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Kapitel 4

KAPITEL 4
ZUNEIGUNG

Kapitel 4 – Vers 1

Fabian war geschockt. Anné de Maizière und ihre Eltern waren plötzlich (es kam ihm so vor – dabei hatten sie es seit langem geplant) nach Südafrika umgezogen, konkret nach Kapstadt. Für die Altvorderen bedeutete es einen Aufstieg in die Chefetage eines bedeutenden Unternehmens, der Cape Town Corporation, die sich mit dem Diamantenhandel beschäftigte.

Für Anné bedeutete es eine große Umstellung gegenüber ihrem bisherigen Leben, und zwar gegenüber ihrer gewohnten Freiheit, um nicht sagen Freizügigkeit. Sie war eingesperrt hinter drei Meter hohen Mauern – in Constantia, wo man auf meist riesige parkähnliche Grundstücke mit luxuriösen Villen traf.

Sie hatte in ihrer Verzweiflung bereits im Vorübergehen den schwarzen Majordomus konsumiert. Da machte sie eine bemerkenswerte Beobachtung: Bei dunkelhäutigen Männern (namentlich wenn sie jung sind) ist die Haut unglaublich feinporig und fühlt sich an so glatt wie Marmor, abgesehen davon haben sie einen sagenhaften Rhythmus und eine Riesenausdauer. Dann das Liebesgeflüster mit diesem weichen, schmelzigen Timbre in der Stimme. Anné ließ sich einfach fliegen. Und das änderte sich auch nicht – sie konnte stets auf Themba Gumede, so hieß der Bursche, zurückgreifen. Er war ihr nicht gram, auch wenn sie sich mit einem Weißen einließ.

Für ihre Ausbildung sorgte nämlich künftighin ein Hauslehrer, ein attraktiver Mann in den besten Jahren nebenbei bemerkt, an den sie sich ohne Verzug heranmachte. James Prank leistete anfangs tapfer Widerstand, aber sie hatte am Ende die besseren Argumente für sich – wenn sie ihn etwa im knappen Bikini, der nichts verbarg, rücklings auf der Campingliege empfing, war es um ihn geschehen. Als Anné ganz sicher war, dass er wie gebannt auf ihren Hintern starrte, zog sie beide Beine an und spreizte sie, so dass er ihr kleines unbehaartes Geschlecht deutlich sehen konnte. Nach diesen Worten leckte sie seinen Mund. Er begann, sie vorsichtig zu stoßen. Er wollte ihr nicht wehtun. „Worauf wartest du?“, fragte sie ihn. „Mach es mir richtig hart!“

Sie stand auf und setzte sich vor ihren Lehrer auf das Pult. Prank beugte sich vor, ihre Gesichter waren nicht mehr weit voneinander entfernt und dann berührten sich ihre Lippen. Die Lippen ihres Erziehers waren so weich, er küsste so gut. Anné schob ihre Zunge in seinen Mund und spielte mit seinem Pendant. Sie wurde jetzt aktiver, öffnete das Hemd und streifte es ihm nach hinten ab. Sie fuhr mit ihrer glatten Hand über seinen Oberkörper.

James bekam eine Gänsehaut, so sehr gefiel ihm die Behandlung seiner Schülerin schon jetzt. Er löste seine Lippen von ihren und ließ seinen Mund tiefer gleiten, küsste ihren Hals und knabberte an ihren Ohrläppchen. „Du bist wunderschön!“, hauchte er ihr ins Ohr. Und dann nahm er sie. Der Vater ebenso wie die Mutter bekamen nichts von alledem mit: Sie widmeten sich Wichtigerem.

Fabian war mittlerweile unausstehlich, mehr noch – er war vera?bscheuenswert. Sein Alter betrug unterdessen 17 und konnte Anné nicht vergessen. Er lebte noch immer bei seinem Sachbuchschreiber – schließlich wollte er ja seine Schulbildung noch auf dessen Kosten abschließen –, aber von den gemeinsamen schöngeistigen oder gar erotischen Erlebnissen war nichts mehr übrig. Im Gegenteil, der Mäzen ging seinem Schützling sorgsam aus dem Weg, angesichts der Kreise, in denen der Junge seit einiger Zeit verkehrte. Dessen forsches „Heil Hitler!”, wenn er Winfried irgendwo in der Wohnung begegnete, war dabei noch das Mindeste, denn es hatte auch schon öfter blaue Flecken und einmal sogar eine geprellte Rippe gegeben. Winklers erster Gedanke, nämlich die Polizei zu verständigen, erübrigte sich aufgrund des Risikos, was diese bei einer Amtshandlung womöglich über ihn selbst herausfinden könnte.

Die einzige, die Fabian noch einigermaßen Herr wurde, war Winfrieds Haushälterin, die an den Fall mit bodenständiger Resolutheit heranging, abgesehen von der Tatsache, dass sie es war, die für die nach wie vor bestehenden Grundbedürfnisse des frischgebackenen Enfant terrible sorgte: Essen und Trinken, Ordnung in der Kleidung und eine gewisse Sauberkeit überall, denn darauf legte der Bursche, jedenfalls daheim, größten Wert. Und sie war auch keineswegs empfindlich, diese Réka Hegedüs – ließ ihn damit quasi ins Leere laufen.

Selbst wenn er sich in der Küche von hinten an sie heranschlich, mit den Händen ihre stattlichen Brüste umfasste und seinen Schwanz gegen ihre für eine 57-jährige noch immer feste Kehrseite presste, bedachte sie ihn mit einem impulsiven Schwall ungarischer Schmähungen, und wenn er dann eins zulegte und drohte, sie auf der Stelle von hinten zu vögeln, steigerte auch sie ihre Beschimpfungen – provozierte ihn sogar noch, selbst auf die Gefahr hin, dass er seine Ankündigung wahr machte: „Baszni, hû de jó! – Ficken, ach wie fein!”

Ob es je dazu gekommen ist? Gelegenheit dazu hatten die beiden genug, und einen Nachholbedarf Fabians gegenüber dem weiblichen Geschlecht kann man füglich annehmen. Irgendwie fand die Hegedüs seine Unausgegoren-heit direkt erfrischend, wobei wir vermutlich gar keinen richtigen Überblick über alle Facetten ihrer Gefühle für ihn haben können.

Manches davon mochte in ihrer Biografie begründet liegen. Sie war 1956 im zarten Alter von drei Jahren mit ihren Eltern aus Ungarn geflüchtet, und die Familie, wie viele anderer ihrer Landsleute, hatte sich mit viel Fleiß einen gewissen Wohlstand erarbeitet. Anders als eine Reihe von Ethnien, die eine Assimilation im Gastland strikt verweigern, war das mit den Hegedüs rasch vonstatten gegangen, und das einzig Ungarische, was der kleinen Réka vermittelt wurde, waren bestimmte Eckwerte der früheren Kultur, und da vor allem die Sprache, die sie, wie wir gesehen haben, bis hinein in den Bereich der Flüche beherrschte. Aber das war nicht mehr als eine Attitüte, und sie fühlte sich heute so sehr als Österreicherin, dass sie in die ausländerfeindlichen Parolen der Rechtsparteien einstimmte. In diesem Kontext konnte sie die Tabubrüche Fabians und seiner Gang verstehen.

Apropos Gang – sie wollte die Jungs gerne einmal kennenlernen, die da durch die Gegend streiften und den Kroaten, Serben, Türken und Schwarzafrikanern das Gefühl zu vermitteln suchte, dass es hier eine Gegenkraft gab, sowohl ideologisch, als auch was das Gesetz der Straße betraf. „Als Biederfrau kannst du da nicht mitgehen!”, belehrte sie Fabian, was gleichzeitig bedeutete, dass er seinen Kameraden seine Eroberung (mit der er wahrscheinlich unter unver-schämten Übertreibungen bereits geprahlt hatte) durchaus zu zeigen bereit war. Und er brachte er ein Outfit, das ihr einerseits ein wenig den Atem stocken ließ, anderseits aber die Bewunderung darüber abverlangte, dass er vom bloßen Hinsehen ihre Maße genau getroffen hatte.

„Zier’ dich nicht!”, befahl er, „Ob du’s glauben willst oder nicht, du bist ohnehin noch immer” – bei dieser Einschränkung zuckte Réka ein wenig zusammen, fing sich aber gleich wieder – „ein rattenscharfes Teil!” Und er befahl ihr, sich gleich hier vor ihm umzuziehen, denn unmittelbar danach sollte es losgehen.

Winkler, der (und wir sollten nicht vergessen, dass wir uns hier in seiner Wohnung befinden!) nur mehr wie ein Geist herumschlich, beobachtete die Szene durch einen Türspalt, und der Atem stockte ihm, nicht vielleicht, weil er durch die Hegedüs’schen Reize überwältigt war, sondern über die Ungeheuerlichkeit des Vorgangs an sich. Réka zog sich nämlich auf der Stelle splitterfasernackt aus und reichte Fabian ihre Sachen, der diese mit spitzen Fingern wie alte Fetzen in eine Ecke warf. Dann reichte er ihr die neue Kleidung…

Anschließend ging er mit ihr in den Wiener Stadtpark und stellte sie hochoffziell vor. „Was haben wir denn da!”, sagten die Freunde heuchlerisch. Die Gute wurde hinten und vorne beäugt – und schießlich von allen vergewaltigt und ermordet. Der letzte Blick, bevor Réka Hegedüs den langen dunklen Tunnel betrat, richtete sich hilfesuchend auf Fabian, aber dieser war nicht wiederzuerkennen.

Kapitel 4 – Vers 2

Wir, Cora und ich, gingen nicht viel aus (zumindest in Wien nicht, und wenn dann nur an exotische Plätze, wo ihr Mann sie auf keinen Fall suchte – wenn er sie denn suchte). Wir trafen vorwiegend in meinem Haus zusammen, einem entzückenden Gebäude mit Garten, den ich liebevoll pflegte. Es war nicht annähernd so repräsentativ wie das ihres Mannes, aber es erfüllte seinen Zweck als Zufluchtsstätte: uneinsehbar, reservat, und drüben über der Donau gelegen. Ein perfekter Schlupfwinkel für uns…

Die praktisch einzige Ausnahme, die wir uns in unserer Heimatstadt gönnten, machten wir bei einem Ausflug in den Frastelli-Circus. Es gab da Lucky, the Painproof Man, der sich mit Nägeln in den Kopf traktieren ließ, Snake Woman, die sich die abenteuerlichsten Verrenkungen zumutete, The Robot, der einer menschlichen Frau zu nahe trat. Ferner gab es Artiste Erika, die auf einem Trapez in schwindelnder Höhe kopfüber ihre Übungen machte, Archie & Diane, die mit ihren Rollschuhen die aberwitzigsten Kunststücke vollführten, Senorita Adelita mit ihrem Hair Hanging Act. Es gab einen Rag-Doll-Act, wobei zwei Mädchen einem Clown die absurdesten Routinen abverlangten – aber der Ärmste stellte sich als Mensch heraus.

