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ANASTACIA

Die ewige Barbarei der Gefühle

1. TEIL: LANDNAHME UND STAATSIDEE

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Von DDDs Mann, dem seine Frau so oft und ausgiebig Hörner aufgesetzt hatte (besonders seit sie 50 geworden war und sich in ihrem bisherigen Leben extrem zu langweilen begann), wissen wir mittlerweile nicht nur, dass er bei der österreichischen Sozialversicherung angestellt ist, sondern endlich auch seinen Namen – Horst. Die Witwe, bei der er sich bequem einrichtete, als ihm klar wurde, dass er von DDD besser endgültig die Finger ließ, hatte bekanntlich als Prostituierte gearbeitet, und auf diese Art war Horst auch anfangs mit ihr in Kontakt getreten, bis da mehr war und er in Elses Privatleben wechseln durfte. Er konnte es sich durchaus leisten, ihr exklusiver Freier zu sein (und ihr damit de facto den Ausstieg aus ihrer bisherigen Profession zu ermöglichen), denn sein Institut, dessen oberste Funktionäre von seiner Frau heillos kompromittiert worden waren, zahlte ihm viel für sein Schweigen.

Else war – wie die meisten Huren – außerhalb des Jobs eher bieder und ziemlich häuslich, was bedeutete, dass sie ein Schmuckkästchen von Wohnung unterhielt, konservativ kochte, nicht gerne ausging und noch weniger das Bedürfnis hatte zu verreisen: alles Umstände, die Horsts eigenem Lebensstil äußerst entgegenkamen. Zu seinem Leidwesen blieben aber auch die sündigen Dessous von dem Tag, an dem er bei ihr einzog, im Schrank, und mit ihnen bestimmte Redens- und Verhaltensweisen. Ganz musste ihr Dauerfreund allerdings nicht auf das Nuttige an ihr verzichten, denn was Else nicht ablegen konnte, war ihre sexuelle Geläufigkeit. Ich vermeide hier bewusst den Begriff Routine, denn der träfe es nicht: Sie war nur einfach daran gewöhnt, vor allen Dingen die Befriedigung ihres Partners im Auge zu haben, zuweilen gänzlich ohne Rücksicht auf ihre eigene momentane Befindlichkeit, und dabei jene quasi technische Raffinesse anzuwenden, die ihr eine lange Reihe von Kerlen mit höchst unterschiedlichen Körpern, Charakteren und Neigungen beschert hatten

ELSE:
Da wird ein wenig viel Geheimnis gemacht um meine Existenz, denn was ist denn von der früheren Arbeit wirklich geblieben? Einfach das Anekdotische – wie beim Soldaten, der vom Krieg zurückkehrt ins zivile Dasein und nicht mehr von der mörderischen Seite seines Handwerks spricht, sondern von dem, was inmitten all dieses Grauens menschlich, vielleicht allzu-menschlich gewesen ist!

Interessanter Aspekt, meine Liebe – als Drehbuchautorin, die ständig hinter ausgefallenen Situationen und Motiven her ist, weiß ich diesen zu schätzen. Aber mehr noch, ich bin fasziniert von Ihrer Herangehensweise – als Frau, die für gewisse, den Ihren ziemlich ähnliche Dienste nicht nur nicht bezahlt wurde, sondern dabei, anders als Sie, womöglich sogar etwas vom eigenen Inneren dazulegen musste.

ELSE:
Ihre Gefühle müssen Sie in dem Job immer draußen lassen, genauso wie den Zungenkuss – diesen zuzulassen (was gegen meinen Willen niemals geschehen wäre, da täuscht sich mein Freund) hat ja Horst erst endgültig signalisiert, dass er für mich mehr war als ein normaler Kunde.

Ich begriff, dass hinter diesen Worten einiges an Belesenheit steckte, angeeignet in den Steh- respektive Sitzzeiten, die Elses bisheriger Beruf mit sich brachte. Sie musste ein eindrucksvolles Repertoire von Romanen aufweisen. Kaum hatte ich das gedacht, deklarierte sie sich als versierte Kennerin des berühmten Heimito von Doderer.

ELSE:
Viel ist hingesunken uns zur Trauer
und das Schöne zeigt die kleinste Dauer.

