R2 1
Johannes Themelis
NOSTRANIMA
Über Abenteuer, Erotik, Weisheit und Utopie
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WER VIELES BRINGT,
WIRD MANCHEM ETWAS BRINGEN
Aus dem Musical
„Rock me, Doctor Faustus?,
ursprünglich Goethe zugeschrieben
WOZU WEGFAHREN,
WENN DIE ACTION NACH HAUSE KOMMT
Werbeeinschaltung
einer kommerziellen TV-Station
MAN SCHREIBT,
WEIL MAN KRANK IST
Cesare Garboli,
Romanfigur
1. TEIL
DER ORDEN DER ORANGENBLÜTE
UND DESSEN MÄCHTIGE FEINDE
101
Gerade noch rechtzeitig. Jetzt schnell den Einschaltknopf der Fernbedienung. Meine Damen und Herren, in unserem Hauptabendprogramm zeigen wir Ihnen den Neo-Verismo-Spielfilm „Ralph & Hardy & Brigitte & der Unbekannte“. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Fernsehabend.
Es ist Nacht, es ist kalt und es regnet. Er schleppt seine übergewichtigen 54 Jahre den Berg hinauf. Zu seinem Glück ist wenigstens der Weg in einem einigermaßen erträglichen Zustand.
Unvermittelt steht er nach einer Wegbiegung vor dem burgähnlichen Gebäude oder der schlossähnlichen Burg, wie immer man das sehen will, sofern man in dieser Dunkelheit überhaupt viel erkennen kann. Denken Sie jetzt eher nicht an Kafka, auch wenn sich Ihnen diese Assoziation aufdrängt, denn bis auf einige entfernte und eher oberflächliche Parallelen hat dieser Bericht wenig mit jenem Roman zu tun.
Dann steht er vor dem Komplex auf einem offenbar weiträumigen Platz, dessen Grenzen sich allerdings in der nächtlich-feuchten Schwärze verlieren. Er weiß eigentlich nicht, wie er sich hier zurechtgefunden hat – Instinkt ist es wohl weniger, vielleicht ein undefinierbares Wissen, besser gesagt Ahnen. An eine jener Déjà-vu-Situationen glaubt er eher nicht. Nicht schockartige Erkenntnis, irgendwo schon einmal (in einem früheren Leben?) gewesen zu sein, empfindet er, sondern das tastende Eindringen in einen schon bekannten, aber lange nicht besuchten Raum.
DER GROSSE REGISSEUR:
Also ich weiß nicht – so altmodisch Spannung aufzubauen, da kann ich nichts daran finden.
AUS DEM HINTERGRUND DES SETS:
Ruhe! Lass sie weitererzählen!
Jetzt ist jedenfalls klar, warum er trotz extremer Dunkelheit eine gewisse optische Wahrnehmung hat. Es handelt sich um einen filmtechnischen Kniff, den man „American Night“ nennt: Aufnahme bei Tag mit äußerst starker Abblendung und durch einen Rauchfilter.
DER GROSSE REGISSEUR:
Also jetzt ist es wirklich genug – gehen wir das ganz anders an!
AUS DEM HINTERGRUND DES SETS:
Zum letzten Mal: Ruhe! Lass sie doch ungestört erzählen!
Mir bleibt offenbar wirklich nichts anderes übrig als aus meiner Erzählung herauszutreten und Folgendes zu erklären: Das wagst du nur, weil ich eine Frau bin und weil in unserer Branche die Drehbuchautorin und jedes andere weibliche Wesen nur Freiwild für euch Mogule ist (ähnlich dem seelenlosen Geschlecht des Islam, selbst im Paradies nur dazu da, den Männern als Haura zu dienen). Alles was euch noch interessiert, ist ein Blow-job, aber was hätte ich davon? Nur vor den alten Pharoah Sanders würde ich mich gerne hinknien, während er mit seinem magischen Saxophon „Kazuko“ spielt (10’15”, also Zeit genug), wobei mir allein schon seine Töne einen Schauer nach dem anderen über den Rücken jagen, aber mehr noch: er duftet wie ein Märchenprinz, und sein Samen hat den sprichwörtlichen Geschmack von Milch und Honig. Jedenfalls: wenn ich zu Geld komme, drehe ich meinen eigenen Film.
AUS DEM HINTERGRUND DES SETS:
Genug philosophiert! Wie geht’s weiter?
Also: an ihrem 21. Geburtstag verkaufte sich Brigitte, juristisch ausgedrückt, im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte an zwei Typen, die sie im Café kennengelernt hatte, Ralph und Hardy, der eine groß und schlank, der andere klein und dick, beide mit vollen Brieftaschen. Sie blätterten 100.000 $ hin, und von da an gehörte Brigitte für ein Jahr ihnen. Sie durfte noch zu Hause ein paar Sachen abholen, und nachdem sie das Geld in ihrem Safe und den Schlüssel dazu an einem sicheren Ort deponiert hatte, begleitete sie ihre nunmehrigen Besitzer zu deren einsamer Villa, die am Rand der Milchstraße zu liegen schien, inmitten eines großen Parks. Hinter dem Auto schloss sich das doppelflügelige Garagentor mit einem lauten Knacken, das auch in Brigitte etwas einrasten ließ. In der Halle musste sie vor Ralph und Hardy ihre Kleider ablegen. Dass die beiden sie dabei mit nahezu klinischer Unpersönlichkeit betrachteten, fiel ihr gar nicht so richtig auf, da sie sich voll darauf konzentrierte, was sie nach Ablauf der gesetzten Frist mit jener schönen Summe zu tun beabsichtigte (möglicherweise ein bahnbrechendes künstlerisches Experiment veranstalten).
AUS DEM HINTERGRUND DES SETS:
Aber das ist ja eine ganz andere Geschichte!
Das fällt dir erst jetzt auf, nachdem du dich schon eine ganze Weile daran begeilt hast! Nein, Freunde, es ist dieselbe Geschichte!
Als derjenige nämlich, von dem vorhin die Rede war, aus der nasskalten Nacht in das Gebäude tritt, fällt sein erster Blick auf einen riesigen Kamin, der die Eingangshalle matt erleuchtet. Und dann sieht er neben dem Feuer diese nackte Frau, sitzend, den Kopf gesenkt, geradeso als ob sie tot wäre. Sie hat aber nur geschlafen (Brigitte musste in vielen Nächten, die sie hier verbrachte, lernen, auf diese Weise auszuruhen) und schreckt auf, als sie ihn die Tür schließen hört.
DER GROSSE REGISSEUR:
Da seht ihr, was sie für eine ist – gibt sich uns gegenüber zickig, und dann erzählt sie so merkwürdige Dinge!
Aber dich gruselt doch auch nicht, wenn du irgendwelche politisch-ökonomischen Scheußlichkeiten hörst, zum Beispiel was unser Typ (der nämliche, der gerade eingetreten ist) Brigitte über den JPY erzählt. Nun stellt sich heraus, dass er von Beruf Finanzberater ist und dass ihn sein Boss zu einem exaltierten Kunden geschickt hat, der in einer riesigen Villa am Ende der Welt haust, sodass der Besucher diese erst nach langem Herumirren finden konnte, als es schon Nacht war und zu regnen begonnen hatte und er seinen Weg zu Fuß fortsetzen musste, weil ihm das Benzin ausgegangen war. Nach allem, was er in dieser Firma bereits erlebt hat, wundert es ihn auch nicht, wenn sich der bewusste Klient offenbar als Frau entpuppt, der es zu gefallen scheint, ihn ohne einen Fetzen am Leib zu empfangen.
Ohne mit der Wimper zu zucken (denn über die Spleens reicher Leute muss man als Finanzberater einfach hinwegsehen, als ob sie gar nicht da wären), beginnt er also übergangslos, über den JPY zu reden, denn das war ihm aufgetragen worden. Und eigentlich glaubt er ja selbst nicht, was er da plaudert, aber er weiß, die Klienten, besonders die verdrehten, wollen eine Geschichte hören, denn einfach nur eine Kauforder zu geben, ist ihnen viel zu langweilig. Was wir in Japan erleben, ist die Krise des Patriarchats, erzählt er Brigitte, die ihm mit runden Augen, aber ohne jede Zwischenbemerkung zuhört. Man könnte fast fragen, übt er sich in Rhetorik, warum nicht gleich eine Krise der Kommandogesellschaft schlechthin? Aber das Volk hat an der Freiheit genascht, nachdem es mit dem esoterisch angehauchten Altruismus nichts geworden ist: nachdem die Religionen samt und sonders den von Gott oder von weiß welchem höheren Wesen losgelassenen Geist der Barmherzigkeit wieder zurück in die Flasche der Macht bugsiert haben.
DER GROSSE REGISSEUR:
Aber das ist doch alles Schwachsinn! Da weiß jemand nicht, was eine richtige Story ist!
AUS DEM HINTERGRUND DES SETS:
Schnauze, Mann! Immer quatscht er drein, wenn’s gerade interessant wird!
