Kapitel 1
Johannes Themelis
T R A S H
Eine Bibel für Agnostiker
Für Bernd
Tui lucent oculi
sicut solis radii,
sicut splendor fulguris
lucem donat tenebris.
Vellet deus, vellent di,
quod mente proposui:
ut eius virginea
reserassem vincula.
Deine Augen
sonnenstrahlenleuchten
finsterniserhellend
blitzschlaggleich
Gottes– / Götterwillen
wunscherfüllend
mögen brechen helfen
Jungfraunfesseln.
Aus „Carmina Burana“
VORBEMERKUNG
Erwarten Sie sich in diesem Text um Himmels willen keine mondänen Damen dahingehend, wie Sie als lebenserfahrener Gentleman oder Sie als weltgewandte Lady Weiblichkeit definieren würden – stellen Sie sich lieber auf heilige Mütter und Schwestern ein oder auch auf reuige Sünderinnen, die voller Ergebenheit die Füße eines Messias mit ihrem langen Haar abtrocknen. Erwarten Sie sich Frauen wie das emsig waltende Heimchen Martha oder die ergeben zuhörende Jüngerin Mirjam.
Ich muss schließlich Buße tun für die vielen unanständigen Sätze, die ich in früheren Büchern niedergeschrieben habe, für blanke Busen und heruntergelassene Hosen, für nackte Weiber und geile Kerle mithin, die in Gedanken, Worten und Werken nur auf das eine konzentriert waren.
Aber was tut Gott? Bevor ich riskiere, dass Sie, meine ebenso charmante wie libertinistische Leserin, mein kulturinteressierter, aber auch sexsüchtiger Leser, dieses Buch gleich wieder aus der Hand legen, erlaubt er mir, in dieser Frohbotschaft einen viel lockereren Ton anzuschlagen als Sie dies von anderen Evangelien gewöhnt sind, etwa in der Art, wie lange vor unserer Zeit Glaube und Eros noch innig miteinander verwoben waren.
Denn Gott ist ja anders, als die im Vatikan oder in Mekka oder wo immer sonst er angeblich seine irdische Dependance haben soll, uns glauben machen wollen. Auch wenn sie mit ihren Dogmen und Tabus seiner Originalschöpfung am Zeug zu flicken versuchen – diese ist (sorry!) wie sie ist, und noch viel mehr: reich an unvorhersehbaren Mutationen, geradezu uferlos in ihrer Entfaltung. Wirklich und wahrhaftig ist es so, wie geschrieben steht: Kein Ding ist unmöglich, und die da mit theologischer Spitzfindigkeit einschränken und ausgrenzen, sind komplett auf dem Holzweg.
Der wahre Gott wird ihnen eines Tages gegenübertreten in einer Weise, die ihnen die Sinne raubt. Das übrigens ist der einzige Grund, warum ich selbst als Agnostiker darauf hoffe, dass es Gott gibt, obwohl ich ihn nicht zu sehen vermag: Andernfalls nämlich, in einer gottlosen Welt, wäre der letzte selbstgefällige Gedanke dieser Pharisäer, bevor sie spurlos verrotten, womöglich der, dass sie im Recht sind.
Dazu möchte ich Ihnen folgende Geschichte erzählen…
Und im Himmel – einem nach manchen Aufzeichnungen weiten, nach anderen wieder engen Ort, an den die Menschheit ihre Vorstellungen von einer anderen Welt mehr oder weniger konkret projizierte – bestand seit urdenklichen Zeiten jene Rivalität zwischen den einzelnen Göttern, Gottheiten und Dämonen, sprich eine niemals endende Diskussion darüber, wer gerade höher im Kurs stand als der andere: Zeus und Wo-tan und all jene, die einmal machtvoll geherrscht hatten, nun aber nur noch schattenhaft umherschlichen, gönnten dem Dreifaltigen (der in ihren Augen mit einem unlauteren Schwenk vom sogenannten Alten zum Neuen Testament seine Regentschaft über Gebühr ausgedehnt hatte) von Herzen sein aktuelles Verblassen in einem säkularisierten Abendland, in dem ihm der ideologische Boden vielfach entzogen war. Allerdings hielt ihnen dieser quasi prolongierte Jahwe, dem wahrhaftig mit der Einbeziehung eines Sohnes und eines Heiligen Geistes ein genialer Schachzug gelungen war, höhnisch entgegen, dass nicht sie – die anderen alten Numina – als Nutznießer seiner Schwäche gelten konnten. Nein, jener Allah sei es, der auf der Erde mit atemberaubendem Tempo Gelände-gewinne erziele und damit auch hier drüben immer mehr Raum beanspruche – ein relativ junger Allmächtiger, nahezu unangreifbar in seiner hermetischen Uni-tät: Von Anfang an hatte er mit einfachen, von gewissen lyrischen Elementen geprägten Aussagen gearbeitet, die – speziell wenn sie mit rhythmisch wogen-den Körpern ständig wiederholt wurden – schlechthin nicht mehr zu hinterfragen waren. Niederschreiben ließ er diese Sätze von einem Typen, der zunächst herkömmlichen Rauschmitteln nicht ab-geneigt war, diesen aber später völlig entsagte und sich nur noch seiner psychischen Ekstase hingab. Seine Anhänger folgten ihm hierin bereitwillig – am Ende sahen sie ihn sogar auf einem weißen Pferd geradewegs in die Wolken reiten…
Die mannigfachen erlauchten Figuren ringsum lächelten ein wenig mitleidig über dieses Bild, hatten sie doch alle ihre eigenen Metaphern und hielten diese für die einzig zutreffenden. Da wieder begehrte Allah auf, denn es störte ihn ja bereits grundsätzlich, dass er den Himmel, anders als er es sich vorgestellt hatte, mit anderen teilen musste. Wenn er aber schon die Anwesenheit so vieler abgehalfterter Kolleginnen und Kollegen zu ertragen hatte, dann sollten diese ihn wenigstens als ihre eigene Fortführung und Weiterentwicklung begreifen lernen! Nicht nur dass er ganz allgemein auf das seit Jahrtausenden bestehende Bedürfnis nach Religion aufbaute und dabei ohne weiteres akzeptierte, dass dieses Terrain von den früheren Heiligkeiten lange vor seiner Zeit aufbereitet worden war, hatte er sich sogar ganz bewusst in die Tradition älterer Erscheinungsformen dieses Phänomens gestellt, insbesondere jener der jüdisch-christlichen Varianten – aber doch nicht, um diesen ein neues Renommee zu verschaffen, sondern um ihnen zu zeigen, dass er sie überwand und vollendete. Sie sollten begreifen, dass er es den Andersgläubigen damit nur leichter machen wollte, sich auf seine Seite zu schlagen, damit seine Anbeterschar sich mehrte und zuletzt die ganze Menschheit umfasste. Aus dem-selben Grund hatte er seinen Gefolgsleuten auch die Lizenz erteilt, mit Feuer und Schwert vorzugehen, denn man musste wohl annehmen, dass in vielen Fällen nichts zu machen war ohne ein bestimmtes Maß an – Grausamkeit.
Und er wünsche geflissentlich, so führte er – einmal richtig in Fahrt geraten – aus, in diesem Punkt nicht kritisiert zu werden: „Ich darf nur an die Kreuzzüge erinnern, bei denen fromme Ritter gestochen, geköpft, gepfählt und vergewaltigt haben!?, rief er heftig gestikulierend in die Menge, in der sich bis jetzt noch gar kein Widerspruch geregt hatte, denn alle waren der uralten, immer gleichen Debatten gründlich überdrüssig.
Plötzlich trat hinter den Massen asiatisch aussehender Himmelsbewohner ein unscheinbarer Mann hervor, der schon durch seinen einfachen grauen Business-Anzug in all dieser Buntheit Aufsehen erregte. „Sie gestatten, dass ich mich legitimiere!?, bemerkte er schlicht. „Ich vertrete hier Millionen von Menschen, die Sie als Atheisten abzutun belieben oder sogar als Ungläubige zu verleumden pflegen, die aber nichts weiter sind, als Leute, die das, was Sie zu sehen verlangen, nicht sehen können (und es sei mir der Zusatz gestattet: weil da objektiv auch gar nichts zu sehen ist!). Und ich vertrete darüber hinaus weite Kreise, die nur allzu gerne etwas Überirdisches sehen würden – allein, die irdischen Organisationen der diversen Heiligkeiten desavouieren derlei Wünsche durch die anmaßenden Gedanken, Worte und Werke ihrer Funktionäre, was dieser Sorte hinter mir stehender Skeptiker Begründung genug ist für ihre Zweifel!?
Eine verhutzelte Naturgottheit – sie fühlte sich offenbar aufgrund ihres beträchtlichen Dienstalters dazu berufen – machte sich bemerkbar: „Was haben Sie denn überhaupt hier zu suchen?”, lautete die recht unfreundliche Frage. – „Verzeihen Sie, wenn das Folgende für Sie etwas überheblich klingt!”, war die Antwort: „Ich bin graduiert in Ontologie, wissenschaftlicher Theologie, Psychologie und Kosmologie und fühle mich deshalb schon einigermaßen berufen, diesen metaphysischen Ort mit Ihnen allen zu teilen. Dieser beherbergt schließlich sogar die menschlichen Projektionen des Bösen, also die zahllosen und unterschiedlichsten Teufel mit Satan höchstselbst an ihrer Spitze (übrigens, meinen Respekt, Eure Exzellenz, Sie sind ein amüsanter Gesprächspartner und somit gut erfunden!). Unter diesen Umständen wird es doch wohl möglich sein, auch die Projektionen des Nichts, ob es sich nun als das nicht Vorhandene oder als das nicht Beweisbare manifestiert, hier anzusiedeln!?
„Blasphemie!”, bellte die Naturgottheit mit eingerosteter Stimme.
„Bleiben wir doch bei den Tatsachen, Euer Ehrwürden!”, replizierte der Bevollmächtigte der Nichtglaubenden. „Selbst in Ihrer Steinzeithorde wird es den einen oder anderen gegeben haben, der sich darüber wunderte, dass er die Strapazen und Gefahren der Jagd auf sich nehmen musste, während der Schamane zu Hause in der Höhle bei den Frauen blieb und dennoch die besten Beutestücke für sich beanspruchte! Was könnten Sie ihm entgegenhalten?”
„Dass er gesegnet hinausging in die feindliche Umwelt, dass er sich kraft des Fetischs, den ihm der Geistliche mitgab, geborgen fühlen konnte in meiner unsichtbaren Hand!”
„Hier aber begannen die religiösen Schwierigkeiten unseres prähistorischen Agnostikers erst so richtig: denn bei ausnahmslos jedem Aufbruch rezitierte Ihr Priester seinen Weihespruch, aber der Erfolg des Unternehmens stellte sich deshalb nicht immer zuverlässig ein. Mehr noch – der eine oder andere der Gesegneten kehrte von solchen Ausflügen niemals wieder…”
„Der Glaube hat immer Recht!”, versetzte das Wesen schroff, um dann triumphierend und – hoffen wir einmal – mit unfreiwilligem Zynismus hinzuzufügen: „Wenn einer ins Gras beißt, bedarf es des Schamanen, um die Witwe zu trösten!”
An dieser Stelle begehrte Allah massiv auf. Das Ganze hier dauerte ihm schon viel zu lange, war ihm weitaus zu differenziert – und vor allem: es ging dabei nach seiner Wahrnehmung nicht um ihn! Die große Mehrheit der Anwesenden begriff aber sehr wohl, dass es um sie alle ging, um die Auseinandersetzung aller mit der Position des grauen Unscheinbaren. Eine wunderschöne Göttin aus dem vorislamischen Zweistromland (ihr Name war auf Erden längst in Vergessenheit geraten) gebot mit einem betörenden Lächeln dem Stifter des Koran zu schweigen, und siehe da, dieser gehorchte völlig überrumpelt: Er persönlich besaß nämlich, anders als seine sterblichen Jünger, keine Strategie gegenüber Frauen, die sich eigenes Denken und eigene Entscheidungen herausnahmen.
Und so konnte der Vertreter der Religionskritiker ungestört auf einen wesentlichen Punkt seiner Argumentation kommen: „Ich sehe hier ausschließlich jenseitige Gestalten, die von unserer spezifischen Menschheit hervorgebracht wurden, aber niemanden, der von außerirdischen Zivilisationen verehrt respektive gefürchtet würde!”