Aber damit hatte es keinesfalls sein Bewenden. Was Else nämlich herauszuarbeiten suchte, war der Bogen, der sich von jenem Motto der „Strudlhofstiege” bis zum Ende des Romans spannt, wo der pensionierte Amtsrat Zihal zusammenfasst: dass glücklich derjenige sei, dessen Bemessung seiner eigenen Ansprüche hinter einem diesfalls herabgelangten höheren Entscheid so weit zurückbleibt, dass dann naturgemäß ein erheblicher Übergenuss eintritt. Und sie wollte wissen, dass solcherart aus Trauer Trost entstand oder besser (um nochmals Zihals Sprache zu bemühen) aus der Evidenz von Trauer wurde eine von Trost.

Beflügelt durch die Gedankengänge ihrer Lieblingsautoren, hatte Else irgendwann begonnen, auch selbst etwas niederzuschreiben und sich damit gegen ihre frühere Situation gestellt, in der man von ihr etwas sehen oder spüren wollte, aber nicht unbedingt etwas hören (von jenem gewissen Stöhnen vielleicht einmal abgesehen).

Auch Horst kannte seine Freundin so nicht, denn allzu tiefschürfend waren ihrer beider Gespräche bis jetzt noch nicht gewesen – eindeutig seinetwegen, denn trotz der mittlerweile eingetretenen Veränderungen war sein Zugang zu Else ja doch ein anderer, um es einmal milde auszudrücken. Auch bei dem, was ihm von DDD vorenthalten wurde, hatte es sich schließlich nicht gerade um ihren weiblichen Intellekt gehandelt, sondern um die Tatsache, dass seine Frau sich nicht zu ihm hingezogen fühlte und er sie deshalb – nach anfänglichen halbherzigen Zugeständnissen ihrerseits – ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr bumsen durfte.

Aber da war noch mehr: Die Beziehung Horsts und DDDs gestaltete sich auch insofern zu einem äußerst komplexen Fiasko, als ihm a priori das Quäntchen zivilisierter Phantasie fehlte, wonach es sie angeblich verlangte, aber wenn er dieses einigermaßen erfolgreich zu simulieren versuchte, war’s ihr natürlich auch wieder nicht Recht – den Versuch, seine abwegigeren (und damit echteren) Träume zu erschließen, unternahm hingegen sie nicht, denn solches konnte sie sich gerade bei ihm nicht vorstellen. Das wiederum empfand er, ohne es jemals auszusprechen (und daher ihr gegenüber dümmer dastehend als er war), als Zurücksetzung, denn er wusste wohl, dass DDD selbst in extremeren Situationen – so etwa in der Sandwichposition mit Johannes und Romuald – keineswegs irgendwelche Hemmungen hatte. So zeigten sie einander Masken der Biederkeit und ödeten einander an.

ELSE:
Das jedenfalls hatte der Gute bei mir mit all meiner persönlichen Bürgerlichkeit nicht zu befürchten, denn – es wurde bereits treffend gesagt – mein Körper funktionierte weiterhin in jenen Bahnen, die mein Beruf mit sich gebracht hatte.

Um ihm verständlich zu machen, was sie damit meinte (und überhaupt einmal eine Facette ihrer Persönlichkeit hervorzukehren, die er noch nicht kannte), las sie Horst ein Elaborat vor, das sie selbst eigentlich als ernstzunehmenden literarischen Entwurf sah, wenngleich dieser auch als Tatsachenbericht aus ihrer Demi-Monde gelten konnte. Den Versuch ist es wert!, dachte sie, wohl wissend, dass er’s nicht mit dem Lesen hatte und daher zu befürchten stand: auch nicht mit dem Zuhören (es sei denn, der Fernseher erzählte ihm etwas).

ELSE:
Schon früh, als ich den Beruf noch gar nicht ausübte, fragte ich mich, wie das wohl möglich sei – seinen Körper zu exponieren, aber gleichzeitig seine Seele zu schützen. Wie machten das die Prostituierten, ihre Sexualität zwischen der gewerblichen Performance und dem individuellen Ding zu differenzieren? Aufgewachsen in diesem Milieu, sah ich nicht wenige Mädchen scheitern, wenn sie versuchten, ihren Nachtjob mit ihrer Alltagsgestalt zu harmonisieren, und ich begriff, dass dies genau dann geschah, wenn die Betreffenden es nicht schafften, ihr innerstes Selbst entsprechend abzuschotten, will sagen, wenn sie gegen Geld mehr von sich hergaben, als man sich füglich kaufen kann. Dabei müsste jemand, der sich in dieser bestimmten Weise zu Markte trägt, nicht von vornherein verletzbar werden – es sei denn, es handelte sich um eine Frau, die in unserer Gesellschaft lebt, wie sie ist: mit all den Vorurteilen des Mainstream, die letztlich dazu führen, dass niemand eine Hure beschützen würde, wenn sie gedemütigt wird. Man gibt ihr lediglich zu verstehen, dies sei genau die Behandlung, die sie verdiene – ein Phänomen, das die Konfusion unserer Kultur hinsichtlich ihres Eros schlechthin beleuchtet. Wir Sex-Arbeiter – jedenfalls diejenigen, die in diesem Beruf überleben wollen – definieren ja unsere Grenzen genau und bewegen uns streng zwischen diesen, aber die Gesellschaft kennt ihre Grenzen uns gegenüber nicht.