Na ja, er hat vielleicht nicht unrecht. Vielleicht also ist unser Besucher eine Art Missionar, der durch Kälte und Regen und Finsternis zieht, um arme Seelen zu retten. Um das nur richtig anzugehen, hat er zunächst Stellung bezogen zu dem, was ihm selbst als Religion vorgesetzt worden ist. Dabei ist er unter Umständen draufgekommen, dass Petrus, wie man beim Lesen des Neuen Testaments leicht feststellen kann, nicht wirklich alarmiert war, aber ein wenig unheimlich erschien ihm dieser Paulus schon. Wenn also die Kirche (die eine, heilige, katholische und apostolische) sie beide zu einem gemeinsamen Festtag zusammengespannt hat, zeigt dies für den Primus inter pares der Jünger nichts anderes, als dass die in Rom gar nichts verstanden haben oder – man zögert fast, es auszusprechen: dass sie eine bewusste Umdeutung vornehmen wollten (ähnlich wie Stalin mit dem Marxismus-Leninismus verfahren ist). Dann nämlich wäre dieses bekannte abendländische Glaubensbekenntnis gar kein Christentum im Sinn des reinen und unverfälschten Jesuismus-Petrismus, son¬dern ein Kuckucksei römischer Patrizier: der Paulismus, der mit dem Mann aus Nazareth gar nicht viel zu tun hat. Wie Schuppen fiel es ihm an dieser Stelle seiner Überlegungen von den Augen – die reine Lehre hätte doch wohl gar nicht als Staatsreligion des Imperiums getaugt. Denn: in hoc signo vinces, das soll die Ideologie dessen sein, der sogar die dumm-dreisten, aber an sich harmlosen Geldwechsler aus dem Tempel vertrieben hat?
In diesem Bewusstsein, die wahren Zusammenhänge zu kennen, geht unser Mann von Tür zu Tür, auch zur entlegensten, gleichgültig, was er hinter dieser vorfindet.
AUS DEM HINTERGRUND DES SETS:
(grölend) Die nackte Brigitte!
Aber einerlei, auch wenn der Besucher ein Prediger ist, hat er sich daran gewöhnt, sich nicht an den Gepflogenheiten seiner Adressaten zu stoßen (anders als jene Kirchenmänner, die Abartigkeit nur tolerieren, wenn sie reich ist). Wissen Sie, sagt er zur nackten Brigitte, wie schön es ist, niemals allein zu sein? Ich versichere Ihnen, ich bin nie allein: Jesus ist immer bei mir, und er versteht mich allentwegen, auch hier und jetzt, denn auch er hat vornehmlich die verschlungenen Pfade beschritten, denn dort fand er sein eigentliches Publikum.
Anders als beim Besucher als Finanzberater lässt Brigitte sich zu einer Bemerkung herab: schließlich haben Ralph und Hardy (ich weiß im Moment gar nicht, wer von denen der große Schlanke und wer der kleine Dicke ist) ihr aufgetragen, sich auch in ihrer spezifischen Situation ganz natürlich zu geben. Anders als sie bei der Abgabe ihrer Kleider zunächst vermutet hatte, wollten die beiden vorerst nichts weiter von ihr. Es geht uns nicht um den sofortigen Vollzug, hatte ihr Ralph eingeschärft – sondern um deine jederzeitige Bereitschaft dazu, hatte Hardy ergänzt, und bei diesen Worten war sie ganz kribbelig geworden.
Für einen Verkünder der Wahrheit und einen Propheten dessen, der auf dem Weg zu seinem größten irdischen Triumph seiner Kleider beraubt worden ist, haben sie aber viel an, sagt sie möglichst unbefangen. Sie kann wohl annehmen, dass ihre beiden Besitzer (die seit Brigittes Eintreffen nicht mehr in Erscheinung getreten waren – alles was sie brauchte, außer etwas zum Anziehen, fand sie täglich wie von Geisterhand bereitet vor) sich nicht zurückgezogen hatten, um zu lesen oder sich das Fernsehprogramm reinzuziehen, sondern um sie – und allfällige Besucher – aus dem Verborgenen zu beobachten. Und so, überlegt sie, ist es nur recht und billig, ihnen für jene Riesensumme wenigstens kleine Vergnügungen zu bereiten.
Ihm, der da gekommen ist und von dem wir noch nicht wissen können, ob er der eigentliche Held dieser Geschichte ist, wird plötzlich bewusst, dass er sein eigenes Inneres betreten hat mit all seiner psychischen Geographie: den bizarren Gipfeln, den versteckten Tälern, den in der Sonne glänzenden Seen, den düsteren Wäldern, den Ansiedlungen, in denen die Eruptionen der Moderne stattfinden, losgelöst von der physischen Natur, die noch tief verwurzelt ist in einem archetypischen unterirdischen Mycel…
Aber ich vermisse seit geraumer Zeit jegliche Zwischenrufe aus der Kulisse! Habt ihr vielleicht doch schon begonnen, eine Finanzierung zur Verfilmung dieser Story zu überlegen oder darf ich euch schon beim drehbuchartigen Verfassen einiger zentraler Stellen oder beim geistigen Ausleuchten der Szenerie oder bei der theoretischen Auseinandersetzung damit vermuten, ob das Arbeiten mit schnell wechselnden Totalen aus den verschiedenen Blickwinkeln die adäquate Vorgangsweise wäre?
DER GROSSE REGISSEUR:
Nun mal langsam, mach dir noch keinerlei Hoffnungen, dass du uns schon rumgekriegt hast – ohne jede persönliche Gegenleistung!
AUS DEM HINTERGRUND DES SETS:
Ja genau – vor allem aber erzähl weiter!
Dem Besucher wird also klar, dass er in diesem traumähnlichen Zustand, wenn er direkt gefragt wird, nicht antworten kann, aber auch nicht antworten muss. Die Wanderung durch sich selbst macht ohnedies etwas schwindlig. Auf die Anregung hin, sich ebenfalls auszuziehen, reagiert er (jetzt als Missionar) nicht, und ob er es als Finanzberater getan hätte, lässt sich nicht sagen.
DER GROSSE REGISSEUR:
Wen könnten wir eigentlich für die Rolle der Brigitte engagieren? Hast du jemanden im Auge?
Warum du ausgerechnet das fragst, ist mir schon klar – freust dich schon auf die Besetzungsgespräche auf der Couch. Sachlich gesehen, kann ich dir noch keine Namen nennen. Wer weiß, wann diese Idee einmal realisiert wird. Sollte jemand das fertige Produkt erst zu Gesicht bekommen, wenn zum Beispiel Pam Anderson oder Niki Kidman bereits alte Omas sind, würde er sich zurecht fragen, wie man ihnen seinerzeit eine solche Rolle anbieten konnte.
AUS DEM HINTERGRUND DES SETS:
Wie wär’s mit Kelly Brook, die kann man wenigstens auch sprechen lassen und nicht nur herzeigen?
DER GROSSE REGISSEUR:
Phantastische Idee! Mit ihrer Rolle als Table Dancer im Theaterstück „Eye Contact“ hat sie jedenfalls energisch ihr Fach definiert!
Jetzt muss ich einmal bremsen, wiewohl es mich freut, dass ihr euch schon mit den Details von Kellys lasziven Bewegungen an der Tanzstange beschäftigt, denn da hört ihr erfahrungsgemäß im Geist bereits die Kassen klingeln, und neben der Bedienung eurer werten körperlichen Ansprüche ist damit die wichtigste konkrete Motivation gegeben. Daher noch einige Hinweise zur weiteren Unterstützung dieses Trends.
Also – ausziehen wird sich der Besucher wie gesagt nicht, nicht wie wir ihn bis jetzt kennengelernt haben. Aber er könnte ja noch anders daherkommen. Es könnte zum Beispiel Ralph (dem großen Schlanken) und Hardy (dem kleinen Dicken) eingefallen sein, für ihre Neuerwerbung Brigitte einen Arzt zu bestellen, der sie näher in Augenschein nehmen soll (in ihrem Zustand nicht sehr schwierig!), und das wäre dann unser Besucher.
Wie wir ihn bis jetzt kennengelernt haben, dürfte er allerdings die Erwartungen der beiden Voyeure nicht erfüllen. Konkret: er setzt sich neben seine Patientin, sieht ihr gerade in die Augen, sagt nicht „Machen Sie sich frei!“ (das kann er sich hier jedenfalls sparen), sondern „Zeigen Sie Ihre Zunge!“ Seine Diagnose lautet auf leichte Erkältung – sie sollte sich in dieser Jahreszeit etwas mehr überziehen. Einfach so – sie kommt gar nicht dazu, sich ihm näher zu erklären, egal in welche Richtung –, und dann schreibt er noch ein Rezept, schließt seine Tasche und wendet sich zum Gehen.
Lassen wir ihn schließlich als Hauslehrer wiederkehren, dem man avisiert hat, dass hier jemand (er weiß gar nicht, ob männlich oder weiblich, nur dass die Person die letzte Klasse des Gymnasiums besucht) Förderstunden in Latein benötigt, und zwar vor allem Hilfe beim Liebeslyriker Ovid, der immer die Hälfte verschluckt hat von seinen Sätzen. Ihm war’s ja klar, was er meinte, und seinen Zeitgenossen offenbar auch. Unser Mann versucht es mit Eifer, nicht achtend, dass seine Schülerin (Brigitte kann äußerlich schon noch dafür gelten, denn allzu weit entfernt ist sie nicht vom vorgetäuschten Alter) nichts an hat: so simpel formuliert er es insgeheim bei sich, obwohl sich da zweifellos etwas regt in seiner Hose. Als Brigitte bei einer einschlägigen Ovid-Stelle genau dorthin fasst – sie fühlt sich jedenfalls immer mehr verpflichtet, etwas für ihr Geld zu tun, und unsympathisch ist ihr dieser Typ ja nicht – lässt er es sich ruhig gefallen, spricht aber weiter seinen Text.
