1999
Wien und die Welt
PROLOG DES RICHTIGEN AUTORS
Natürlich könnte man behaupten, es handle sich hier um die Geschichte eines toten kleinen Mädchens. Oder um Geschichten von mir und dir und uns und euch. Aber das wäre falsch. Man wird auch nichts vom Heurigen finden, obwohl wir hier in Wien sind. In Wahrheit passiert in diesem Buch formal gar nichts: lediglich zwei Männer, ein Autor und sein potentieller Verleger, sitzen an einem Wochenende in einem Zimmer und studieren einen längeren Text: Die vielzitierte Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung. Und noch andere Arten von Einheit: Der Autor repräsentiert mit seinem Werk die Einheit der ästhetischen Gestaltung (oder wenigstens den Versuch dazu). Den Verleger beseelt die Einheit des Zweifels an der Weltsicht seines Gegenübers. Bei dem, was er liest, fällt ihm auf, dass die Totalität der Welt durch das Bewusstsein eines erlebenden Subjekts gefiltert wird. Aber so einfach ist das auch wieder nicht: Seine editorische Routine lässt ihn diese selektive Totalität als prismatisch gebrochen erkennen, wobei in jedem Bereich des Spektrums unterschiedliche Einheiten der Reflexion auftreten.
Die Behauptung, man könne nicht mehr schreiben nach Joyce und Thomas Mann und Rilke weise ich zurück. Im Grunde gibt es ohnehin nur eine Handvoll guter Geschichten, die immer von neuem erzählt werden. Man kann auch noch schreiben nach den Katastrophen der Geschichte, selbst der Zeitgeschichte – und nach persönlichen Katastrophen. Sonst würde man wahrscheinlich nicht einmal mehr imstande sein, die eigene Biographie fortzusetzen – was oft ohnehin schon schwer genug fällt.
Als Außenstehender kann man sich aber manchmal gründlich täuschen. Ich verließ zum Beispiel den gymnasialen Deutschunterricht mit der Vorstellung von der Droste-Hülshoff als einer älteren Dame, die ihre Worte mit Bedacht wählte. Bestärkt wurde diese fixe Idee, als ich Jahre später vor dem westfälischen Wasserschloss stand und partout nichts anderes sehen wollte als den Anschein adliger Behaglichkeit. Bis ich dann – drei Jahrzehnte später – folgende Verse las:
So an seiner Jugend Scheide
Steht ein Herz voll stolzer Träume,
Blickt in ihre Paradiese
Und der Zukunft öde Räume …
Auf den Punkt gebracht: Die Dichterin war später gar nicht dort zuhause, wo ich sie ansiedelte, sie wurde auch nicht mehr als 51 Jahre (ein Alter, das mir nur zu vertraut ist), das heißt sie war eine junge oder wenigstens jung gebliebene Revolutionärin, gefangen in einem langsam alternden Körper – willens, den Rest des Lebens hinzugeben mit einer Handbewegung für die Möglichkeit, das Vergangene nochmals zu ergreifen und festzuhalten um jeden Preis:
Und die Jahre, die sich langsam,
Tückisch reihten aus Minuten,
Alle brechen auf im Herzen,
Alle nun wie Wunden bluten …
Ob es nun wirklich Sinn macht oder nicht, man muss es immer wieder tun, und darum wird auch immer wieder geschrieben und meinetwegen nur immer wiederholt, was ohnehin schon längst jeder weiß, aber nicht wahrhaben möchte, was immer auch (und sei es noch so katastrophal) passiert sei. Dann, dann erst gibt es ein Überleben.
Aber jetzt etwas ganz anderes: Sie sehen, dass es natürlich auch für dieses Buch einen richtigen Autor gibt.
Wer ich bin? Ich gehe einem bürgerlichen Beruf nach und verbringe bereits mindestens mein halbes Leben mit diesem Text, der wächst und wächst, weil er ja ALLES enthalten soll. Was ich außerdem noch mag, ist Fernsehen und Musik hören (Sport eigentlich nur sehr in Maßen). Während ich schreibe, widme ich meine halbe Aufmerksamkeit zum Beispiel dem Turnier der Sumo-Ringer in Tokio. Oder der Übertragung eines Santana-Konzerts. Oder einem Weltraumabenteuer. Oder einem amerikanischen Serienkrimi .
