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Gedichte

Das folgende Gedicht stammt aus den 60er Jahren, als ich gemeinsam mit anderen jungen Autoren das STUDIO 66 betrieb, das selbst-hektografierte Broschüren verbreitete und Lesungen veranstaltete, immerhin im Extrazimmer des renommierten Café Landtmann. Der vornehme Rahmen konnte aber nicht über den Zorn hinwegtäuschen, den wir damals über die allgemeine politische Situation ebenso wie über unser individuelles Geschick empfanden und den ich heute mehr denn je nachvollziehen kann: Schließlich ist die österreichische „Perestroika” längst wieder von einer allumfassenden gesellschaftlichen Agonie abgelöst worden.

I

es schneit auf revolutionen
die im sand verliefen
das naturgesetz ist wohlbehütet
einstein hat den alltag übersprungen
doch der eckstein ruht im nichts
der apotheker schüttelt silben
aus dem mörser, kennt das vorzeichen
nicht, der leere raum in den atomen
könnte töten, könnte lebend machen
könnte wissen
könnte sagen
könnte zeigen, könnte tauen, könnte regnen
könnte überschwemmen, könnte taufen
könnte seinen fächer öffnen
zwischen a und o

II

die brücke ist ein kreis
die enden des meßstabes
sind zusammengebogen, und die gerade
verliert der rechenkünstler
aus den augen, die unendlichkeit
ist blau zwischen grünen blättern
der kalender zeigt fast immer mittwoch
den tag der rache
an dem die stanzmaschine ihren bolzen
ins leere steckt
dort ist die zeile unterbrochen
dort ist der anfang des abstands vom abstand
von eden
das ewig scheinende nullte jahr
ein ungeheuer im netz
der koordinaten

III

kontokorrent
durchdringt noch manchmal manches
den asphaltgetränkten zeitungspanzer
gekreuzte federn, wachheit des kaffees

vor dem portal
mit roten veilchen zwischen den lippen
der underdog
so klein und so tot

nie vergessen trotz allem, trotz allem
nicht vergessen
nichts vergessen

bürger sind wir
alle, weiß wir alle ohne
erkennbaren unterschied
zum durchschnittsamerikaner

IV

wegwerfen, wegwerfen
alles wegwerfen, wegwerfen
alles alles wegwerfen, alles wegwerfen
kaufen, kaufen
alles kaufen, kaufen
alles alles kaufen, alles kaufen
und wieder
wegwerfen, alles wegwerfen
und wieder
kaufen, alles kaufen
und wieder
alles alles wegwerfen
alles wegwerfen
und weiter und weiter und weiter
und weiter

V

strahlenkranz
geliebte, an deinem schreibtisch
deinem klavier
schöne finger, die schönes tun
ein dach über mir
ein baum aus mir
eine wurzel für mich
dem die ankerkette riß, der ein kanonenboot war:
destillierter unsinn

angebot, neuauflage, bekämpfung
zerrissener tendenzen, erlösung
aus dem mystischen mitleid

erklärung, entwicklung, gewinn
möglichkeit, hintergrund
überschreiten der traumgrenze
programm, gedanke, voraussage, preis

lohn der armut
sonne
hitze

VI

mimosenwahn
auswärtige pegel, trümmer
wollen trümmer
glück ist für unglück spion
und vaterlandsverräter
ungewissheit, beispiel, zersetzung

bohren nagen beißen anschweben
mit bosheit
durchschweben der liebe mit bosheit trifft
keinen kern

(Aus der Mappe „Längst darüber hinweg”)

Auch dieses Gedicht wurde in den 60er Jahren geschrieben. Dem Trend der Zeit folgend, schwammen wir auch ein wenig auf der Dialektwelle, deren Elaborate zwar heiter klangen, aber den ernsten Sinn hatten, die Alltagssprache zu dekonstruieren und damit ihren repressiven Charakter zu entlarven. Ich selbst ging dabei so vor, dass ich vorhandene Texte im Dialekt „nachdichtete”:

Fia mein lewendign bruada

Wiast jung woast, bruada, woast wia de sunn.
— leichd weida, du varuckta diamant —
Und heit host nua mea augn wia schwoaze lecha.
— leichd weida, du varuckta diamant —
Grod zwischn kindheid und eawochsnsei
hod di da eisane
stuam dawischd.
Wias olle lochn iwa di, du fremda
bleda schmee, auf den da dod woat –
— kumm, leichd weida —

Refrain
Seavas, bua, seavas in da maschin!
Wo woast’n? Is scho guad,
mia kennan uns scho aus:
Woast aufm weg zu uns mid a boa extraturn,
wäu a zeidlaung deaf a jeda glaum,
dass’s bei eam aundas sei wiad!
Owa jezd kumm eina:
Seavas, seavas in da maschin!