Ich für meinen Teil, um wieder einmal aus der Erzählung herauszutreten, fühle mich zwar nicht verpflichtet, eure einschlägigen Bedürfnisse zu befriedigen –
DER GROSSE REGISSEUR:
Aaaaaber?
AUS DEM HINTERGRUND DES SETS:
Jaaaaah – ?
– lieber ist mir diese Verbalerotik jedenfalls, als euch an mich selbst heranzulassen. Bleibt freilich die Frage, warum es immer wieder möglich ist in allen Formen der Kunst, dass Frauen nackt vor bekleideten Männern stehen: Objekte, Projektionen von Wünschen jenseits ihres eigenen Wunsches nach gleichen Anforderungen oder sogar nach einer Umkehrung der bestehenden Verhältnisse.
DER GROSSE REGISSEUR:
Aber da hat sich doch ohnehin sehr viel geändert. Wir jedenfalls wollen dem Publikum auch nackte Männer bieten.
AUS DEM HINTERGRUND DES SETS:
Leider macht uns immer wieder die Zensur einen Strich durch die Rechnung und wir müssen kräftig schneiden (dort wo’s besonders weh tut) – oder wir lassen uns als Macher von B-Movies abstempeln, und du weißt, das ganz große Geld bringt das nicht. An das kommst du nur ran, wenn du die berühmtesten Stars erreichbar machst für die feuchten Phantasien des Durchschnittsbürgers, ihnen selbst aber vorgaukelst, sie im Sinne einer künstlerischen Idee zu entkleiden.
Worüber reden wir hier eigentlich die ganze Zeit, meine Herren? Über den Mann an sich? Oder über den Seelentrip dessen, der in dieses Gebäude gekommen ist, zunächst unwissend, dann ahnend und schließlich in voller Klarheit, dass es sich um sein Eigenstes handelt, und: wenn man ohne thematische Beschränkung oder Tabuisierung durch das oberste Ich in seinem Unterbewusstsein spazieren geht, dann begegnet man eben nicht wenigen Kuriositäten, sogar Monstrositäten, mindestens Absurditäten. Wenn also jemand glaubt, was er hier dauernd sieht –
AUS DEM HINTERGRUND DES SETS:
(grölend) Die nackte Brigitte!
Genau: wenn jemand glaubt, die Brigitte, wie sie hier gezeigt wird, sei ein manierierter Drehbuch-Gag, dann sei ihm der ambivalente Zustand des Besuchers vor Augen geführt, der uns nach außen hin beherrscht, zivilisiert, gebildet, vielleicht sogar ein wenig teddybärenhaft erscheint, nach innen hin aber sieht er nichts als nackte Weiber.
DER GROSSE REGISSEUR:
(mit einem Mal ganz sachlich und distanziert) Ist schon klar, Darling – aber Brigitte, die wohl ahnt, wohin sie da auf der sprachlichen Meta-Ebene geraten ist, wie entscheidet sie sich? Wenn sie das, was ihr hier geschehen ist, jedenfalls akzeptiert – lässt sie es dann auch in sich selbst zu?
102
Ich denke, ich sollte selbst beschreiben, wie das alles gekommen ist. Ich hoffe, es ist der Leserin oder dem Leser bewusst, dass ich ihr oder ihm alles Mögliche vorflunkern könnte, denn bis dato weiß sie oder er ja nicht mehr, als dass ich in meinem schon etwas vorgerückten Leben eines Tages plötzlich in jenes Gebäude verschlagen wurde mit dem Auftrag (oder dem Wunsch, genau weiß ich das auch nicht), mich selbst zu finden. Ich hoffe also, die Leserin oder der Leser werden es mir hoch anrechnen, wenn ich hier nicht phantasiere, sondern einfach die Wahrheit sage.
Die Wahrheit ist, dass ich, als ich etwa zwanzig war, ein Rendezvous mit der Komtesse von B. hatte, und ich sage euch zunächst nur soviel, Leute – sie war schön wie eine Madonna: mit ihrem leicht ins Kupferne gehenden Haar, dem makellos blassen Teint, der schlanken, von Edelsportarten trainierten Gestalt – ach was, ich komme ins Schwärmen, aber man muss akzeptieren, dass sie dahin ist, und das schon seit langem. Aber ich wollte den Anfang erzählen und nicht das Ende.
Ich war als Kind einfacher Leute fürchterlich gehemmt angesichts der aristokratischen Erscheinung der Komtesse, und obwohl sie genug tat (in allen Ehren selbstverständlich: bewunderte meine Gedichte, bat mich um Hilfe bei unserer gemeinsamen Studienrichtung) wagte ich mich doch nicht vorwärts. Ich weiß gar nicht, wie ich diesen Zustand beschreiben soll, zumal nach jenem hellen Moment, in dem ich begriff, dass es ihr genauso ging wie mir, nur mit geändertem Vorzeichen. Es waren keineswegs die Klassenschranken (nennen wir es immerhin so), aber dennoch ein – wie ich plötzlich wusste: beiderseitiges – Gefühl der strukturellen Unerfüllbarkeit.
Frauen (selbst adeligen Standes) sind initiativer. Entgegen ihrem Kodex der Dinge, die sich nicht ziemten, legte die Komtesse ihre Hand auf meinen Arm, und anders als beim distanzierten Händeschütteln durchfuhr mich der Blitz der Erkenntnis.
BRIGITTE:
Später hat’s dann ja noch öfter geblitzt. Das wurde geradezu eine Gewitterinvasion bei dir. Ich frage mich, wie sie wirklich war, die Komtesse.
Da muss ich dich enttäuschen. In männlicher Sprache hat es keinen Sinn, dir mein Erleben zu erklären, und mein Weiblich ist zu schlecht dafür.
BRIGITTE:
(leise, nur für den Leser / die Leserin wahrnehmbar) Ich brauche seine Erläuterungen gar nicht, denn ich habe mich damals, ohne dass er es wusste, mit der von B. angefreundet – schließlich lässt frau nicht den Mann, mit dem frau ein wenig Spaß hat, einer anderen, ohne der Sache auf den Grund zu gehen. Für mich bestand dabei kein Risiko, denn dass er mich ihr gegenüber erwähnte, stand nicht zu befürchten, und die Komtesse selbst pflegte ihre Beziehungen in monadischer Grenzziehung, eine neben der anderen und ohne jemals Bekanntschaften herzustellen. Jedenfalls versuchte ich unauffällig, mich auch in der Form in ihr Leben zu drängen, dass ich sie manchmal einlud, bei mir zu übernachten. Solches lehnte sie strikt ab mit der Begründung, ihr erschiene es nicht standesgemäß, am Ende des Tages woanders als zu Hause einzukehren – es sei denn, sie befände sich auf Reisen und wohnte im Hotel. Das hören und bei nächster Gelegenheit einen gemeinsamen Wochenend-Einkaufs-Aus¬flug nach Mailand vorzuschlagen, war für mich eins – und darauf ging sie ohne weiteres ein, auch darauf, dass wir uns eine gemeinsame Suite im Hotel Four Seasons in der Via Gesù nehmen würden, was in jedem Fall bequemer wäre als zwei Einzelzimmer. – Ich überspringe jetzt unseren Aufenthalt als solchen, der hier gar nichts zur Sache tut, sondern steuere direkt auf das Ziel zu: – Sie war – sen-sa-ti-o-nell! Sowohl das, was ich schon wusste, aber im nahen Zusammensein noch eindringlicher wurde wie Sprache, Gestik und Verstand, als auch das, was sie erst jetzt wirklich offenbarte – ihren Körper, den unvergleichlichen, der zu mir unter die Bettdecke kam: kühl wie Marmor, ganz anders als meiner (der bürgerliche!). Sie und ich in einem perfekten Schwebezustand, einander gleichermaßen anziehend wie abweisend, insgesamt aber auf genau richtiger winziger Distanz, geborgen in einem trotz Unterschiedlichkeit uns umgebenden Gleichklang, den kein Mann uns in dieser Weise geben konnte. Ich liebte sie für das, was sie mir tat und mich für das, was ich ihr tat, und sie liebte mich und sich in gleicher Weise und im gleichen geheimnisvollen Rhythmus, den niemand Außenstehender ergründen könnte.
Woran denkst du, Brigitte? Du bist ja richtig ins Träumen gekommen! Es ist direkt anheimelnd, dir als Unbeteiligter dabei zuzusehen.
BRIGITTE:
Ich habe nur versucht mich zu erinnern, denn Erinnerungen sind fast alles was geblieben ist in einer Ehe mit einem eigenbrötlerischen Egoisten (was er, wie ich heute weiß, schon immer war, nur hatte er sich gut verstellt) und mit zwei Kindern, die heute noch immer bei mir wohnen, obwohl sie erwachsen sind, und mich wie eine Hausangestellte behandeln. Eigentlich wird es da immer schwerer, Gefühle zu rekonstruieren, und es ist besser, sich gleich den Luxus neuer Gefühle zu leisten.
103
Komtesse von B.
an ihren erlauchten Vater!
S.V.B.E. EQ.V.
DER BESUCHER:
Um mich gleich einzuschalten und Missverständnissen vorzubeugen: Si vales bene est – equidem valeo! Der Alte war es also, der seine Tochter von Kindheit an neben allen adeligen Tugenden in Latein gedrillt hat.