Irgendwie habe ich das Gefühl, ich sei ganz klein, hätte mich aber in eine überlebensgroße Maschine gesetzt, gleich dem Zauberer von Oz. Mit Hilfe der Technik kann ich dem Hauch des
gesprochenen Wortes das Tosen des Sturmes verleihen, dementsprechend auch der Stille der Pausen eine ungeheure Wucht. Mag sein, dass mich irgendjemand irgendwann in meinem Versteck aufspürt und meine wahre Dimension erkennt: dass ich nicht brüllen, ja nicht einmal singen kann – nicht einmal zur schönsten Melodie.
Aber jetzt zurück zu ADH. Soll ich es vielleicht verbergen, dass ich mich zu ihr hingezogen fühle? Wir sind eben nur zeitlich nicht zusammengekommen – zwei Zivilisationen auf verschiedenen Planeten verschiedener Sonnen. Mein Vorteil ist, dass ich von ihr weiß. Was sollte mich also in dieser Fiktion davon abhalten, sie zu begehren?
Komm mit mir, Annette, altes Mädchen. Machen wir noch einmal (meinetwegen wieder einmal) eine heiße Reise in eine kalte Welt.
.
REFLEXIONEN DES RICHTIGEN AUTORS, VERSTECKT IN EINER DER HAUPTFIGUREN
…….Das Hauptproblem…
Es gibt keine neue Kunstform, die nicht für sich wieder eine zumindest selbstreflexive und damit spezifische Ästhetik entwickelt, mit der sie sich von ihrer materiell-biologischen Basis ablöst. Zum Beispiel TECHNO: Beim ersten Hinhören unangenehm, dann aber doch assoziativ wie etwa die beiden Sängerinnen von „Burning Ocean“. Ich sah die Bilder, die aus den flammenden Schaumkronen der Wellen aufstiegen:
– der schwarze Junge, der von seinen Schulkameraden die Straße entlang gehetzt wird: seine weit aufgerissenen Augen;
– die Flüchtlingsfrau, der das Baby irgendwo auf der Straße aus den erschöpften Armen geglitten ist: ihre leeren Augen;
– das Mädchen, das nach einem Napalmangriff an der Straße liegt: seine geschmolzenen Augen;
– der Soldat, den es nach vielem Töten selbst erwischt hat, ehe er die rettende Deckung erreichen konnte: seine erstaunten Augen.
Dass man überhaupt in der Lage ist, einfach alles in eine ästhetische Dimension zu transponieren! Und immer wieder diese imaginären Straßen: Pipelines der Angst, und worum geht es eigentlich? Egal! Wir sind viele, zu viele vielleicht, und bis es nicht alle gelernt haben, dass niemand, nein niemand in seiner Wertlosigkeit sich der Vernichtungsmaschine entziehen kann, wird das weitergehen: es gibt das Absolute nicht, nein das vor allem nicht. Der Trost der Philosophie in der Erniedrigung und im Tod gilt nicht: wer ihn formuliert hat, war noch nicht wirklich gezwungen, in extremis extremarum zu kosten, wie’s schmeckt. Noch konnte man einen Funken Hoffnung haben, bis minus Delta vor dem Zeitpunkt X.
…….… habe ich stets darin…
Gefühle sind eigentlich Symptome (Kundgaben).
Gefühle sind eigentlich Symbole (Berichte).
Gefühle sind eigentlich Signale (Appelle).
Gefühle sind eigentlich Wellen, die an das Gestade des Ich schlagen, das Harte in stetiger Bemühung zermahlen, bis es gestaltlos dahinrieselt. Das Zusammentreffen zwischen Land und Meer ist ein liquider Zustand, in dem die Positionen der einzelnen Wassertropfen oder Sandkörner nicht mehr als eine statistische Evidenz aufweisen. In all dem Geschiebe sich festzuhalten, sich an etwas zu befestigen, geschweige denn sich aneinander zu klammern – ach wo finde ich dich, Kind, wenn du fragst, wozu du eigentlich in die Welt gekommen bist, dich überflüssig fortgeschwemmt fühlst und verfolgt durch die überkommenen Konventionen? Ich habe dich verloren, ehe du geboren wurdest, wie auch ich längst verloren war, und diese Erkenntnis hat lediglich den einen positiven Sinn, dass nichts wirklich je ganz wichtig ist, aber man tut so als ob. Beziehungen können besser gar nicht dargestellt werden als durch ein Videoband, auf dem nur die fetzenartigen Zitate des Surfens auf den Fernsehkanälen zu sehen sind. Unser Prophet ist jener Reisende in einer Winternacht, der in einer Szene den Angelpunkt seines Lebens entdeckt zu haben glaubt, aber da ist er längst schon wieder in einer ganz anderen Geschichte, und wie er einigermaßen in dieser Fuß gefaßt hat, endet auch sie abrupt, und eine neue Story beginnt, ohne dass man je wissen wird, wo sie Anfang und Ende hat, denn das spart der Erzähler aus. Fragment ist ja per se nicht das Unfertige, sondern das scheinbar Vollendete, weil es uns einen falschen Eindruck der Realität vorgaukelt.
