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KALEIDOSKOP – Leseprobe 13

Kapitel 37

Emma tat Anneliese und Waltraud leid – die Herumhurerei war langsam nicht mehr zum Aushalten, abgesehen von den Gefahren, die so ein Benehmen mit sich brachte. Emma machte sich selbst zum Gespött für jedermann oder jedefrau. Da musste etwas geschehen – aber was? Selbst die Beiden waren sich uneinig darüber: Waltraud fuhr eher den strikten Kurs gegenüber ihrer Mutter, während Anneliese einen bisher eher lockereren Kurs pflegte – aber das ging selbst ihr zu weit.

Sie beschlossen (als Fazit), ihre Beziehung zu Emma in Maßen wieder aufzunehmen. Diese fiel den Beiden um den Hals – überschwänglich, so wie es ihre Art war. Das war ihnen auch wieder nicht recht, aber Anneliese und Waltraud sagten nichts, um das Verhältnis nicht gleich wieder zu desavouieren. Es war eine Gratwanderung!

Wenigstens machte Emma ihre Arbeit exzellent, wobei ihr Ruf angesichts des von ihr ausgeübten horizontalen Gewerbes nicht der Beste war, jedenfalls seit sie dieser Profession nachging. „Fickfroscherl“ war noch die mildeste Bezeichnung, die ihr angehängt wurde. Aber als Toningenieurin war sie einsame Klasse – das ist meiner Ansicht nach ein schwieriger Beruf. Sie war hauptsächlich für die technische Seite der Aufnahme von Musik bei Studioproduktionen verantwortlich, baut die Schaltungen auf, pegelt die Mikrofone ein, prüft die Akustik des jeweiligen Raumes, ist für die Übertragungswege zum Aufzeichnungsgerät und die Tonmischung verantwortlich. Neben technischer Kenntnisse sind aber oft auch grundlegende musikalische Kenntnisse und Fähigkeiten erforderlich.

Es half alles nichts, sie war als „Fickfroscherl“ abgetan, oder gleich als „ORF-Hure“. Sie wurde auf diese Eigenschaft reduziert – da war nichts mehr zu machen. Wirklich nicht? Da fruchtete nur ein extremer Wechsel in die Privatwirtschaft, um derlei Dingen zu entgehen. Sie schob ab sofort im sechsten Wiener Gemeindebezirk Dienst in einem kleinen Tonstudio. Dort hatte zwar weniger Einkommen als beim Österreichischen Rundfunk, aber es war ein Neuanfang.

Anneliese und Waltraud schärften ihr ein, dass sie strikt Privates vom Dienstlichen unterscheiden musste. Ihre offiziellen Auftritte waren in Zukunft streng und kompromisslos, ohne nymphomanischen Schlenkerer. Der Rest war .das Höchstpersönliche, aber da bis jetzt eine gewisse Beliebigkeit Platz gegriffen hatte, fanden die Beiden, dass das Intime nicht übertrieben werden sollte. Sie bemutterten (beziehungsweise betanteten) Emma und sie fügte sich.

Kapitel 38

Anneliese und Waltraud hörten sich einen Vortrag über „Haiku – japanische Lyrik in drei Zeilen“ an, auf den sie zufällig gestoßen waren und der ihr Interesse geweckt hatte. Sie erregten Anstoß, weil sie eng umschlungen dasaßen und sich fallweise küssten – sie taten das aus Provokation, was die Leute noch mehr aufregte. Dann aber lauschten sie wiederum dem Referat, das sie zunehmend in seinen Bann zog.

„Das Haiku begann im frühen 20. Jahrhundert außerhalb Japans allgemeine Anerkennung zu erlangen. Im englischsprachigen Raum wurde die Form von der literarischen Avangarde wie Ezra Pound und später von Schriftstellern der Beat-Generation wie Allen Ginsberg populär gemacht. Eines der ikonischsten Haikus von Ginsberg:

Rainy night on Union Square, full moon.
Want more poems?
Wait till I’m dead.

Seit den 1920er Jahren erschienen Haikus auch im deutschsprachigen Raum. Der bedeutendste Vertreter und Mitbegründer der literarischen Moderne in Europa ist sicherlich Rainer Maria Rilke.

Kleine Motten taumeln schaudernd quer aus dem Buchs:
sie sterben heute abend und werden nie wissen,
dass es nicht Frühling war.

Was sind die Regeln für Haiku Verse? Wie erkennen Sie ein Haiku und wie sind die Kurzgedichte aufgebaut? Ein entscheidendes Merkmal sind die strengen, unveränderlichen Regeln:

* Es gibt nur drei Zeilen.
* Interpunktion und Großschreibung sind Sache des Dichters.
* Sie müssen nicht starren grammatikalischen Regeln folgen.
* Ein Haiku muss sich nicht reimen, normalerweise reimt es sich überhaupt nicht.
* Wiederholungen von Wörtern oder Lauten sind nicht selten.
* Die wichtigste Regel: Das Haiku vermittelt einen einzelnen Moment des Erkennens oder Sehens.

Und dann wurden folgende Beispiele vorgetragen:

Uralter Teich.
Ein Frosch springt hinein.
Plop.

Decken auf dem Gras,
eine Nacht lang ohne Haus –
reich nur durch den Mond.