Ich habe Euch heute eine wichtige Eröffnung zu machen, erlauchter Vater. Bei meinen Studien, die Ihr mir großzügig geruht habt angedeihen zu lassen, habe ich einen jungen Mann kennengelernt, dem ich sehr zugetan bin. Um Eurer Frage gleich zu begegnen – nein, er ist nicht von Stand, eher im Gegenteil. Seid aber nicht échauffiert, mein stolzer und gestrenger Vater, denn eines erlaubt mir festzuhalten: er ist eine große Seele, von hervorragender Herzensbildung, ganz in dem Sinne, in dem Ihr mich belehrt habt. Der Jüngling hat ein Faible für alles Indische, und ich erwähne das insbesondere deshalb, weil ich zu wissen glaube, dass es Euch, hochwohlgeborener Vater, für ihn einnehmen könnte, habt Ihr mir doch selbst immer von Eurer eigenen Bekanntschaft mit einer Kultur vorgeschwärmt, deren metaphysisch ausgerichtete Gesellschaftsordnung es ermöglicht, durch große Verdienste in der einen Existenz nach zahlreichen Stufen der Erleuchtung die Befähigung zur Wiedergeburt in den höchsten Rang, den des Brahmanen, zu erwerben.
DER BESUCHER:
Man glaube jetzt nicht vielleicht, an diesen Zeilen des adeligen Fräuleins den voreiligen Schluss ziehen zu dürfen – ach was: Glauben Sie nur ja nicht, sie habe immer so geschwollen dahergeredet oder -geschrieben, denn das wäre wohl kaum auszuhalten gewesen. Aber etwas anderes: Das mit Indien – das bin ich, wirklich ich, ob ihr’s glaubt oder nicht – das bin ich.
Um Euch von voreiligen Schlüssen hinsichtlich der Person des Euch Unbekannten abzuhalten, darf ich Euch versichern, dass ich sehr wohl Erkundigungen über meine Affection eingezogen habe, nicht gar zuletzt, um für mich sicherzustellen, dass Eure eigenen Recherchen, die Ihr nun ohne jeden Zweifel anstellen lassen werdet, nicht etwas zutage fördern könnten, was ich nicht ohnedies schon weiß und Euch somit selbst mitzuteilen in der Lage wäre. Glaubt auch ja nicht, mein überaus besorgter Vater, dass mein Kommilitone sich mir in irgendwelcher ungestümen Weise genähert hätte. Keineswegs, denn vielmehr ich hatte es zu sein, die ihm durch den einen oder anderen Fingerzeig zu verstehen gab, er sei mir weder gleichgültig noch sei es mir unangenehm, in seiner Gegenwart zu verweilen.
Lieber, von mir stets bewunderter Vater, wäre da nicht die mir ewig präsente Sphäre gemeinsamer Erlebnisse mit Euch (wie etwa unser morgendlicher Ausritt mit gelegentlichem Schwimmen im Waldteich, wobei ich Euch mein Innerstes geöffnet habe), die Euch mir näher stehen ließ als meine gute selige Mutter, würde ich es wohl kaum wagen, mit derlei Eröffnungen an Euch heranzutreten, die ich niemals mit der erlauchten Gräfin, Eurer heimgegangenen Gemahlin, selbst wenn sie noch lebte, erörtern wollte.
DER BESUCHER:
Da hat der alte Knacker ganze Arbeit geleistet, die Kleine, die ihm von Anfang an mehr nach seiner Art zu sein schien, der blässlichen, von ihm niemals geliebten Mutter zu entfremden. Diese hatte übrigens genug zu tun, den gräflichen Stammsitz in Schuss zu halten – dafür war sie ihm jedenfalls gut genug. Seine Lust auf männliche Sinnesfreuden sprang hingegen frühzeitig auf die Tochter über, während diese sich langsam, aber sicher zu einer schönen jungen Frau entwickelte. Übrigens: man führte ein großes Haus, wie ich gelegentlich mitbekam, unter riesigem finanziellen Aufwand, dessen Quellen ganz offenbar nicht allein die erblichen Güter sein konnten.
Noch einmal an die innige Nähe meiner Kindheits- und Jugendjahre zu Euch, mein Vater, appellierend, darf ich Euch versichern, dass ich sämtliche erdenklichen Vorkehrungen gegen unliebsame Entwicklungen (die mich und damit auch Euch belasten könnten) getroffen habe. Dazu gehört vor allen Dingen die Einnahme eines Antikonzeptionsmittels, da es mir unter den gegebenen Umständen wichtiger als alles andere erscheint, unsere erlauchte Façade aufrechtzuerhalten, zumal die Möglichkeiten der Menschen, uns zu erkennen, sich auf das Äußere beschränken – alles Übrige sieht bekanntlich nur Gott allein. Ich hoffe innig, mich mit Euch darin eines Sinnes zu sehen und Euch damit vor jeglichen, gegen Euren hochlöblichen Ruf gerichteten Unzukömmlichkeiten zu bewahren. Im übrigen handelt es sich um dieselben allgemeinen Vorsichts- und besonderen Verhütungsmaßnahmen, wie ich sie im Rahmen der Beziehung mit Euch anwandte.
DER BESUCHER:
Im Klartext: Er hatte ein richtiges Verhältnis mit ihr aufgezogen.
Hochgeborener Vater, ich habe einige Male versucht, das müsst Ihr mir glauben, diese Zwischenbemerkungen, die auch Ihr inmitten meiner Zeilen wahrzunehmen gezwungen seid, zu überhören. Allein, ich fürchte fast, angesichts der letzten verbalen Emanation meines Liebs muss ich doch wohl Stellung dazu nehmen. Verzeiht ihm, Vater, wenn seine Sprache nicht immer den rechten Ton treffen mag, und schreibt dies eher seiner Herkunft als seinem Naturell zu. Wie Ihr, mein gelehrter Vater, mir aufgezeigt habt, mag ich nicht darüber entscheiden, welche Cotes von Hérédité und von Milieu das Bewusstsein eines Menschen prägen, doch neige ich dazu, jene eher zur Beurteilung und dieses eher zur Entschuldigung eines Wesens heranzuziehen. Überdies möchte ich nichts weniger (und Ihr habt mir stets den Spielraum dazu gelassen, mein verständnisvoller Vater), als diesem Einen gegenüber unnahbar erscheinen. Lieber wollte ich ihm eine sein, mit der er Pferde stehlen könnte – dies versteht aber bitte als eine meinem Überschwang entstammende Metapher, die keineswegs eine konkrete Absicht ausdrücken soll.
Ihr seht auch, mein erlauchter Vater, dass die Zwischenbemerkungen jetzt aufgehört haben und so lasse ich vorläufig ab von diesem Brief, um ein wenig meinen verträumten Gedanken nachzuhängen.
– – – – –
Lieber und guter Vater, während ich das Bisherige in der Absicht geschrieben habe, es Euch umgehend zur Kenntnis zu bringen, blieb dieser Brief nun für geraume Zeit in meinem Schreibpult eingeschlossen und wurde nicht abgeschickt. Von weiteren Berichten an Euch wurde ich durch die sich überschlagenden Ereignisse meiner Vie Réelle abgehalten.
DER BESUCHER:
Sie meint, nun hat es BUMS gemacht.
Ja, es hat BUMS gemacht, und mehr noch als bei meiner intimen Begegnung mit Euch (weswegen ich mich nicht scheue, es Euch gegenüber in einer unehrerbietig drastischen Weise auszudrücken) ist die physische Natur zum Durchbruch gekommen: felix coniunctio –
Dulcissime, hauchte ich aus der glasklaren Reinheit meines Herzens, impera animam meam!
Und er: Ave formosissima, mihi amandissima! (woran Ihr sehen mögt, dass er, wenn auch vielleicht unge-schliffen, als ein Diamant gelten darf). Ich wusste in diesem Augenblick, dass – wie viele ihm in den kommenden unsicheren und möglicherweise bar-barischen Zeitläuften folgen würden – er der eine bleibt, der mich auf diese himmlische Höhe gezogen hat.
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Der alte Graf hat vielleicht getobt, als er diesen Brief in Händen hielt. Er begann, wahllos Gegenstände nach seinem Butler zu werfen – alles, was er von seinem Lehnstuhl aus erreichen konnte, zumal ihm das Aufstehen ohne fremde Hilfe schon recht schwer fiel. Aber Eure Erlaucht, rief der Butler aus voller Deckung hinter dem offenen Türflügel des Herrenzimmers, das ist nicht das Verhalten, das ein Edelmann seinem Bediensteten entgegenbringen sollte, der mit ihm durch manche Fährnisse des Lebens gegangen ist! Der Graf aber wollte sich gar nicht beruhigen, was der Butler erst später verstand, als er heimlich die Eröffnungen der Komtesse gelesen hatte.
DIE KOMTESSE:
Man muss allerdings mehr über den Butler wissen, wenn man diese Szene verstehen will.
Ganz recht, und da ist Einiges zu erzählen. Der Mann stammt von den australischen Ureinwohnern ab, will sagen, er ist von tiefschwarzer Hautfarbe. Sein richtiger Name ist weder merkbar noch aussprechbar – er klingt irgendwie nach „Chicago“, und so wird der Butler von Anfang an von allen gerufen.