Eine Schockwelle ging durch den Himmel. Nicht nur dass sie über alles begnadet waren, wurde hier geleugnet, sondern jetzt auch noch ihre Universalität: Sie, die sich als oberste Exponenten des gesamten Kosmos verstanden, sollten – wenn man sie überhaupt noch akzeptierte – bestenfalls für diesen mickrigen Planeten zuständig sein!
KAPITEL 1
SEX
Kapitel 1 – Vers 1
Glauben Sie mir – selbst der Heilige Antonius wäre schwach geworden, hätte er sie da so stehen gesehen, bei der Straßenbahnhaltestelle (in der Matthäus Jiszda-Strasse im 21. Wiener Gemeindebezirk), bei der man schon einige tausend Male gewartet hatte, ohne jede Sensation. Aber plötzlich, von einem Tag auf den anderen: Sie, groß, mindestens 1-90, schlank, aber nicht flach, sondern mit allen Kurven an der richtigen Stelle, die blonde Mähne straff aus dem Gesicht gekämmt und mit einer riesigen Sonnenbrille aufgemotzt. Und man hätte Wetten abschließen mögen für die nächste Sichtung, welche Garderobe sie wohl diesmal gewählt habe – immer tipptopp, das jedenfalls war gewiss, aber die Meteorologen hätten einem nicht helfen können. An einem sonnigen Morgen im beginnenden Frühling erschien sie mit einem pelzverbrämten Mantel, der offen stand und ein olivgrünes ultrakurzes Strickkleid erkennen ließ, dazu einen passenden Seidenschal, schwarze Strümpfe und hochhackige dunkle Schuhe.
Umgekehrt trug sie einmal bei starkem, kaltem Wind zur blassblauen Jean eine leichte rote, weit ausgeschnittene Bluse, darüber ein dünnes weißes Jäckchen. Dann wieder eine enganliegende elfenbeinfarbene Hose mit einem Kasack im Fliederton, dazu ein Hauch von einem lässig geknoteten Tuch und wieder die obligaten großrädrigen Prada Eyecatchers. Da kam man natürlich immer ins Phantasieren, was sich wohl hinter all dem verbergen könnte, wenn es einem je erlaubt wäre, tiefer zu forschen…
Aber niemals ergab sich die Gelegenheit, ihr näher zu kommen, mit ihr zu sprechen, ihren Namen zu erfahren oder sie gar zu berühren. Mit mehr Nutzen für meine Libido hätte ich ein Striplokal aufsuchen können, wo all der Flitter fällt und eine nackte Frau zum Vorschein kommt – und mit mehr Bedeutung für meinen Intellekt hätte ich eine Dozenten-Kollegin (oder meinetwegen auch eine Studentin) an meiner Universität ansprechen und mit ihr ein interessantes philosophisches Thema diskutieren können.
Nur ein einziges Mal hatte ich Glück – ich hörte sie telefonieren. Ihre Stimme und auch ihre Sprache waren anders, als ich sie mir vorgestellt hatte, und ich will nicht verhehlen, dass ich ein klein wenig enttäuscht war, wie das eben so ist mit Illusionen, die in der Realität einkehren. Sie erzählte allem Anschein nach einer Freundin (oder einem Freund, horribile dictu?) von ihrem sportlichen Trainingsprogramm, den Power Work-out im Fitnesscenter, das abendliche Jogging, aber das interessierte mich weniger – da assoziierte ich bloß verschwitzte Schlabberklamotten. Aber etwas von dem, was sie sagte, habe ich in meinem Fundus erotischer Reize gespeichert: dass sie noch im September im bereits sehr kalten Donaustrom über eine Stunde geschwommen sei, Hard-core, wie sie sich ausdrückte, bis ihre Haut extrem gespannt war und – das war ganz sicher nicht für mich, den Lauscher, bestimmt – ihre Muschi ihr eine ziemliche Sensation bereitete, sodass sie alle Kraft zusammennehmen musste, um sich wieder zu sammeln und das Ufer zu gewinnen.
Ich wusste immerhin, wo sie wohnte, zumal ich ihr manchmal auch abends, wenn ich gerade nur so dahinschlenderte, über den Weg lief (oder sie mir, wie man’s nimmt, denn sie führte ihren Hund aus). Ich folgte ihr, bis sie ein Haus betrat, Floridsdorfer Hauptstrasse Nummer 38 – eine Zahl, die mich fortan durchs Leben begleitete: Wann immer sie mir irgendwo auf der Welt begegnete, sei es als Liniensignal auf einem japanischen Omnibus, sei es als Teil der Glücksserie in einer südafrikanischen Lotterie oder auch nur als Summe auf der Rechnung eines Supermarktes daheim, wurde ich an die schöne Namenlose erinnert.
Übrigens – ihren Vierbeiner habe ich mit Sicherheit öfter gesehen als sie, denn er wurde auch von anderen Personen Gassi geführt, und das natürlich mit einer gewissen Regelmäßigkeit, wie es den Bedürfnissen dieses Viechs entsprach. Ich will nun nicht behaupten, dass ich meine Spaziergänge an diesem animalen Rhythmus zu orientieren begann, aber sicher war es so, dass mich meine ungeplanten Schritte wie zufällig dort vorbeiführten, weil immer die Chance bestand, dass Frauchen höchst selbst die Leine führte.
Und das war’s dann mit der Realität. Aber Gedanken sind bekanntlich zollfrei, und so träumte ich davon, die geheimnisvolle Dame zu Hause zu haben als eine Lebenspartnerin, besser noch Lebensabschnittspartnerin, wenn man es bescheidener angehen möchte. Ich stellte mir vor, im Bett zu liegen und ihr dabei zuzusehen, wie sie – schon etwas in Eile – nur mit einem Hauch von einem G-String bekleidet (einen BH brauchte sie fürwahr nicht) vor unseren Schränken auf und ab lief und irgendetwas memorierte in Richtung: „Ich hab’ überhaupt nichts anzuziehen!” oder „Was soll ich nur heute überstreifen?” Und als sie einmal knapp an mir vorüberkam, ergriff ich sie an den Handgelenken und zog sie zu mir herab, gegen ihren heftigsten Protest, denn sie war bereits geschminkt und frisiert. Was ihr aber nichts half, denn ich zeigte ihr, dass ich der Stärkere war, selbst im Vergleich zu einem so stattlichen Weibsstück wie ihr, und außerdem lüpfte ich meine Decke – demonstrierte ihr, wer sie dringend zur Audienz begehrte, und dass offenbar genau der Umstand, dass sie schon so weit war mit ihren Ausgehvorbereitungen, mich so enorm geil gemacht hatte. Abgesehen davon: Es geht doch nichts über ein gediegenes Early Shagging, finden Sie nicht auch? Wenn man Zeit hat, kann man es ruhig angehen lassen, hat man hingegen keine, ist die hastige Nummer eine Variation, die man nicht verachten sollte. Und wenn beispielsweise ein Termin vereinbart ist und man dennoch im Bett bleibt, um einer der ältesten Verpflichtungen der Welt nachzugehen, dann ist das ein Luxus, den sich sonst nur die Privilegiertesten leisten können…
Aber wie gesagt – alles nur Schall und Rauch. Ich lag da, hielt mich an meiner Morgenlatte fest und war frustriert.
Noch dazu (als ob es mir nicht gleichgültig sein könnte) sehe ich jetzt sämtliche meiner Freundinnen und weiblichen Bekannten sich um mich herum versammeln mit diesem gewissen „Ts-ts-ts…”, ganz als ob es nur wir Männer wären, die in einer bestimmten Vorstellungswelt gefangen sind. Dabei stellt sich das in Wahrheit viel komplizierter dar, meine Damen: Während wir Simpel – zugegebenermaßen – immer an das eine denken, leben Frauen laut jüngsten Umfragen in einem wahren Kosmos erotischer Phantasien: Liebe mit einem Fremden – ein exklusives Callgirl sein – eine Affäre mit einer anderen beginnen – einen männlichen Sklaven halten – einen Jüngling verführen – Sex mit mehreren Typen – Verkehr in der Öffentlichkeit – gezwungen werden, sich dabei zuschauen lassen – andere beobachten.
Und was soll nun, werden Sie jetzt wahrscheinlich fragen, dieser quasi wissenschaftliche Diskurs – oder, anders formuliert, was soll das alles im Zusammenhang mit Madame X? Nun ja, wie ich zuvor schon andeutete – ich kann in Bezug auf sie leider nicht mehr anbieten, als über Sex zu reden respektive zu schreiben, denn es ergab sich keine Möglichkeit, ihn mit ihr zu praktizieren.
Apropos Phantasie, eines Tages, als es regnete, erschien die Begehrenswerte mit einem Schirm – einem Schirmchen genaugenommen, recht niedlich also, hellblau, am Rand rüschenverziert. Im selben Augenblick war ich in einem Traum gefangen und sah sie auf einer glamourösen Bühne die Treppe herunterkommen, auf High Heels, mit Federboa, Kopfschmuck, Augenmaske, aber im Prinzip nichts als diesem kleinen Parapluie, das sie aufgespannt vor sich hielt, um ihre Blöße zu verbergen.
Wo soll das noch enden?
Daher rasch zurück zum Gesicht der Madame X – das ist öffentlich, wenn auch nicht ganz unverfänglich, denn ihre Züge, namentlich im Profil betrachtet, gehörten zweifellos in jene Kategorie, die uns Männer in einen Zustand versetzen, in den wir bei jeder Durchschnittsfrau bestenfalls erst geraten, wenn diese mehr von sich herzeigt. Es hätte daher (genaugenommen) gar nicht erst jener fiktiven Enthüllungen bedurft, um mich in äußerste Erregung zu versetzen: Da reichte bereits diese bemerkenswerte Nase – man mochte an Cleopatra denken (von der man im Grunde gar nicht weiß, wie sie aussah, und daher bloß auf Legenden angewiesen ist), an Nofretete (die unter der Totenmaske angeblich noch viel schöner war, als diese vorgibt, jedenfalls wenn man jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnissen glauben schenken darf), natürlich nicht zuletzt an Mona Lisa (die ja geradezu eine Verkörperung eines puristischen Face-dependent Sex darstellt, sodass man vor ihrem Bild steht, wartet, dass sie auch nur mit einer Wimper zuckt, um einen zu erlösen, aber sie tut es nicht, was einen halb wahnsinnig macht) – aber ich verliere mich, ich wollte eigentlich sagen: ganz zu schweigen von ihrer Stirn, ihren Wangen, ihren Augen (waren sie nicht grün?)…
Ich schäme mich jetzt ein wenig. Sie haben doch sicher ausreichende Kenntnisse der weiblichen Anatomie und bedürfen daher nicht meiner Nachhilfe!
Kapitel 1 – Vers 2
Zum Zug kam bei der geheimnisvollen Unbekannten ein Kerl, den ich von Jugend an kannte, weil er aus derselben Gegend stammte wie ich und in dieselbe Schule (ins Floridsdorfer Gymnasium) gegangen war. Er hieß eigentlich Peter Panigl, aber bekannt war er mittlerweile als Schicki-Micki-Fotograf mit dem Künstlernamen Pjotr Perwonatschaljnow (oder Рётр Рервоначальнов). Ich wunderte mich noch, ihn bei der Straßenbahnstation zu sehen: „Was ist los?”, fragte ich. „Hab’ meinen Ferrari um einen Baum gewickelt, und so lange die Anwälte streiten, ob das Gemüse dort überhaupt stehen dürfte, warte ich ab und bestelle keinen neuen Wagen!”
Wir stiegen unmittelbar hinter Madame X in die Tram. Pjotr-Peters Augen bohrten sich in ihren Rücken, nicht anders als meine, aber vielleicht ein wenig professioneller, sozusagen. Als sie sich umwandte, senkte er nicht etwa seinen Blick – wie ich es schon oft getan hatte, weil ich mich ertappt fühlte –, sondern ging gleich zum Angriff über: „Hab’ ich Sie nicht vor kurzem in einem Film gesehen? Warten Sie, es fällt mir bestimmt wieder ein – war’s nicht irgendeine Beziehungskiste?” Und sie widersprach keineswegs, obwohl das alles frei erfunden war.