Dann kam die Pause. Unaufgefordert ließ Cora mich wissen, dass sie mit Peter Panigl (sie vermied bewusst den Künstlernamen Pjotr Perwonatschaljnow) nichts gehabt habe. Das befriedigte mich seltsamerweise tief. Wenn sie namentlich mit ihrem Mann, Marenkovic, geschlafen hatte, fand ich das normal, und auch, wo sie sonst noch – darunter oder darüber – gepoppt haben mochte, erschien mir das nicht so tragisch. Es ging hier nur um meinen speziellen Freund Pjotr, der mir die längste Zeit Kopfzerbrechen bereitete, und zwar nur er. Konnte ich das einfach so glauben, wenn sie mir das versicherte?

„Ich komme ursprünglich von weit weit her!“, sagte Cora. „Ich wollte zuallererst Nonne werden. Und zwar aus einem merkwürdigen Motiv: Ich wollte keine Kinder. Das war meine Art der Weigerung. Mein Körper bedeutete meine Absage. Mein Körper verwehrte sich gegen die Fruchtbarkeit. Mein Körper – mein Protest gegen die Gesellschaft, gegen Ungerechtigkeit, gegen Lynchjustiz, gegen Krieg. Mein Körper war Kritik und Auseinandersetzung mit menschlichem Leid.“

Da mochte ‚Weinberger‘ gerade so gehen – aber ‚Cora‘, da war sie nicht sicher, ob dieser Name nicht doch zu exotisch schien. Sie entschied sich nach langem Zögern zuletzt dennoch für das pittoreskere ‚Cora‘. Ich war verblüfft ob dieser verschrobenen Überlegungen – und zugleich fasziniert und betört und gefesselt.

Ein lautes, unüberhörbares Signal ertönte durchdringend. Wir wurden wieder in den Zirkus gerufen, um den zweiten Teil zu erleben. Als nächstes kam eine Nummer, wo zwei Artisten, eine Frau und ein Mann, in ein überdimensioniertes Wasserbecken sprangen und fallweise untertauchten, aber auch an den Rändern die paradoxesten Glanzleistungen vormachten. Als nächstes kamen zwei Damen, leicht bekleidet, von denen die eine einspannt einem Rhönrad war, während die andere, ebenfalls mit nichts außer einem String-Tanga, sich an der ersten zu schaffen machte. Als nächstes kamen zwei Herren, die stilisierten Ringkampf aufführten, mit deutlicher sexueller Komponente. Als nächstes kam eine Frau, die auf einer endlos langen Stange die abwegigsten Gaukeleien ausführte. Als nächstes kam ein Mann, der einen Frontbending-Act vorführte. Fasziniert war ich schlechterdings von der abschließenden Darbietung, mit dem Titel „Waking Doll & The Toymaker“. Dabei waren eine erwachende Puppe und ihr Meister zu sehen, ein Bild, wie für uns geschaffen – so sah ich jedenfalls die Situation.

Auf dem Heimweg, in mein Häuschen, konnte ich an nichts anderes als „Waking Doll“ denken, ohne vorerst Cora etwas davon zu sagen. Die hatte ganz banal Hunger, und auch ich verspürte einen gewissen Appetit. Ich kochte auf: Eine Kürbissuppe als Vorspeise, als Hauptspeise Cordon bleu plus einem Eisbergsalat, dazu weißen Wein. Den Abschluss bildete ein üppig belegter Blechkuchen mit saftig-roten Zwetschgen. Wir ließen es uns schmecken, so als ob es keinen Morgen gäbe. Ich vergaß die erwachende Puppe für den Moment, nur um sie dann wieder auszugraben, nachdem ich gesättigt war.

„Wie hat dir der allerletzte Act gefallen, Darling?“ „Das war der ‘Waking Doll & The Toymaker’?” „Genau…“ „Ansprechend!“, sagte sie. Das war immerhin ein Anfang.

Ich zog sie kurzerhand aus und posierte sie auf dem Sofa. Ich befahl ihr, die Augen zu schließen – sie hatte inzwischen ein unbedingtes Vertrauen zu mir, dachte wahrscheinlich, ich wollte etwas Neues probieren. Und so kam es auch, allerdings in ungewöhnlicher Form.

Der Schöpfer der Puppe (also ich) kleidete sie mit einer berüschten weißen Wäsche, darüber ein kurzes blaues Fähnchen und eine weiße Schürze. Ich malte ihr knallrote Lippen an und verpasste ihr eine hennafarbene Perücke. Stiefeletten ergänzen das Konterfei. Dann flüsterte er ihr geheimnisvolle Worte ins Ohr, worauf sie erwachte. Sie sah mich an, es war dies der erste Blickkontakt. Sie bewegte sich mechanisch, gab den Kopf einmal hierhin und einmal dorthin.

Cora stützte sich teilnahmslos auf ihre Arme, vorweg gebeugt. Dann legte sie sich auf den Bauch und verrichtete monoton verschiedene Darbietungen, wobei ihr die Gelenkigkeit, die sie angeeignet hatte, sehr zugute kam. Sie führte mir die verkehrte Brücke vor, das war nicht einfach, schon gar nicht in der stereotypen Haltung, deren sie sich befleißigte. Anschließend ging sie in die Rückenlage, von dem aus Schulterstand probierte.

Ich löste ihr Schürzenband, sie reagierte geistesabwesend, indem sie sich ihres Fummels entledigte und in ihren Dessous dastand. Mittlerweile saß sie wieder einfach seelenlos da. Danach konnte ich ihre schablonenmäßige Gefasstheit nicht mehr länger ertragen und ich riss die verbliebene Kleidung herunter. Da taute auch sie plötzlich auf, und wir liebten uns leidenschaftlich. Unterdessen war uns gleichgültig, ob wir jetzt kostümiert oder vollkommen nackt – in der gegenwärtigen Lage schien uns das Unbekleidetsein einfach das logischere.

Sie zitterte jetzt am ganzen Körper und ich beugte mich über sie und küsste sie zärtlich, wieder kullerte eine Träne über ihre Wange. Ich fing sie mit dem Finger auf und steckte ihr den Finger in den Mund und wir zwei leckten ihn gemeinsam ab. Draußen wurde es mittlerweile dunkel. Ich ließ von ihr ab, aber nicht ohne einen heftigen Zungenkuss, sie bettelte ich solle in ihr bleiben, doch ich sagte ihr, ich würde erst einmal Licht machen – ich wollte ja schließlich ihre scharfen Brüste und ihre kleine rosa Zauberritze sehen.

Ich hielt einen Moment inne. Sie drehte ihren Kopf um und wir küssten uns neuerlich leidenschaftlich und tief, dabei kniff ich zärtlich aber bestimmend in ihre Brustwarzen. Ihr weißes Fleisch war total verschwitzt und glänzte, sie sah aus wie eine kleine süße Elfe, die durch die Mangel genommen worden war.

Kapitel 4 – Vers 3

Sie nannten ihn „Grille” – warum wusste niemand mehr. Sein richtiger Name war Dominic Schmidt, aber das wusste, zumindest in seiner privaten Umgebung, niemand mehr so glaubwürdig. Er lebte mit Felix Lehmann zusammen, und sie waren ein Paar. Sie wohnten in der Stoesslgasse im 13. Wiener Gemeindebezirk, von wo sie auf den Hügelpark hinuntersahen. Dominic arbeitete bei der Firma Austro-Plant in der Braunschweiggasse, während Felix in Hietzing Bezirksrat der Österreichischen Volkspartei war – was er sonst noch trieb, betraf die Hausarbeit. Er lebte vorwiegend von den Einkünften seines Freundes, und die waren üppig. Als Funktionär in der Bezirksvertretung erhielt er nur 400 Euro monatlich.

„Grille” war oft ein halbes Jahr im Ausland und manchmal wurde ein ganzes daraus. Er hatte zwar das Recht, zweimal im Monat nach Hause zu fahren, aber er nahm diese Forderung selten in Anspruch – lieber ließ er sich diese abgelten. Er war ein typischer Mann (so sagt man), unternehmungslustig, umtriebig und energiegeladen. Felix (der in ihrer Beziehung sozusagen die weibliche Rolle spielte), sagte „Vergiss mich nicht, wenn du lange fort bist.“ Er war eine „Frau“, die sich mit besonderer Hingabe häuslichen Pflichten widmet und kaum andere Interessen hat – außer jener des Bezirksrates.

Es ist ja festzuhalten, dass homosexuelle Partner haargenau dieselben Schwierigkeiten wie heterosexuelle, zumindest was die „verheirateten“ Paare betraf. Es schien, als ob für diese Männer eine Beziehung beinhaltet, dass sie zusammen wohnen, alles zusammen unternehmen, sehr viel miteinander teilen. In der engen Beziehung wird in jeder Hinsicht mehr geteilt als in den anderen Beziehungen. Die Partner hatten ein höheres Maß an Intimität, schätzten diese auch mehr, zeigten sich in emotionaler Hinsicht als abhängiger voneinander und verbringen die meiste Zeit miteinander – oder eben nicht, weil einer der beiden Lebensgefährten ein gewisses Maß an Unabhängigkeit beanspruchte, während der andere wie eine Klette an seinem Geliebten hing.

Felix zierte sich zumindest ein bisschen, ein bisschen viel, wie manch einer sagen würde. Er bekam nahezu einen hysterischen Anfall, als von den nunmehr konkreten Plänen seines Freundes erfuhr: Dominic Schmidt war nach Südafrika eingeladen worden, um die Feasibility-Study für ein Wasserbauprojekt in die Wege zu leiten – für einen Zeitraum von mindestens fünf Monaten intensiver Arbeit, da heißt er konnte während dieser Dauer nicht nach Hause reisen.