Wie er in jungen Jahren nach England zur reichen Lady Prudence geraten war, bei der er die erste Zeit in Europa verbrachte, wissen wir nicht. Tatsache ist, dass die alte Dame einen Narren an ihm gefressen hatte. Mit zielsicherem Instinkt traf sie für ihn die Berufswahl und sorgte dafür, dass er an der feinsten Schule für Hauspersonal ausgebildet wurde. Immerhin sei ihm auf diese Weise ein gewisser sozialer Aufstieg sicher, meinte sie, und er, der die Verhältnisse des Gastlandes mittlerweile kannte, gab ihr soweit recht. Seinen ersten Job trat er, mit dem besten Abgangszeugnis seines Jahrgangs ausgestattet, bei seiner Förderin an.
Diese ließ ihm völlig freie Hand, sie war wohl müde der Verantwortung für ein großes Haus und für diverse Geschäfte, die nach dem Tod ihre Mannes noch abzuwickeln waren. Chicago hatte, ohne die Herrin direktheraus zu bestehlen, als Hüter der Kasse jedenfalls eine Menge Geld zur Verfügung, für dessen Verwendung er keine Rechenschaft ablegen musste.
Was er zunächst in Angriff nahm, war das Nachziehen von etwa einem Dutzend seiner Stammesgenossen, ohne dass ihn das irgendeinen erkennbaren Kommunikationsaufwand kostete. Er rief sie einfach auf telepathische Weise zu sich, und eines Tages standen sie alle vor „Lady Pru”, wie der Butler seine Gönnerin mittlerweile liebevoll nannte. Diese schien entzückt von den abenteuerlich aussehenden Gestalten, daran kann man ermessen, wie realitätsfern sie schon war. Sie besaß allerdings so viel Geld, dass sie ein ganzes Regiment hätte durchfüttern können, und somit waren diese Wenigen für sie kein Problem. Alles woran ihr lag und was sie an Chicago zu schätzen wusste, war sein Geschick, ihr das Leben leicht zu machen. Die neuen Mitbewohner des Landsitzes durften schalten und walten wie sie wollten, und irgendwie – sah man von den unterschiedlichen klimatischen Verhältnissen einmal ab – machten sie aus dem Anwesen ein Stück ihrer Heimat.
Abgesehen davon besaßen sie zusammen mit ihrem Anführer natürlich ein ungeheures parapsychologisches Potential, aber davon vielleicht später…
Lady Pru verblich schließlich friedlich in ihrem Bett, während draußen auf der Terrasse die Didjeridoos erklangen und ihre Seele zu den geisterhaften Ahnen ihres neuen Stammes geleiteten. Man begrub sie mit behördlicher Genehmigung (dafür hatte Chicago gesorgt) in einem entlegenen Winkel des Parks auf einem kleinen Hügel unter einem exotischen Baum, der vor kurzem gepflanzt worden war. Vor ihrem Ableben hatte die alte Dame Chicago als ihren Erben eingesetzt und ihm außerdem, auf seinen Wunsch hin und ohne zu fragen wozu, eine Empfehlung an den Grafen von B. ausgestellt.
DIE KOMTESSE:
Dass Her Ladyship meinen erlauchten Vater kannte (er scheint zu jenen Männern zu gehören, die ihre Spuren bei Damen in halb Europa zurückgelassen haben), erfuhr ich erst, als der schwarze Butler dastand und sofort eingestellt wurde, da uns kurz vorher unser langjähriger Majordomus verlassen hatte, ohne den geringsten Anlass und somit ohne dass jemand sich dieses Verhalten erklären konnte.
Die Erklärung ist, wenn man die Zusammenhänge kennt, sehr einfach: Chicago hatte seinem Vorgänger auf transzendentale Weise befohlen zu gehen, und dieser setzte, nicht mehr Herr seiner selbst, den bedeutungsschweren Schritt. Chicagos Motiv bestand darin, den alten Grafen aus der Nähe besser ausspionieren zu können, da sein neuer Brotgeber einem weltweiten Geheimbund angehörte, den der Butler zu unterwandern beabsichtigte.
DIE KOMTESSE:
(ist völlig perplex)
Es handelte sich um den im kolonialen Indien gegründeten Orden der Orangenblüte (eigentlich Order of the Orange Blossom), der sich der dunklen Seite verschrieben hatte, um die Herrschaft des Bösen herbei¬zuführen. War es zunächst eine Aktion gelangweilter britischer Offiziere, die sich mit der einen oder anderen körperlichen oder seelischen Grausamkeit die Zeit vertrieben, gewann die Bewegung durch die Einbeziehung anderer Nationen zunehmend an Profil: Deutsche entwickelten eine straffere Organisation, Amerikaner beschäftigten sich mit der Erschließung von Geldquellen, Franzosen schufen einen ideologischen Überbau, wieder andere trugen die letzten Feinheiten des Sadismus bei.
Um aber bei der Ideologie zu bleiben: Böse zu sein, stand am Anfang dieser fahlen Bruderschaft (auch im Wortsinn: sie ließen nämlich keine Farbigen und keine Frauen zu). So böse zu sein, dass Gott selbst sich provoziert fühlen und – wenn es ihn überhaupt gab – eingreifen musste, lautete am Ende die Philosophie.
DIE KOMTESSE:
(ahnungsvoll) Und woher wollen Sie all das so genau wissen?
Tun Sie nicht so unschuldig, wenn es für Sie ohnehin längst klar ist: Ich war dabei, ich war Stabschef des Ordensobersten, damit beschäftigt, Eingriffe und Störungen von außen abzuwehren und ihre Urheber zu vernichten.
DIE KOMTESSE:
Und warum haben Sie dieses eine Mal Ihre Pflicht gegenüber Ihrem Chef vernachlässigt?
Ich wollte sein wie er – das ist das Schicksal jedes Fürsten der Finsternis, dass er den Verräter neben sich hochzüchtet.
Grafik 1.1
DIE KOMTESSE:
(malt auf ein Blatt Papier das Zeichen)
Sehen Sie, ich wusste, dass Ihr ebenso geschwätziger wie jähzorniger Vater kein Geheimnis vor Ihnen bewahren konnte. Wäre ich nicht untreu geworden, würde dieses Wissen Ihr Todesurteil sein, könnte von diesem Augenblick an Ihr Leben mir gehören.
DIE KOMTESSE:
Oder Ihres mir! Übrigens: wissen Sie eigentlich genau, wer der Ordensoberste ist?
Meine Liebe, nun haben wir aber beide genug auf den Busch geklopft! Lassen wir es doch für den Moment dabei…
105
Von Kunst verstehe ich nicht sehr viel, dafür aber ein wenig von poetischen Momenten: Die Katze am Fenster, vielleicht von Monet gemalt. Die Jahreszeiten, dargestellt durch die saisonalen Freuden der Kindheit. Der Start eines Flugzeuges, in dem jemand sitzt, von dem man sich gerade verabschiedet hat. Die Qual. Der Tod.
Zelluloidsequenzen, in denen gepanzerte Kampfhubschrauber über vietnamesische Reisfelder fliegen. Mit MGs wird auf flüchtende Personen geschossen. Unterlegt mit Albinonis Adagio in g-Moll: Ein Antikriegsfilm? Oder ein Propagandafilm der US Army?
Einer unserer Jungs war dort mit mir dabei. Jetzt, da wir längst in Europa stationiert sind und Zeit zum Nachdenken finden, haben wir genug von all den Grausamkeiten. Wir ersticken daran!
DER STABSCHEF:
Vorsicht! Sie liefern ihn und sich selbst ans Messer! Ich kann schließlich nicht jeden von Ihnen hinausschleusen, ohne dass der Alte etwas merkt.
Der Junge stammte aus White Rock, Minnesota. Seine erste feierliche Kindheitserinnerung war der Flaggenmast mit den Stars & Stripes vor dem Hintergrund des alles beherrschenden Berges, von dem er überzeugt war, dass Gott dort wohnt.
Damals wusste er nichts von unserem Orden, und dass dieser mittlerweile erfolgreich versuchte, die NATO-Strukturen zu kopieren: In allen Teilnehmerländern des Atlantikpaktes akquirierte man Mitglieder, insbesondere die historische Ausklammerung der Deutschen war aufgehoben worden (zwar hätten die Nazis, vordergründig betrachtet, gut in den Orden gepasst, die subtile Ideologie der Brüderschaft verabscheute aber in Wirklichkeit jenen industriellen Sadismus).
DER STABSCHEF:
Ja, genauso wie die guten Deutschen in die NATO durften, öffnete sich für sie auch der böse Orden. Der amerikanische Präsident RR, dem von mutmaßlichen Aktivitäten einer Geheimorganisation berichtet wurde, die sich nicht zuletzt im Offizierkorps des Bündnisses ausbreitete, meinte nur: Garstig dürfen sie sein, nur nicht schwul. Und er proklamierte in der satten Schwarz-Weiß-Textur seiner Cowboymentalität den Kampf gegen das „Reich des Bösen”, meinte aber zur Freude und Erleichterung des Ordens nicht diesen, sondern die Sowjetunion.