Pjotr schien noch nicht fertig: „Sie waren umwerfend – kein Wunder bei dem, was Sie zu bieten haben!” Er taxierte sie unverhohlen von oben bis unten, und zu meiner Überraschung nahm sie ihm das keineswegs übel (genauso wenig wie seine schmeichlerischen Lügen), sondern strahlte ihn an. Mir hatte sie noch nicht einmal ein müdes Lächeln geschenkt.
Er reichte ihr seine protzige Karte, die er so flink, dass man nicht schneller schauen konnte, hervorgezaubert hatte. „Melden Sie sich doch einmal bei mir, wenn Sie Lust haben – ich würde gerne ein Shooting mit Ihnen machen. Es bleibt Ihnen überlassen, in welchem Aggregatszustand!” Dazu grinste er dreckig, und ich dachte, nun musste sie sich wohl angewidert umdrehen. Das Gegenteil geschah: „Ich ruf’ Sie an, Herr…” – sie versuchte seinen Namen gefällig auszusprechen – „…Perwonatschaljnow…”
„Für Sie natürlich Petja, meine Liebe!”, flötete er jetzt, worauf sie verschwörerisch zwitscherte: „Petja –”
Der langen Rede kurzer Sinn: Am Ende erschien im „Playboy” – nicht im deutschen, sondern im viel renommierteren britischen – eine Fotostrecke mit dem Titel „Countess Benigne Opalinska reveals her castle”. Die Bilder waren durchaus wertvoll, Kunst eben, und zeigten beileibe keine plumpen Obszönitäten. Das Schloss von Slovenska Bistrica war echt – gemietet von den dankbaren Besitzern, die zu einer unerwarteten Einnahme kamen, ohne dass ihr Ruf besonders darunter litt – und bot ein gediegenes Ambiente für die angebliche Geschichte, die Pjotr über meine von Ferne Angebetete erfunden hatte. Seine Vorliebe für exotische Künstlernamen lebte er auch hier aus, und im Text, der wie üblich das Feigenblatt zu den Hochglanzmotiven bilden sollte, hieß es, sein Pin-up sei direkt verwandt mit dem russischen Zarengeschlecht sowie entfernt auch mit den Hohenzollern und dem Haus Tudor: Wer war schließlich nicht geil darauf, eine Romanow, eine Dame aus der deutschen Kaiserfamilie oder eine Urururururnichte von Bloody Mary nackt zu sehen?
Bei mir handelte es sich um mehr als das – ich konnte endlich meine bisher bloß auf Phantasie beruhenden Koordinaten ihrer physischen Persönlichkeit mit der Realität in Einklang bringen. Das heißt, eigentlich wurde ja nicht gar so viel offengelegt, wie immer beim „Playboy”, denn der alte Hugh Hefner, von dem bekanntlich die ganze Konzeption stammt, war nichts anderes als ein harmloser, in der Pubertät steckengebliebener Voyeur und somit das gerade Gegenteil seiner maßgeblichen Konkurrenten Bob Guccione vom „Penthouse” oder Larry Flynt vom „Hustler”. Sei dem wie dem sei, Benigne Opalinska (ihren bürgerlichen Namen verschwieg mir Pjotr weiterhin, vielleicht um mich nicht zu desillusionieren) präsentierte sich zwar für heutige Verhältnisse nahezu jugendfrei, aber ich war fortan nicht auf Spekulationen angewiesen, wenn ich von der Ideallinie ihres Busens, der Form ihrer Hüften und Schenkeln oder ihrer Kehrseite respektive der Façon ihres Schamhaars träumen wollte.
Die Aufnahmen sprachen jedenfalls für sich: Ob die blonde Schönheit nun kreuzhohl an ein altes Gemäuer gelehnt stand, den Kopf zurückgeworfen und die Augen geschlossen, und ihre eine Hand lässig die rechte Brust berührte, während die andere sich vorsichtig zwischen die Beine tastete; ob sie auf einem Steinbänkchen im Park saß, leicht nach vorne gebeugt, sodass ihr Haar locker herabfiel, und zärtlich ihr linkes Bein streichelte; ob sie sich auf dem Marmorboden der Eingangshalle räkelte, geradeso als würde es ihr nichts ausmachen, dass jederzeit ein Fremder den mächtigen Türflügel aus Eichenholz öffnen könnte; ob sie selbst aus dem Portal trat (das war die provokanteste Pose), ihre Frontalansicht im grellen Sonnenlicht vorwies, sodass ihre Haut sich fast schneeweiß ausnahm, und die betont schmal geschminkten Augen fest auf den Betrachter richtete, als wollte sie ihn herausfordern, seine Männlichkeit unter Beweis zu stellen – das war schon sehr beeindruckend, und ich revidierte insgeheim meine Meinung über Perwonatschaljnow, der offenbar doch mehr zu sein schien als ein arroganter Schnösel.
Die Originalfrau sah ich zu meinem Bedauern von da an wesentlich seltener, wobei ich anfangs nicht glauben wollte, dass sie ihren Beruf aufgab – die angebliche Komtesse war laut Pjotr Arzthelferin –, denn vielleicht fuhr sie jetzt bloß öfter mit dem eigenen Auto zur Arbeit. Aber die Wahrheit ließ nicht auf sich warten und bedeutete einen ziemlichen Schock für mich: Ihr Chef hatte, indem er hinter ihrer alltäglichen Anwesenheit plötzlich eine exotische Attraktion entdeckte, um ihre Hand angehalten, mit der Konsequenz, dass sie nur noch ab und an in der Ordination aushalf.
Damit blieb die Carrière dénudée à la Perwonatschaljnow lediglich eine Episode in ihrem Leben – immerhin eine, die sich ihrer eigenen Meinung nach gelohnt hatte: Ihre Schönheit war dokumentiert, unverschleiert zumal, und wer immer sie gesehen hatte, würde sie dergestalt in Erinnerung behalten. Sie dachte dabei an den Mythos von Brigitte Bardot, der sich nicht am vorgerückten Alter der Diva und schon gar nicht an deren unsäglichen rassistischen Bemerkungen entzündete, sondern unveränderlich an ihren unvergesslichen Filmen, in denen sie als entblättertes Gänseblümchen, als Verführerin oder als Maria I, die zusammen mit Maria II Jeanne Moreau den Striptease erfindet, zu sehen war.
Das war es, was sie wirklich beabsichtigt und wozu sie den zufällig verfügbaren Petja benützt hatte: Mit dem – wenn auch nur einmaligen – Verzicht auf die Intimität ihres Körpers war dieser unwiderruflich der Öffentlichkeit übereignet, und jeder Fremde konnte zu jeder Zeit bis in alle Zukunft jenes „Playboy”-Heft aufschlagen und Madame X ungehindert betrachten, ganz zu schweigen von ihrer Familie, einerseits derjenigen, der sie entstammte, andererseits einer noch zu gründenden: Auch die Kinder und Enkelkinder, die sich vielleicht eines Tages einstellten, würden akzeptieren müssen, dass ihre Mutter oder Großmutter sich dereinst als Benigne Opalinska hüllenlos präsentiert hatte.
Außerdem war sie in einen luxuriösen Ehehafen eingelaufen, was sie im Einklang mit landläufigen Kategorien als Vorteil ansah – vielleicht zurecht, wenn es längerfristig tatsächlich einen solchen bedeutet, immer unter der Voraussetzung, man lebt in einer Gesellschaft, in der das Matrimonium nicht jenes vorsintflutliche Joch bedeutet, unter das die Frauen gebeugt werden, sondern im Gegenteil einen hohen gesellschaftlichen Rang, in dessen Dunstkreis sich alles nur Erdenkliche treiben lässt: Dinge zumal, von denen der Gemahl nichts weiß.
Pjotr Perwonatschaljnow als Heiratsvermittler und zugleich Frauenbefreier? Das war wohl nicht gerade die Rolle, in der er sich selbst sah, und mit Bedauern musste er erkennen, dass ihm dieses Huhn, das goldene Eier hätte legen sollen, von einem reichen Gockel weggeschnappt worden war. Leider befand er sich damals noch in jener Phase seiner Kunst, die überwiegend von Idealismus getragen wurde und daher bedauerlicherweise auf wasserdichte, mit allen juristischen Spitzfindigkeiten gespickte Verträge mit seinen Models vergaß.
Eine gewisse Rolle mochte in seinen Anfängen auch die Tatsache gespielt haben, dass er Berufliches und Persönliches noch nicht in ausreichender Weise auseinanderzuhalten verstand, will sagen: Wenn ihn so ein Mädchen reizte, setzte er diese Gemütsbewegung nicht nur in Ästhetik um, sondern begab sich nach den jeweiligen Sessions gerne auf das banale Glatteis des Anmachens, Betatschens und Eindringens. Und so oft die betreffenden Objekte sich das auch bieten ließen, immer funktionierte die Masche nicht, vor allem nicht – wie Pjotr, in dem Fall eher der alte Panigl, mir gestand – bei Madame X: Die hatte auf seine physischen Avancen bloß die rechte Braue hochgezogen (erinnerte ihn damit fatal an Mister Spock aus „Star Trek”, was sich nicht gerade vorteilhaft auf seine Lüsternheit auswirkte), und damit war die Sache erledigt.
Kapitel 1 – Vers 3
Pjotr Perwonatschaljnow hatte so seine Methoden, die dem geborenen Panigl vielleicht niemals in den Sinn gekommen wären. Wer weiß, wo er immer diese Auftraggeber herhatte, aber eines Tages bestellte ein Regenbogenmagazin bei ihm eine Bildergeschichte mit dem Arbeitstitel „Auf der Alm…”, einfach so – nennen Sie es meinetwegen trivial-assoziativ. Pjotr entsann sich des Bauern in Osttirol, bei dem er – noch als Peter mit seinen Großeltern einige Male auf Urlaub gewesen war (Sommerfrische nannten’s die alten Herrschaften wohl noch).
Er ließ seinen Assistenten – der war übrigens schwul und wurde Charlot gerufen (statt des banalen Karl) – kurzerhand das ganze Fotozeug einpacken, mobilisierte die Kosmetikerin Cesarine – die hieß tatsächlich so und benahm sich entsprechend zickig – mit ihrem Zauberkoffer und reiste mit den beiden aufs Geratewohl dorthin: nach Amling auf den ihm noch immer ganz vertrauten Pratenserhof. Er genoss die Umständlichkeit, mit der Bauer und Bäuerin, mittlerweile etwas in die Jahre gekommen, ihn begrüßten, bewirteten und bequatschten, und er freute sich gleichzeitig diebisch darüber, wie Charlot und Cesarine, denen das alles hier natürlich nichts bedeutete, in seltener Einmütigkeit Nerven zeigten.
Er beschloss, zur Sache zu kommen: „Da war doch zu meiner Zeit so ein Mädel, gerade sechs Monate alt, ganz entzückend anzusehen – was ist aus ihr geworden?”
Der Bauer pfiff einmal laut, worauf sich umgehend nahezu der gesamte Nachwuchs einfand und stolz vorgestellt wurde – eine Reihe von Orgelpfeifen, beginnend mit 25 und herunter bis 5, der jüngsten Hervorbringung. Mittendrin eine Zwanzigjährige, die als Katharina vorgestellt wurde: eben jene Kleine von damals, mittlerweile prächtig im Futter, sodass ihre Formen nur so aus dem Dirndlkleid hervorquollen. Ein wenig fickrig schien sie allerdings angesichts der Fremden, drehte die Fußspitzen nach innen, presste die Knie zusammen (für Pjotr ein sicheres Zeichen, dass sie noch Jungfrau war) und senkte scheu den Blick.