Er versuchte, wenigstens etwas von seiner Begeisterung über dieses Vorhaben an seinen Lover weiterzugeben. Es war ja wirklich eine eindrucksvolle Planung, die hier ablief: Es sollte der Holgat River in der Provinz Nordkap in mehreren Stufen aufgestaut werden. Zu diesem Behufe hatte das in Frage stehende Konsortiums (das übrigens in den Vereinigten Staaten und damit weit vom Schuss saß) vorsorglich alle Grundstücke weit und breit aufgekauft.

Northern Cape ist der größte Landesteil Südafrikas und nimmt circa ein Drittel der gesamten Staatsfläche ein. Für Naturverbundene sind die Stille, die Einsamkeit und die unbegrenzten Horizonte atemberaubend. Im Frühling (der allerdings dem Herbst auf der Nordhalbkugel entspricht) bietet der Wildblumenwuchs als Folge der Regenzeit ein unvergessliches Naturschauspiel. Normalweise bestand das Land, das nur wenig besiedelt war, überwiegend aus Steppen und Wüsten.

Der Wechsel zwischen Trocken- und Regenzeit musste aufgefangen werden, das war aber nur durch Staudämme möglich, die verhinderten, dass kleine Rinnsale sich in ariden Gebieten binnen kurzer Zeit in reißende Ströme verwandeln. Oftmals wird durch die heranrollende Wassermenge, für Farmer und den Straßenbau natürlich eine Katastrophe, das Land mit Schlamm und Sand bedeckt. Das stellte nur eine Seite der Medaille, und zwar die positive – es gab aber noch eine Kehrseite, und das war die unwiederbringliche und damit endgültige Zerstörung der unberührten Natur.

Das schien umso merkwürdiger, als Dominic in seiner Heimat – er stammte ursprünglich aus der Steiermark, während Felix ein Urwiener war – die gegenteilige Meinung vertreten, aber da hatte er als Privatperson gehandelt. Es ging um die Verbauung der Sulm, eines der rechten Nebenflüsse der Mur, wo Pläne für ein Wasserkraftwerk im Schutzgebiet auf den erbitterten Widerstand von Naturschützern, darunter unser Freund, gestoßen waren.

Beruflich aber, in seiner Eigenschaft als Teilhaber der Austro-Plant, war er völlig anderer Ansicht. Fernab von Anwandlungen an Allopatrie – je weiter weg, desto entschlossener (Austro-Plant arbeitete nur im Ausland) – kümmerte er sich um nichts und niemanden, außer um seinen Job.

Aber Felix erging sich in Vorwürfen, die sich in keinster Weise auf das bezogen, was Dominic meinte. Sein Gemecker stützte sich vorwiegend auf die Tatsache der Abwesenheit seines Freundes und berücksichtigte nicht den Zwiespalt zwischen „Privat“ und „Beruflich“, der Grille innerlich sehr zu schaffen machte, mehr als er zugab.

Ärgerlich sagte er: „Sieh’ es mehr positiv! Es ist immerhin eine Chance, noch mehr Geld zu verdienen! Das ist es, was dich wirklich interessiert!“

Er schloss sich für’s erste in sein Zimmer ein. Wenn Felix gedacht hatte, dass sich das schon wieder einrenken werde, war er diesmal auf dem Holzweg. Dominic würdigte ihn keines Blickes mehr, auf seinem Weg ins Badezimmer und in die Küche, wo Grille sich selbst einen Kaffee bereitete, was er bis dato noch nicht getan hatte. Was das Allerschlimmste war, sein Geliebter verweigerte seine Hilfe beim Einpacken, und zwar jede Unterstützung.

Als Felix bei einer Bezirksratssitzung aufhielt, verdrückte sich Dominic. Er fuhr mit dem Taxi direkt zum Flughafen Wien. Er flog mit den nach Frankfurt, dann mit der Lufthansa auf den International Airport Johannesburg – großteils schlafend, nur zu den Mahlzeiten wurde er geweckt, ein Imbiss gleich nach dem Start sowie ein Frühstück unmittelbar vor der Landung. Weiter ging’s mit der Mango Airline auf den Cape Town International Airport. Nachdem Grille im Queen Victoria Hotel abgestiegen war und ein ordentliches Mittagessen genossen hatte, erkundete er die nähere Umgebung seiner Fünf-Sterne-Bleibe. Das Hotel befand sich oberhalb der Victoria and Alfred Waterfront in Strandnähe. Jetzt war er für noch sich selbst überlassen – morgen würde es dann losgehen. Er beschloss, nicht zu spät schlafen zu gehen, und das war gut so, denn am nächsten Tag stand ein Mann auf der Matte, und zwar bereits um halb acht. Dominic saß gerade beim Brunch, und der Typ schien ihn unmittelbar zu interessieren: Es handelte sich einen „Afrikaner“, entstammt aus einer Verbindung der Niederländer mit den in ihren Diensten stehenden Nama-Frauen. Der Mensch war ein Schönling sondergleichen! Grille konnte – nicht wegen der speziellen Art seiner Veranlagung, denn er vermied es, bei der Arbeit allzu intensive Privataffären zu pflegen – nicht die Augen von ihm abwenden.

Sie fuhren zu Cape Town Helicopters in der E-Pier Road, wo sie einen startbereiten Hubschrauber vorfanden. An Bord – wo Dominic sich etwas beruhigt hatte, denn sonst wäre es unverhältnismäßig aufgefallen, namentlich auf diesem engen Raum – konzentrierten sie sich auf die eigentliche Berufsausübung, indem sie alles, was an Vorleistungen zur Aufstauung des Holgat River zu erbringen war. Am Ort des Geschehens eingetroffen, landeten sie hier und dort, je nachdem, wo sie etwas besonders interessierte. Besonders ansehenswert war ein Platz direkt an der Küste, den sie für ihr künftiges Biwak aussuchten und auch gleich mittels Landmarken kennzeichneten. Es befand sich auf 28,98 Grad südlicher Breite und auf 16,72 Grad östlicher Länge und war damit im Mündungsgebiet des Holgat River (oder was davon bei dieser Jahreszeit übrig blieb) gelegen. Kapstadt war eine Luftlinie von 490 km entfernt – ein guter Helikopter schaffte das in guten eindreiviertel Stunden.

Für’s erste war es genug und sie kehrten an ihren Ausgangspunkt zurück. Der Schönling hieß übrigens Donovan Jojo und er lud – nachdem sich Dominic etwas frisch gemacht hatte – diesen ins ZAR ein, das sich in der Main Road im Stadtteil Green Point befand. Ein sündteures Lokal, was sage ich, ein Luxustempel, der alle Stückchen spielte. Woher sich Donovan das leisten konnte, bleibe dahingestellt. Jedenfalls war er bestens bekannt in diesen Kreisen – wobei er bei den Damen mittleren Alters seinen Schwerpunkt hatte, wie Grille mit steigendem Interesse beobachtete.

„Ich bin und bleibe hetero! Also nichts für Sie!“ „Das ist auch meine Intension, zumindest dienstlich. Obwohl ich sagen muss, dass mir das in diesem Fall sehr schwer fällt!“ Damit war die Sache ein für alle Mal erledigt. Bevor sie sich, jeder für sich, ins Getriebe stürzten, vereinbarten sie, dass sie sich übermorgen treffen würden.

Bei seinem zweiten Besuch in diesem Etablissement, der rund vier Wochen später stattfand, traf er auf Anné de Maizière – sie war in Schwierigkeiten, gelinde ausgedrückt. Aber davon ein anderes Mal.

Kapitel 4 – Vers 4

Da stand er nun, Pjotr Perwonatschaljnow, inmitten eines umfangreichen Trosses, allen voran der schwule Assistent Charlot, der ihm das ganze Fotozeug eingepackt hatte, und die Kosmetikerin Cesarine mit ihrem Zauberkoffer, und natürlich die Mannequins, drei an der Zahl, die für internationale Bademoden werben sollten, dazu noch die übrigen Mitglieder der Crew – auf dem Seychelles International Airport, der nur elf Kilometer südöstlich von Victoria, der Hauptstadt des Landes, lag. Da stand er nun, ein bisschen verloren, nachdem er über 7.000 Kilometer zurückgelegt hatte. Sein Team enterte die bereitstehenden Taxis zur Gänze – was für die örtliche Einwohnerschaft eine mittlere Sensation war.

Sie fuhren zum Holiday Home Villa Christina, abseits der North Coastal Road, wo sie eincheckten. Anders als in Rio de Janeiro wusste er von den Seychellen praktisch nichts, außer was er auf der Reise schnell angelesen hatte. Zum Beispiel, dass die Inselgruppe ihre Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich am 29. Juni 1976 erlangte – wie durch ein Wunder hatte er sich dieses Datum gemerkt. Da war aber noch mehr an rasch eingebunkertem Wissen: Der Archipel umfasste 455 Quadratkilometer festen Landes und hatte ungefähr 90.000 Einwohner, von denen über 80 Prozent katholisch sind. Das Seegebiet umspannte 400.000 Quadratkilometer und ist damit um ein Vielfaches größer als das Festland-Territorium. Außerdem war Perwonatschaljnow fasziniert vom Wahlspruch der Inseln: „Finis Coronat Opus“, das bedeutet etwa „Der Abschluss krönt das Werk“.

Pjotr ging sofort auf sein Zimmer und fiel unmittelbar darauf in tiefen Schlaf. Da träumte er, circa 850 nach Christus habe sich in einem arabischen Schriftstück ein Bezug auf „hohe Inseln“ gefunden, die auf der anderen Seite der Malediven liegen sollten. Um 1500 ankerten Schiffe aus der Flotte des portugiesischen Entdeckers Vasco da Gama bei den Amiranten, die später als Sub-Inselgruppe der Seychellen zählte. Obwohl sie nun der westlichen Welt bekannt waren, wurden die erst 250 Jahre nach ihrer Entdeckung von den Franzosen dauerhaft besiedelt. 1794 bis 1811 folgte erneut ein blutiger Krieg zwischen den Flotten Frankreichs und Großbritanniens. Aus diesem Konflikt gingen die Briten als Sieger hervor. Die Seychellen wurden annektiert.