Horst sperrte die Ohren auf. Der Text hatte auf ihn sozusagen nicht nur primäre, sondern auch sekundäre Auswirkungen.

ELSE:
Sex, das wird kaum jemand bestreiten, gibt es im Überfluss, und selbst wenn eine von uns noch so viel ihren Kunden gibt, wird davon immer noch genug vorhanden sein. Was wir uns selbst vorbehalten und mit niemandem aus der Klientenschar teilen wollen, ist hingegen unsere Intimität.

Nun war für sie, seit DDDs Mann bei ihr eingezogen war und ihre marktmäßigen Dienste beendet hatte, beides wieder deckungsgleich geworden. Die große Bestie, wie Else das insgeheim genannt hatte, wenn sie im Dunkeln neben einem schlecht riechenden Typen besudelt dalag, war gezähmt, indem man sie häuslich gemacht hatte. Und das konnte doch wohl nichts anderes heißen, als dass Horst (der immer nur gefordert und folgerichtig nie das Gewünschte erhalten hatte) ein erstes und einziges Mal zum edlen Geber wurde – was prompt dazu führte, dass ihm umgekehrt etwas zufiel, und wenn es nur das prickelnde Gefühl war, der krönende Abschluss von Elses Karriere zu sein.

Angesichts der Überlegungen, die sie ihm eröffnet hatte, ging er daran, sich aus ihrem Hurenleben berichten zu lassen, und das war mit Abstand besser, als was er sich mittels Filmen und Büchern bis dahin reingezogen hatte. Wenn sie ihm nämlich – nach einigem Zögern, wohlgemerkt – tatsächlich die verschiedensten Episoden erzählte, noch dazu (je mehr es sie selbst erregte) mit zunehmender Detailverliebtheit, dann konnte es ihm als weiteres Zeichen dafür gelten, das ihm allein die bewusste Intimität offenstand.

ELSE:
Angesichts seiner Geilheit, mein Leben bis ins Letzte auszuschlachten und damit seine Libido am Kochen zu halten, merkte er erst spät, dass ich Intimität nicht als Einbahnstraße verstand. Ich zwang ihn demgemäß, seine eigenen innersten Erfahrungen preiszugeben, und da landeten wir umgehend bei den Eskapaden seiner Frau (die er ja fast alle gewissenhaft ausgekundschaftet hatte), was ihm anfangs gar nicht schmeckte, denn da war er nie die Hauptfigur gewesen, sondern immer nur ein jämmerlicher Statist. Ich verschonte ihn aber nicht davor, seit ich festgestellt hatte, dass mich diese Geschichten – wenn ich mich nur recht in die ungewohnte Rolle DDDs hineinversetzte – ungemein erotisierten.

Indem auf diese Weise ihre eigenen Bedürfnisse, die lange nicht bewusst (und wenn bewusst, dann nicht erfüllbar) gewesen waren, eine bisher nicht gekannte Bedeutung gewannen, transzendierte die eben erst definierte Beziehung zu Horst schon wieder – das heißt, von seiner erst vor kurzem eroberten Stellung als dominantes Subjekt musste er relativ bald Abstriche machen und diese Rolle mit der eines Objekts von Elses Begehrens teilen.

Nicht dass er dadurch neuerlich zu jenem – nennen wir die Dinge doch beim Namen – Hanswurst wurde, aber irgendwie beschlich ihn schon manchmal dieser Gedanke. Vielleicht hätte er doch, wie seine neue Geliebte, ab und an seine Zuflucht bei berühmten Autoren nehmen und den einen oder anderen Rat beherzigen sollen, der dort mehr oder weniger offen angeboten wird…

ELSE:
… und doch glaube ich nicht, dass dies bei ihm etwas gefruchtet hätte, denn ihm fehlte jegliche Antenne für spezifisch weibliche Dialektik: dass zum Beispiel die Frage nach seinen Wünschen, wann immer sie ihm überhaupt je von einer Frau gestellt wurde, nur dazu diente, ihm ihre Wünsche zu suggerieren.

