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KALEIDOSKOP – Leseprobe 5

Kapitel 13

Mittlerweile hatten Anneliese und Waltraud eine Mietwohnung genommen (im 16. Bezirk in der Ottakringer Straße), um unabhängig von ihren Eltern zu sein. Sie verdienten nicht schlecht, wie das seinerzeit im Bankgeschäft durchaus üblich war, mit einem fünfzehnten Monatsgehalt, dem sogenannten Bilanzgeld – ab Prokura gab es sogar sechzehn Gehälter. Da konnte sie sich schon Einiges/ leisten, und nicht bloß Güter des täglichen Bedarfs, sondern selbstredend auch Luxusgüter, wie zum Beispiel die teuren Einhornmasken.

Das oberste Management, also der Generaldirektor und dessen Stellvertreter sowie die zwei übrigen Vorstandsdirektoren, war äußerst zufrieden mit Anneliese – Waltraud stand eher im Schatten ihrer Freundin, aber das störte sie nicht im Geringsten. Sie war persönlich die Schüchterne von ihnen Beiden – Hauptsache, sie waren zusammen, wie etwa bei ihren Besuchen bei der „Abecor“. Außerdem würde man auf der Karriereleiter eng zusammenbleiben, wenn die Chefin dereinst in den Ruhestand treten würde. Die Direktorin war so nett, im Falle ihrer Abwesenheit (zum Beispiel wenn sie auf Urlaub war) Anneliese in Vertretung zu den sogenannten Postsitzungen zu schicken, obwohl die Präsenz eines Bevollmächtigen der Volkswirtschaftlichen Abteilung entbehrlich war. Das Dabeisein einer so attraktiven Mitarbeiterin in einer Herrenrunde (denn es waren nur Männer) erweckte durchaus Erstaunen. Sie nahmen das Mädchen nicht ernst, waren dafür aber ausgesucht höflich zu ihr.

Der „Wirtschaftsdienst“ blühte auf, zumal Anneliese einen Leitartikel voransetzte, in dem sie ihre persönlichen Ansichten ausführte, in Anlehnung an frühere Werke.

„Courage!

Wieviel Kritik verträgt ein System? Ein einzelner Mensch? Es gibt Leute, die kommen aus einem Geschäft und ärgern sich darüber, was sie gekauft haben, nur weil sie nicht „Nein!“ sagen oder weil sie jedenfalls ihre Wünsche nicht artikulieren können. Sie sind arm dran, denn man hat vergessen, es ihnen beizubringen, und nun gehen sie mit diesem Mangel durchs Leben wie jemand der nie schwimmen gelernt hat.

Courage ist auch und vor allem eine zivile Tugend, die den einzelnen ebenso wie die Gesellschaft daran hindert, im süßlichen Einheitsbrei zu versinken. Wie die Vorgänge rund um die Wiener Menschenrechtskonferenz gezeigt haben, sind aber weltweit die Befürworter einer kollektiven Harmonie weitaus in der Übermacht gegenüber den Vertretern einer individualistisch orientierten Toleranzidee. Da steht die Pluralität des „Abendlandes“ gegen geistige Monokulturen im Rest der Welt, da steht aber auch mitten unter uns die Rationalität der Aufklärung gegen fundamentalistische Grundströmungen, die sie jedes hermetische Gedankengebäude zwangsläufig hervorbringt.

Man muss sich aber bloß das fernöstliche Nirwana oder irgendeinen anderen ideologisch festgemachten Ort der glückseligen Widerspruchslosigkeit vorstellen, um sich zu fragen: Das soll alles gewesen sein, wofür wir gelebt, gearbeitet, gelitten und geliebt haben? Da kann es sich doch nur um einen Irrtum handeln: Der Fisch schwimmt im Wasser, aber er ist nicht das Wasser. Seine Bestimmung ist es, jenes zu tun, aber nicht dieses zu sein.“

Waltraud trabte brav mit. Mit ihrem „Economic Bulletin“…

Kapitel 14

Anneliese und Waltraud luden ihre Eltern ein, die Borners und Wieners. Das war fraglos heikel, zumal sich Manfred nicht zufrieden geben wollte, mit dem, was er als „merkwürdige Veranlagung“ bezeichnet hatte. Und auch die Anderen machten zwar gute Miene zum bösen Spiel, aber so richtig recht war es ihnen auch nicht. Die beiden Mädels waren zu diesem Anlass konservativ gekleidet – da hatten sie jeweils ein Trauergewand (für alle Fälle) eingebunkert. Sie empfingen die Eltern an der Türschwelle mit gemischten Gefühlen. Was mochte es für Veränderungen ergeben haben? Der Auszug der Kinder erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sich Paare trennen. Doch das muss nicht sein: Viele Paare sind auch dankbar über die Zeit, die sie wieder zu zweit verbringen können. Sie entdecken gemeinsam neue Interessen und Aktivitäten oder beleben ihr Liebesleben wieder.