Diese Hinweise waren wie weggeblasen, als Perwonatschaljnow erwachte – aber einerlei: als er die Augen aufmachte, war er wieder voller Tatendrang. Sie fuhren auf wieder den Seychelles International Airport und von dort – per Helikopter – direkt auf den Strand auf La Digue. Es ist die kleinste der drei bewohnten Hauptinseln der Seychellen. Auf 9,81 Quadratkilometern leben rund 2.200 Einwohner, die Diguois genannt werden. Der Strandabschnitt Anse Source d’Argent mit seinen spektakulären Granitformationen gilt als Traumstrand und ist ein beliebtes Touristenziel. Der Küstenstreifen wurde kurzerhand für einen Tag gesperrt – und dafür gab es einen stichhaltigen Grund. Dort sollten die drei Models Oben-ohne-Badeanzüge vorführen.

Das brachte kein Erröten mehr ins Gesicht von Pjotr – eher im Gegenteil, die geschäftsmäßige Zielrichtung war unverkennbar, man könnte es direkt Kundenorientierung nennen. Die Mannequins erinnerten ihn vielmehr an Schaufensterpuppen, die sich zwar ordentlich präsentieren, aber mehr schon nicht. Sollten zunächst Cesarine mit ihrem Abrakadabra und in weiterer Folge Charlot mit seiner magischen Ausleuchtung der Szene in den Vordergrund treten. Er – Perwonatschaljnow – musste dann nur mehr den Auslöser seiner Hasselblad drücken.

Oben-ohne-Badeanzüge – es ist eigentlich ein Euphemismus, sie so zu bezeichnen: diese duftigen Strings, die definitiv nur das Notwendigste verhüllten. Die Models trugen sie so selbstverständlich, als wenn sie ein Kleid umhaben würden. Sie genierten sich einfach längst nicht mehr – sie waren durch eine harte Schule gegangen. Und sie bekamen nur einen kleinen Teil der auf einen niedrigen sechsstelligen Euro-Betrag lautenden Einnahmen.

Die Auftraggeberin war die berühmte Firma „Victoria’s Secret“, was eine ungeheure Aufwertung der Marke „Perwonatschaljnow“ darstellte. Folgerichtig hatte er erst kürzlich die „Pjotr Inc.“ gegründet mit dem Ziel, sich persönlich und im Inland nur ein relativ bescheidenes Gehalt auszahlen zu lassen. Der Überschuss ging auf die Cayman Islands, insofern Leistungen, die innerhalb eines Konzerns erbracht werden, können so verbucht werden, dass Gewinne aus Hochsteuerländern abgezogen werden. Zum Beispiel kann das Verwertungsrecht an der Marke „Perwonatschaljnow“ in einer Steueroase liegen und er (Pjotr) zahlte dafür Lizenzgebühren an sein ausländisches Tochterunternehmen. Dies ist ein legaler Vorgang, solange marktübliche Preise gezahlt werden (ob das der Fall ist, ist allerdings schwer zu überprüfen, da ein Markt dafür nicht existiert).

Die Crew kehrte nach getaner Arbeit von La Digue zur Hauptinsel Mahé zurück. Während Cesarine und Charlot sowie der Rest des Teams ziemlich erledigt waren und sich bald zur Ruhe begaben, wollte Pjotr – nach einem Gericht namens Fischcurry, einer bekannten örtlichen Spezialität – das Nachtleben genießen. Er warf sich in Schale, nachdem er sich über den Dress Code informiert hatte, und fuhr mit dem Taxi in den Katiolo Nightclub in der Mount Fleuri Road.

Kaum angekommen, machte sich schon eine Dame an ihn heran. Ich habe es bis jetzt nicht erwähnt, aber er war ein hübscher Bursche, namentlich wenn er im Anzug erschien. Aber das stellte nicht den einzigen Grund für die Anmache dar: Sie war Edelprostituierte, gab sich allerdings zunächst nicht als solche zu erkennen. Wieder diese merkwürdige Konstellation, wie schon bei Estefânia, und wieder hatte er diese Naivität, sie vorläufig einmal nicht als Gewerbliche zu identifizieren. Er war gebannt von ihrem Liebreiz, der von ihrer kreolischen Herkunft herstammte (wie schätzungsweise an die 90 Prozent des Archipels einer Mischgesellschaft angehörten, die natürlich nicht sämtlich von überragender und märchenhafter Schönheit wie sie waren). Sie hörte übrigens auf Veronique…

Sie plauderte gepflegt, ohne Hektik, ohne Hast, wie überhaupt Stress ein Fremdwort ist – denn das Leben auf den Seychellen gestaltet sich sehr relaxt. Pjotr und Veronique unterhielten sich gemütlich und zwanglos, sprachen über dies und das und kamen sich bei der Gelegenheit rasch näher. Und als sie ins Hotel zurückkehrten, war es eine Selbstverständlichkeit, dass sie miteinander ins Bett gingen. Anders als in Rio mochte Perwonatschaljnow sich bis zuletzt nicht eingestehen, dass Veronique ein Callgirl war – erst als sie zum Schluss relativ brutal ihren Hurenlohn einforderte, wachte er aus seinem Traum auf.

Er verfiel in einen unruhigen Schlaf und versäumte den Flug, der zu einer nächtlichen Stunde gestartet war. Weder Cesarine noch Charlot (und schon gar nicht der Rest der Crew) getrauten sich nicht, ihn zu stören. Mochte er selbst sehen, wo er blieb.

Pjotr hatte es umgekehrt nicht eilig – er frühstückte in Ruhe und ging dann seinem heimlichen Hobby nach: der Erforschung der Botanik, nicht ohne dass er sich vorstellte, wie gut ein Model in dieses Ambiente passen würde!

Im Jahr 1903 wurde bereits der heute noch existierende Botanische Garten bei Victoria eröffnet. Er diente schon damals nicht nur der Erbauung, sondern auch der Forschung an landwirtschaftlich nutzbaren Pflanzen. Mit der Zeit jedoch wurde das Areal des Gartens an der Mont Fleuri Road zu klein. Schon 1985 begann man deshalb mit Planungen für ein modernes und größeres Zentrum dieser Art. Bei Barbarons an der Westküste Mahés entstand nun ein neues Biodiversity Centre, das einen weitaus größeren Botanischen Garten, Baumschulen und einen Naturpark umfasste.

Im Informationszentrum hat der interessierte Besucher Gelegenheit, alles über die Bedeutung und den Nutzen der Pflanzen erfahren zu können, während in den Labors die Forschung vorangetrieben wird. Die sagenumwobene Coco-de-Mer hat den größten Samen der Welt und fällt durch ihre ungewöhnliche Doppelnußform auf. Dann gibt es noch den Quallenbaum (Medusagyne oppositifolia), von dem nur noch acht Exemplare überlebt haben. Und dazu noch die unvermeidlichen Hibiscus-Sträucher.

Perwonatschaljnow merkte sich das alles…

Kapitel 4 – Vers 5

Panajotis begleitete Fenella erstmals auf ihr Zimmer. Vom „Nightman“ hatten sie nichts zu fürchten – der schlief den Schlaf der Gerechten. Sie bediente den Gast aus der Hausbar. Plötzlich fiel ihr auf, dass sie noch nie ein Glas Bier bei ihm gesehen hatte, geschweige denn eine Flasche Rotwein, den die Griechen besonders lieben, einen Ouzo, einen Metaxa oder dergleichen. Sie war bis jetzt achtlos darüber hinweggegangen, aber jetzt mit geschärftem Sinn wurde hellhörig. Er trank nur Mineralwasser und allenfalls Tee oder einen Ellinikós Kafés, den die Türken als Turkish Coffee bezeichnen, der aber arabischen Ursprungs ist und dort qahwah genannt wird.

Fenella beschloss, weiter wachsam zu bleiben, egal wie sehr er sie auch becircte. Panajotis wiederum war auffallend friedlich heute und umgänglich, direkt versöhnlich. Sie saßen beieinander und quatschten, das heißt Fenella quatschte und er hörte zu – abgesehen von dieser Tatsache eine beschauliche Idylle.

Er hatte es nicht eilig, ganz im Gegenteil zu seiner so drängenden Art. Er registrierte einfach so, was sie sagte, und sie führte es grundgescheit aus: Sie war für ihr Alter, das seines ohnehin um soviel überstieg, gebildet und lebenserfahren – man könnte es fast weise und abgeklärt nennen.

„Verlangen wir da nicht zu viel? Steckt dahinter nicht schon wieder die Forderung nach dem ‚neuen Menschen‘, dessen Praxis sich an der sprichwörtlichen grauen Theorie orientieren soll? Im Gedanken an die Opfer aller Ideologien, die ihre Dissidenten durch Exkommunikation, wirtschaftliche Vernichtung oder physische Auslöschung ausgegrenzt haben, sollten wir hier innehalten. Und dennoch (der jahrtausendealte Traum): wer oder was hindert uns eigentlich daran, die Welt lebenswert zu machen?“

„???“

„Wie kann ohne Zwang, der die Lebensqualität des einzelnen von vornherein schmälert, ein Fortschritt in diese Richtung erzielt werden? Dazu eine Beobachtung: Der Mensch, wann immer er sogar das eigene Leben zugunsten seiner Freiheit zur Disposition stellt, kann nicht unter fremde Ziele gezwungen werden. Er ist aber in der Verfolgung selbstbestimmter Ziele unter größten Entbehrungen zu Höchstleistungen fähig. Und dies gilt interessanterweise nicht nur für die Inselsituation, zum Beispiel also für den einsamen Bergsteiger, sondern auch für Situationen, in denen Einzelegoismen gebündelt werden, das heißt auch für die ganze Seilschaft.“

„???“

„Das In-sich-Hineinhören und auch das In-die-Welt-Hineinhören gelingt individuell ganz gut, namentlich wenn man sich dazu erzogen hat, in der lauten Gegenwart auf die schwachen Signale zu reagieren, an die sich Hypothesen für die Zukunft knüpfen lassen. Der Wert der Intuition wird heutzutage besonders vehement geleugnet: Damit erfolgt eine Ausgrenzung dieser Fähigkeit aus dem Seinsbegriff. Als ob es darum ginge, das Argumentieren durch den Blick in die Kristallkugel zu ersetzen: Es ist vielmehr das Fertigwerden mit einer Situation beziehungsweise einer Entwicklung, die mit Quantitativität und Messtechnik nicht so leicht aufzuschließen ist. Mit den herkömmlichen Instrumentarien erkennen wir Trends und sind geneigt, diese als Fortbewegungsrichtung unseres Systems zu akzeptieren. Es gibt aber unter Umständen gewaltige Oszillationen um den Trend, Ausschläge gegen den Trend, die ihn entscheidend abändern, und schließlich Trendbrüche, durch die der ursprüngliche Trend vernichtet wird.“

„???“

„Denn noch einmal: mit Reduktionismus, mit Simplifizierung kommen wir nicht weiter, wenn die entscheidenden Fragen lauten: Was kommt? Und wo? Und wann? Womit haben wir in welcher Raum- und in welcher Zeitdistanz zu rechnen?“

„???“

„Verstehst du das?“

„Vollkommen!“ Sein Zynismus war nicht zu überhören. Sie war aber in so einem Tempo unterwegs, dass ihr das gar nicht auffiel.