„Bingo!”, zischte Cesarine zwischen den Zähnen hervor. Endlich konnte man sich an die Arbeit machen – der erste Schritt, um von hier weg und wieder in die Zivilisation zu kommen. Aber zum Leidwesen der beiden schien es Perwonatschaljnow, dem es offenbar nichts ausmachte, hier ganz normal und noch dazu ein wenig wie ein Halbwüchsiger behandelt zu werden, gar nicht eilig zu haben. Nachdem er den Eltern vorsichtig angedeutet hatte, dass man ihre Tochter für einige bodenständige Fotoaufnahmen gewinnen wolle, wozu arglos die Zustimmung erteilt wurde, versuchte sich Pjotr mit Katharina anzufreunden. „Gehen wir doch ein paar Schritte!”, lockte er, hakte sich bei ihr unter – deren Gesicht vor Scham erglühte – und führte sie unter den teils wohlwollenden, teils neugierigen Blicken der Familie hinweg. Der Tross, wie der Fotograf seine Anhängsel mit Vorliebe nannte, blieb ratlos zurück und musste sich mit elementarer Gastfreundschaft herumschlagen: Sie, die aus unterschiedlichen Gründen peinlichst auf ihre Figur achteten, wurden mit äußerst kalorienreichen Speisen und Getränken vergewaltigt.
Als Pjotr mit Katharina außer Sicht war, wurde sein Griff härter, und mit Wohlgefallen spürte er, wie darunter ihre leichte Abwehr zerbröckelte und ziemlich rasch einer bedingungslosen Unterwerfung wich. Das alles vollzog sich zunächst wortlos, und als Perwonatschaljnow sprach, fühlte er, wie bei dem Mädchen das Scheunentor (wie sinnig formuliert!) bereits weit offen stand. „Du kannst dich natürlich nicht daran erinnern, aber ich habe dich schon nackt gesehen! Stell’ dir vor, als Säugling schon hast du lächelnd die Beine gespreizt, wenn ich dich hochnahm – und wie du freudig gekräht hast, wenn ich dich mit dem Zeigefinger da und dort berührte, natürlich nur, wenn gerade niemand hersah…”
Katharina, die bis jetzt aus einem bestimmten Instinkt heraus die Annäherungsversuche diverser Tölpel von den Nachbarhöfen abgewehrt hatte (einmal schüttelte sie sogar einen, der versuchte, durchs Fenster in ihr Kämmerchen einzusteigen, von der Leiter, sodass er auf dem Misthaufen landete), sah nun aus ihrer Sicht den Tag gekommen, an dem sie ehrenvoll zur Frau werden konnte. Umso enttäuschter war sie, als Pjotr ihr eröffnete, es ginge ihm lediglich um Fotos, und da nahm sie es als nicht einmal mehr besonders bemerkenswert wahr, dass sie auf diesen Bilder nichts anhaben sollte. Eingesponnen vom eigenwilligen Charme des Besuchers, fügte sich schließlich in alles, was er wollte, und wie er es wollte.
Dann ging’s ans Schminken. Als Cesarine mit Katharina fertig, befahl der Fotograf, alles schleunigst wieder abzumachen, denn er fand das Städtische an der Bauerntochter wie ein Pferd, das vor einen Jaguar gespannt war, wie er sich auszudrücken beliebte. Die natürliche Röte von vorhin hatte ihm besser gefallen, aber diese wollte sich jetzt nicht einstellen.
„Hau ihr einfach links und rechts eine runter, das reicht, um ihren Wangen Farbe zu geben!”, befahl er der Kosmetikerin, und als diese sich standhaft weigerte, langte er selber zu.
Katharina war äußerst empört, und umso besser wurde das Shooting auf dem Heuboden: Der verletzte Stolz trieb das Mädchen dazu, seine körperlichen Vorzüge ungehemmt in den Vordergrund zu rücken. Niemand brauchte ihr beispielweise zu sagen, oben leicht die Zähne zu fletschen und zugleich unten die Schenkel weit zu öffnen (womit sie eine ganze Schar von Männern zum Wahnsinn treiben würde) und auch sonst das ganze Repertoire durchzuspielen, das – so jedenfalls Pjotrs unverbrüchliche Meinung – allen Frauen genetisch einprogrammiert war.
„Hast du vielleicht eine gute Freundin?”, fragte er schließlich scheinheilig, und sie war ohne Zögern selbst dazu bereit, ihm eine arglose ehemalige Schulkollegin, eine gewisse Bartholomäa, auszuliefern, und die wiederum in ihrer Naivität, machte beim bösen Spiel mit, merkte eigentlich gar nicht so richtig, wie ihr geschah, freudig erregt darüber, mit Katharina lange ersehnte Zärtlichkeiten austauschen zu dürfen, selbst um den Preis, dass dies vor Publikum geschah. Als Pjotr – am Ende völlig außer Rand und Band (für Charlot und Cesarine bedeutete es keine Überraschung) – den beiden Mädchen höchstpersönlich in einer Weise die Kehrseite versohlt hatte, dass sie einander tränenüberströmt in den Armen lagen, drückte er mit größter Befriedigung auf den Auslöser: Seine Auftraggeber würden jubeln – und ihm einen Bonus auf das vereinbarte Honorar zahlen…
Cesarine war plötzlich derart angewidert, dass sie Charlot an der Hand nahm und für alle anderen unhörbar ein unsittliches Angebot machte: „Lieber lass’ ich mich auf der Stelle von dir in den Arsch ficken, als das hier noch länger mitanzusehen!”, zischte sie. Ihr Kollege, etwas unangenehm berührt durch den weiblichen Körperkontakt und die zumindest theoretische Möglichkeit, dass dieser noch intensiver werden könnte, redete ihr gut zu, erinnerte sie an die vielen Vorteile dieses Jobs, an das gute Geld, das sie beide hier verdienten, gegen ein wenig Diskretion, die Petja von ihnen verlangte. Er prophezeite, dass der Fotograf noch ganz groß ’rauskommen würde, und folglich sie mit ihm: „Rio, meine Liebe – Seychellen – Tokio – und irgendwann als Krönung New York! Wenn es so weit ist, werden sich die besten Labels um diesen schwanzgesteuerten, aber dessen ungeachtet (oder vielleicht gerade deshalb) außerordentlich talentierten Lackaffen raufen!”
Die umsichtigen Worte beruhigten Cesarine, selbst angesichts der Tatsache, dass Perwonatschaljnow inzwischen mit Katharina vollends verschwunden war und man sich zusammenreimen konnte, was sich nun hinter den Kulissen abspielte, nämlich das Ende einer Jungfernschaft. Sie suchte ihre Utensilien zusammen und verpackte diese sorgfältig – ihre Mission konnte als beendet betrachtet werden. Die kurz aufflackernde Lust, Bartholomäa (die heulend zurückgeblieben war) kosmetisch ein wenig aufzumöbeln, überwand sie rasch und rief dieser stattdessen zu: „Geh‘ jetzt lieber nach Hause, du Trampel!”
Charlot, der inzwischen die Fotoausrüstung versorgt und sich ebenfalls abmarschbereit gemacht hatte, war trotz seiner sonstigen Empfindsamkeit mit dieser knappen Charakterisierung des armen Mädchens einverstanden, denn in Wahrheit sollte das wohl heißen: Wir haben hier nichts mehr verloren. Auf dem Weg zu ihrem Van schmeichelte er Cesarine, so gut er es nur mit seiner schwulen Grundierung vermochte: „Du bist ein wirklich patenter Kerl, und wenn ich mir je entgegen meinen sonstigen Neigungen etwas mit dir anfange, dann muss es” – er zögerte kurz – „wohl wirklich durch den Hintereingang sein, parbleu!”
Während er sich ans Steuer setzte und losfuhr – der Chef würde wohl kaum in Amling Wurzeln schlagen und sie daher auf dem Weg nach Wien irgendwann mit seinem neuen Sportflitzer einholen –, maß ihn Cesarine von der Seite und hatte Einiges zu denken. Ihre Hand zwischen seine Schenkel zu legen, wagte sie allerdings nicht.
Kapitel 1 – Vers 4
Katharina vom Pratenserhof in Amling hatte viele Geschwister (ich glaube, es waren neun). Einer der Knaben aus der mittleren Altersklasse, Fabian, war von klein auf gerne in die Kirche gegangen, fasziniert vom faltenlosen Wesen und den salbungsvollen Worten des Ortspfarrers Marianus Tulzer: Diese beeindruckende Physiognomie, diese geschniegelten Hände, die ihm als zutiefst würdige Instrumente zur Handhabung der heiligen Hostie und des heiligen Kelches erschienen. Zunächst unbeabsichtigt, später mit vollem Bewusstsein versuchte Fabian, dem Geistlichen nachzueifern, und es bedeutete die Erfüllung für ihn, als er zum Ministrieren zugelassen wurde und von da an im Altarraum seinem Idol ganz nahe sein konnte.
Die Kollegen im heiligen Dienst nahmen es ihm nicht übel, wenn er sich zu mehr Terminen meldete, wie ihm statistisch zugekommen wären, und über kurz oder lang, unmerklich fast, war er mit wenigen Ausnahmen ständig bereit – eigentlich fehlte er nur noch, wenn er ernstlich erkrankte. Der hochwürdige Herr, der diese Entwicklung nicht ungern sah, beschleunigte diese noch, denn auch er fühlte sich zu dem Jungen enorm hingezogen: zu diesem weichen, fast weiblich anmutenden Gesicht mit dem eher langen kastanienbraunen Haar, zu dieser schlanken zarten Gestalt, so weit man sie sich mit etwas Phantasie unter den Kleidern ausmalen konnte, zu Händen ähnlich seinen eigenen, die aufgrund der höheren Verpflichtung seit geraumer Zeit von der schweren bäuerlichen Arbeit dispensiert waren.
Pater Marianus – seine Ordensgemeinschaft verschweigen wir besser diskret angesichts dessen, was da noch auf uns zukommt – behandelte Fabian bereits relativ bald wie einen, in den das Geheimnis des Priesterberufs bereits fest eingepflanzt sei. Um sicher zu gehen, dass der Adept keinerlei körperliche Gebrechen habe oder an einer gefährlichen Krankheit leide – so begründete er das jedenfalls –, musste Tulzer das Kreuz auf sich nehmen und eine genaue Leibesvisitation durchführen. Zu diesem Zweck begaben sich die beiden ins Beichtzimmer, das vorsorglich von innen verschlossen wurde, und der Bub zog sich im Glauben, den Willen des Allerhöchsten zu tun, nackig aus, worauf sein Mentor nach einem kurzen allgemeinen Überblick seine Aufmerksamkeit dem durch das sechste Gebot streng überwachten und daher noch unberührten Penis zuwandte.
Man müsse untersuchen, so führte er zunächst aus, ob sich die Vorhaut auch ordentlich zurückziehen lasse, um die notwendige gründliche Säuberung zu ermöglichen. Danach galt es zu prüfen, ob die Schwellkörper korrekt arbeiteten, wenn der Schaft in geeigneter Form bearbeitet würde („Aber du darfst dabei keinesfalls an ein Mädchen oder eine Frau denken, denn das wäre Sünde!”). Und nachdem er das Utensil erfolgreich zum Abspritzen auf seine geweihten Handflächen gebracht hatte, war’s Hochwürden fürs Erste zufrieden. Man durfte Fabian nicht zuviel auf einmal zumuten und seine Erregbarkeit nicht überfordern.
Das nächste Mal drängte sich Marianus in der Sakristei von hinten an den Jungen heran, ließ diesen sein eigenes Gemächt spüren und fragte ihn, ob er sich nicht umgekehrt herbeilassen wolle, auch an seinem älteren Confrater in Christo einmal die bewusste Examinatio Sacra durchzuführen. Fabians Gesicht glühte vor Stolz, und er zögerte nicht im Geringsten, der Bitte des Pfarrers zu entsprechen, wobei er sich genau an die bewusste Vorgabe hielt.
Aber langsam, ganz schrittweise ging’s weiter. Bis Marianus es dann einmal wagte, den Ministranten zu penetrieren. Diesem verging Hören und Sehen, doch was uns, dem aufgeklärten Publikum, als normale physiologische Reaktion erklärlich ist, war dem Knaben ein unzweifelhaft übernatürliches Erlebnis. Jedenfalls in der ersten Zeit, denn mit zunehmender Routine kehrte er innerlich auf den harten Boden der Wirklichkeit zurück und fühlte sich dementsprechend benutzt. Er war allerdings bereit, weiterzumachen respektive, in Erweiterung alles Bisherigen, dem Pater auf dessen immer drängenderes Verlangen sogar einen zu blasen, aber nur gegen verschiedene kleine Geschenke, die er seinem Liebhaber zunehmend ungeniert abnötigte.