Wos ma ned griagn kau, woitast, woitst‘ in mond.
— leichd weida, du varuckta diamant —
Fua’d schottn in da nochd, do muasd di fiachdn.
— leichd weida, du varuckta diamant —
Dei schigsoi is auf di gfoin, gaunz aso
wia a blinds hendl aramoi a keandl findt.
Wias olle lochn, wäust du bütta in dia siechst,
a mola one foab und pinsl –
— kumm, leichd weida —

Refrain
Seavas, bua, seavas in da maschin!
Wos hosd’n dramd? Is guad,
mia wissn, wos des woa.
Hosd dramd am weg zu uns mid fantasie,
dasd schee und reich und gscheid sei wiasd,
dass’s bei dia aundas sei wiad!
Owa jezd kumm eina:
Seavas, seavas in da maschin!

(Aus der Mappe „20 schlenkara noch bekaunte vuabütta”)

Dieses Gedicht wurde einer Romanfigur in den Mund gelegt, die in dieser Geschichte als eine Art weiblicher Terminator das Geflecht ausführlich entwickelter und dargelegter Befindlichkeiten der übrigen Personen mit einer einzigen aggressiven Tat zerschlägt. Kein anderes als dieses resignative Ende scheint möglich zu sein:

Fuck Off Gentlemen

Die abgetriebenen indischen
Mädchen sind nicht mehr als
ein letzter Beweis

– keine Frage der Meinung
– auch kein Streit

Es ist Krieg zwischen Frauen und
Männern
Krieg zwischen Welten, sternenweit
voneinander
entfernt

Ihr habt es nicht anders
gewollt!
– gewollt?

Fuck off gentlemen

(Aus dem Roman „1999 – Wien und die Welt”)

Dieses Gedicht ist mein persönliches Lieblingsgedicht, schlicht und einfach…

Äther

Paradiese im Augenblick / Anita
Anschluß und Ausbesserung / Leere
Rekruten erschossen
Die Nacht der Gummiknüppel
Sozusagen und Schaden / kostbare Eigenheit

Vermögen
und Vergessen
und unschuldig
Oben also… / Duell der Konflikte
Markantes Blau
Die zweite Sorgfalt
… oranges Ende

Aus dem Band „Grundsätze“

Eine Hommage an 1968…

August 1968

I.
Lettern in der Zeitung balkendick:
Es ist geschehen.
Registriert nicht, schreibt
wir werden handeln
in Buchstaben riesengroß.
Mörder unter uns, die Sonne scheint.
Wiesen grünen und Gewalt rückt vor.
Liebt einander, denn es kommt der Schwarm
der Pfeile, der tödlichen Pfeile.
Steht schnell auf, geht
vor die Tür.

II.
Es hat keinen Sinn,
meinen Namen zu nennen.
Ich habe ihn verloren, Schande überkam mich.
Ich denke immer lange und so wird es stets
zu spät:
Lebe mit beschränkter Haftung, esse,
schlafe unverdient,
werde fortgeschwemmt vom Regen
ohne Widerstand.
Kies, nein Sand: doch
plötzlich bin ich ganz gesammelt.

III.
Sie verkleben dir die Ohren, Augen.
Stört dich nicht.
Sie berauben dich, das
schmerzt dich, denn
nun kannst du dir kein Bier mehr kaufen.
Und man stellt dich an die Wand:
ein Irrtum?

IV.
Bist du schuldig?
Hältst du dich für voll vertrauenswürdig?
An dich, an dich nur, denn
das Licht der Drähte hat mich hell erleuchtet.

V.
Gina: Haut wie Morgentau.
Gina: ein Gin-Tonic mit Esprit.
Gina: Minikleiderfrau.
Gina: you are thrilling me.
Gina: Seidenrosenduft.
Gina: Vorhangsonnenschein.
Gina: weiße Arbeitskluft.
Gina: liebe mich, sei mein.

VI.
Eine Nacht ist rasch zu Ende.
Alles Leben, bis
der Morgen wiederkommt,
mit dem dumpfen Ton, als sie
mich holten, unbekannten
Orts verschleppten,
ging ich wie auf Wolken, denn
sie liebte mich.
Was mit ihr geschah?
Ist sie auch Opfer oder hat sie sich
verkauft, dem der am meisten bot?