„Komm’ ins Bett – endlich!“ Da merkte Fenella schlagartig, dass Panajotis sich schon ausgestreckt hatte. „Mach’ es dir selbst!“

Da war sie dermaßen entgeistert, dass sie nicht direkt reagierte. Sie entkleidete sich mechanisch – viel sie hatte auszuziehen, bis sie komplett nackt vor Panajotis lag. Sein Ansinnen kam ihr völlig absurd vor: wo er doch nur zugreifen musste. Sie war gänzlich überrascht und irritiert, man könnte es auch schockiert nennen – sie hatte es noch nie in ihrem Leben gemacht, was bei ihrer Biografie bemerkenswert war. Aber es ist ein Unterschied, ob das in Verstrickung beider geschah oder ob einer von ihnen tatenlos zusah. Fenella empfand diese Situation als ausgesprochen unangenehm und konnte ihrem Lover ausnahmsweise nicht ins Gesicht blicken.

Sie ließ sich aber dann doch breitschlagen, wenn auch unter anfänglichem Protest, der allerdings immer geringer wurde, je mehr sie in Fahrt kam. Es war ihr zuletzt vollständig egal, wer ihr dabei zusah. Sie kam auf den Geschmack, kostete es schlussendlich richtig aus – genoss es, endlich einmal entschlossen das tun, worauf sie Lust hatte, in einem Rhythmus, der ihr behagte. Sie zögerte den Orgasmus bewusst hinaus, folgerichtig bis zum Äußersten…

Als sie wieder zu sich kam, von den vorsichtigen Zärtlichkeiten ihres Freundes begleitet, schlug sie die Augen auf und blickte ihn mit glasigen Pupillen an. „Jetzt musst du etwas für mich tun, nachdem ich dir ein solches einzigartiges Erlebnis bereitet habe.“, sagte Panajotis. Fenella fürchtete schon, dass ihr einen Blow-Job verabreichen wollte, was ihr im Moment besonders unangenehm gewesen wäre – aber sie hatte sich, zumindest für diesen Zeitpunkt, getäuscht. Er wollte nur Blümchen-Sex von ihr.

Erschöpft blieb er auf ihr liegen und erholte sich nur langsam wieder. Fenella löste vorsichtig ihre Beine und entließ ihn aus ihrer Umklammerung. „Bitte, lass‘ das Ding noch etwas in mir stecken, das füllt mich völlig aus, das ist so schön!“ Also blieb er weiter auf ihr liegen und nahm ihren Kopf in seine Hände, dann gab er ihr einen langen und zärtlichen Kuss.

Was, wenn in Wahrheit Panajotis ein ganz anderer war, was, wenn in Wahrheit Fenella eine ganz andere war. Wer wollte ahnen, dass die „Brothers in Arms“ hinter Fenella her waren. Und dass Panajotis in Wirklichkeit Hussein hieß und ein Palästinenser war. Und dass seine Kenntnisse aus dem Reiseführer waren. Wer wollte ahnen, dass Fenella in Wirklichkeit Hala, eine Afghanin, war.

Nachdem sich Hussein lange gewehrt hatte, gab er endlich auf. Er liebte sie ja wirklich und deshalb ging es kurz und schmerzlos. Er erstickte sie im Schlaf mit dem Kissen und folgte ihr mittels Dolchstoß. Die Huris begleiteten ihn – als groß- und schönäugig charakterisierte Jungfrauen, die nach dem Q‘ran den Gläubigen im Jenseits zugesellt werden.

Pamela Salvaris hatte ein ungutes Gefühl, schon den ganzen Morgen. Als eine Frau, die zum Aufräumen und Saubermachen in den Room 401 kam, schloss sie sich daher gleich an – und sah die Bescherung sogleich selbst an. Überall Blut, es stammte von einem Unbekannten, während Fenella Drummond offensichtlich erstickt worden war. Die Salvaris machte das Zimmer dicht und holte die Polizei – es ist für ein Hotel nichts Angenehmes, aber es blieb ihr keine Wahl.

Zurück zu Fenellas Auto. Es stand und stand, bis es vom Mann, der ihr den Wagen geborgt hatte, aufgespürt und abgeholt wurde. Ein Lokalaugenschein im Kofferraum ergab, dass die Drummond ihren ganzen Besitz an materiellen Gütern dort aufbewahrt hatte – bis auf das, was am Leib trug, sowie einige Toiletteartikel. Der Vermieter verständigte sofort die nächste Polizeiwache, und von da an ging es Schlag auf Schlag.

Kapitel 4 – Vers 6

Fragen Sie mich nicht, wie Pjotr Perwonatschaljnow in das Geschäft in Wien 11. hineingeschneit ist, auf seinem Weg von den Seychellen zurück. Wahrscheinlich hatte er bloß Hunger. Er parkte seinen Wagen verboten in zweiter Spur – er hatte mit den Strafmandaten kein Problem. Ihn sehen und es war um Sabrina Reinthaler geschehen. Sie ließ alles liegen und stehen und sah ihn bloß verzückt an. Die Bestellung verhallte ungehört.

Pjotr war fix, seine Chance zu ergreifen. Eine Kollegin von Sabrina sprang ein: Sie konnte das Geschäft nötigenfalls ohne ihre Hilfe führen. Die Reinthaler – nachdem sie rasch einen kurzen Anruf bei ihrem Mann getätigt hatte („Du, es gibt ein kleines Problem mit der Abrechnung! Warte nicht auf mich, geh‘ ins Beisel ums Eck, da isst man sehr gut. Dann kannst Du schon nach Hause gehen und fernsehen. Ich komme so wie ich hier fertig bin.“) – zog sich rasch um, und los ging es. Die Arbeitskameradin packte noch schnell die gewünschten Hörnchen ein. Der Ferrari (der neue, immerhin hatte die Versicherung wie durch ein Wunder bezahlt) wartete…

Wo war Perwonatschaljnow eigentlich zu Hause: in Strebersdorf, Richtung Bisamberg. Dort hatte er eine auskömmliche Villa, und dort brachte er Sabrina hin. Es war nicht seine Art, allzu viele Leute in sein Domizil einzuladen – warum er bei der Reinthaler eine Ausnahme machte, wird für immer ein Geheimnis bleiben.

„Mach’s dir gemütlich, nimm’ dir einen Drink, während ich etwas Bequemeres anziehe!“ Dabei hatte er ur-bequeme Sachen (Jean plus Pulli) – was mochte er noch darüber hinaus meinen? Sabrina musste nicht lange darauf warten. Ein prachtvoller Morgenrock kam zum Vorschein – mit nichts darunter, wie sich später herausstellte, allein soweit waren wir noch nicht.

Pjotr hatte Zeit. Im Gegensatz zu der Hektik auf seinen Reisen, wo er immer fieberhafter und rastloser wurde (im Kontrast zu seinen Anfängen, als er langsam und bedächtig agierte) – man könnte mit einem Ausdruck aus der Musik sagen: er war von einem milden Adagio in ein Allegro übergegangen, dem schließlich ein Furioso folgte. Aber in seiner Villa mochte er sich nicht hetzen lassen.

Im Unterschied dazu Sabrina Reinthaler – sie hatte nur begrenzt Zeit. Sie kam spontan auf die Idee, einen längerdauernden Ausbildungskurs als Ausrede vorzuschützen. Das war es, was zog – schließlich hatte Thomas im Rahmen seiner ständigen Fortbildung (seine Firma lud ihn immer wieder zu Workshops ein) schon zahlreiche Termine absolviert. Das war es, und er konnte nichts dazu sagen. Solcherart beruhigt, gab sich Sabrina mit einer gewissen Inbrunst Perwonatschaljnow hin, nicht ohne vorher ein Verhüterli, wie sie es kindisch nannte, zu verlangen. Pjotr pflichtete ihr vordergründig bei – was sich dann abspielte, war das Gegenteil von infantil, es war arglistig, durchtrieben, man könnte es sogar als teuflisch bezeichnen (so nahm es jedenfalls Sabrina wahr).

Er war verärgert wegen des Präservativs und er zeigte ihr das deutlich. Deswegen kannte er keine Hemmungen, die paradoxesten Verrenkungen von ihr wie selbstverständlich zu verlangen, darunter die Figur 69, die symbolisieren soll, wie die Partner liegen, nämlich vice versa, und die Partner animieren sich gegenseitig mit dem Mund. Und dann war noch die berühmte Hündchenstellung – sie hatte diese bis jetzt immer als animalisch empfunden und strikt abgelehnt.

Perwonatschaljnow nahm überhaupt keine Rücksicht auf Sabrina, was eine völlig neuartige Erfahrung für sie war. Thomas hatte sie (außer in seinen Träumen) stets mit dem nötigen Respekt behandelt, und das bekam ihm per saldo schlecht: Sie langweilte sich à la longue mit ihm, und doch auch wieder nicht – sie hatte die Sicherheit mit ihm, und das war schon einiges wert. Wenn Pjotr nicht unversehens aufgetaucht wäre, wär‘ sie ohne weiteres zu Thomas nach Hause gegangen und nichts „dergleichen“ wäre passiert.