Schließlich verlangte er freimütig Geld, und als er mit geringen Summen nicht mehr zufrieden war, musste Marianus passen. Was dieser allerdings nicht wusste, war, dass Fabian schlicht und einfach bereits Ersatz für ihn gefunden hatte, und zwar mit einem für ihn wesentlich günstigeren Preis-Leistungs-Verhältnis: Winfried Winkler, einen gelegentlichen Feriengast auf dem Pratenserhof.
Winkler lebte als Verfasser von Sachbüchern in Wien – Sie wissen schon, diese gut verkäuflichen Titel, die jeder sich ins Regal stellt, aber tatsächlich niemals liest, wie etwa: Essen und Trinken in kulturhistorischer Sicht (mit ausgewählten Rezepten vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart), Pädagogik leicht gemacht – der Elternführerschein, Eine sentimentale Reise durch die alten Kronländer der Österreichisch-Ungarischen Monarchie in sieben Bänden, Mit dem Notebook auf Du und Du, Kunst kann man lernen – und so weiter und so fort. Kurz gesagt, wenn es dem Verfasser all dessen an Inspiration fehlte, legte er einige Tage oder auch schon einmal zwei Wochen Urlaub in Amling ein, und so wie er dann auf ausgedehnten Spaziergängen den Plankenbühel oder den Elferstein umrundete, stellte sich normalerweise seine kreative Kraft wieder sehr rasch ein, und er eilte zurück zum heimatlichen Schreibtisch.
Seit Fabian etwa Dreizehn geworden war, ruhten die Blicke des Gastes aus Wien mit Wohlgefallen auf ihm, vielleicht auch zu offensichtlich mit etwas mehr als dem bloßen Entzücken. Aufgrund der Erfahrungen, die der Bub bis dahin mit Marianus gemacht hatte, wusste er das Verhalten des Mannes mit der Halbglatze und dem Schnurrbart (er sah ein wenig dem berühmten Volker Schlöndorff ähnlich) richtig zu deuten, und durchaus einsichtig war ihm offenbar auch die Tatsache, dass hier einiges zu holen war.
Ohne dass jemand auf dem Hof davon Notiz nahm, besuchte Fabian sein Zielobjekt in dessen Zimmer, unaufgefordert, wie selbstverständlich: „Haben Sie vielleicht eine Zigarette für mich?” Winfried reichte ihm ohne Zögern und ohne Vorhaltungen die Tabatière und gab ihm Feuer, beobachtete sodann ruhig, wie der Kleine gierig den Rauch einsog und wieder ausblies.
„Ich hab’ schon Einiges erlebt!”, erklärte Fabian ungefragt, nachdem er die Zigarette ausgedämpft hatte: „Soll ich Ihnen davon erzählen?” Winkler nickte, und was er zu hören bekam, geilte ihn ungeheuer auf. Dass er den Knaben ungeniert berühren durfte, nachdem dieser die Tür versperrt und sich entkleidet hatte, war fast schon mehr, wie zunächst zu erwarten gewesen war, und er ließ es auch vorerst dabei bewenden. Fabian, der beabsichtigt hatte, Winfried sozusagen im Handstreich zu erobern, schien enttäuscht – und auch wieder nicht, denn zwischen den beiden entspann sich das alte Spiel vom wechselseitigen Herrschen und Beherrschtwerden.
Vorsorglich versuchte Winkler, der bis dahin keinen engeren Kontakt mit den Bauersleuten gepflegt hatte, sich das besondere Vertrauen von Fabians Eltern zu erwerben, und die ließen sich das in ihrer Naivität wohl gefallen. Mit der Pratenserin schäkerte er plötzlich in der Stube, wenn sie ihm das Frühstück bereitstellte, lobte die Qualität von Milch und Butter sowie den hervorragenden Geschmack des selbstgebackenen Brotes. Auch stieg er ihr manchmal in den Stall nach, ließ sich die Namen der Kühe nennen und griff ihr sogar ans Schürzenband, was sie errötend duldete.
Mit ihm, dem Pratenser, besuchte er sonntags nach der Messe den Stammtisch beim „Mohrenwirt”, ertrug dort eine Menge biergetränkten pseudofaschistischen Geredes und ließ sich von den älteren Männern sogar widerspruchslos darüber belehren, dass die heutigen Zustände unter Adolf nicht möglich gewesen wären. Die Institutionen des Ortes wurden ihm aufdringlich nahegebracht – die Freiwillige Feuerwehr, die Blasmusikkapelle, die Schützen, der Trachtenverein und der Kameradschaftsbund –, und er begann sich angesichts der intimen Details zu fragen, was er denn eigentlich je an diesem Kaff hatte finden können: vor Fabian…
Der Bub, der die Aktivitäten Winklers genau beobachtete, nahm’s zutreffenderweise als Werbung um seine Person, und um ein Äquivalent zu setzen (wobei ganz offensichtlich der kirchliche Einfluss des „Maß für Maß” durchschimmerte), machte er sich erbötig, mit seinem neuen Freund über die umliegenden Almen zu wandern und vielleicht auch in der einen oder anderen Hütte eine gemeinsame Nacht zu verbringen. Seine Familie fand die Idee umwerfend komisch, weil sie sich den Stadtfrack vorstellte, wie er mit Blasen an den Füßen durch die Landschaft wankte, aber wie sehr verkannten sie damit die Tatsachen!
Denn Winfried fand erstmals ungehindert Gelegenheit, das Kind ausgiebig zu missbrauchen (denn das war’s ja strenggenommen, wie wir nicht vergessen sollten).
Kapitel 1 – Vers 5
Winfried Winkler hatte Fabian an der Schwelle zu dessen 14. Lebensjahr mit nach Wien genommen – in allen Ehren selbstverständlich, als väterlicher Freund, der dem begabten Bauernbuben eine höhere Schulbildung ermöglichen wollte, wozu es in der vielköpfigen Pratenserhof-Familie niemals gereicht hätte. Fabians Eltern perlustrierten Winklers luxuriöse Bleibe in der Inneren Stadt bei einem Lokalaugenschein genau, konnten aber nichts Anstößiges entdecken. Darüber hinaus beruhigte sie die Tatsache, dass es dort eine Wirtschafterin gab, eine sehr nette Dame um die Fünfzig (eine Ungarin), die den beiden teilnahmsvoll versicherte, den Jungen in ihre Obhut zu nehmen und vor allem immer da zu sein, wenn ihr Dienstherr zu Recherchezwecken verreisen musste. Natürlich erzählte sie aber nicht, mit welch großen Summen Winkler sie motivierte, im Ernstfall nichts zu sehen, zu hören oder zu sagen…
Ein eigenes Zimmer mit allem, was das Herz begehrte, mit Fernseher und Computer und Indoor-Fahrrad und auch sonst allem Drum und Dran – Fabian war rasch davon überzeugt, richtig zu handeln, und wenn es noch den geringsten Zweifel seinerseits gegeben hätte, wurde dieser von einem geradezu üppigen Taschengeld zugedeckt, das in krassem Widerspruch zur diesbezüglichen Anweisung der Eltern stand, den Jungen nur ja recht knapp zu halten, schon deshalb, um die virtuelle Schuld gegenüber Winkler nicht ins Astronomische anwachsen zu lassen. Fabian selbst hatte deswegen keinerlei Skrupel, völlig zu Recht, muss man wohl sagen, denn ihm war ja durchaus klar, dass es in seiner neuen Bleibe für ihn nichts umsonst gab.
Waren seine Treffen mit Winkler im klobigen Ambiente des Bauernhauses noch von einer gewissen Flüchtigkeit und auch Oberflächlichkeit geprägt, konnte man es jetzt ruhig angehen lassen, und da Fabian nun einmal dazu entschlossen war, das in Kauf zu nehmen, wovon seine Familie keine Ahnung hatte, versuchte er es auch selbst ein wenig auszukosten und nicht nur zu erleiden. Erst jetzt profitierte er so richtig von den geistlichen Lektionen, die er erhalten hatte – denn eines konnte man dem Pater Marianus auf keinen Fall absprechen: Er sah auf die richtige Ästhetik des Ganzen, so als ob sogar die Sünde der Verherrlichung Gottes dienen würde, wenn sie nur unter hygienischen Umständen vonstatten ging.
Von Tulzers Sauberkeitsfimmel angesteckt, unternahm auch der Knabe täglich umfangreiche Reinigungsrituale, sehr zum Wohlgefallen seines Mentors, der seinem Leib Ähnliches angedeihen ließ. Wenn Fabian dann nackt vor Winfried paradierte, der in einem voluminösen Fauteuil geradezu versunken war, und diesem bald sein Schwänzchen, bald sein Hinterteil hinstreckte, dann dauerte es nicht lange, und der Mann griff mit seinen sorgfältig manikürten Händen zu oder zog den Kleinen überhaupt auf seinen mittlerweile ebenfalls entblößten und nach herbem Eau de Toilette duftenden Schoß.
Kostbares Öl war ebenfalls stets zur Hand, und dennoch – wenn Winfrieds Lüsternheit ihn vergessen ließ, mit welch‘ zerbrechlichem Gegenüber er es zu tun hatte, flossen reichlich Tränen, was den alten Bock meist rasch zur Vernunft brachte. In diesem Fall pflegte er Fabian zum Trost das Blaue vom Himmel oder gleich den Himmel auf Erden zu versprechen, und wenn man sein Verhalten auch nicht billigen kann, muss man doch einräumen, dass er solche Beteuerungen ernst nahm, jedenfalls so weit es in seiner Macht stand.
Er hatte erkannt, dass der Bub sich für Musik und insbesondere für die Oper interessierte (wohl nicht zuletzt aufgrund der musisch-theatralischen Elemente der Heiligen Messen mit Marianus Tulzer), und so führte er Fabian im Lauf der Zeit als fachkundiger Begleiter durch das weite Feld des einschlägigen Repertoires, und das in durchaus würdigem Rahmen – Winfried im dezenten dunklen Anzug, sein Schützling im Blazer mit Goldknöpfen zur weißen Hose (offenbar eine Hommage an den Matrosenanzug, in dem der Knabe Tadzio in Thomas Manns „Tod in Venedig” den Schriftsteller Gustav von Aschenbach betört). Sie dinierten vor den Aufführungen in einem feinen Innenstadtrestaurant, einmal im „Sacher”, dann wieder im „Sirk”, und dann sahen und hörten sie Richard Strauss’ „Capriccio”, „Die Entführung aus dem Serail” und die „Zauberflöte” von Mozart – der nebenbei bemerkt eindeutig der Lieblingskomponist unseres seltsamen Paares war –, aber früher oder später nahmen sie sich auch Wagners „Ring” vor, wobei Fabian vor allem in der „Götterdämmerung” an manchen Stellen bis ins Innerste erschüttert war und von sich aus Winklers Hand ergriff und so fest drückte, dass dieser vor Schmerz das Gesicht verzerrte.
In den Pausen ruhte so mancher einsamer Dame Blick teils wohlgefällig, teils voller mütterlicher Gefühle auf dem augenscheinlich unbeweibten Mann, und seinen Sohn, für den dieser – das schien sicher – das Menschenmögliche versuchte, eine Kombination beider Elternteile zu sein. Derlei Avancen blieben jedoch von den beabsichtigten Adressaten völlig unbeachtet, denn die fachsimpelten angeregt über die Darbietungen, auf die sie sich bereits daheim mittels Partituren und Textbüchern hervorragend vorbereitet hatten. Fabian konnte sich dabei keinen besseren Lehrmeister wünschen, denn schließlich hatte Winkler auch darüber ein Sachbuch verfasst – „Über den richtigen Zugang zur Opernliteratur”, ein umfangreiches Werk, das allerdings (zu Recht oder zu Unrecht, das bleibe dahingestellt) in der Fülle ähnlich gelagerter Veröffentlichungen nicht besonders auffiel.
Nach solchen Abenden küsste der Junge den Alten vor dem Schlafengehen inbrünstig auf den Mund, und Winfried hatte dabei für Augenblicke das Gefühl, dass sein Gast sich doch nicht als bloßes Lustobjekt betrachtete. Wenn er dann in sein eigenes Zimmer ging – er schlief niemals bei Fabian, wohl um einen Rest des Dekorums zu wahren –, meinte er, das Herz müsse ihm im Leib zerspringen (seine Formulierung, möchte ich betonen, denn niemals würde ich selbst mich solcher Schwülstigkeiten bedienen, abgesehen vom offensichtlichen, allerdings zweckentfremdeten Zitat aus dem Gänsemagd-Märchen der Brüder Grimm).
