnlich gebaute Körper, die anonym waren.

Anneliese und Waltraud tauchten kopfüber in das Becken – da kam ihnen die Tatsache zugute, dass sie den Druckausgleich vor langer Zeit geübt hatten, wodurch sie keine Nasenklammer benötigten. Auf die Tücher vor dem Gesicht passten sie höllisch auf, denn sie wollten ihr „Ego“ nicht bloßlegen und ihre Identität nicht preisgeben. So hingen sie verkehrt ‘rum und sie bemühten sich, dass sie ihren momentanen Standard von sechzehn Minuten erreichten. Das Publikum war verkehrt ‘rum u von den beiden Nixen und feuerten sie an, unhörbar für Anneliese und Waltraud. Die Beifallskundgebungen konnten sie zumindest erahnen. Nach Ablauf dieser Frist von sechzehn Minuten tauchten sie wieder auf, keuchend zwar, aber glücklich.

Es war nur eine kurze Pause, die nicht mehr als einen Atemzug dauerte, blieb ihnen vergönnt. Dann gingen wieder unter Wasser, erneut verkehrt ‘rum und sie schafften siebzehn Minuten. Und ein drittes Mal, dass sie tauchten, wiederum verkehrt ‘rum und sie schafften diesmal fünfzehn Minuten. Dann stiegen sie heraus, richteten die Tücher, dass nur ja niemand ihre Nämlichkeit erkennen konnte, und hörten den Applaus und die Zurufe, dass sie ihre Idententät offenbaren sollten. Aber da war nichts zu machen. Sie blieben eisern…

Dann trockneten sie sich in einem Nebenraum ab, fönten ihre Haare, zogen sich ihre Business-Suits – Anneliese einen mitternachtsblauen und Waltraud einen knalligroten – an und mischten sich unauffällig unter das Publikum (das sie eben noch – unbekannterweise – nackt gesehen hatte), und sie schwelgten ganz harmlos im Small-Talk. „Was sagen Sie zu der Performance? Ist das nicht bemerkenswert?“, versuchte Waltraud eine Reaktion hervorzurufen.

Die Zuseherinnen und Zuseher, die sie angesprochen hatte, waren des Lobes voll über das dargebotene künstlerische Happening!

„Und wie die Darstellerinnen versucht haben, sich synchron zu bewegen, was aufgrund der beengten Platzverhältnisse gar nicht so einfach gewesen sein dürfte!“, legte Anneliese nach.

Das war ganz einfach, dachten sie, angesichts der Tatsache, dass eine noch größere Nähe zwischen ihnen möglich war…

Kapitel 33

Aber am nächsten Tag ging es wieder in die Arbeit, in die „Maloche“, wie Waltraud immer zu sagen pflegte. Der Vorstand hatte sich nochmal beruhigt – zuviel war in der Zwischenzeit passiert. Dr. Borner war wieder gerne gesehener Gast bei den Postsitzungen – sie war ein Farbtupfer in der grauen oder schwarzen Masse der Anzugträger. Sie trug ein weißes Kleid oder ein buntes, wobei ihr eine Reihe von Farbnuancen zur Verfügung standen. Stets Kurz, kürzer, am kürzesten – sie konnte sich‘s leisten. Und dazu halterlose Strümpfe, aber die sah man nicht, außer bei unbedachten Bewegungen, und einen G-String, aber den sah man schon gar nicht, unter dem Fummel.

Aber sie fiel auch durch manche kluge Bemerkung auf, was einen der gebildeteren Vorstandsmitglieder zu dem Statement veranlasste: „Diese Äußerung versteht jetzt nur Frau Dr. Borner und meine Wenigkeit!“ Und die Übrigen machten einen belämmerten Eindruck – sie hatten‘s wohl wirklich nicht verstanden. Der Generaldirektor sah besonders dumm drein! Was die Gruppe nicht hinderte, sich von Frau Dr. Borner, Frau Dr. Wiener und Herrn Lennard clevere Artikel schreiben zu lassen, selbstverständlich ohne Angabe der wahren Autorschaft. Die Genannten waren mit der Zeit schon erstens abgeklärt und zweitens abgestumpft – Hauptsache, die Kohle stimmte.

Es blieb der „Länderbank Report“ und das „Economic Bulletin“, wo sie in Maßen machen konnten, was sie wollten, wenn sie nicht eine besonders heikle Materie berührten, der Vorstand es sähe und daran Anstoß nähme. Sonst galt: Wes‘ Brot du frießt, des Lied‘ du singst! Wie überall eben…

Dabei befanden sich insbesondere Anneliese und Waltraud in einer quasi privilegierte Situation – sie hatten in den Augen der anderen Abteilungen der Zentrale und gar des Filialnetzes Narrenfreiheit, was manchmal zu Problemen führte. Ja, wenn die übrigen Stellen der Österreichischen Länderbank bis in‘s Letzte gewußt hätten, womit sich die Volkswirtschaft beschäftigte, hätte es einen Aufschrei gegeben. Das, was die übrige Stellen taten, war die wahre Maloche!

Gott sei Dank war man damals nicht so weit, dass mit einer extremen Federfuchserei das kreative Potenzial unterdrückt worden wäre. Dafür konnte man in der Volkswirtschaft nicht wirklich abschalten, wenn man nach Hause ging – die Arbeit ging mit. Und das war der entscheidende Unterschied zu den übrigen Stellen des Hauses!

Anneliese und Waltraud waren im Vorteil gegenüber jedem Familienvater beziehungsweise jeder Familienmutter, da sie sich austauschen konnten, wann immer sie die Lust überkam.