KALEIDOSKOP – Leseprobe 12
Kapitel 34
Franz und Margaretha Borner hatten Sex miteinander – ganz vorsichtig zwar, aber immerhin. Sie hatten sich schon so an diese Enthaltsamkeit gewöhnt, dass es ihnen schwerfiel, zur Sache zu kommen. Da half nur eine Engelsgeduld, die sie aufbrachten, denn es lohnte sich zu guter Letzt’ doch. Sie waren gesetzter, und nicht so wild, wie sie es vielleicht in ihrer Jugend gewesen waren – wir waren nicht dabei.
Sonst war alles Routine – Annelieses Vater war bekanntlich ein fader Verwaltungsbeamter, die Mutter eine fade Hausfrau. Franz war damit beschäftigt, unter anderem Glühbirne zu administrieren – aber Spaß beiseite, er durfte schon die Anordnungen des Feuerwehr-Kommandos entwerfen (Magistratsabteilung 68 der Stadt Wien), betreffend irgendwelcher administrativer Agenden. Das Mädchen hatte, wie erinnerlich, ihren Erzeuger kräftig unterstützt. Gerne erinnerte sich Margaretha an Annelieses Schulzeit, wo sie Abfragen der Schülerin in diversen Wissensgebieten etwas lernen konnte, aber damit war es längst vorbei, nachdem die Matura geschafft war.
Emma hatte wieder ihren Geburtsnamen angenommen, er lautete Brinkmann. Sie war ein wenig libidinös, nach der unfreiwilligen Abstinenz (denn daran hatte Manfred gar nicht mehr gedacht mit seiner Inspektionswut) und mit anderen Torturen, die er ihr angedeihen ließ. Die Sexsucht Emmas äußerte sich in einer extremen Hinwendung an ihre Tochter und deren Cousine. Die Zwei waren alarmiert – zwar sie das am Ende vorgeschlagen, aber das ging langsam zu weit.
„Hast Du sonst nicht zu tun – bei Deinem Beruf als Toningenieurin beim ORF lernst Du doch genug Leute unterschiedlicher „Provenienz“ kennen, dass Du auf Deine Rechnung kommst!“, sagte Waltraud so vorsichtig wie nur möglich.
„Aber mit Euch ist es unkomplizierter – abgesehen davon, dass es urschön war!“, gab Emma zurück.
Das hatten die Beiden befürchtet – abgesehen von der Tatsache, dass ein Dreier mit Mutter beziehungsweise Tante fallweise ganz interessant war. Aber das durfte nicht zur Gewohnheit werden. Sie brauchten ihre Intimität, wie sie es gewohnt waren, in einer Zweierbeziehung.
Emma war für‘s Erste enttäuscht – dann aber machte sie sich (nach kurzem Nachdenken) auf den Kriegspfad. So hatte sie noch betrachtet: Ihr stand die Welt offen, im ORF und darüber hinaus! Sie hatte sicherheitshalber Kondome bei sich, denn sie war keine autochthone Lesbierin – wenn es sich ergab, machte sie keinen Unterschied, ob sie sich Frauen oder Männer vornahm, zumal man von Nymphomanie in der Regel jedoch nur spricht, wenn der Wunsch nach Sexualität mit Promiskuität, also häufigem Partnerwechsel, einhergeht. Das war bei Emma inzwischen der Fall, aber das hatte nichts mehr mit Waltraud oder Anneliese zu tun.
Das war mittlerweile das Problem jener Vielen, denen Emma das „Herz“ gebrochen hatte und sie dann links liegen ließ. Ausnahmen gab es nur bei jener Handvoll Kerle (es waren ausschließlich Männer), die genauso ein schnelles Abenteuer, Quickie nennt das heutzutage wohl, suchten. Mit Mühe widmete sich ihrer eigentlichen Tätigkeit als Toningenieurin – sie konnte sich die sonstige Belegschaft nur nackt vorstellen – die Schauspielerinnen und Schauspieler, die Regisseuse oder den Regisseur, das sonstige Personal…
Kapitel 35
Da hatte sich Dr. Borner wieder Einiges geleistet im „Länderbank Report“:
„Liebe Zweite Republik!
Von Dr. Anneliese Borner
Manche wenden sich von Dir ab – Ältere, die Dich möglicherweise gar nie wollten, und Jüngere, die vielleicht nur aufgehört haben, an Dir etwas zu finden. Ich aber bin mit Dir älter geworden und – na ja, ich kann nicht sagen, dass ich Dich bis in jede Einzelheit so mag wie Du bist, aber gegen eine andere möchte ich Dich nicht eintauschen.
Dabei bin ich nicht auf Dich vereidigt wie der Herr Bundespräsident, die Damen und Herren der Bundesregierung, die Damen und Herren Abgeordneten und eine Fülle anderer politischer Mandatare sowie die ganze Beamtenschar. Sie alle müssten Dir treu ergeben sein, denn ohne Dich gäbe es ihre Positionen nicht. In dieser speziellen Weise bin ich Dir nicht verpflichtet, und doch ist mein Leben auf das Vielfältigste mit dem Deinen verwoben.
Der Anfang war schwieriger als man es sich heute vorstellen kann, aber gegen jeden Augenschein haben wir daran geglaubt, dass es mit uns funktionieren wird. Mir war klar, worum es geht, und ich lernte, dass es zu Zeiten besser ist, nichts zu heizen und nicht viel zu essen zu haben, dafür aber frei zu sein.