…….… gesehen, dass wir nur…
Natürlich würden mich Ivanhoe und Robin Hood und Lancelot nicht beneiden. Sie hatten ja die Möglichkeit einzugreifen, mit einem Schlag die Situation zu bereinigen, damit aus ihrem Kopf zu bringen. Ich aber habe das Meer brennen gesehen und obendrauf die Tochter des Ozeans, der ich immer nachgelaufen bin, weil sie für mich alles zusammen repräsentierte, was mein Leben summa summarum anstrebte, deren Unerreichbarkeit ich alles hingeopfert habe, was mir ermöglicht hätte, in schöner Beschaulichkeit zu existieren mit allen Attributen des bürgerlichen Seins. Hätte ich früher erkennen sollen, dass ich in einem Reagenzglas aufgewachsen bin, in dem die Gesetze der Political Correctness verwirklicht waren, längst ehe sie formuliert wurden? Ist es die Vorhut des Denkens, die den Kanon toter weißer Machos (Plato und Konsorten) außer Kraft setzt, nichts mehr zu tun haben möchte mit dieser zweiten Säule der Tradierung von stammesgeschichtlicher Substanz neben den genetischen Anlagen, deren unendliche Variabilität ohnehin längst den originären Schöpfungsakt mutiert hat, bevor noch der technische Eingriff in das Erbgut durch die Betroffenen selbst möglich wurde?
Ich lebe damit, dass die willkürlichen Gebote eines diffusen Multikulturalismus gelten. Stabile Institutionen gelten als solche für fragwürdig, wenn nicht hassenswert: Brutstätten der Intoleranz. Ich leugne das nicht. Welchen Sinn hätte es zu leugnen, wenn ich mich nicht wirklich durch Kinder, die heimatlos durch die Straßen streunen, beunruhigen lasse, und mich elternlose Jugendliche, deren Gewalttätigkeit uns erschreckt, erstaunt fragen – warum eigentlich nicht?
…….… mehr Objektcharakter…
Man kann natürlich einem Kind Geschichten erzählen, es weit fortführen von der Realität in das Feenreich, in das Land des Zauberdrachens. Man kann ein Kind lange fernhalten von der grausamen Realität, deren Teil man selbst ist. Aber es ist nicht zurückzudämmen, was kommen muss: Wenn schon jung, dann auch kompromisslos, trunken ohne Wein. Oder doch mit Alkohol oder gar mit noch gefährlicheren Giften. Bunter Vogel Jugend, ich gehe dir eben nach und hebe dich auf, wenn du irgendwo liegst, von oben bis unten angekotzt. Bei all dem denke ich mir, dass du unter diesen eigenen Fehlern, so bewusst sie dir auch sein mögen, weniger leidest als unter meiner sogenannten Weisheit. Wie könntest du auch darauf vertrauen, dass ich dich nicht als Marionette missbrauche, und vor allem darauf, dass nicht durch mich andere, die wiederum mich als Marionette missbrauchen, dich als Marionette missbrauchen: Politisches, soziales oder sonstwelches Engagement nennt sich das, und es ist sehr gefragt. Als Eintrittskarte nämlich in jenen Teil der Zweidrittelgesellschaft, wo noch alles einigermaßen funktioniert (du sagst: vergiss nicht, dass dies im globalen Maßstab die Einzehntelgesellschaft ist, und nur dort hat man jemals so gelebt, wie wir Leben verstehen – mit allem Drum und Dran!). Ich merke jetzt, dass ich nicht den Fehler machen darf, o Jugend, zu glauben, die Grenzen dieser Sprache seien die Grenzen dieser Welt.