DDD jedenfalls hatte dieses Spiel mit ihm mit Sicherheit nie gespielt, denn es gab vom Beginn ihrer Beziehung weg nichts, was sie von ihm erwartete…

ELSE:
… sodass man sich fragen muss, wozu sie ihn eigentlich geheiratet hat…

… aber das ist eines jener Geheimnisse der Psyche, die nur ein Genie entschlüsseln könnte!

ELSE:
Irgendetwas wollte sie wohl damit beweisen, aber das missglückte offenbar…

… und gelang erst mit ihrem Neuen, Franz-Josef Kloyber, denn vor dem entwickelte sie selbst in ihrem tiefsten Inneren, wo man notgedrungen ganz ehrlich mit sich ist, einen gewissen Respekt, wiewohl sie nach außen hin ganz bestimmt demütiger gegen ihn tat, als sie es tatsächlich war. Und eines stimmt zweifellos: Anders als ihr Mann war der Oberleutnant trotz seiner Pummeligkeit ein ganzer Kerl, der – wenn es nötig war – im richtigen Moment und in der richtigen Weise zupacken konnte, wodurch er DDD den nicht zu verachtenden Kick verschaffte, so etwa, als er kaltblütig Percy Blakeney und dessen fünf Jakuten umnietete und selbigen Tags mit denselben Händen, in denen er die Waffen gehalten hatte, DDD berührte.

ELSE:
Aber es werden wohl nicht nur die Hände gewesen sein, sondern auch eine andere Extremität, die durch die brutale Tat einen ungeheuren Vortrieb erhalten haben musste. Aggression ist schließlich – glauben Sie mir, dass ich weiß, wovon ich spreche – der verlässlichste Anstoß männlicher Sinnlichkeit!

Sei dem, wie dem sei – DDD beherrschte ihren Franz-Josef, indem sie sich scheinbar von ihm beherrschen ließ: einmal ihm in der genannten Form ihre subtilen und längerfristig orientierten Wünsche einflüsterte, ein andermal sich seinen kurzfristig-vordergründigen Forderungen bedingungslos auslieferte.

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2. TEIL: GEDANKEN ÜBER SICH SELBST

201

Mein Dasein als Anastacia Pangou wäre wohl ganz anders verlaufen, sprich lähmend eintönig bei der Landarbeit in meinem griechischen Dörfchen, wenn nicht…

– ja, wenn nicht mein Vater so früh gestorben wäre. Noch zu seinen Lebzeiten schien er mir von keinerlei Nutzen zu sein, wie er so den ganzen Tag vor dem Haus saß, mit seinem Kombolói spielte und dazu jede Menge Ouzo in sich hineinschüttete. Meine Mutter hatte die gesamte Arbeit am Hals, nicht nur im Haus, sondern auch mit den Feldfrüchten und den Ölbäumen, liebte den Kerl aber dennoch heiß, was mich früh zur Vermutung brachte, dass er ihr offensichtlich doch (und wie ich vermutete nachts, denn sonst war davon nichts zu sehen) irgendwelche geheimnisvollen Freuden bereiten musste. Neugierig geworden, belauschte ich die beiden, gut versteckt vor ihrem Schlafzimmerfenster, wagte aber meinen Kopf nicht zu heben und hineinzusehen. Anfangs dachte ich, der Vater würde die Mutter umbringen, aber bald wurde ich von meinen Schulkameradinnen eines besseren belehrt, indem sie mir erklärten, es würde dabei das Gleiche geschehen, wie ich es schon oft bei einem Eselspärchen beobachtet hatte. Aber dann lag Vater eines Morgens tot in seinem Bett, und Mutter weinte sich die Augen aus. Erst später verstand ich, dass sie nicht nur den Verlust in Aufruhr versetzte, sondern auch ein grausames Gesetz unserer archaischen Gemeinschaft, das sie, obwohl noch ziemlich jung, zu lebenslang schwarzgekleideter Witwenschaft verurteilte.