Pjotr peinigte Sabrina geradezu, und es schien ihr zu gefallen, sich bis in’s Letzte zu erschöpfen. Als sie total ausgelaugt war, zeigte auch ihr Liebhaber Wirkung – bevor er ebenfalls wegkippte, sagte er: „Du kannst ja hier bleiben! Oder du nimmst dir ein Taxi…“

Sie konnte der Versuchung kaum widerstehen und hierbleiben, aber dann siegte ihr Pflichtgefühl gegenüber Thomas. Nur nichts auf die Spitze treiben – jetzt glaubte er ihr noch das Problem mit der Abrechnung, jedoch wenn die Zeit zu weit fortschritt, würde es zu spät sein. Im Wagen, den sie sich herbestellte, überlegte sie schon, welche Horrorgeschichten sie ihm erzählen würde, so wie sie bei der Tür auftauchte. Sie baute sich so richtig auf – wie sich dann herausstellte, war er aber gar nicht zu Hause…

Thomas Reinthaler kam das sehr gelegen, andernfalls hätte er es Sabrina sagen müssen, aber so ging das völlig geräuschlos. Er suchte heute, wie’s der Zufall so wollte, Marenkovics Institut, die Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, auf – nein, nicht in die Privatordination im vornehmen Ersten Bezirk, das hätte er sich gar nicht leisten können. Er war ein gewöhnlicher Patient unter vielen, hatte lediglich auf diesem späten Termin bestanden. Seine Kollegen sollten davon auf keinen Fall etwas mitbekommen: das hätte ihm noch gefehlt.

Er wurde mit der jüngeren Psychotherapeutinnen abgespeist, die gleichzeitig die aktuellste Eroberung des Herrn Professors war (und sich im Übrigen, wenigstens was das Äußerliche betraf, durch nichts von Waldi unterschied). Was Thomas auf den ersten Blick auffiel, waren ihre exzellenten körperlichen Vorzüge, allein das zählte zu den Voraussetzungen Marenkovics, jedenfalls was Frauen betraf. Waldi war Vergangenheit und hatte längst einer Jüngeren Platz gemacht. Sonst konnte Reinthaler mit der Doris Dubois (kurz DD genannt) zunächst nichts anfangen, außer dass er das dringende Bedürfnis verspürte, sie zu vögeln – aber das war nicht unbedingt der Zweck seines Hierseins.

Sie machte es ihm leicht, die DD, zu leicht. Freiheraus und unumwunden gab sie ihm zu verstehen, dass es bei ihrer dritten oder vierten Séance durchaus zu einem intensiveren, und damit meinte sie handgreiflichen, Kontakt kommen könnte. „Mein derzeitiger Freund“ – sie verschwieg tunlichst, dass es sich dabei um den Professor handelte – „ist zwar grundhässlich (während Sie ein attraktiver Mann sind), aber das ändert nichts daran, dass ich ihn mag. Ich wäre hin und wieder gerne bereit für eine Ausnahme!“

Das gesagt habend, ging die Doktorin zum sozusagen mehr geschäftlichen Teil über: Name, Vorname, Beruf – sie stellte tausend Fragen, die nicht das Geringste mit dem angekündigten Event zu tun hatten. Dann das bedeutungsvolle Kernproblem: „Was fehlt Ihnen wirklich?“

Da hatte er keine fassliche Antwort, zumindest keine Entgegnung, die so einfach war. Er faselte etwas von „meine Frau kann mich nicht verstehen“, und wusste gleichzeitig, kaum dass er es ausgesprochen hatte, dass das so nicht stimmte. Er blickte die Dubois hilfesuchend an. Sie hingegen sah auf die Uhr – die Stunde war abgelaufen. „Das nächste Mal reden wir ausführlich darüber!“ Sie komplimentierte ihn hinaus – Marenkovic wartete.

Thomas strich seine Segel, total unbefriedigt und gereizt. Sollte er je wieder dorthin gehen oder gleich darauf pfeifen – er beschloss, das bis auf’s weitere offen zu lassen. Seine indignierte Stimmung wirkte auch auf das Wiedersehen mit Sabrina aus. Er schien augenblicklich in einer Gemütsverfassung, die konfliktträchtig war, und das ist noch milde ausgedrückt.

Er sagte, ohne dass ihn jemand gefragt hätte, ein Freund habe ihn im Beisel aufgehalten – „Den kennst du nicht, Sabrina, es handelt sich nämlich um einen Schulkollegen von mir. Das war lange vor deiner Zeit!“ „Warum musst du mir so aggressiv kommen!“ Sie hatte ihrerseits Dreck am Stecken, und was ist da wirkungsvoller als der streitbare Angriff.

Kapitel 4 – Vers 7

Ich hielt einen äußerst losen (und vorwiegend fachspezifischen) Kontakt zu Hamish Carmichael aufrecht, solange er in Großbritannien war – wir telefonierten zwei- oder dreimal pro Jahr. Nachdem allerdings die Tantiemen, mit denen er Fenella ausgestattet hatte, um ihr ein auskömmliches Leben zu sichern, auf ihn zurückgefallen waren, da wusste er indirekt, dass sie jetzt tot war. Da wusste er, dass es mit Vorsicht nicht getan war, und er beschloss, sämtliche Brücken hinter sich abzubrechen.

Das war mein Einsatz. Ich wusste gar nicht, wie ich zu der Ehre kam, aber er hatte mich dafür ausersehen: Aus Hamish Carmichael wurde Erich Mergenthaler, als neuen Standort wählte er Wien, so als ob er schon immer hier gelebt hätte. Und das ging so: Er fuhr von Glasgow nach London-Heathrow (noch als Hamish Carmichael) und von dort weiter nach Wien, wo er dank eines neuen Passes als Erich Mergenthaler einreiste. Es war wieder derselbe Dokumentenfälscher – der Beste von Schottland, wenn nicht vom ganzen Empire –, der ihm diesen Pass und sämtliche übrige Papiere hergestellte hatte. Er bezahlte ein Vermögen dafür, er allein konnte es sich leisten. Der Dokumentenfälscher wusste also zwangsläufig Bescheid, aber der hatte in demselben Moment, als er fertig wurde, die nötigen Unterlagen vernichtet.

Außerdem musste Hamish seinem Verleger die Meldung darüber abgeben, wo er die Tantiemen künftig überwiesen haben wollte. Zu diesem Zweck gründete er eine Stiftung (auf Englisch „Foundation“), auf die er künftig zugriff, und zwar anonym, ohne Namensnennung. Geld hatte er genug verdient, es würde schon reichen, ohne ständige Ergänzung – aber er hatte so oder so die Absicht zu arbeiten. Dabei kamen ihm die für einen Briten bemerkenswerten Sprachkenntnisse zupass, worunter nicht zuletzt auch das besonders schwierige Deutsch war. Er sprach es flüssig und ohne gröberen Fehler.

Hamish/Erich nahm sich eine bescheidene Wohnung in meiner Umgebung (an der Oberen Alten Donau) – nur nicht durch extremen Pflanz auffallen, war seine Devise. Wir sahen uns relativ oft, auch wegen der Nähe zueinander, und auch weil meine Geliebte zahlreiche gesellschaftliche Verpflichtungen hatte, auf die ich sie auf keinen Fall begleiten durfte. Darauf legte der Professor schon wert, und auf eine Reihe anderer Sachverhalte, über die später noch zu berichten sein wird. Aber Carmichael/ Mergenthaler war für mich per se eine ständige Quelle reichhaltiger Erfahrungen, die sich mit meinen Erlebnissen auf wunderbare Weise verknüpften. Wir waren beide weit gereist und mit wachen Augen durch die Welt gegangen – darauf kam’s vor allen Dingen an. Hingelümmelt saßen wir da und erzählten von unseren Abenteuern und wir vergaßen dabei die Zeit.

Erich begann, sich dessen ungeachtet zu fadisieren. Ich verschaffte ihm einen Posten bei APA – Austria Presse Agentur in der Laimgrubengasse im sechsten Wiener Gemeindebezirk. Der APA-Basisdienst, bei dem Mergenthaler einen Job fand, umfasst etwa 165 Redakteurinnen und Redakteure, die täglich circa 560 Meldungen produzieren. Das jährliche Meldungsaufkommen liegt bei mehr als 200.000 Nachrichten aus den Ressorts Außenpolitik, Innenpolitik, Wirtschaft, Chronik, Kultur, Wissenschaft, Bildung, Medien sowie Sport. Die APA liefert den österreichischen Medien (Tageszeitungen, Zeitschriften, Magazinen, Fernseh- und Radiosendern) die Basis für deren tägliche Berichterstattung – damit bildet die APA die Grundlage des heimischen Informationsflusses. Ihre Eigentümer sind 15 österreichische Tageszeitungen und der ORF, die gemeinsam die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der APA garantieren.

Dabei nützte Erich die Erfahrung mit der BBC sehr, bei der er eine große Nummer geschoben hatte. Und das bekamen die Kollegen und Kolleginnen ordentlich zu spüren – dabei war noch einmal die dunklere Seite seines Charakters angesprochen (die übrigens auch mir, jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt, noch verborgen blieb). Zu gut hatte er diese verborgen, man konnte sie auf den ersten Blick nicht erkennen.

Cora schneite zufälligerweise herein, als Mergenthaler gerade anwesend war. Ich versuchte instinktiv jeden Kontakt zwischen den beiden zu vermeiden – aus der unbestimmten Angst heraus, dass sich da mehr entwickeln drohte. Die Blicke, mit denen er sie verschlang, sprachen Bände. Ich verschloss die Augen nicht länger vor der Wahrheit, und die hieß Satyriasis, die Sexsucht.

Marenkovic, ihr Angetrauter, war mir herzlich egal, damit konnte ich leben – auch dass Cora (sie versicherte, dass es nur fallweise geschah, und das widerwillig) mit ihm schlief, kratzte mich nur wenig, zumindest offiziell. Wie’s in mir drinnen aussah, bleibe dahingestellt. Sicherlich war es komplizierter, als ich es vordergründig darstellte – insgeheim zerfraßen mich heftige Wallungen des Zorns gegenüber meinem Nebenbuhler, und manchmal konnte ich meine Affekte nicht mehr zurückhalten. Es gab unerfreuliche Tage, da überkam mich eine an sich sinnlose Zerstörungswut, schon gar als Cora in einem unbedachten Augenblick die beeindruckenden Dimensionen der Erektion des Professors, was mich – der mit einem normaleren Rüstzeug ausgestattet war – in meiner Mannesehre kränkte.