…….… füreinander aufweisen.
Nieder mit der Gemütlichkeit! rief Victor Adler seinen Genossen 1904 zu. Das Glas Wasser sah Otto Bauer als Protest gegen Spießergewohnheiten. Viel später ist eine Generation herangewachsen, die an den irdischen Gütern (auch an den gehobenen) teilhaben möchte. Unterhaltung über Weine, Listen feiner Restaurants in der sozialdemokratischen Parteizentrale: es geht das Schlagwort von der „Toskana-Fraktion“ um. Inszenierungen – wie sehr verändert ein bourgeoiser Lebensstil das Bewusstsein? Die Einsamkeit des Spin Doctors in seinem War Room wurde zum Zeichen des wahren Elends moderner Politik.
Er machte den Weg frei dafür, dass jemand als Jungsozialist die Fremdenpolizei als Instrument gegen die Arbeiterbewegung identifiziert hat (sogar wenn sie von einem parteieigenen Innenminister verwaltet wurde) und dann, selbst zuständiger Sektionschef in jenem Ministerium geworden, eine beinharte Anti-Asylpolitik abzog. Jedenfalls haben wir das Ende der Subversivität erlebt. Die Rebellen sind Fernsehstars geworden – oder denkfaul – oder beides. Was haben ihnen diejenigen noch zu sagen, die einmal versucht haben, die Welt zu erklären? Oder die Romantiker und ihre Transportfiguren, ob Romeo, ob Graf von Monte Christo? Wir leben aus dem Koffer der virtuellen Versatzstücke: schließlich kann man ohne weiteres mit dem Auto durch einen Schneesturm fahren und dazu vom Band arabische Musik hören.
Apropos: wir haben ohnehin schon gespendet, sei es für die Palästinenser oder wen auch immer, nehmt unsere Almosen und „Schleicht’s euch!“ – das können auch jene verstehen, deren Namen zeigen, dass sie aus aller Herren Ländern kommen, aber lange genug da sind, um sich als Inländer zu fühlen.
…….Das andere aber ist diese…
Ist es nicht frivol, das Ziel der Schöpfung als Happy End zu konzipieren? Der Abschied vom allmächtigen Gott ist passiert, aber anders. Günther Schiwy sagt als Biograph Teilhards de Chardin, Gott habe sich selbst entmachtet, um andere zu ermächtigen. Das mündet naturgemäß in einen Selbsterfahrungsprozess, der noch längst nicht einmal so richtig begonnen hat, obwohl wir, technisch gesehen, in atomare, chemische, biologische und psychische Grundstrukturen eingreifen können. Es könnte schon sein, dass am Ende alles gut ausgeht. Das Schlimme ist nur die Tatsache, dass zuvor alle Umwege wie zwanghaft gegangen werden müssen (also keine neuen Messiasse als Dei ex machina!). Gott ist eben (wenn schon) eher gütig denn allmächtig, und so ließ er seinen Partner Mensch als Täter und als Opfer nach Auschwitz und Hiroshima und an tausende andere schlimme Plätze gehen – weitab jener geraden Linie, die vom Alpha zum Omega der Kosmogenese führen könnte. Die absolute Schönheit dessen, was von der Schöpfung unseren Sinnen zugänglich ist, wird konterkariert durch bestialische Schrecken. Noch sind wir nicht imstande, die planmäßige Errichtung der Hölle auf Erden zu begreifen. Wir sehen nur, wenn wir nicht ganz gefühlskalt sind, dass rund um den Sockel jedes Meisterwerks die Exkremente der Barbarei liegen. Und dennoch: der unausschöpfbare metaphysische Erkenntniswert der Kunst hilft weiter, hilft vielleicht, auf jene Direttissima zurückzukehren.
…….… ungeheure Beliebigkeit.
Am Ende fragte ich mich, ob ich aufhören sollte zu schreiben.
Zuerst schien es sinnlos, Gedichte zu schreiben.
Dann schien es sinnlos, Analysen zu schreiben.
Noch später schien es sinnlos, Erzählungen zu schreiben.
Zuletzt schien es sinnlos, Romane zu schreiben: nur noch Sprache, die Sprachlosigkeit ausdrücken konnte, bewahrte sich noch einen gewissen Sinn.
Habe ich jetzt also doch noch ein Stück Literatur geschrieben, das bleiben könnte? Oder müssen wir auf ein anderes warten?