Einmal hat mich Brian nach White Rock mitgenommen, als wir aus Asien auf Heimaturlaub in den Staaten waren: Mochte wohl aus meinem belämmerten Blick gesehen haben, dass dort in der Bronx, wo ich herstamme, niemand auf mich wartete. Was ich in dem Kaff erlebte, war für einen New Yorker schwer zu verkraften. Für die Leutchen, die nur Kirche und Kneipe als kulturelle Erbauung hatten (weit und breit zum Beispiel kein Baseballfeld), war die Welt wirklich einfach gestrickt: Die Commies waren mit dem Teufel im Bund, und mein junger Kamerad, da zweifelte ich nun nicht mehr daran, glaubte anfangs in Vietnam wirklich daran, ein gottgefälliges Werk zu tun, wenn er möglichst viele von ihnen massakrierte. Ich als sein Lieutenant fühlte mich verpflichtet, ihn behutsam einzubremsen, damit ihm später nicht plötzlich ein Leichenberg auf der Seele lastete. Aber Sie können mir glauben, dass ich mir dabei verdammt blöd vorkam, mit meiner Kindheit in den Slums auf dem Buckel: wo man zuschlug und dann erst fragte – aber auf den Straßen ging es schließlich ums nackte Überleben und nicht um irgendeinen politischen Scheiß, der uns gar nichts anging.
Ich fragte Mr. Brian sen., ob er noch andere Kinder hätte, und zu meiner Überraschung antwortete er ausweichend. Als ich insistierte, knurrte er etwas von einer Tochter, die nach Washington gegangen sei und von der er nicht unbedingt wieder etwas hören wollte. Das machte mich neugierig.
– – – – –
Bei Charlene, der persönlichen Assistentin des Senators Norman T. Hawborne, einen Termin zu bekommen, wäre für mich nicht möglich gewesen, hätte ich ihren Bruder Brian nicht bei mir gehabt. So aber nahm sie sich sogar einen ganzen Abend Zeit und ging mit den „Boys”, wie sie uns nannte, essen. Und dabei wurde meine Neugier (die sich nunmehr als sehr berechtigt herausstellte) voll befriedigt, obwohl das für meinen jungen Freund nicht in allen Punkten angenehm war.
Charlene war nämlich ziemlich offenherzig. Und sie war auch entsprechend gekleidet, sodass dem männlichen Auge so mancher Wunsch erfüllt wurde. Nichts an ihr erinnerte noch an White Rock, MN. Aber das reichte nicht als Erklärung für Brian seniors Verhalten. Brian junior fragte naiv, wieso sie damals so plötzlich von daheim verschwunden war – er selbst war ja zu dieser Zeit bereits fortgewesen und hatte nur bemerkt, dass seine Anfragen nach dem Befinden der Schwester von den Eltern konsequent negiert wurden. Dadurch hatte er auch keine Ahnung, wo und wie er Charlene erreichen konnte, aber das fand er mit meiner Hilfe schnell heraus.
Weißt du, Brian, sagte sie, wäre ich in unserem Nest geblieben, hätte ich bestenfalls die Schwiegertochter der Drug¬store-Besitzer werden können. Ehrlich, ich trug mich auch tatsächlich mit dieser Absicht, doch als mich Tom, der fette Sohn der Websters, das erste (und zugleich letzte) Mal im Flur hinter dem Geschäft vögelte und mir dann satt grinsend, sozusagen als Gegenleistung, ein Paar Strümpfe überreichte, die er zuvor aus einem Regal geklaut hatte, da wurde mir plötzlich klar, dass ich mich – so wie ich aussah – auch viel viel teurer verkaufen konnte.
Ein wahres Wort! Ich konnte kaum den Blick von ihr lassen, und sie merkte es wohl, und es schien ihr nicht unangenehm zu sein. Was genau machen Sie eigentlich für den Senator? Ich wollte möglichst rasch in die Gegenwart, näher kommen einem möglichen Schnittpunkt zwischen ihr und mir. Brian saß ein wenig verloren neben uns. Er kannte meine direkte Art zur Genüge, aber die mögliche Reaktion seiner Schwester wusste er nicht einzuschätzen.
Also das ist vielleicht lustig, lachte Charlene, lustig deshalb weil es für mich alles in allem äußert lukrativ ist – ja Brian, ich bin eine sehr reiche Frau geworden! Na gut, zur Sache: Der Senator, den ich unter Umständen kennengelernt habe, die ich euch gesondert erzählen müsste, hat mich weniger als PR-Beraterin engagiert (das ist bloß meine offizielle Stellung), sondern eher als eine Art Muse, die seine politischen Ganglien in Schwung bringt
Das funktioniert bei ihm so: Kaum ziehen wir uns zur Arbeit zurück – woran niemand aus seiner Umgebung Anstoß nimmt, schließlich wissen alle, dass er einmal Präsident werden will -, sei es in seinem Büro oder auf Reisen, muss ich mich auf seine Couch oder auf das Hotelbett legen, und er fingert an mir herum, während er nachdenkt. Anfangs war mir das ehrlich gestanden sogar etwas unangenehm, denn er achtet überhaupt nicht auf die Reaktionen meines Körpers, was ziemlich frustrierend ist: ich komme nämlich relativ schnell (du weißt es ja, Brian!), und wenn der Senator mich hängen lässt, während ich gerade voll in Fahrt bin, könnte ich manchmal heulen. Mittlerweile sagt mir aber die Vernunft, dass es in jedem Job ein spezifisches Arbeitsleid gibt – und da spielt sich bei vielen Kolleginnen Schlimmeres ab als bei mir.
Ich hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, dem Senator eins auf die Schnauze zu geben, aber der war ja nicht da. So enthielt ich mich jeder Gefühlsäußerung – schließlich war anzunehmen, dass Charlene, so locker wie sie an die Sache heranzugehen schien, kein Verständnis für Pathos haben würde, und ich wollte meine Chancen bei ihr nicht verspielen. Daher sagte ich schnell (um sie beim Thema zu halten): Nennen Sie uns einige Beispiele, Charlene! Sie wissen ja, wir Jungs von der Army sind ein wenig naiv.
Sie kicherte in sich hinein (ich hatte sie jetzt fest in meinen Fängen). Nun, so viel Phantasie braucht ihr gar nicht dazu, trumpfte sie auf: eine muss im Supermini das Dummchen spielen, aber nicht nur im stillen Kämmerlein, sondern vor allen Mitarbeitern ihres Chefs und vor allem vor seiner Frau.
Weiter! drängte ich, und auch Brian starrte gierig auf seine Schwester.
Eine andere muss sich von ihrem Boss mit allen möglichen schmerzhaften Dingen quälen lassen – gerade dass sie ihn noch davon abhalten kann, ihr irgendwelche sichtbaren Blessuren zuzufügen. Wieder eine andere wird bei jeder sich bietenden Gelegenheit durchgefickt wie ein Stück Vieh, und wenn sie nur den Mund aufmacht (zum Sprechen, meine ich!), schreit ihr Boss: Schnauze – fürs Reden bezahlt dich Uncle Sam nicht!
Langsam wurde mir das Verhalten von Brian sen. klar: wenn dieser nur eine Andeutung von all dem mitbekommen hatte (und dafür sorgen bei uns in den Staaten die gewissen Presseleute, die von ihren Chefredakteuren ausgeschickt werden, um Politikerskandale zu konstruieren), war verständlich, warum er die Tochter aus dem Gedächtnis streichen wollte. Währenddessen achtete ich nicht auf Brian jun., der sich nach offenbar hingebungsvoller innerer Überwindung seiner Geilheit wieder in seinem moralischen Netzwerk zurechtgefunden hatte: Das ist nicht Amerika! behauptete er scharf – und für mich noch absurder: Dafür haben wir da drüben nicht gekämpft!
Wenn’s aber doch wahr wäre, mein Guter, dachte ich, hättest du besser nicht so viele Vietcongs abgeknallt. Ich überließ es aber Charlene, ihm zu antworten – schließlich war sie seine Schwester, und wenn ich vorhin alles richtig mitbekommen hatte, war er in seiner frühen Jugend jedenfalls nicht abgeneigt gewesen, ihren schönen Körper auf eine mehr handfeste Art zu erforschen.
Sie ließ sich prompt auf keinerlei diffizile Argumente ein. Brian, Darling, flötete sie, ich hätte Lust, noch tanzen zu gehen. Ich rufe jetzt eine Freundin an (eine von denen? fuhr es mir durch den Kopf) – die ist für dich, und ich nehme den Burschen hier. Wie ist eigentlich ihr lieber Vorname, Sir? Sie salutierte andeutungsweise, aber militärisch korrekt (das hatte sie hunderte Male gesehen in diesem vor hohlem Patriotismus triefenden Kongresshaufen).
Ich habe keinen lieben Vornamen, ich bin der böse alte Lieutenant Wolf, immer auf der Suche nach Red Riding Hood, dem Rotkäppchen, stieß ich zwischen den Zähnen hervor. Und um die Sache jetzt abzukürzen: den Umweg über „Rumors”, das Tanzlokal hätten wir uns im Prinzip sparen können, aber er diente dazu, Brian zuverlässig von Charlenes Freundin in deren Wohnung abschleppen zu lassen und damit elegant loszuwerden, während wir unsererseits wieder in Schwesterchens Wohnung landeten, wo ich zunächst mit einem Drink im Wohnzimmer geparkt wurde. Es dauerte aber nicht lange, da hatte Charlene ihren großen Auftritt. Ganz in Weiß als Südstaaten-Beauty schwebte sie herein: Jagst du auch Little Snow-White, das Schneewittchen, böser alter Wolf? Hast du womöglich deine Rute schon auf mich gerichtet? – Junge, so etwas turnt dich an, die Schamlosigkeit dieser scheinbar makellosen, gottesfürchtigen Wesen aus Dixie! Vergleich das doch mit der Geschäftsmäßigkeit, mit der deine Motorradbraut aus der Bronx die Beine breit macht und dich womöglich auslacht, wenn sich in dieser abgeschlafften Situation bei dir nichts rührt. Dieses Problem hatte ich bei Charlene jedenfalls nicht.