– und wenn meine Mutter nicht versucht hätte, durch die Maschen dieses Gesetzes zu schlüpfen, indem sie sich mit fremden Männern einließ, wenn wir fern vom Dorf unsere Produkte zum Markt brachten. Den strammen Burschen, die sie mit großem Geschick unterwegs auftat, waren die sozialen Verhältnisse dieser Frau, die sich ihnen so bereitwillig anbot, herzlich gleichgültig, und während ich am Straßenrand bei unseren Lasttieren Wache halten musste, gab es weiter drinnen im Kaktushain manches Dacapo vormals ehelicher Genüsse meiner Mutter. Ich selbst war in jener Zeit noch zu jung, vor allem aber zu dünn und schlaksig, um von jenen Galanen als Sexobjekt wahrgenommen zu werden, aber das änderte sich rasch, als sich meine Formen früh zu runden begannen. Wollte ich, als es so weit war, meinen eigenen Flirt haben, wurde ich zu meiner Überraschung nicht daran gehindert, wenn es nur keiner von unserem Ort war.

– und wenn ich nicht beobachtet hätte, wie Mutter sich mit ihren gelegentlichen Eroberungen nicht zufriedengab, sondern in heißen Nächten, wenn sie nicht schlafen konnte, die verschiedensten Gegenstände unseres Hauses gebrauchte, um sich selbst zu befriedigen. Ich hegte große Sympathien für diese Fetische und verspürte den heftigen Drang, ihnen außer ihren alltäglichen und jenen besonderen Obliegenheiten komplexere menschenähnliche Funktionen zu verleihen – womit offenbar die Grundlage für meine Beschäftigung mit künstlichen Lebewesen geschaffen war. Zugleich lernte ich, ohne viel davon zu merken, dass Weiblichkeit auch ohne Bezug zu einem oder in Reflexion auf einen Mann ausgelebt werden konnte, und ich wurde davor bewahrt, patriarchalische Strukturen zu internalisieren.

– und wenn sich in dieser von Europa aus gesehen gottverlassenen Gegend nicht plötzlich ein Engländer herumgetrieben hätte (ein richtiger Earl, wie sich später herausstellte), der nach dem üblichen Woher-wohin, das er sich landesüblich angeeignet hatte, von meiner Mutter in gewohnter Weise verführt wurde, aber danach auch eingeladen, sich anschließend auch an mir gütlich zu tun. Vergessen waren die Altertümer, derentwegen er nach Griechenland gekommen war – er verbrachte die Zeit, die er dafür reserviert hatte, mit uns Frauen, und da er sich außerhalb unseres Hauses nicht viel blicken lassen durfte, herrschte zwischen uns eine äußerst dichte Atmosphäre. Auf diese Weise bekam ich meinen richtigen und sehr positiven Start in die Welt wirklicher Erotik, denn angestachelt von der Besonderheit der Situation gab der Mann sein Bestes, zärtlich und einfallsreich. Ich selbst bot mich ihm dar in noch halb kindlicher Schamlosigkeit, indem ich mein Kleid hob und ihm (Unterwäsche pflegten wir damals, jedenfalls im Sommer, nicht zu tragen) zeigte, wie darunter Becken und Schenkel schon ausgeprägt waren wie bei einer erwachsenen Frau. Obwohl der Earl vornehm angekündigt hatte, keinesfalls in mir kommen zu wollen, um unerfreuliche Nebenwirkungen zu vermeiden, war ich es, die ihn nicht aus seiner Pflicht entließ, will sagen: Meine Beine umklammerten ihn erbarmungslos so lange, bis er mir den letzten Tropfen seines Samens gespendet hatte. Endlich wusste ich präzise, woran ich war, und zu meinem Glück blieb ich in dieser höheren Stufe der Erkenntnis dennoch vor unerwünschtem Nachwuchs bewahrt. Ich fühlte mich rundum zufrieden und bestens vorbereitet für neue Taten, auch solche jenseits der Sexualität.

Die Ideen flogen mir nur so zu, schon daheim, mehr noch aber, als ich in England mein Informatikstudium absolvierte, voller Begeisterung, während Mutter in der luxuriösen Wohnung saß, die unser Mentor uns eingerichtet hatte, und dem Müßiggang frönte. Niemals dachte sie daran, wer wohl in unserer Abwesenheit nach unserem Bauernhof sah, und wenn ich den Wunsch äußerte, in absehbarer Zeit auf unsere Ägäis-Insel zurückzukehren, erinnerte sie mich stereotyp daran, dass sie dort unter dem Druck der Dorföffentlichkeit die ganze Zeit in Schwarz herumlaufen musste und dass sie, zumindest offiziell, keinen Mann an sich ranlassen durfte, alles Dinge, die in der anonymen Großstadt nicht von ihr gefordert wurden: Sie kleidete sich chic und hatte ihr Vergnügen mit Sir Basils Adelskollegen, auch wenn dieser bekanntlich nicht allzu oft in seinem Liebesnest erschien – wenn aber, dann konzentrierte er sich auf die Ältere von uns beiden, denn die Jüngere, also ich, war ihm zu anstrengend geworden.