Aber zurück zu Erich. Er erzählte mir gelegentlich von seiner Begegnung mit Fenella Drummond, und dass sie vor allem einmal Hala Aziz Maliki geheißen hatte. Das war ein ziemliches Wagnis, denn sicher konnte er sich nie im Leben sein, ob ich nicht doch ein Angehöriger der „Brothers in Arms“ war. Er hatte mir von vorherein das Mittel geboten, dass er völlig, von Anfang an in meiner Hand war. Er hatte sich mir vollständig ausgeliefert – allein, was machte ich mit dieser Story. Einfach nicht das Geringste…

Mit der Zeit gaben Mergenthaler und ich uns nicht mehr mit den aufgewärmten Erinnerungen zufrieden. Etwas Neues musste her! Sexsüchtig hin oder her – wenn Erich sich nicht gerade Cora anlachte (was ich tunlichst verhinderte), war mir das herzlich egal. Er galt, zumindest was seinen früheren Ruf als Hamish Carmichael betraf, als ausgewiesen Routinier in Bezug auf internationale Beziehungen, nicht aber unbedingt in Wirtschaftsfragen: Da holte er sich Rat, zum Beispiel von mir, und ich habe ihm die Grundzüge der Hartwährungspolitik erläutert, lange bevor eine wissenschaftliche Verankerung dazu stattfand. Und er vertraute mir in diesen wie in anderen mit dem Thema Wirtschaft zusammenhängenden Problemen hundertprozentig – und das hat er auch in der Vergangenheit nicht bereut.

Wir überlegten genau, was zu tun sei. Als erstes war seine Reputation auch als Erich Mergenthaler wiederherzustellen, ohne dass er sein Geheimnis verriet. Dazu kam mir seine gegenwärtige Beschäftigung sehr zupass, die eine fast geräuschlose Akkordanz an die Materie bedeutete. Wenn er sich in kürzester Zeit einen Namen machte, war das darauf zurückzuführen, dass er auch bei der APA reüssierte, ganz unabhängig von seiner früheren Tätigkeit bei der BBC.

Ausgehend davon hatten wir die Russische Föderation im Auge – ein schonungsloser monumentaler Bericht über den Stand der Dinge in dem Riesenreich, das zwar geringere Ausmaße als vormals die Sowjetunion, sich jedoch noch immer über neun Zeitzonen erstreckt. Es war eine heikle Angelegenheit, rundheraus gesagt, die mit äußerstem Fingerspitzengefühl angegangen werden musste. Aber davon später…

Immerhin achtete ich sorgsam darauf, dass sich Mergenthaler und Cora nicht wiedersahen.

Kapitel 4 – Vers 8

Die Kriminalbeamten, die vor der Tür standen, mit einem Durchsuchungsbefehl, waren bei diesem Anlass in keinster Weise zimperlich. Wie sie Fabians Aufenthalt im Stadtpark so schnell herausgefunden hatten, war ein Rätsel – aber einerlei, nun standen sie da. Obwohl auf der Hand lag, dass Winfried Winkler mit dem eigentlichen Tatbestand nichts, bestenfalls am Rande etwas zu tun hatte, waren die Bullen außer Rand und Band – sie mischten sich mit Leidenschaft in das wesentlich interessantere Objekt, und das war Winkler zweifellos. Der Sachbuchautor beantwortete ihre unterschwelligen Unterstellungen damit, dass er seinen Anwalt und den Professor Marenkovic herholte, was beide umgehend und ohne Zögern taten (sie verdienten bis jetzt genug an ihm, der eine auf die eine Art und der andere auf die andere Art).

Winkler bestand auf einem DNA-Test, der nicht das Geringste ergab. Aber anders bei Fabian: Es lag auf der Hand, dass er mit Réka Hegedüs koitiert haben musste – wen kümmerte es, dass er mit ihr schon vorher in der Wohnung Sex gehabt hatte, und dass sich das völlig freiwillig abspielte. Es war egal, zu kriminalistischen Zwecken untersucht man die Tatortspuren (den unaussprechlichen Restriktionsfragmentlängenpolymorphis-mus), eine Methode zur Ermittlung des Genetischen Fingerabdrucks. Dabei werden Fragmente der Desoxyribonukleinsäure durch Restriktionsenzyme geschnitten und mithilfe einer Gelelektrophorese ihrer Länge nach geordnet, wodurch zwei verschiedene DNA-Proben miteinander verglichen werden können.

Wen interessierte es ferner, dass sich noch eine ganze Reihe anderer DNA-Spuren auf der Leiche befunden hatte – die Polizei überführte ihren Übeltäter, und das war’s dann. Sie nahmen ihn als den vermeintlich alleinigen Delinquenten mit. So ergab es sich, dass der am wenigsten angestellt hatte (indem er Réka als einziger nicht vergewaltigte), zum Handkuss kam. Fabian war als einziger übriggeblieben – die anderen verdünnisierten sich rechtzeitig.

Auf dem Wachzimmer mit der vornehmen Adresse „Stephansplatz“ hatte mittlerweile ein diskreter Beamter des Bundesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung Platz genommen, der die Vernehmung Fabians mitverfolgte, zumal bei ihm jede Menge rechtsradikales Material aufgefunden worden war. Das hätte die Gesetzeshüter an sich nicht gestört, anders als dies bei linksradikalen Unterlagen der Fall gewesen wäre, und nicht wenige von ihnen hatten ja selbst einen Rechtsdrall. Aber Noblesse oblige – sie jagten diesen Spuren pro forma nach, allerdings verfolgten sie die Tendenzen zur Abweichung nach rechts nicht wirklich und waren froh, wenn die Sache im Sand verlief. Was hier vordergründig auch zutraf – dieser grüne Junge, so bildeten sie sich wenigstens ein, wirkte wie ein Einzelkämpfer.

Fabian verriet nicht, dass eine Warteschlange anderer Komplizen Réka geschändet hatten, und zwar im Sinne von tatsächlich missbrauchen. Wem hätte das genützt, wenn die Bullen seine Beteiligung ohnehin bestätigt sahen – außerdem fürchtete er irgendwelche Repressalien, worin diese auch immer bestehen würden. Ihm kam erst richtig zu Bewusstsein, mit wem er sich da eingelassen hatte…

Da war der Anführer, genannt Capo, der überhaupt das große Wort führte, dann sein XO („Second-in-Command“), der ebenfalls viel sehen ließ – und herunter die ganze Hierarchie von Zuständigkeiten, permanent abnehmend bis zu Fabian. Der hatte gar nichts mehr zu sagen. Im Gegenteil, der musste das tun, was ihm der Rest der Runde vorschrieb. So verpflichteter er sich zu allem Möglichen (und Unmöglichen), bis seine einmalige Chance erkannte: Réka Hegedüs! Er bot sie ihnen an: Da stürzten sich die Kumpane (lauter Männer im Übrigen, aber das muss nicht erst besonders betont werden) über ihr Opfer, einer nach dem anderen, bis von ihr nichts mehr übrig schien – jedenfalls nichts Menschliches. Fabian stand schon vor ihrer Leiche. Das war ein Rudelbums, allein mit tödlichem Ausgang.

Zurück zum Verhör. Die Kriminalbeamten nahmen einfach nicht zur Kenntnis, was offensichtlich aussah wie eine Massenvergewaltigung. Sie hatten ihren Unhold. Er wurde ins Polizeigebäude Rossauer Lände im 9. Wiener Gemeindebezirk, dem sogenannten Alsergrund, gebracht – wofür sich der allseits anerkannte Spitzname „Liesl“ eingebürgert hatte (von „Elisabethpromenade“, bedingt durch die bis 1919 offizielle Adresse). Dort saß er bis auf weiteres ein.

Fabian war nicht wiederzuerkennen – so hatten ihn die Ereignisse der letzten Stunden getroffen. Er erwies sich als total paralysiert, und das hielt auch bis zur bevorstehenden Gerichtsverhandlung an. Er bekannte sich in allen Anklagepunkten freiwillig für schuldig – dem Verteidiger blieb die Spucke weg, der Staatsanwalt hatte dementsprechend ein leichtes Spiel. Angesichts seines jugendlichen Alters (er war, wie mittlerweile sattsam bekannt ist, 17 Jahre) und im Hinblick auf ein vollinhaltliches Geständnis kam er mit einer Jugendstrafe von sieben Jahren davon. Und wie wir wissen (aber sonst niemand) entsprach das ganz und gar nicht den Tatsachen.

Fabian wurde in die Justizanstalt Gerasdorf am Steinfeld in der Puchberger Straße eingeliefert, ?auf halben Weg zwischen Wiener Neustadt und Neunkirchen. Er hatte unterwegs eine eigene Technik entwickelt, um diese lange Periode zu überstehen, nämlich an nichts zu denken – dazu musste er nur in kurzen Abständen Luft holen und diese in weitläufigen Atemzügen wieder abstoßen:

…– – – – – – – –…
…– – – – – – –…
…– – – – – – – –…
…– – – – – – –…

Aber als er sich zunehmend akklimatisierte, machte er seine Matura nach – das Angebot gab’s dort immerhin. Er trieb auch eine Menge Sport, Volleyball zum Beispiel, er schwamm, wenn immer es sein Stundenplan zuließ, und zuletzt heuerte bei einer Modellbau-Gruppe an. Von diversen Outdoor-Gruppenaus-gängen wie Skaten, Wandern, Radfahren war er auf Grund der Schwere seines Vergehens ausgeschlossen, Museumsbesuche fielen in dieselbe Kategorie. Aber sonst ging ihm nichts ab – außer diese schrankenlose Freiheit, wenn er nachts wach lag und partout nicht einschlafen konnte.

Etwas entbehrte er plötzlich wieder: Richard Strauss’ „Capriccio”, „Die Entführung aus dem Serail” und die „Zauberflöte” von Mozart, selbst Wagners „Ring” erschien ihm als die Ultima Ratio des Hörenswerten. Daran war aber nicht zu denken – die Zimmergenossen hätten es nicht verstanden. Nichtsdestotrotz befiel ihn die Erinnerung an vergangene Kunstgenüsse schmerzhaft und mit ungeheurer Wucht. Das überstieg noch dieses Gefühl des Eingekerkertseins, dass nach langer Zeit, in der ihm die Musen nicht abgegangen waren, ihn ihre Wiederkehr ansprang, ungebändigt und radikal.