DER STABSCHEF:
(beiseite) Die gute alte Romantik! Jetzt bumst er sie und denkt dabei an Scarlett O’Hara, und sie denkt – vielleicht gar nichts im Moment, wenn er sein Handwerk versteht, und schon gar nicht denkt sie an den Senator mit seinen merkwürdigen Marotten, zu denen auch der Wunsch zählt, dass sich Frauen in alle möglichen Verkleidungen werfen sollen. Und eines verrate ich Ihnen noch: trotz dieses ganzen Aufwands, für den er noch dazu eine Menge Geld hinblättert, passiert dann eigentlich gar nichts, außer vielleicht im Inneren von Hawborne, aber wer weiß das schon.
– – – – –
DER STABSCHEF:
Und – hat’s Charlene mit Ihnen gefallen?
Gefallen? Wer weiß das schon? Denken Sie jetzt über Vietnam, wie Sie wollen – ob wir dort kräftig eins draufgekriegt haben oder nicht, und unter welchem politischen Auftrag das geschah – ich persönlich habe noch jedes Schlachtfeld als Sieger verlassen.
DER STABSCHEF:
Wirklich jedes? Und Ihre Waffe hatte nie Ladehemmung?
Theoretisch möglich wär’s schon – vielleicht mit irgendeiner intellektuellen Ziege, die nur so strotzt von sexueller Korrektheit.
DER STABSCHEF:
Und die Motorradbraut?
Verdammt, das wissen Sie also! Na gut, aber sicher nicht bei einem neurotischen All American Girl wie Charlene!
Jedenfalls hat der Senator über Charlenes Anregung Brian und mir diese tollen Jobs in Good Old Europe verschafft, wodurch wir dann mit Ihnen in Kontakt kamen. Übrigens: dem Vater Brian haben wir sowohl aus Washington als auch von Ramstein Air Base, Germany, Ansichtskarten geschickt.
106
Sie erinnern sich noch an mich, selbstverständlich. Ich bin derjenige, der ganz am Anfang, als Sie zu lesen begonnen haben, in das schlossähnliche Gebäude gegangen ist, und von dem später die Komtesse ein wenig geschwärmt hat.
BRIGITTE:
Ein wenig ist gut! Nun, jedenfalls gibt es noch einen Zwischenruf nachzutragen, den ich schon viel früher machen wollte: all das war doch nur die halbe Wahrheit! Das alles ist viel weniger phantasievoll abgelaufen – und obwohl ich nicht dastehen möchte wie eine dumme Gans, sollten wir vielleicht zugeben, dass wir uns seit Ewigkeiten kennen, und dass es eine Zeit gegeben hat, in der ich von dir träumte und du von mir, aber wie’s eben damals war mit sechzehn/siebzehn Jahren, die Erfüllung wurde es nie, so nah man der Sache an sich auch kam. Wir waren einander also auch in dieser Szene nicht fremd, aber es passierte wieder nicht das, was man idealerweise erwarten konnte.
Seien wir uns doch ganz ehrlich: Gab es in unserer beiden Leben etwas Prickelnderes, als die Schule zu schwänzen, hinauszufahren an den Fluss, mit dem Auto meines Vaters (obwohl ich noch keinen Führerschein hatte, aber wir brauchten die Karre), dort auf einem Weg in die Au zu parken, aneinander auf Entdeckungsreise zu gehen. Ich fühlte mich niemals so als ich selbst, losgelöst von all dem vergangenen und zukünftigen Plunder der Verkleidung, von diesen Rollen, wie etwa denen in der Halle von Ralph und Hardy.
BRIGITTE:
Und ich – bin ich dir nicht dort im Gebüsch im unschuldigen Weiß meiner gar nicht raffinierten Unterwäsche (von meiner Mutter höchstpersönlich ausgewählt und daher strikt „unsexy“) nicht viel begehrenswerter erschienen denn als seiner Kleider beraubtes Eigentum der beiden Voyeure?
Warum aber ist dann aus jener relativ kurzen Spanne – obwohl sie jedenfalls in unser beider Gedächtnisse eingebrannt scheint auf immer – nicht mehr geworden? Warum konnten wir sie nicht stärker auskosten?
BRIGITTE:
Weil jedes andere Zeitmaß alles zerstört hätte, weil es dann gar nichts gäbe, das es wert wäre, sich heute noch daran zu erinnern …
Die gute alte Vergangenheit, diese komische Sache. Früher schien es mir wesentlich zu sein, neben wem ich aufwachte – heute hingegen bin ich nur noch neugierig, wie ich aufwache: jedenfalls anders als der junge Mann von seinerzeit, ein Fremder in Wahrheit, deprimiert manchmal, was mir früher völlig fernlag, immer öfter auch in einem unbefriedigenden körperlichen Zustand.
BRIGITTE:
Dieses spezifische Identitätsproblem kenne ich nicht, obwohl ich weiß, was du meinst. Mir selbst hingegen steht ständig der Wunsch vor Augen, die heutige Erfahrung zu besitzen, aber vereint mit der physischen Attraktivität von einst.
Baby, jetzt verstehe ich, warum ich in jenem Traumhaus alt war, du aber jung geblieben schienst!
BRIGITTE:
Was blieb mir schon anderes übrig, wenn doch die Models, die durch die Träume von euch Männern geistern, niemals verwelken?
Ich könnte jetzt etwas sagen, was du mir als plumpes Kompliment auslegen würdest.
BRIGITTE:
Ich weiß – sag es immerhin!
Du bist heute so schön für mich wie du immer warst, denn es tut dir keinen Abbruch, dass du reifer geworden bist. Wie sollte ich denn mehr an jene Models verwenden als einen etwas ausgedehnteren Blick oder (wenn gerade niemand hersieht) einen wohltuenden Griff zwischen meine Beine. Aber welcher Mann in meiner Situation würde sich nicht eher dir ausführlich zuneigen, in Erwartung der ungeheuren, nicht mehr lodernden, aber dafür heiß glühenden Tiefe der Erfahrung, die ihn mit liebesgewohnten Armen und Beinen umschließt?
BRIGITTE:
Lass uns heute nicht denselben verhängnisvollen Fehler machen, versteh nur – du hast mich so weit – – –
– – – – –
Aber was wollte ich eigentlich erzählen?
BRIGITTE
Nichts wolltest du erzählen, Schatz, nichts reden, außer vielleicht unzusammenhängende Worte der Zuneigung, und nichts wolltest du tun als bleiben, wo du bist, und mich umfangen halten für ein nächstes Mal in einer langen Kette der Schritte ins selige Vergessen.
– – – – –
Aber was wollte ich eigentlich erzählen?
Ach ja, das von den Politikern mit ihrer ewigen Glaubwürdigkeit, die sie nicht mehr merken lässt, wie unglaubwürdig sie sind. Auch die Regierung Seiner Majestät war immer völlig glaubwürdig in ihrer indischen Kolonialpolitik, mit der sie diesen dies und jenen jenes versprach. Eigentlich wäre die britische Macht auf dem Subkontinent viel früher zusammengebrochen, wenn es den Orden nicht gegeben hätte, der den Pegel der Gewalt unermesslich nach oben verschob. Schließlich ist es nicht jedermanns Sache, auf eine Menge friedlicher Demonstranten mit stahlbesetzten Knüppeln einzuschlagen, bis die Schädel platzen. Das war ihre Art von Glaubwürdigkeit, die gegen keine physische Gegenwehr gerichtete Gewalt, die nur herzustellen war, indem man einer im großen und ganzen guten Sache das Böse an sich entgegentreten ließ.
Aber auch ein anderes zivilisiertes Land gibt es, das sogar seine eigenen Bürger umbringt, wenn sie in bestimmter Weise rechtsbrüchig geworden sind – oder geworden zu sein scheinen (ja, auch Unschuldige trifft die Todesstrafe, denn Justizirrtümer sind selbstverständlich keineswegs auszuschalten). Ich habe mich immer gefragt, wie jemand, der nicht ganz unmittelbar betroffen ist, so anmaßend werden kann, ohne kritische Distanz zu sich selbst über andere zu urteilen. Faktum ist, dass all dies zweifellos religiöse Wurzeln hat, wenn auch nicht unbedingt in einer streng kirchlichen, sondern durchaus in einer säkularistisch-pietistischen Weise: Gott liebt die Sieger…
BRIGITTE:
Ich ahne, wen du meinst: Brian und seinen Lieutenant!
Was weißt du von den beiden? Du kannst sie wohl nicht einmal untereinander vergleichen: Der Lieutenant aus der Bronx hatte die Moral (sprich A-Moral) eines Steinzeitmenschen. Sowie er ein schönes Stück Fleisch sah, riss und verzehrte er es, auch wenn es einem anderen gehörte und er diesen deshalb töten musste. Neurosen hatte er aber jedenfalls keine, im Gegensatz zu seinem jüngeren Freund. Dieser befolgte buchstabengetreu, was er in der Kirche, in der Sonntagsschule, in den Ausbildungssälen der Army gehört hatte, ohne sich zu fragen, ob ihm da womöglich jemand Wasser predigte, der selbst Wein trank. Die Krone hatte dem Ganzen erst der Vater aufgesetzt: Dass du mir ja nicht auch noch auf die schiefe Bahn gerätst wie deine Schwester!