SIR BASIL CHELTENHAM:
Wenn Anastacia alles gewusst hätte, was mit meiner Hilfe im Hintergrund ablief, wäre sie wohl weniger besorgt um ihre Heimat gewesen, denn meine Leute wachten indessen darüber, dass sich niemand am kleinen Besitz der Panagous zu schaffen machte: drei schottische Bauernburschen aus meiner regulären Armeeeinheit – mag sein, dass sie aus Langeweile auch landwirtschaftlich Hand anlegten, doch wenn nicht, würden die Ölbäume trotzdem unbekümmert dastehen wie seit Jahrzehnten, nur Ernten gab es eben keine mehr. Aber auch in London zog ich die Fäden: Die Wohnung der beiden Frauen hatte ich für meinen Standesgenossen ausgewählt, und an mich überwies er die Abgeltung sämtlicher anfallenden Kosten, sodass die Spur seinen Doppellebens niemals bis zu ihm rückverfolgt werden konnte. Vor allem aber beschaffte ich Anastacia, ohne dass sie es wusste, das Stipendium für die Royal Society of Artificial Intelligence, wo die Kleine ihrer zweiten großen Leidenschaft neben der Entdeckung des Sex frönen und ihre Kenntnisse darin vervollkommnen konnte. Als man ihr aufgrund ihrer eindrucksvollen Fortschritte nichts mehr beibringen konnte und sie überdies eigene Erfindungen machte, die sie mit niemandem teilen wollte, war die Zeit gekommen, sie zurück nach Hause zu bringen, um sie in Ruhe arbeiten zu lassen. Auch das wurde, wie erinnerlich, von mir organisiert – die Maßnahme deckte sich mit meiner Intention, die Arbeit der Panagou exklusiv für meine Zwecke zu nutzen. Der Tod der Mutter beschleunigte zuletzt alles.

Ich war, ehrlich gestanden, weit weniger verblüfft, als Sir Basil annahm, denn ich hatte in London nur scheinbar isoliert gelebt, in Wirklichkeit aber ein Netzwerk geknüpft, das mir allgemeine Informationen, aber auch solche meines Fachgebiets bescherte. Schließlich war ich klug genug, auf die Erfahrungen anderer zurückzugreifen, mochten diese auch unvollkommen sein wie jene von Professor Pascal Kouradrogo. Obwohl uns dessen Schriften von der Society zum Studium empfohlen wurden, kam ich bald zum Schluss, dass er ein blendender Theoretiker, aber ein erbärmlicher Praktiker sein musste, was sich bei unserem persönlichen Kontakt durchaus bestätigte. Übrigens – anders als von mancher Seite vermutet, baute ich meine beiden ersten ernstzunehmenden Maschinenwesen bereits hier.

Die AP 2000 ®, die nach dem Versuch mit der künstlichen Schlange (mit der es mir auf Anhieb gelungen war, komplexe biomechanische Strukturen in einem einigermaßen begrenzten Körper unterzubringen) gleich zum Meisterstück geriet, entstand nächtlicherweise in den Werkstätten der Society – das geheimzuhalten kostete mich (das sagt sich so leicht!) nicht mehr, als ein Techtelmechtel mit dem Nightman des Instituts zu beginnen. Es bedeutete, auf die primitiven Vorlieben des Mannes einzugehen, die er punktuell jedes Mal befriedigen wollte, wenn ich ein- und ausging, also jedenfalls zweimal während seiner Schicht. Hätte mir das jemand vorweg angekündigt, wäre es mir wohl als interessante Möglichkeit erschienen, meinen erotischen Erfahrungsschatz zu vergrößern, aber die Praxis sah leider anders aus: Der Mensch roch nach Alkohol, hatte keinerlei Manieren (ich fragte mich, wie er zu diesem Job gekommen war) und überhaupt drückte er mich auf das erniedrigendste Niveau nonverbaler Kommunikation. Wann immer er mich passieren ließ, hatte er bereits seine Hose geöffnet und deutete bloß wortlos auf jenen meiner Körperteile, der sich seiner fauligen Rute annehmen sollte. Solange diese Affäre währte, ertappte ich mich bereits tagsüber in den Vorlesungen und Praktika bei bangen Spekulationen, was es denn diesmal sein würde, und das endete stets mit der Hoffnung: nur nicht der Mund!