Er lag in der Regel endlos wach, starrte in die Finsternis und erging sich in den verschiedensten Varianten der bitteren Erkenntnis, dass niemand einsamer sein könne als ein alternder Schwuler. Er suchte dabei stets Trost bei seinem bevorzugten Philosophen Laozi, dessen Texte er weitgehend auswendig hersagen konnte (jedenfalls in der ihm zugänglichen deutschen Übersetzung, so problematisch diese auch sein mag): „Es gehört eine Menge Mut dazu, schlicht und einfach zu behaupten, der Zweck des Lebens sei, sich an diesem zu erfreuen…” und „Die Dinge sind dazu da, dass man sie benutzt, um das Leben zu gewinnen, und man soll daher nicht das Leben benutzen, um Dinge zu gewinnen…”
Ihm war im Innersten klar, dass er den wahrscheinlichen originären Sinn dieser Aussagen absichtlich verbog, um seine eigenen Handlungen zu beschönigen, denn wenn wir seine Intelligenz richtig einschätzen, musste ihm klar sein, dass er sich keineswegs auf den legalen Pfaden der Homosexualität bewegte, sondern dass es hier um Päderastie ging. Gedanklich am weitesten hatte er sich bezüglich dieses Themas bisher mit seinem Sachbuch „Knabenliebe im alten Griechenland” exponiert, das ihm unversehens zu einer Apologie geraten war. Sein Verlagslektor – höchst erfreut, auch von Winkler einmal einen „Sex-Seller” herausbringen zu können – bestärkte ihn eher, als ihn zu bremsen, denn er war sich der Konsequenzen für die persönliche Verantwortung des Verfassers natürlich nicht bewusst. Und so kam es, dass folgende Formulierungen tatsächlich gedruckt wurden: „… entsprang keineswegs einer perversen Neigung…” oder „… denn das Reizvolle dürfte nicht das männliche Geschlecht gewesen sein, sondern die schüchtern-weibliche Formbarkeit, die hingebungsvolle Lernwilligkeit des Knaben gewesen sein…”.
Dieses Buch hat Winfried seinem Fabian allerdings niemals gezeigt, um keine frühzeitige Entzauberung ihrer Beziehung zu riskieren – denn, wie er ebenfalls in seinem Werk ausgeführt hatte, wenn der Juniorpartner das Erwachsenenalter erreichte, endete (jedenfalls im antiken Hellas) das Verhältnis abrupt.
Übrigens – und das passt ganz gut ins Bild – irgendwelche Verwandte Winklers hatte Fabian zu keiner Zeit kennengelernt, und das ist schade, denn es gab da eine bemerkenswerte Nichte: Waldi rief sie jeder, worüber man längst vergessen hatte, dass sie in Wahrheit Waltraud hieß und eigentlich auch so genannt werden wollte und nicht mit diesem Hundenamen. Dem Bruder ihrer Mutter war sie in ihrem noch jungen Leben nur selten begegnet, denn die Art Onkel, dass ihn so etwas wie sie interessiert hätte, war er ja, wie wir mittlerweile wissen, nicht.
Kapitel 1 – Vers 6
Waldi war knapp siebzehn, als sie ihren Vater verführte. Das klingt jetzt so folgerichtig, aber so war’s beileibe nicht – das heißt, sie wollte es natürlich auf jeden Fall in ihrer jugendlichen Exaltiertheit, mit der sie sich von ihrem spießbürgerlichen Zuhause abzugrenzen versuchte. Er hingegen hatte das keineswegs gewollt, wenn man davon absieht, dass er vor geraumer Zeit, als Mann, gewahr wurde, dass hier etwas Knusprigeres heranwuchs – im Gegensatz zu seiner Angetrauten, die das schon lange nicht mehr war. Seine Frau bekam übrigens alles mit, obwohl es nicht oft passierte, das zweite und dritte Mal eigentlich vorwiegend deshalb, weil man es beiderseits nicht als einmaligen Betriebsunfall ansehen wollte.
Die Mutter unternahm nichts. Sie hatte sich mit dem Inzest-Phänomen, genährt durch den Boulevard, stets nur unter dem Aspekt der Nötigung auseinandergesetzt, fand aber, dass dieser Tatbestand im konkreten Fall nicht so recht zutraf, denn sie kannte ja ihre Tochter.
Daher war sie froh, als diese plötzlich mit einem neuen Spleen daherkam (so pflegte man nämlich in der Familie die rasch wechselnde Ideen des Mädchens zu nennen): Waldi wollte als Au-pair nach Amerika und setzte diese Absicht auch unmittelbar und mit großer Energie in die Tat um. Über eine einschlägige Institution wurde eine High School in Columbus, Ohio, ausgewählt, die sie für ein Jahr besuchen konnte, und auch eine Gastfamilie wurde gefunden, dazu noch ein Stipendium aufgetrieben, das die unvermeidlichen Sonderausgaben großteils finanzierte.
Mr. Heathcliff „Cliff” Huxtable (ja, genau wie der in der Bill-Cosby-Show!), ein einigermaßen gut erhaltener Fünfziger, war von dem Moment, als Waldi dort eintraf, hochgradig nervös, was auch nicht wundernehmen kann, stellte sie doch so gar nicht den Typ All American Girl vor, sondern zeigte deutliche Anzeichen europäischer Verruchtheit, um nicht zu sagen Dekadenz. Allein ihre roten und violetten Spitzendessous, die bald den weißen Standardteilen von Mrs. Lane Huxtable, 40, und Miss Amy Huxtable, 16, auf der Wäscheleine Gesellschaft leisteten, brachten den biederen Versicherungsmakler völlig aus der Fassung. Dabei war Waldi selbst (um endlich der Wahrheit die Ehre zu geben) gar nicht besonders hübsch, schon gar keine Schönheit, aber sie verstand es, etwas aus sich zu machen!
Da lebte sie nun in dieser sexuell aufgeladenen Atmosphäre – aber nicht nur daheim, sondern auch in der Schule, der Northland High School, wo die Klassenkameraden ausflippten, wenn sie Waldi nur sahen, und die Mädchen sie hassten wie die Pest. Immerhin blieb dort ein labiles Gleichgewicht bestehen, denn sie ließ sich mit keinem der jungen Gentlemen ein, nahm daher auch keiner der jungen Ladies den Freund weg, außer in dessen Gedanken. Prinzipiell waren diese Greeners nämlich gar nicht ihr Fall, doch verstärkten sie ihre libidinöse Energie, und als es sich schließlich ergab, dass Waldi mit Huxtable allein war, brauchte er sie nur leicht anzufassen, und sie fiel über ihn her.
Nicht gewöhnt, dass ein weibliches Wesen derart die Initiative ergriff, wartete der Mann bloß auf die nächste Gelegenheit (als Lane und Amy wieder einmal zu einer ihrer ausgedehnten Shoppingtouren aufbrachen und Waldi Migräne vortäuschte, um nicht mitkommen zu müssen) und führte die Kleine vor seinen Waffenschrank. Er setzte ihr seinen historischen Smith & Wesson an die Schläfe und befahl ihr sich auszuziehen. Dann fickte er sie an Ort und Stelle im Stehen, und als es ihm kam, drückte er mehrmals ab, wobei ihm das leere Klicken den ultimativen Kick bescherte. Waldi wiederum, die ja nicht wissen konnte, dass die Waffe nicht geladen war, und daher jedes Mal glaubte, es sei mit ihr vorbei, fiel ebenfalls von einem Schauer in den nächsten, mit einer Intensität, die den perversen Gedanken zu rechtfertigen schien, es lohne sich durchaus, auf diese Weise zu sterben.
Quasi am dramatischen Höhepunkt der Szene öffnete sich die Tür, und die Huxtable-Damen standen da. Überraschenderweise reagierte die Host Mum anders als die Mutter in Wien: „We daughters of the American Revolution ain’t that weak as you think, Dearie!”, bemerkte sie kühl in Richtung Waldi und expedierte diese in weiterer Folge auf schnellstem Weg zurück nach Österreich – mit allen peinlichen Konsequenzen für die Delinquentin: Erklärungsbedarf, mangelnde Schulzeitanrechnung, Rückzahlung des Stipendiums und so weiter. Was sie noch im Gepäck hatte, waren die Folgen eines veritablen Nervenzusammenbruchs, der zwar einerseits manches zu entschuldigen schien, ihr aber andererseits eine therapeutische Behandlung eintrug.
Der Host Dad wurde kurzerhand vor die Tür gesetzt, und der Anwalt seiner Frau – der früher ein gemeinsamer Bekannter des Paars gewesen war, sich aber nun auf die lukrative Seite der sicheren Siegerin schlug – ließ nicht viel übrig von Mr. Huxtables bisherigem Leben: Scheidung, Vermögen abgeknöpft, allfällige künftige Einkünfte zugunsten der Tochter gepfändet. Was blieb, war ein schäbiges Hotelzimmer, in dem auch Cliffs eigenes Äußeres zusehends verkam, bis er schließlich seinen Job verlor: „Insurance is a matter of trust, Hux!”, bedeutete ihm sein Boss, bevor er ihn vor die Tür setzte.
Natürlich hätte sein Freund Joe Blogg Cliff noch eine Weile über Wasser halten können – schließlich waren sie viele Jahre befreundet seit ihrem Dienst bei der Ohio National Guard, spielten in ihrer Freizeit Basketball, gingen auch schon mal einen trinken und nahmen sich bei ihren Geschäftsreisen im Umland von Columbus (die sie bis hinauf nach Marion und Kenton, im Westen bis Springfield und im Osten bis Zanesville führten) in irgendwelchen Sex-Clubs gerne eine der dortigen Floozies gemeinsam aufs Zimmer – mit all den lustigen Spielchen, wer was besser konnte und wer womit besser ausgestattet war. Das schweißte sie natürlich zusammen, und das wichtigste Amalgam dabei war die trockene Tatsache, dass keiner der beiden riskieren durfte, vom anderen zuhause verraten zu werden. Abgesehen davon, hatte Hux der Firma die mit Abstand meisten Abschlüsse gebracht (und Joe eiferte ihm hier durchaus nach) – er war der begnadete Broker, bequatschte den Kunden eine halbe Stunde, dann drückte er ihm den Füller in die Pfoten und bekam prompt die Unterschrift auf die Polizze.
All das erwägend, plante Joe, Cliff bis auf weiteres bei sich unterzubringen, aber damit kam er bei seiner Frau an die Falsche: Mit Mrs. Huxtable, ihrer Busenfreundin, hinter sich, verhinderte sie samt und sonders das immer kleiner werdende Rescue Package, selbst als dieses am Ende ohnehin nur noch aus einer kleinen monatlichen Geldzuwendung bestand. „Bloggie”, wie ihn die Angestellten seiner Versicherungsgesellschaft nannten, hatte darum eine Heidenangst, er selbst würde nun ebenfalls mit all seinen Eskapaden auffliegen, was angesichts eines Vermögens, das ein Vielfaches von jenem Huxtables darstellte, noch wesentlich empfindlichere Folgen zeitigen würde, abgesehen von der Aussicht, dort zu landen, wo Cliff bereits war.
Aber der Freund hielt dicht – und es wäre ja tatsächlich völliger Unsinn gewesen, außer dem eigenen noch ein anderes Leben zu zerstören. Joe entspannte sich zusehends, und je sorgloser er wurde, desto seltener traf er Hux, um ihm wenigstens ad hoc etwas zuzustecken, und am Ende verlor er ihn ganz aus den Augen.
Seinen Spaß am Leben war er aber von da an ebenfalls los, denn allein machte das alles keinen Sinn. Seine nunmehr einsamen Geschäftsreisen wurden zu tristen Expeditionen mit Abenden vor dem quäkenden und das Auge mit grässlichen Farben quälenden TV-Gerät. Jeder, der – sei es völlig ahnungslos oder im Wissen um die neue Situation – nur im Entferntesten darauf anspielte, zog sich seinen äußersten Unmut zu. Als ein Kunde ihm einen einschlägigen Witz erzählte (Das Kind fragt: Dad, was ist Boom? – Kaviar, Champagner, knackige Weiber! – Und was ist Rezession? – Burger, Cola und deine Mum…), komplimentierte er den verblüfften Mann unsanft aus seinem Büro und machte damit sogar eine lukrative Transaktion zunichte.