Fabian verriet nicht, was ihm Winfried Winkler während all dieser Jahre angetan hatte. Außerdem begann das schon früher, genauer gesagt mit Marianus Tulzer, damals noch nicht Monsignore und als einfacher Landpfarrer tätig – ihm kam zweifelsfrei die Hauptschuld zu, nämlich einen geradlinigen Schüler in einen fanatischen Freak zu verwandeln. Winkler versuchte demgegenüber zumindest, bei all dem körperlichen Interesse, auch das Schöne in Fabian zu wecken, und das war auch eine ziemliche Phase gut gegangen. Erst mit zunehmender Pubertät ergab sich eine Entfremdung – ein schlechtes Gewissen auf Seiten des Jüngeren immer vorausgesetzt, allein das würde er nie zugeben.

Er war Winfried im Grunde seiner Seele ewig dankbar für das, was er für ihn getan hatte. Er hat’s ja bis zu einem gewissen Grade freiwillig getan, aber was bedeutet schon Freiwilligkeit in diesem Zusammenhang. Insofern ist es relevant, wenn ein Vierzehnjähriger oder wenn ein Sechzehnjähriger das sagt – oder sind das bloße Spitzfindigkeiten…

Jedenfalls musste Winkler bei dem Verfahren nicht aussagen, kräftig unterstützt durch seinen Anwalt und durch Professor Marenkovic. Letzterer führte insbesondere in’s Treffen, dass sein Patient derzeit eine komplizierte Behandlung durchmachte und auf keinen Fall gestört werden dürfe.

Kapitel 4 – Vers 9

Pamela Salvaris, die Hotelbesitzerin, ging, unabhängig vom Stand der polizeilichen Ermittlungen, selbst den Vorgängen mit Fenella und dem Unbekannten nach. Als erstes bekam der „Nightman“ sein Fett ab – er wurde auf der Stelle entlassen. Ein Nachtwächter, der schläft, geht fast gar nicht: Zudem hatte er nicht das Geringste zu sagen, was das Geschehen an sich anbelangte.

Da hatte sich die Salvaris einiges vorgenommen: Leicht schien es, die Verbindungen nachzuvollziehen, mit denen Fenella Drummond hergekommen war – da musste sie nur die Flugpläne im Internet studieren. Von Glasgow flog sie mit British Airways nach London-Heathrow, von dort mittels Aegean Airways nach Athen und weiter mit Cyprus Airways nach Rhodos. So weit, so gut – aber davor? Da tappte Pamela völlig im Dunkeln und schon gar, was die fremde Person betraf. Sie unterzog sich, wie üblich, ihren alltäglichen Pflichten in gewohnter professioneller Weise, allein es ließ ihr keine Ruhe, der Sache auf den Grund zu gehen.

Dann – als sie weiter auf der Stelle trat – blieb ihr nichts anderes übrig und sie ging auf das Polizeihauptquartier in der Ethelonton Dodekanission Street 43, um genaueres zu erfahren. Die Obrigkeiten waren äußerst zugeknöpft, so als ob Pamela etwas ausgefressen hatte. Das beruhte durchaus auf Gegenseitigkeit, insofern auch sie den Behörden misstraute – ein altgehegtes, aus der unseligen Periode der Militärdiktatur herrührendes Ressentiment. Immerhin verrieten ihr die Beamten, dass in ihrer Dienststelle schon geraume Zeit ein Fahndungsaufruf hing: Gegenstand Panajotis Papadakis alias Hussein Ridwan – ein besonders eifriger Kollege hatte hinzugefügt „Wächter des Paradieses“. Sonst war, abgesehen von einem verwaschenen Foto, nichts bekannt, außer dass seine Leiche aufgetaucht war, die ihn zweifellos als Moslem identifizierte.

Zweifellos dünkte die Ähnlichkeit unverkennbar, aber ganz klar schien die Geschichte doch nicht zu sein. So oder so – das bleib das einzige, was jemals über Panajotis herauszubringen war. Übrigens: Was die Bullen über Fenella spitzbekamen, war noch nicht einmal das, was die Flugpläne ergeben hatten. Der Lokalaugenschein, was ihre Habseligkeiten im Auto betraf, ergab nichts Aufschlussreiches.

Pamela zog unbefriedigt von dannen. Ein Kriminalbeamter folgte ihr unauffällig, aber nicht unauffällig genug, um von ihr nicht bemerkt zu werden. Sie stellte ihn zur Rede, was in Griechenland üblicherweise gleich ein Schreiduell auslöst – mit der entsprechenden Publizität, was dem Polypen ziemlich unangenehm war, denn er verzog sich rasch. Aufgeladen kehrte die Salvaris ins Hotel zurück, wo sie sofort mit den bekannten Albernheiten wie zum Beispiel Beschwerden bezüglich des Zimmers konfrontiert wurde. Normalerweise kümmerte sie sich rührend um jedes kleinste und unbedeutendste Detail mit großer Akribie, aber in ihrem aufgewühlten Zustand konnte es schon vorkommen, dass sie sich vergaß. Wie eben jetzt…

Der Leichenbeschauer war diskret mit den Toten umgegangen, will sagen er hatte diese über einen Hinterausgang hinausbefördert und ins Krankenhaus verfrachtet, wo die obligatorische Obduktion vorgenommen wurde. Dann ergaben sich Kompetenzschwierigkeiten: Die Spitalsverwaltung weigerte sich, die Körper der Toten weiter zu betreuen – die Polizei weigerte sich, die Leichen zurückzunehmen und in jenes Gebäude auf dem Friedhof zu befördern, in dem die Särge bis zur Beerdigung aufgebahrt wurden. Bis dann die Salvaris – total genervt – mittels Fakelaki (einer bestimmten Form des Obolós) die Sache bereinigte.

Es blieb an der islamischen Gemeinde hängen, das Grab für Hussein Ridwan bereitzustellen. Warum gab es überhaupt auf Rhodos und den umliegenden Inseln noch eine muslimische Diaspora, nachdem als Folge des Griechisch-Türkischen Krieges (1919 bis 1922), der mit einer griechischen Niederlage endete, in Form von Zwangsumsiedlungen 1,25 Millionen Griechen und 500.000 Türken betroffen waren? Das hatte mit dem faschistischen Imperialismus zu tun, konkret mit der Vorherrschaft im Mittelmeerraum – der Traum von Benito Mussolini, der zum Greifen nah erschien, ein „Mare Nostro“ zu kreieren. Dies bedeutete das erste – frühe – Opfer dieser Politik, Libyen und Abessinien folgten in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts nach.

Im Vertrag von Lausanne vom 24. Juli 1923 wurde der Dodekanes italienischer Besitz. Die Bürger erhielten eine besondere italienische Staatsbürgerschaft, ohne die Rechte italienischer Staatsbürger und ohne Recht auf die Wahl von Repräsentanten. In der Periode des Faschismus wurde der Zuzug von Italienern auf die Inseln gefördert – Italienisch wurde zur Pflichtsprache erklärt. Noch heute, speziell bei den ganz Alten, gibt es Leute, die in der Schule Italienisch lernen mussten, und zwar betraf das Griechen und Türken gleichermaßen.

Im Zweiten Weltkrieg trat Italien den Achsenmächten bei, als es jedoch kapitulierte, wurden die Dodekanes vom nationalsozialistischen Deutschland besetzt. Nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands 1945 kam die Inselgruppe unter eine britische Übergangsverwaltung – 1947 wurde sie dann endgültig an das Königreich Griechenland abgetreten. Und mit ihr das restliche Häufchen Türken…

Bezüglich Fenella Drummond als „Her Majesty’s Subject“ war man sich ebenfalls sicher – ihre Papiere wiesen sie als Mitglied der Scottish Episcopal Church aus. Von ihrer wahren Herkunft wusste man nichts, respektive Pamela wusste nichts, insbesondere von deren vormaliger Existenz als Hala Aziz Maliki. Als Angehörige der schottischen Kirchengemeinschaft wurde sie beerdigt – außer dem üblichen Bestattungspersonal hatte ihr nur die Salvaris die letzte Ehre gegeben.

Pamela war total unrund. Es ließ ihr keine Ruhe und so reiste fort, mitten in der Saison, völlig ungeplant. Die bisherige Bleibe, der sie ihre ganze Aufmerksamkeit gewidmet hatte, interessierte sie plötzlich nicht mehr. Sie musste nach Glasgow, wo sie auf dem dortigen Flughafen die Spur von Fenella aufnehmen wollte. Dazu stieg sie im „Campanile“ ab, einem Drei-Sterne-Hotel, das in der Tunnel Street und damit am pulsierenden West End der Stadt (mit Buchanan Street, Princes Square und Braehead Shopping Centre in nächster Nähe) lag.

Als erstes gab Pamela in Google ein: Fenella Drummond – und siehe da, es ergab sich nur ein Treffer: die Geburtsurkunde. Und ein Hinweis, dass das Baby nach kurzer, schwerer Krankheit verstorben war – ein geschickter Dokumentenfälscher musste die Verewigte nur wiederbeleben. Das machte die Salvaris stutzig, was sage ich: sie war geradezu alarmiert.

Sie wandte sich an die Polizei, in der Hoffnung, dass diese sich annehmbarer benehmen würde als in ihrem Heimatland. Aber nichts davon entsprach den Tatsachen: Bullen sind überall gleich, und Detective Chief Inspector Urquhart und Detective Sergeant MacAlister, an die Pamela geriet, waren da keine Ausnahme. Sie behandelten sie ausgesprochen rücksichtslos und rüde, man könnte es direkt als pöbelhaft bezeichnen, wobei ihre persönlichen Querelen, die hier überhaupt fehl am Platz waren, hineinspielten.

Immerhin verrieten sie das, was sie als den spektakulärsten Vorfall in ihrer bisherigen Karriere bezeichneten: Ein Einbruch in einem Landhaus, bei dem nicht das Mindeste weggekommen war – offensichtlich ein Racheakt mit teilweise tödlichen Ausgang!

Hamish Carmichael hatte als einziger überlebt, mit viel Glück muss man sagen. Er war aber inzwischen spurlos verschwunden. Eine neuerliche Befragung machte offenbar, dass Davina und Alastair Carmichael in ihrer kommunikativen Art bei einem befreundeten Nachbarehepaar gesprächsweise den Namen Fenella Drummond erwähnt hätten, mit dem Zusatz, sie würden gern eine dauerhafte Verbindung zwischen den beiden sehen. Aber Fenella tauchte rechtzeitig unter.

Pamela wusste genug. Das Übrige konnte sie sich zusammenreimen und sie kehrte nach Hause zurück. Allein – es waren mehr Fragen als Antworten offen…