Aber dann, als die Androidin, die wie meine Zwillingsschwester aussah, fertig war, wurde mein Nightman ungewollt zum Versuchsobjekt. Ich setzte nämlich die AP 2000 ®, die sich zwar noch in ihrem Erschaffungszustand (ohne besondere intellektuelle Ausprägungen) befand, aber schon sämtliche Körperfunktionen und –reaktionen beherrschte, sofort auf ihn an, und er schien äußerst angetan. Ein zufriedenes Grunzen war zu vernehmen, als sie es ihm tüchtig besorgte, soviel konnte ich von meinem Versteck aus erkennen, und dazu sogar erstmals etwas wie eine normale menschliche Reaktion: „Aaah, tut das wohl, Kleine, du machst dich!”

Es schockierte mich besonders, diesmal quasi von außen zu beobachten, was er mit mir anstellte, aber es war gleichzeitig das letzte Mal, dass er sich auf diese Weise durch eine von uns Befriedigung verschaffen durfte. In den Werkstätten waren bereits jegliche Spuren meines verborgenen Tuns beseitigt, sodass ich nicht mehr auf seine Diskretion angewiesen war. Als er, wie gewohnt, zum Dank die Tür öffnete, trat ich neben die Androidin, und wir verließen Seite an Seite das Gebäude – zurück blieb einer, der an seinem Verstand zweifelte und sich ernsthaft vornahm, sich künftig beim Trinken zurückzuhalten.

Da die Androidin mir tatsächlich bis aufs Kleinste ähnelte (und überdies niemand wusste, dass sie existierte), konnte ich sie, nachdem ich intensiv mit ihr gearbeitet hatte, an meiner Statt ausschicken, namentlich zu gesellschaftlichen Ereignissen wie etwa offiziellen Empfängen der Society oder solchen, die zu deren Ehren gegeben wurden. Bei diesen Gelegenheiten fügten sich bei der AP 2000 ® auf das Beste die von mir kopierten individuellen Verhaltensweisen mit den in ihr a priori angelegten Fähigkeiten zusammen. Eine ungeheure Datenverarbeitungskapazität erlaubte es ihr, viele nahe und ferne Gespräche synchron zu verfolgen und für mich aufzuzeichnen, während sie mit irgendeinem harmlosen Typen unverfänglichen Small Talk übte. Wenn sie so dastand, gute, durchtrainierte Figur, schwarzes Haar, bronzefarbene Haut, darüber ein duftiges Cocktailkleidchen – niemand schöpfte je Verdacht. Ich aber bekam so viel an Informationen geliefert, wie ich sie niemals hätte generieren können, selbst bei persönlicher Anwesenheit. Darüberhinaus stellte ich fest, dass sie für mich den Ruf umfassender Bildung generierte, war doch (abgesehen von ihrer Fähigkeit, jederzeit auf externe Quellen zuzugreifen) in ihren Speichern eine solche Fülle an Material eingebunkert, dass sie jede Konversation mit geistreichen Sprüchen dominieren konnte.

Als sich mir schließlich die Gelegenheit bot, nach Griechenland zurückzukehren, ergriff ich sie nur zu gerne, zumal die AP 2000 ® ausgekundschaftet hatte, wer hinter dieser Aktion steckte, und das dieser Jemand noch dazu eine Menge Geld lockermachen würde – nicht sein eigenes wohlgemerkt, sondern das des Earls, der sein Konto bereitwillig erleichterte, wohl um sich endgültig aller Verpflichtungen zu entledigen: Wie die meisten Männer hatte er nicht vorhersehen können, welche Weiterungen seine Doppel-Liaison mit meiner Mutter und mir genommen hatte.

SIR BASIL CHELTENHAM:
Sie fragte auch nicht viel nach den Hintergründen des Transfers, so ungewöhnlich diese auch sein mochten: Ein alter kleiner Frachter ankerte vor Seaford, East Sussex, und mit vier oder fünf Bootsfahrten wurden Anastacias Habseligkeiten, gut verpackt in Kisten, die meine Boys zuvor an den Strand geschafft hatten, an Bord gebracht, zuletzt sie selbst. Niemand merkte etwas, geschweige denn wurde die Abreise von irgendwelchen Behörden registriert, und genau so war es bei der Ankunft an der Küste der Ägäis-Insel, direkt vor der Panagou’schen Farm.