Die „Mum” – das war seine Achillesferse geworden, denn im Einklang mit Lane strafte sie ihn fortan mit Missachtung, ganz als ob er selbst die Straftat begangen hätte, und als Schlimmstes daran erwies sich der Umstand, dass sein schlechtes Gewissen ihn hinderte, sich gegen diese Behandlung zu wehren.
Hux sah er wie gesagt nicht wieder, und so bekam er auch nicht mit, in was sich dieser schließlich hineinsteigerte.
Kapitel 1 – Vers 7
Hux fand in seiner neuen Existenz als Stray Dog (das Hotelzimmer hatte er mittlerweile ebenfalls verloren) die Leute, die einen wie ihn gut brauchen konnten, nicht – sie fanden ihn, und zwar vor dem Good Lord Homeless’ neben der Metro-Station Brookland dicht am Gelände der Catholic University of America in Washington, DC. Einmal in ein Gespräch verwickelt – und dabei anscheinend nach langer Zeit wieder einmal ernst genommen –, erging er sich in wüsten Tiraden gegen die Politiker, denen er die Schuld daran gab, dass ein aufrechter Amerikaner nicht mehr tun konnte, was ihm beliebte. Der Bursche, der sich an ihn herangemacht hatte, erkannte mit sicherem Instinkt, wie hier relativ banale private Probleme ins Unermessliche sublimiert wurden, was aber bedeutete, dass die Wut des Heathcliff Huxtable groß genug war, um ihn für eine ganz große Schweinerei zu instrumentalisieren.
„Ich vertrete eine Gruppe, die Ihre Ansichten teilt, Sir”, – tat das wohl, denn wie lange hatte niemand ihn mehr so tituliert! – „und wir fragen uns, ob es nicht wieder einmal nötig wäre, einen Prominenten abzuknallen, damit die dort drüben Downtown endlich aufwachen!” Einige der Bewohner des Good Lord Homeless’ – „Goolie-Hoolie” hieß es in ihrem Jargon – waren inzwischen hinzugetreten und verstärkten diese Idee: „Ist eigentlich wahr…”, „Höchste Zeit, wirklich…”, „Endlich wagt einer, das auszusprechen…” Und jeder von ihnen nahm einen kräftigen Schluck aus der Pulle, die man herumgehen ließ.
„Im Namen der
Irgendwie war dem alten Cliff schon mulmig zumute, als er sich auf einer Waldlichtung in Montgomery County östlich des Potomac River wiederfand, ausgerüstet mit einer FIM-92 Stinger-Luftabwehrrakete, von der er mittlerweile wusste, wie er sie von der Schulter aus abfeuern konnte, wenn der Befehl dazu kam. Um diesen zu empfangen, war er mit einem Prepaid Cell Phone ausgestattet worden, das keinerlei Rückschlüsse auf Käufer oder Benützer zuließ.
Das Ding klingelte einige Minuten, bevor die Helikopterstaffel, bestehend aus „Marine One” und seinen beiden baugleichen Begleitfahrzeugen, mit dem Präsidenten an Bord auf dem Weg vom Weißen Haus nach Camp David diesen Ort überquerte. Hux zielte und drückte ab. Der ungewohnt heftige Rückstoß warf ihn zwar zu Boden, aber der Schuss saß punktgenau – eine der drei Maschinen explodierte in der Luft. Die zwei anderen wendeten, um den Attentäter zu attackieren, aber die Piloten konnten bloß noch beobachten, wie eine kleine Figur auf einer einsamen Lichtung von einer Zeitbombe bis zur Unkenntlichkeit zerrissen wurde. Hux’ Auftraggeber hatte, wie man sieht, bestens vorgesorgt, um alle Spuren zu verwischen. Selbst die später vorgenommene DNA-Analyse brachte nichts, denn Cliff war zwar ein Freak, aber nicht polizeilich registriert.
Der Präsident teilte sozusagen das Schicksal seines Mörders, indem auch er in seine Moleküle zerlegt wurde. Der politisch-militärisch-ökonomische Komplex der USA dementierte allerdings – als der Vorfall als solcher publik wurde – umgehend, dass das Staatsoberhaupt dem Anschlag zum Opfer gefallen war: Lediglich die armen Marines auf einem der „Shadow Choppers” seien umgekommen. In Wahrheit aber hatten die Drahtzieher der Macht den Präsidenten kurzerhand durch einen bereits lange davor eingeschulten Doppelgänger ersetzt. Außer einer ganz kleinen handverlesenen Gruppe – wusste darüber niemand Bescheid, und sogar die Präsidenten-Gattin bemerkte nichts, außer der Tatsache, dass ihr Mann urplötzlich aufgehört hatte zu trinken.
Der Rest ist allgemein bekannt: Der Doppelgänger gab sich pflichtgemäß entsetzt über den Terroranschlag von Nine-Eleven (obwohl ihn dieser innerlich überhaupt nicht bekümmerte) und befahl im Auftrag seiner Mentoren den Angriff auf die Taliban in Afghanistan. Das Ergebnis dieses Feldzugs war – selbst mehrere Jahre später, nachdem der falsche Präsident es sogar geschafft hatte, sich für eine zweite Amtszeit wiederwählen zu lassen – eine äußerst labile Situation im Kriegsgebiet, wobei die Macht der offiziellen afghanischen Regierung auf die Hauptstadt Kabul beschränkt blieb und selbst die ausländischen Truppen bestimmte Gebiete im Süden und Osten des Landes besser meiden mussten.
Worum es hier geht, ist die Tatsache, dass eine afghanische Bürger- und Frauenrechtskämpferin trotz massiver Präsenz westlicher Sicherheitskräfte mitten in Kabul von islamischen Fundamentalisten brutal ermordet werden konnte. An diesem Vorfall entzündete sich das Interesse des bekannten britischen Fernsehjournalisten Hamish Carmichael, der gegen sämtliche Widerstände der lokalen Behörden, der meisten örtlichen religiösen Führer und nicht zuletzt des zuständigen US Military Command zu recherchieren begann.
Fawzia Sharif hatte sich den Hass des muslimischen Klerus und des von ihm aufgestachelten Mobs zugezogen, weil sie die neue Verfassung des Landes mit ihren Grundlinien von Demokratie und naturrechtlichem Wertesystem allzu wörtlich nahm. Ihren Gegnern gingen ihre Vorstellungen von der Gleichheit aller Menschen, insbesondere der beiden Geschlechter entschieden gegen den Strich: Schon sahen die Männer sich der Gefahr ausgesetzt, selbst arbeiten zu müssen, während das doch seit Jahrhunderten (jedenfalls so weit man sich zurückerinnern konnte) die Rolle ihrer Partnerinnen gewesen war. Einer der Muftis brachte es in seiner kurzen Ansprache auf den Punkt, bevor man zur Steinigung Fawzias schritt: „Das Tun der Söhne Muhammads soll bestimmt sein vom Gebet und von der Verbreitung der Lehren des Q‘ran in der ganzen Weltdurch Wort und Kampf!”
Hamish Carmichael von der BBC gestaltete eine Dokumentation über die Hintergründe dieses Vorfalls, die mit bitteren Vorwürfen über die mittelalterlichen Zustände in Afghanistan nicht sparte und am Ende in einem Appell gipfelte, noch mehr Anstrengungen zu unternehmen, um diese zu beenden – was im Sinne eines objektiven Journalismus eher ungewöhnlich erscheint. Aber Carmichael stellte ein seiner Zunft eine absolute Ausnahmeerscheinung dar: unbestechlich, in kritischer Distanz zur Macht (worin auch immer diese sich manifestierte) und vor allem – das war bei ihm mehr wie die übliche Phrase – der Wahrheit verpflichtet. Er gab sich zwar nicht der Illusion hin, diese bei irgendeiner seiner Recherchen jemals völlig aufdecken zu können, aber ihr immer wieder so nahe wie möglich zu kommen, bedeutete ihm alles.
So hatte ich ihn übrigens lange davor auch kennengelernt, als er nämlich durch Europa tourte, um minutiös der Frage nachzugehen, was auf dem alten Kontinent definitiv anders lief als in Good Old England, und vor allem, was dort, jedenfalls nach seinem Dafürhalten, viele Jahre besser lief. Natürlich kam auch er nicht ohne die gewisse Überheblichkeit des Briten hierher – ein wenig reserviert wegen der mangelnden Distanz zu den damals noch existierenden kommunistischen Diktaturen.
Dennoch verhielt er sich in seiner Fact Finding-Mission gewohnt objektiv. Mich beispielweise interviewte er bei seinen Nachforschungen, lange bevor die Währungsunion fixiert war, über Österreich speziell zur Hartwährungspolitik, die von Finanzministerium und Notenbank eben erst formuliert worden war, aber noch keinerlei wissenschaftliche Untermauerung besaß, sodass einer staunenden Economic Community eine Meinung ex cathedra vorgetragen wurde, und dieser blieb es nun vorbehalten, an die Unfehlbarkeit der Akteure zu glauben (oder eben nicht).
Alles in allem entstand daraus eine bemerkenswerte Dokumentation, die – abgesehen BBC-Original – in wichtigen europäischen Zeitungen veröffentlicht wurde, später in der Washington Post, in der New York Times sowie in USA Today, womit nicht nur uns diesseits des Atlantiks, sondern auch den Amerikanern den Spiegel vorgehalten wurde.
Kapitel 1 – Vers 8
Auf seiner Rückreise von Afghanistan machte Hamish Carmichael in Dubai Station. Ihm war, nach all dem, was er in Kabul miterlebt hatte, nach einem ordentlichen „Quantum of Self-indulgance” zumute. Er stieg im Hilton Dubai Creek ab, genoss wie jeder beliebige Tourist von seinem Zimmer die Aussicht auf die älteren Stadtteile und auf den westlich davon aufragenden Wald von Wolkenkratzern, ließ sich die Sehenswürdigkeiten einer verschwenderischen Zivilisation zeigen – wozu natürlich der Besuch wenigstens einer luxuriösen Konsumtempel gehörte. Als Ort der Superlative war ihm die Mall of the Emirates empfohlen worden: über 200.000 Quadratmeter Shopping-Möglichkeiten aller Branchen, dazu Dutzende Lokale und als Hauptattraktion Ski Dubai, die Halle mit der künstlichen Winterlandschaft selbst bei Außentemperaturen von plus 30 Grad und mehr.
Hamish kaufte nichts – er war der Typ, der ständig nur Eindrücke sammelte, die in ihm mehr oder weniger schemenhaft zu immer neuen TV-Features wurden, von denen er eigentlich die wenigsten je drehte, denn ihm waren nur die allerbesten Ideen gut genug für eine Realisierung. Bei seinen Beobachtungen mischten sich regelmäßig professionelle mit höchst privaten Bildern, die er aber im Fall des Falles geschickt mixte, und das machte seine Unique Selling Proposition bei den Zuschauern aus, denn das Publikum möchte nicht nur informiert, sondern auch unterhalten werden. Oder – um es klarer auszudrücken – die Leute verlangen natürlich offiziell nach korrekten Inhalten, aber in Wahrheit gieren sie nach dem Verbotenen, das ihre geheimen Wünsche befriedigt.
In der Mall stolperte Carmichael prompt über ein derartiges reservates Motiv, das sich trefflich dafür eignete, in eine Reportage über das arabisch-islamische Selbstverständnis der gehobenen Klasse der Emirate eingebaut zu werden. Ein Profi wie er würde die kleine Szene gar nicht visualisieren, sondern sie bloß in seiner Moderation mit einigen Sätzen zu skizzieren. Als er sich in eines der Kaffeehäuser setzte, um sich eine Erfrischung zu gönnen, machte er sich in dem orange gebundenen Büchlein, das ihn stets begleitete, eine Notiz: „In der Mall. Mit der Rolltreppe vom zweiten in den dritten Stock. Vor mir eine schlanke Dame, ganz in Schwarz und tief verschleiert. Natürlich assoziiere ich – strenggläubige Muslimin, vielleicht auch nur ein strenggläubiger und äußerst eifersüchtiger Gemahl. Dann wird die Frau plötzlich vom Gegenlicht der Scheinwerfer erfasst und ich bemerke nach einer Schrecksekunde, in der ich es kaum glauben mag, dass ihre Kleidung in Wirklichkeit hauchdünn und transparent ist – und sie selbst darunter vollkommen nackt!”