Ich will auf ihr spielen,
jetzt, wo der Mond und ich
ganz alleine sind.

Die Popularität des Haiku nimmt nach dem Zweiten Weltkrieg erheblich zu. Heute werden Haiku in einer Vielzahl von Sprachen geschrieben. Heute soll es annähernd eine Million Japaner geben, die unter Anleitung eines Lehrers Haiku schreiben. Haiku in anderen Sprachen haben unterschiedliche Stile und Traditionen, beinhalten aber immer noch Aspekte der traditionellen japanischen Haiku-Form.“

Der Applaus war gerechtfertigt. Das Publikum strebte dem Ausgang zu.

Waltraud zitierte den Dichter oder war es viel eher die Dichterin:

„Ich will auf ihr spielen,
jetzt, wo der Mond und ich
ganz alleine sind.“

Anneliese küsste sie und umarmte sie…

Kapitel 39

Waltraud hielt einen Vortrag vor dem Vorstand mit dem Titel „Kleines Land – große Pläne“:

„Österreich ist eines der reichsten Länder der Welt. Kann es eine bessere Ausgangslage für den Umbau von Strukturen geben, noch dazu, wenn uns die forcierte Integration in den größeren europäischen Wirtschaftsraum argumentative Unterstützung bietet?

Ein kleines Land hat – generell gesprochen – seinen eigenen Charme, der möglicherweise darin liegt, dass die Entfremdung des Einzelnen gegenüber den Institutionen nicht so stark erlebt wird wie in größeren territorialen Einheiten. Rein ökonomisch hat die Kleinheit natürlich auch ihre Nachteile. Die staatsphilosophisch gesehen unabhängig von der Größe gegebene Souveränität innerhalb der internationalen Gemeinschaft ist selbstverständlich in der Praxis ein Relativum. Den wahren Spielraum der Handlungsfähigkeit determiniert die Kunst, eine wirtschaftliche Faktorkombination zu finden, die den Traum der Selbständigkeit zu finanzieren vermag.

Da gibt es immerhin in bezug auf unser Land einen interessanten Befund. Reist man als Österreicher durch die Welt, ist die Chance, einem anderen Österreicher zu begegnen, eher gering: nur einer von 666 Erdenbürgern ist ein Landsmann von uns. Demgegenüber ist die Wahrscheinlichkeit, weltweit auf ein österreichisches Exportprodukt zu treffen, wesentlich größer: eine von 83 Welthandelseinheiten ist „Made in Austria“.

Ganz offensichtlich ist hier die vorhin angesprochene Faktorkombination am Werk, deren konkrete Komponenten innovative Unternehmen, qualifizierte Arbeitskräfte und ein konsensualer Weg der Wirtschaftspolitik sind – um nur jene zu nennen, die einem ohne langes Nachdenken einfallen. Die Lebensfähigkeit Österreichs ist heute unbezweifelt, im Gegensatz zu früheren Zeiten, die eher auf die Enge des Raumes bzw. die Begrenztheit natürlicher Ressourcen gesehen haben als sich von den genannten (aus der Kreativität der hier lebenden Menschen entwickelten) immateriellen Dimensionen überzeugen zu lassen.

War es nicht äußerst kreativ, im Kontext einer bestimmten Entwicklungsphase der Zweiten Republik jenen spezifischen „Austrian policy–mix“ zu definieren, dessen Kernstück die Hartwährungspolitik ist? Es sagt nichts über die vergangene Qualität dieses wirtschaftspolitischen Ansatzes aus, wenn wir feststellen müssen, dass er offensichtlich nicht für alle Zukunft weitergelten kann (insbesondere dann, wenn wir einräumen, dass ein Teil davon auch eine eher expansive Budgetpolitik war, die so nicht fortgesetzt werden kann, Maastricht hin oder her). Jedenfalls war es ein kühner Wurf, den Schilling an die D–Mark zu binden, entgegen allen möglichen und durchaus gerechtfertigten Bedenken, also vor dem Hintergrund

a) einer Wirtschaftstheorie, die von den streng wissenschaftlichen Grundlagen her einer solchen Maßnahme vorerst mit Skepsis begegnete, und

b) von Finanzmärkten, die nicht unbedingt dazu tendieren, politischen Ankündigungen unbesehen Glauben zu schenken.

Nothing succeeds like success, haben wir zu unserer eigenen Überraschung erfahren. Aber wie schon gesagt: die Rahmenbedingungen haben sich geändert und ändern sich noch weiter, und daher muss man den Erfolg sozusagen am Kochen halten. Oder anders ausgedrückt: Erfolg kann nicht administriert werden.

Es ist also wieder einmal so weit – eine neue bahnbrechende Konzeption muss gefunden werden! Da ist es klar, dass man es nicht allen recht machen kann. Wie jede avantgardistische Hervorbringung in Malerei, Musik, Architektur usw. werden auch neue politische Ideen zunächst angefeindet und ihre Exponenten mit Killer–Phrasen zermürbt. Aber keine Angst: wenn die Sache wirklich gut ist, wird sie irgendwann zum Klassiker, den jeder seit jeher akzeptiert haben will.“

Der Applaus war für Waltraud sicher.