Anneliese und Waltraud umarmten ihre Mütter – bei den Vätern fiel die Begrüßung sehr viel reservierter aus, was auch daran lag, dass die Beiden als Lesben deutlich spürten, dass sich in der Hose von Franz und Manfred etwas rührte, was ihnen nicht behagte. Die beiden Mädels baten ihre Eltern in die gute Stube, was wörtlich zu nehmen war, denn sie hatten die Einrichtung von den Vorbesitzern übernommen. Die Stimmung war angespannt.

Dann reichten die Beiden das Essen, einen leichten Imbiss. Margaretha sagte: „Mehr habt Ihr nicht für uns! Wenn ich da an die Gelage denke, die ich gegeben habe!“

Anneliese erwiderte: „Das war nur zum Drüberstreuen gedacht. Im Prinzip wollten wir uns unterhalten!“

„Es hat keinen Sinn mit ihnen! Das habe ich Dir gleich gesagt, mein Schatz!“, war Waltraud skeptisch.

Allein beim Wort „Schatz“ stellten sich bei den Eltern die Haare auf. Und weil schon alles egal war, zeigten sie – in einem anderen Raum – das sogenannte „Spielzimmer“, wo Anneliese und Waltraud ihre besondere Ausrüstung aufbewahrten: Da gab es neben dem Reifen, der hoch an der Decke hing (und dessen Zweck man sich so einigermaßen vorstellen konnte), noch die beiden Einhornmasken, darüberhinaus auch verschiedenste Showelemente, mit denen sie gegenseitig reizten.

Die Eltern flüchteten den Ort des Geschehens. Was hatte man für Missgeburten in die Welt gesetzt!

Dabei waren sie so liebe Mädchen gewesen!

Kapitel 15

Das Kapitel „Eltern“ schien abgehakt, was sie noch stärker aneinander band. Jetzt waren sie schon so lange zusammen – nicht so, wie es sich für Cousinen geziemte, sondern als Liebespaar. Emma ließ sich gelegentlich sehen, unbemerkt von den restlichen Verwandten. Sie war liberal eingestellt, obwohl sie beim Rest der Meute wenig Anklang fand – sie schwieg einfach in der breiten Öffentlichkeit. Das ermöglichte ihr, hin und wieder geheime Treffen mit den Mädels abzuhalten.

Diese waren ganz attraktiv, so Emma, sogar äußerst atemberaubend. Sie hatten beruflich sehr gute Aufstiegsmöglichkeiten, sie studierten fleißig neben ihrer Arbeit – man konnte füglich nicht mehr erwarten. Und sie liebten einander von Herzen – was war da falsch daran?

Anneliese und Waltraud gingen gelegentlich in einschlägige Clubs, aber das wurde ihnen bald langweilig, obwohl dort Einiges geboten wurde. Sie trugen ihre Homosexualität nicht vor sich her, sie wussten nichts oder bestenfalls nur am Rande von den drei Abrahamitischen Weltreligionen, deren Schriftgelehrte den homoerotischen Verkehr zwischen Männern und Frauen auf der Basis von Bibel, Tora und Koran in der Regel als Sünde betrachteten. Der Schwule oder die Schwule wird als Person auf seine oder ihre Sexualität reduziert, ihm oder ihr wird deren Realisierung gleichzeitig nicht zugestanden. Das war die leidvolle Erfahrung, mit der Anneliese und Waltraud konfrontiert wurden.

Also versteckten sie ihr Lesbendasein so gut wie sie es vermochten – aber das gelang nicht immer: Im Beruf, in der Bank, ging es noch am einfachsten. Es interessierte sich schlechthin niemand für ihre Veranlagung. Aber auf der Uni war es komplizierter – die hellen Köpfe der Studentinnen respektive der Studenten waren diesbezüglich im Vorteil. Und am Ärgsten war es im privaten Bereich: Dort kam es zu den wüstesten Ausschreitungen der Gegner dieser Lebensart (siehe Manfred)!

Die Umstände waren danach, dass sich die Mädels immer stärker zurückzogen, wobei es ihnen leichter fiel, als so manchen Männern, bei denen vermutete man gefühlsmäßig eine homosexuelle Beziehung als bei Frauen. Egal – sie frönten wieder ihrem Hobby, nämlich dem Schwimmen und vor allem Tauchen, wenn nicht in der Alten Donau (was ihnen am allerliebsten war), so doch im Floridsdorfer Hallenbad. Dort besuchten hier und da das Solarium, was den Vorteil hatte, dass sie auch unten ohne zugange waren. Sie drehten den UV-Strahler auf volle Power auf, damit sie schön braun wurden, und das in kürzester Zeit. Durch den Spalt in der Abdeckung reichten sie einander die Hände. Sie waren in der Situation völlig glücklich.