Er hatte sich – als einfacher Mann wohlgemerkt, nicht als Reporter – angewöhnt, in solchen Moment inbrünstig „Danke, lieber Gott!” zu flüstern, meist natürlich folgenlos, denn selbst ein so hervorragender Kommunikator wie er konnte nicht jede, die ihm über den Weg lief und seine Sinne reizte, ansprechen, was sage ich, anbaggern. Diesmal aber, versonnen an seinem Drink nippend, drehte er ein Kärtchen in der Hand, auf dem von offenbar zarter Hand eine Nachricht hingehaucht war: „Jumeirah Road 243, Backdoor, 3 p.m., get all your things from the hotel.“ Was ihn erkennen ließ, dass es hier offensichtlich eine Wahrheit hinter der von vermuteten gab.
Und so war das Ding in seinen Besitz gelangt: Die unverhüllte Verhüllte, der er am Fuß der Rolltreppe höflich den Vortritt gelassen hatte, trat in der oberen Etage an den dortigen Informationsschalter und hinterließ bei einem der Mädchen hinter dem Tresen ihre Botschaft, wobei sie fast unmerklich auf Carmichael deutete. Die Angestellte winkte ihn sodann zu sich – die Unbekannte war mittlerweile verschwunden – und erfüllte ihren Auftrag.
Jetzt saß er da und zögerte. Wenn er ehrlich zu sich war, hatte er eine Mordsangst, denn er wusste, dass die afghanischen Muftis, denen er zu nahe getreten war, eine Fatwa gegen ihn ausgesprochen hatten, was bedeutete, dass er de facto mit dem Tode bedroht war. Was, wenn dieses Date eine Falle war? Besonders stutzig machte ihn, dass sie ihn offenbar einlud, bei ihr einzuziehen, oder was immer die Aufforderung, seine Habseligkeiten mitzubringen, bedeuten sollte. Und dennoch war klar, dass er dort hingehen würde. Die Märchenfee aus Tausendundeinenacht (so jedenfalls erlebte er sie, seit er hinter den Schleier des Geheimnisses geblickt hatte) lockte ihn unaufhaltsam, und zur angegebenen Zeit stand er tatsächlich am angegebenen Ort, Koffer und Kameraausrüstung inklusive. Die schöne Fremde öffnete auch prompt.
Zu seiner größten Enttäuschung trug sie jetzt ein einfach graues Kostüm – und sah darin viel alltäglicher aus wie zuletzt. Immerhin hatte sie mit ihrem Hijab-Outfit auch ihre Shayla abgelegt, sodass er damit entschädigt wurde, ihr hennafarben glänzendes Haar sehen zu können. Hala Aziz Maliki, so stellte sie sich vor, schien es eilig zu haben. Sie hatte ebenfalls ihr Gepäck vorbereitet, stellte es vor die Tür und schloss ab. Dann verwies sie ihn auf ein wartendes Taxi, das die beiden zum Flughafen brachte. Unterwegs erfuhr Hamish, dass er ihr bei ihrer Flucht helfen sollte – als Gegenleistung dafür, dass sie ihn nicht, wie seine Feinde das wollten, in einen Hinterhalt gelockt hatte: Wenn diese beim Haus auftauchten, um ihn, den ermattet in Halas Armen Schlafenden, zu ermorden, würden sie ins Leere laufen…
Seine neue Gefährtin wiederum würde man nicht verdächtigen, sondern eher annehmen, dass Carmichael selbst irgendwie Verdacht geschöpft, sich aus dem Staub gemacht und die junge Frau entführt hatte – und das war von entscheidender Bedeutung, denn ihr Bruder, ein prominenter Leugner Gottes und des Propheten, befand sich in der Hand jener Leute. Würden diese nur im Geringsten vermuten, dass Hala sie betrog, wäre sein Leben verwirkt.
Der Flug ging nach London – keine besonders gute Idee, wie Carmichael befand, aber dann dachte er an die entfernten Verwandten, die er noch auf der schottischen Halbinsel Kyntire hatte. Dorthin würde man sich von Heathrow auf verschlungenen Wegen begeben, denn es musste gelingen, allfällige Verfolger, die ihnen bis England auf der Spur geblieben waren, abzuschütteln, und zu diesem Zweck wechselten sie mehrmals das Hirecar, bis sie vor einem kleinen Autoverleih in der Wigmore Street standen, wo sie einen unauffälligen Vauxhall Calibra, der auch schon etliche Jahre auf dem Buckel hatte, mieteten.
Langsam fuhr Hamisch einmal rund um äußeren Londoner Motorway Circle, stets darauf achtend, ob jemand ihnen längere Zeit folgte. Als das nicht der Fall war, nahm schließlich Kurs nach Norden, noch immer sorgsam den Rückspiegel im Auge, damit nicht ein anderes Auto auffällig lange hinter ihnen blieb.
Hala betrachtete ihn von Zeit zu Zeit aus den Augenwinkeln und versuchte offenbar, ein wenig aus ihm schlau zu werden. Es war ihr ein wenig, als würde sie noch immer seinen männlichen Blick in ihrem Rücken spüren, wie vor nicht allzu langer Zeit in der Mall of the Emirates. Dieses Gefühl vermittelte ihr nicht vielleicht Unbehagen, wie es bei tausend anderen Männern der Fall gewesen wäre, sondern ließ sie wohlig erschauern, ganz als ob die körperliche Distanz zwischen ihnen bereits überwunden wäre.
Kapitel 1 – Vers 9
Hamishs Verwandte waren von Anfang an freundlich zu Hala Aziz Maliki. Er glühte geradezu auf, wenn er das Mädel sah, und seine Frau, eine dickliche Matrone, bekochte sie nach Strich und Faden. Kein böses Wort kam demgemäß über ihre Lippen.
Die Insel Kintyre ist auf der Westküste Schottlands gelegen, getrennt durch einen schmalen Isthmus. Das ermöglicht, mit allen Eigenschaften der Insel zu leben, ohne die Unannehmlichkeiten und Kosten von Fährenüberfahrten. Das Kap wurde 1977 weltweit bekannt, als Paul McCartney und seine Band Wings den Song „Mull of Kintyre“ veröffentlichten. Der Mull-of-Kintyre-Test war eine inoffizielle Faustregel der britischen Filmzensur, die bis 2003 Bestand hatte. Danach durfte in einem Film keine Erektion zu sehen sein, bei der ein Schwanz (Pardon!) einen höheren Winkel zur Senkrechten bildete als die (auf einer Landkarte penisähnlich aussehende) Kintyre-Halbinsel zum schottischen Festland.
Nach nordischen und isländischen Sagas gelang es König Magnus Barelegs, die Kontrolle über Teile des westlichen Schottland wiederherzustellen. Entschlossen, die Halbinsel Kintyre auch zu erobern, hatte König Magnus seine Krieger in einem Langboot über den schmalen Isthmus am nördlichen Ende der Halbinsel zwischen Tarbert von East Loch Fyne und West Loch Fyne geführt, und setzte sich in den Besitz von allen vor den Küsten backbordseitig gelegenen Inseln.
Hala hat es sich angewöhnt, Fenella Drummond zu heißen (die Farbe ihrer Haare – kupferrot, welcher Kreuzritter mochte da seine Spuren hinterlassen haben – tat ein Übriges). Bei einem Besuch in Glasgow, dem einzigen wohlgemerkt, gingen wir in einer dunklen Seitenstraße zu einem Dokumentenfälscher, der uns von einem Kollegen Hamishs empfohlen worden war. Er ist der Beste von Schottland, wenn nicht vom ganzen Empire, hatte der gesagt. Wir konnten gleich (gegen Entrichtung eines dreifachen Honorars) darauf warten.
Zurück auf Kintyre…
Nur selten mehr gab sie, und wenn sie ganz allein waren, Hamish eine Kostprobe ihrer schriftstellerischen Fähigkeiten.
Wie liebeskranke Gazellen finden wir
eine Oase,
trinken aus dem Teich der Glückseligkeit.
Im Orient ist man der Überzeugung, dass der Körper vom Kopf bis Fuß eine einzige miteinander verbundene Zone ist. Das erfahren wir, wenn wir eine erotische Erregung unmittelbar, ohne kulturelle Vorbelastung erleben. Die orientalische Sexologie betont die Körperhygiene sehr stark, was unter Umständen so manchen Stereotypen erschüttert. Nach orientalischer Ansicht ist die Ober- und Unterlippe bei Männern anders verbunden als bei Frauen. Die Oberlippe der Frauen ist mit der Klitoris, während die Unterlippe der Männer mit dem Penis verbunden ist. Sie haben bei diesem Gedanken bestimmt den Kopf geschüttelt und lachen müssen. Aber es stimmt, es handelt sich um den Glauben an eine Erscheinung oder, wenn ich die Worte eines theoretischen Psychoanalytikers paraphrasieren darf, der behauptet, dass wenn Menschen glauben, dass etwas Wunderkräfte hat, dann hat dieser Glauben auf sie tatsächlich eine heilende Wirkung. Hierbei ist aber nicht von Heilen, sondern von der Faszination die Rede, die ein solches Abküssen haben kann. Nehmen Sie sich die Zeit und denken Sie wenigstens einmal, wenn Sie sich küssen, darüber nach. Vielleicht wirkt es sogar.
Alles läuft unbewusst ab, aber bedenken Sie, wie oft Sie wichtige Schlüsse über andere Personen anhand dieser Empfindungen ziehen. Mit ein klein wenig Ungewöhnlichkeit im Kopf können Sie Ihre Sexualität zu unbekannten Ausmaßen wenden. Sie brauchen nicht den Orient zu besuchen – soll der Orient zu Ihnen kommen …
Und sei es in Schottland.
Während dessen hatten sich dem Paar einige Taliban an die Fersen geheftet. Unkenntlich durch westliche Kleidung und vor allem glattrasiert (der Zweck heiligt die Mittel), hatten sie 5°48´ West 55°18´ Nord erreicht. Von hier waren sie nur noch wenige Kilometer von ihrem Bestimmungsort entfernt – ein Klacks für die Männer, die oft viele Tage durch unzugänglichstes Gelände unterwegs waren.
Davina und Alastair Carmichael (so hießen die Verwandten) bissen auf der Stelle ins Gras. Sie mussten in keiner Weise leiden – so rasch ging das. Hamish Carmichael war schwer verletzt. Es fiel ihm nicht, sich totzustellen, angesichts der Verletzungen, die er davongetragen hatte. Fenella Drummond alias Hala Aziz Maliki, das eigentliche Ziel des Anschlags, war zu dieser Zeit beim Leuchtturm „Mull of Kintyre Lighthouse“ aufgehielt, während die übrigen zu Hause blieben: Davina kochte wie üblich, schließlich stand das Abendessen vor der Tür; Alastair sah ganz einfach in die Luft; und Hamish bearbeitete seinen Computer.
Fenella (immer auf der Hut, denn sie kannte das Vorgehen der Taliban, die einen bis in die letzte gottverlassene Ecke verfolgten) täuschte sich nicht. Sie, die sich immer heranschlich und das Haus umkreiste – wofür sie von Hamish fallweise ausgelacht worden war –, hörte Sätze wie: „Al ayn basira al yadd qasira. Das Auge sieht, doch die Hand gelangt nicht hin. Qybah! Hündin! Sharmuta! Hure!“
Wie gut, dass sie ihre Papiere stets bei sich trug, dazu ausreichend Geld. Nicht zu vergessen feste Schuhe, ein Anorak und eine Militärhose, darunter statt Reizwäsche ein Casual Outfit. Heimlich stahl sie sich zu Fuß in Richtung Tarbert, von dort mit dem Bus nach Glasgow Airport, wo sie sich mit dem Nötigsten eindeckte. Ein Koffer zunächst, plus die verschiedensten Inhalte: Von der dringend erforderlichen Kleidung (zivilisierter wie das was sie anhatte) bis zu den für eine Dame nötigen Acessoires.
Wohin sie abflog geht nur sie etwas an…