Das ist, glaube ich, eigentlich auch heute das Problem: Wir dürfen nicht die absolute Qualität Deiner Idee mit der relativen Unzulänglichkeit so mancher Deiner praktischen Erscheinungsformen verwechseln. Konstruktive Kritik am (laß mir bitte diese Bezeichnung durchgehen) Zeitgeist sollte sich nach den katastrophalen Erfahrungen unseres Jahrhunderts nicht an der pluralistischen Demokratie als solcher entzünden, sondern an den Personen, die sie mißbrauchen, bzw. an den Handlungen, mit denen sie mißbraucht wird. Dazu bedarf es vor allem des guten alten ethischen Maßstabs in uns, denn wir können die Grauzone zwischen Recht und Unrecht, wo das persönliche Gewissen gefordert ist, nicht ausschließlich den Gerichten überlassen.
Dieser ethische Maßstab hat einige unverrückbare Perspektiven:
# Die Freiheit, wie gesagt, ist noch immer etwas wert, denn es hat nicht gereicht, dass die faschistischen und die kommunistischen Diktaturen in Europa zusammengebrochen sind. Freiheit ist auf diesem Planeten weiterhin Mangelware. Wir sind aufgerufen, die Welt diesbezüglich (im besten Sinne des Wortes) zu missionieren, und nicht unser Ziel darin zu sehen, die Freiheit bei uns zu Hause einzuschränken.
# Die Gleichheit ist einer der am meisten mißdeuteten Begriffe der Demokratie. Sie besagt keinesfalls, dass alle Menschen von vornherein gleich (also identisch) sind, sehr wohl aber, dass sie alle unter dem gleichen Rechte– und Pflichtenschema geboren werden und existieren – so selbstverständlich, wie es in unserer Verfassung steht.
# Die Brüderlichkeit (ganz Korrekte sagen neuerdings die Geschwisterlichkeit) ist sozusagen die humane Zuwaage unseres demokratischen Systems. Sie erlaubt uns zwar, in geordneten Bahnen zu konkurrieren, mahnt uns aber zugleich, dass wir in keiner Weise verpflichtet sind, unsere Konkurrenten in diesem Wettbewerb vollständig zu vernichten – schließlich sind wir auf der Grundlage unseres Menschseins mit ihnen untrennbar verbunden.“
Der Generaldirektor persönlich hatte ihr einen Klaps gegeben, freundschaftlich zwar, aber doch. So vertraut waren die Beiden schon – der für Anneliese an sich zuständige Vorstandsdirektor schäumte insgeheim vor Zorn, ließ sich aber nichts anmerken. „Noblesse oblige“, das war das Motto der vier Herren – da wollte man sich von einer jungen Dame, so hübsch sie auch war, nichts dreinreden lassen.
Anneliese wiederum gedachte, sich der zweifellos bestehenden Konkurrenz der Vier für sich und Waltraud zu nutzen. Dabei mussten sie mit äußerster Vorsicht vorgehen.
Kapitel 36
Anneliese und Waltraud probierten ihre neuen Errungenschaften aus dem Spielzimmer aus, packten sie ein und fuhren mit dem Boot zur bewussten Stelle: Zwei Meerjungfrauen-Outfits! Die dazugelieferten Oberteile hatten sie gleich in der Schachtel gelassen – sie wollten „Topless-Mermaids“ sein.
Dazu mussten sie sich einen völlig neuen Schwimmstil zulegen, statt kraulen, sich quasi in Schlangenlinien wie eine Meerjungfrau zu bewegen, dabei nicht angestrengt und konzentriert sein, sondern mühelos und elegant wirken, sich unter Wasser wie ein magisches Wesen verhalten. Dabei kam ihnen der früher geübte, lange Atemanhaltprozess zugute, sodass sie nicht gleich wieder auftauchen mussten.
Mit der Zeit stach sie der Hafer und sie wagten sich in wesentlich belebtere Zonen vor. Sie schwammen unter Wasser bis zu den Badegästen, wo sie plötzlich und unvermutet aus größtmöglicher Tiefe auftauchten. Die übrigen Schwimmerinn und Schwimmer waren erstaunt, zwei Meerjungfrauen an die Oberfläche kommen zu sehen. Manche Besucherinnen bedeckten die Augen ihrer Kinder wegen der Barbusigkeit der Mermaids.
Anneliese und Waltraud traten ganz ungeniert auf – hier war nichts zu befürchten. Sie schwammen hin und her, tauchten bis auf den Grund und kamen wieder empor und trieben allerlei Schabernack, alles ganz harmlos und auch wieder nicht: Die Meisten der männlichen Badegäste wurden von Lust gebeutelt – sie versuchten, ihre Erektionen unter den Badehosen zu verbergen, aber das war in der Vielzahl der Fälle vergeblich. Ja, hatten bei ihren Frauen, je länger die Ehe oder die Partnerschaft schon währte, einen weniger starken Ständer wie bei den beiden Meernixen. Und diese taten alles, um die Männer zu reizen. Und dann waren sie plötzlich ebenso rasch verschwunden, wie sie zum Vorschein gekommen waren. Der Aufschrei bei den Kerlen (und wer fühlte sich in dieser Situation nicht als „Kerl“) groß, als sich herausstellte, dass es kein Déjà-vécu (schon erlebt) gab.
Sie tauchten so tief, als es nur irgendmöglich war, um ihr Ziel nicht zu verraten – die bewusste Stelle sollte geheim bleiben. Sie waren unter Wasser, solange sie es aushielten, um dann hochzukommen, sich am Bootsrand festzuhalten und ihre Flossen abzulegen. Dann tauchten sie wieder unter – sie waren jetzt komplett nackt -, und sie trieben ihre Spielchen, bis sie erneut die Löffelstellung annahmen. Sie wollten gar nichts mehr an die Oberfläche kommen.
Es war wie im Rausch, der anscheinend ewig währte…