In einer der Kisten befand sich, unbemerkt, die Androidin, die sich die künstliche Schlange um die Taille geschlungen hatte. Beide verharrten während der fünf Tage unserer Reise unbeweglich, was für sie nicht schwierig war, jedenfalls weit einfacher als für uns Biohumanoiden. Und sie dürften sich auch miteinander unterhalten haben, ohne weiter aufzufallen, denn sie konnten ja eine Art unmittelbarer Kommunikation pflegen, die keine akustischen Signale benötigte. Ich war mir überdies fast sicher, dass sie – obwohl ich es für die Zeit der Überfahrt streng verboten hatte – mit ihren Models of Emotional Response experimentierten, die Schlange (??/69-0 war ihre nüchterne Serienbezeichnung) ihr bescheidenes und die AP 2000 ® ihr höherentwickeltes. Zum Glück entstand daraus kein Problem, obwohl diese meine Erfindung genau dazu da war, Androiden fallweise in einen weniger kontrollierten, sprich kontrollierbaren Modus zu versetzen als normal und sie dadurch menschenähnlicher zu machen.

Natürlich war ich froh, als wir am Ziel war – mehr noch, ich war sehr gespannt, was mich erwartete, und ich muss sagen, ich wurde nicht enttäuscht: Das seit Kindheit vertraute Haus war bestens in Schuss, und das Land hatte irgendwie seinen urtümlichen Zustand wiedergewonnen, was nicht ohne Reiz war. Der Kapitän des Frachters übergab mir überdies zum Abschied Papiere, aus denen hervorging, dass ich neuerdings auch eine Villa in der Inselhauptstadt mein Eigen nennen durfte. Außerdem stellte ich zu meiner Überraschung fest, dass ich auf ein laufendes Einkommen zurückgreifen konnte, was mich aller Existenzsorgen enthob – „Wie im Märchen!”, bemerkte die kluge AP 2000 ®, und die künstliche Schlange, die sich zusehends mit vorlauten Bemerkungen hervortat, fügte hinzu: „Was denkst du, AP – unsere Chefin muss eine tolle Nummer im Bett sein, wenn einer all das für sie locker macht!”

SIR BASIL CHELTENHAM:
Die Babysitter traten unbemerkt in Aktion, allen voran die drei Buschen, die schon seit längerer Zeit da waren. Bei Tag bezogen sie fixe Beobachtungsposten und bei Nacht drehten sie unablässig ihr Runden, um Anastacia zu schützen. Direkter Kontakt zu ihr war ihnen verboten, doch sie selbst konnte über einen toten Briefkasten in einer kleinen Felsenhöhle am Meer mit uns in Verbindung treten, insbesondere dann, wenn sie für ihre Forschungen und Entwicklungen irgendwelches Material benötigte. Je nachdem, wie schwierig dieses zu beschaffen war, landete früher oder später ein Boot an jenem einsamen Strand und setzte das Gewünschte ab, worauf die Panagou bloß ihre AP 2000 ® anweisen musste, die Sachen ins Haus zu schaffen.

Viele wussten, dass ich nach diesem längeren Aufenthalt in der Heimat von Sir Basil erneut zurück nach England geholt wurde, diesmal nach Cheltenham House. In meinem Gefolge waren Giordano Bruno und die drei mittlerweile neuentstandenen Androiden Protos, Devteri und Tritos, die später ein solch tragisches Ende nehmen sollten. Und ich darf wohl behaupten, dass wir dort – zusammen mit dem Koori Chicago – Großes vollbrachten, nämlich den Bau des riesigen elektronisch-telepathischen Raumkreuzers NOSTRANIMA, der weit über mein bis dahin gewonnenen Erfahrungen hinausging.

Was ich aber eigentlich sagen wollte: Die Sehnsucht nach dem Mittelmeer blieb, und als sich die Gelegenheit bot, wenigstens nach Zypern zu übersiedeln, wenn schon nicht auf meine eigene Insel zurückzukehren, griff ich zu – wohl wissend, dass es für mich ohnehin keine andere Wahl gab, wenn ich Cheltenham richtig einschätzte.