VII.
Macht Programme, revoltiert!
Rächt die Frauen, rächt die Männer!
Rächt die Zwänge und den Tod!
Rächt den Sommer noch im Jänner!
Hindert, dass noch mehr passiert!

VIII.
Wo ist dein Bruder? –
weiß es nicht! –
Wo bist du, Bruder? –
Wo bist du nur hingegangen? –

Aus „Revolution”

Chansons von den zwischenmenschlichen Beziehungen

Chanson Nr. 1

Die Säulen in der Heide stehen noch.
Das Gras ist längst verdorrt.
Die Politik ist weiter da, und auch die Sterne
sind nicht tot: Die Untertanennacken
beugen sich vor Herrschern.

Die Modeschau am Fernsehturm
kann nicht erreichen, daß ich
Dich vergesse.

In der Arena stehe ich, und rundherum
die Menge, die mich hört. Doch –
das Barometer steht auf Sturm.
Ich träume oft, und mein Gehirn wünscht
sich zu lösen
vom vergangenen Verhängnis.

Das Himmelbett der braunen Erde
und der Silberpinien
ist verworfen.

Chanson Nr. 2

Ich komme gern zu deiner Hochzeit,
Liebster,
auch wenn
nicht ich es bin, die’s trifft.
Das Zusehn ist so manches Mal
ganz wunderschön.
Und allein: dabei zu sein, ist wichtig.
Danach geh ich
nach Haus
leg mich ins Bett und trinke
Tränen
und Gedanken, bis
nach zwanzig, dreißig Jahren
ich sehr froh sein werde, daß nicht ich
es war, sondern –
– Gott allein weiß, wo
du die nur aufgegabelt hast.

Chanson Nr. 3

Ein Achenbecher, voll mit Zigarettenstummeln,
ein Tisch, befleckt mit Resten von Getränken,
Papier, bis an den Rand beschrieben, das man
ganz einfach liegen ließ: das alles
ist Ergebnis einer Tagung,
die einmal spät bis in die Nacht hinein
stattfinden muß.
Auf der wir uns zum Ziel zu setzen hätten,
unsere Situation zu klären.
Es sprechen viele Akademiker: vielleicht
Diplomvolkswirte,
auch Philosophen, Psychologen und
Verhaltensforscher,
Mediziner, Biologen – kurz:
Vertreter aller Wissenschaften.
Das Ende wurde schon
beschrieben – die Putzbrigade
kommt am nächsten Morgen und beseitigt
allen Mist.
Und das ist unser Zukunftsblick.
… und leider (was für ein Versäumnis),
haben wir vergessen, einen
Theologen einzuladen.

Chanson Nr. 4

Grell ruft der Totenvogel.
Es ist kein Halten mehr, kein Haften,
Hangen.
Was wertvoll schien, ist in den Staub gesunken.
Was Blume war, ist Asche.
Einst göttliche Zeichen, Fetzen Papier.
Propheten sind tot.
Und Richter sind Henker.
Die nackte Existenz:
von einer
Sekunde
zur nächsten
bemessen.
Was nichts war, gilt.

Chanson Nr. 5

Sei du mein Narr,
ich deine Königin –
so wie du Herr bist dieser Welt,
der Sklavin, Magd und Hure,
Närrin, Possenreißerin
und adeligen Dame.
Wenn ich nur denke, was wir
gestern waren: Spießer
an den vollen Schüsseln,
den Himmel über uns.
Und jetzt ist Aufruhr,
den ich nicht bezähmen kann.
Das Chaos: Rausch
und Schicksal.

Aus „10 Chansons von den
zwischenmenschlichen Beziehungen“

Musikverein

Rot. Gold. Plüsch.
In einem Kronleuchter
sitzt H.C.’s Geist (weiblich), wendet
mir
die geöffneten Lippen ihres Verstandes zu.
In einem andern
sitzt
Weberns Geist,
läßt sich von den
Klassikern
durchschweben, manchmal
hört er sich selbst.
Revolution: Umleitungen
am Karlsplatz beachten!

(Aus „2-dimensionale Pläne“)

Schwarzauge

Der Ritter mit dem Spiegel
möchte man sein, dem
Kombattanten sein eigenes Bild
reflektieren,
lähmend –
– die Stichstangen,
das Breitschwert nur
lässig, zur Abwehr bereit.
Pasadena, kindisch, aktiv.
Bahraitsch, wissend, passiv.
Hinterhof, Lametta im Müll.
Reiten, warten, kurze
Erhöhung im Kampf.
Reiten, warten, kurz
und sublim: Augenblick
der Liebe
im Spiegel.

(Aus „2-dimensionale Pläne“)