So war sein Offizier eigentlich Brians letztmöglicher Rettungsanker, und er folgte dem Lieutenant bereitwillig in den Orden. Qualifiziert hatte er sich längst als Jäger einer erklecklichen Strecke menschlichen Wildes, und so wurde er zum Vollstrecker, sein Vorgesetzter hingegen zur Steuerungseinheit, die ihre Befehle direkt vom Stabschef des Ordens erhielt.
Man sorgte dafür, dass die beiden bald nach ihrem Washingtoner Abenteuer von der Army nach Europa versetzt wurden – zu irgendeinem obskuren Kommandostab, dessen wahre Aufgabe eigentlich niemandem klar war, und vielleicht gab es eine solche auch gar nicht. Das Duo führte ein gemütliches Leben, obwohl beide darauf achteten, dass sie körperlich kein Fett ansetzten. Schon bald nach ihrem morgendlichen Workout in der Kraftkammer überkam sie bereits die große Langeweile des Tages, und sie gingen – da sie sich nicht wie viele andere dem Alkohol oder den Drogen hingeben wollten – auf die Suche nach immer neuen Frauenbekanntschaften.
BRIGITTE:
Womit wir wieder bei deinem – ebenso unerschöpflichen wie komplexen – Lieblingsthema angelangt wären, bei dem man außerdem leicht Gefahr läuft, sich zu wiederholen, und je mehr man sagt oder schreibt, desto peinlicher können solche Repetitionen werden, lassen sie doch im Normalfall tief in die Psyche blicken.
Damit habe ich grundsätzlich kein Problem, aber warum werden ausschließlich die Männer in diese Richtung denunziert? Habt ihr denn keine einschlägigen Phantasien? Wobei ich schon zugebe, dass das öffentliche Bild eine gewisse Einseitigkeit erkennen lässt: Schließlich lachen mir von den Plakatwänden, an den Zeitungskiosken, im Fernsehen nackte Frauenkörper entgegen, und ich stehe nicht an zuzugeben, dass man als Mann dann ein Quäntchen Treulosigkeit gegenüber seiner realen Partnerin verspürt. In fast jedem Film zieht sich die Hauptdarstellerin mindestens einmal aus, und sei es nur, um eine Dusche zu nehmen: ob das jetzt nur dazu dient, um sie herzuzeigen oder ob gar ein spektakulärer Mord im Badezimmer passiert, ist dabei ziemlich gleichgültig.
BRIGITTE:
Oder ob jemand in seiner Vorstellungswelt eine Frau als allzeit bereit stilisiert…
Wie wahr, seit unserer frühesten Jugend habe ich immer wieder einmal beim Einschlafen dein unverhülltes Bild vor Augen. Das ergibt immerhin eine ganze Biografie deiner körperlichen Entwicklung, denn kennengelernt und an unserem Badestrand auch gleich nackt gesehen habe ich dich, als wir fünfzehn waren.
BRIGITTE:
Du warst auch ganz schön stattlich beisammen in deiner pubertären Pracht: Von da an gab es für mich keinen Zweifel mehr, was sich da fallweise vorne in der Hose wölbte. Und wenn ich an deinen ersten Begrüßungssalut für mich denke, läuft es mir heute noch heiß über den Rücken runter. Ach, waren das schöne unbeschwerte Zeiten.
Leider mussten wir schließlich erfahren, dass die prolongierte Wonne sich selbst zu zerstören begann. Dabei haben wir das ohnehin sehr lange hinausgezögert, denn wir entwickelten in heimlichem Einverständnis die Technik, einander ständig neu zu sehen, mit Hilfe wechselnder Schauplätze und Rollen.
BRIGITTE:
Immer wieder kehrten wir jedoch zum Wasser zurück und in die Rolle der Naturkinder, die unbefangen miteinander umgehen. Darum wurden auch die Winter immer trauriger.
Kannst du dich erinnern, wie wir es einmal nicht wahrhaben wollten? Noch im Oktober fuhren wir zum Baden hinaus, obwohl es schon empfindlich kalt war, jedenfalls wenn man nichts anhatte.
BRIGITTE:
Weißt du was: seit damals bist du mein Lebensmensch!
107
Aus einem jener Heiligen Bücher, die noch nicht geschrieben wurden:
Im Namen dessen, der (Gott oder wer auch immer) immer dann, wenn es dringend notwendig wird, den Ausgleich schafft im Sinne des Gefüges der Welt (doch nehmt dabei jedenfalls unseren Planeten nicht allzu wichtig, denn er ist nicht synonym für alles und schon gar nicht identisch mit allem, was es gibt).
Gerade zu der Zeit, als der furchtbare Order of the Orange Blossom sich zu voller Blüte entwickelte, wurde in einem anderen Teil des Empire mitten im Outback das Kind geboren, das ausersehen war, wieder einmal dem Bösen Einhalt zu gebieten, der sinnlosen Grausamkeit die Stirn zu bieten. Für dieses Mädchen, dessen sofort spürbare Aura es auserwählt scheinen ließ, standen die uns anderen Sterblichen verschlossenen Dimensionen offen.
Es konnte auf der Zeitachse spazieren wie unsereins auf einer Straße, Veränderungen des Raum-Zeit-Kontinuums vorwärts und rückwärts so leicht bewirken, wie ein normaler Mensch Türen öffnet oder schließt, und darüberhinaus auch die Geschwindigkeit dieser Veränderungen bestimmen wie ein anderer in einem Haus die Treppen hoch- und niedersteigt. Weitere Dimensionen, die sich unserer Vorstellungskraft völlig entziehen, konnte das Kind immerhin denken, wenn schon nicht betreten.
Als noch sehr junge Frau wurde sie nach ihrer Initialisierung eine große Walemira Talmai, von der man sagte, sie könne durch ihren Blick auf einen Kranken diesen heilen, gleich ob sein Leiden körperlicher oder seelischer Art sei. Eines Tages aber war sie verschwunden, und als die Weißen kamen, um sie zu holen – da ihr Ruf die Hauptstadt erreicht hatte, wo man sie als staatsgefährdend einstufte –, fanden sie sie nicht. Vom ganzen Stamm gab es keine Spur, er hatte sich nach einer geheimnisvollen telepathischen Warnung unerreichbar in die Wildnis zurückgezogen, und so lange man auch suchte, mit allen Mitteln, die dem Militär zur Verfügung standen, und so viele unbeteiligte Aborigines man auch tötete, alles blieb ohne Erfolg.
Chicago hatte sie gerufen, und sie war mit einigen Vertrauten nach England gekommen. Dort machte der vermeintliche Butler aus ihr, deren wirklicher Name „Tochter des Schlafs” bedeutete, eine für abendländische Zungen aussprechbare „Berenice”. Zu dieser Zeit ging für alle, die eine gewisse Sensibilität aufwiesen, ein Ruck durch Europa. Sie erinnern sich noch? Nein? Dann gehören Sie nicht dazu, zählen zu jener schweigenden Mehrheit der Gleichgültigen (die je nach den Umständen die Divisionen des Bösen verstärken) oder haben Ihre Seele sogar bewusst dem Verderben verschrieben.
Übrigens: das entscheidende Kriterium, das erkennen lässt, ob jemand der einen oder der anderen Seite anhängt, ist die Frage nach der Eindeutigkeit oder Uneindeutigkeit von Worten, Dingen, Situationen, Menschen, Weltanschauungen. Für die Ordensleute beispielsweise war alles einfach, plausibel, vorhersehbar, mechanisch, geplant, mengenorientiert, effizient, normiert: es gab Weisungen und es gab Kontrolle – Werteketten führten hinauf bis zur alles überragenden Zitadelle der Hierarchie. Das andere Modell ist unheimlich, kompliziert, transparent, organisch, kommunikativ, durchlässig, kreativ: das Handeln und Entscheiden erfolgt iterativ – Wertenetze führen immer weiter fort, vielleicht nirgendwohin.
So wirkt sich auf viele normale Menschen, wenn sie es wahrhaben wollen, das Dasein der Walemira Talmai aus, die zwischen den Dimensionen wandert und niemals irgendjemandem vormachen könnte, die Welt sei nicht komplex. Sie lebt andauernd mit den unzähligen anderen Möglichkeiten, die jeder konkrete Schritt aus der Gegenwart in Zukunft jeden Moment aufweist, und bei all dem ist noch nicht einmal das Faktum angedacht, dass sie sich sogar zurück in die Vergangenheit zu bewegen vermag, was die Übersicht noch viel schwieriger macht.
108
Als ein – ohne falsche Bescheidenheit – großer Regisseur, der ein wenig mehr am Kasten hat als Polanski und Antonioni zusammengenommen, denke ich: Ich werde diesen Film nicht drehen! Entweder hat sich die ganze Geschichte überlebt und interessiert keinen Menschen – oder wir haben es hier mit einer höchst realen Propagandaaktion der einen oder der anderen Seite zu tun, dann lasse ich mich erst recht nicht für solche Zwecke einspannen. Schließlich möchte ich nicht den Katalysator spielen für etwas, das bloß so dahinschwelt und womöglich erst von mir voll entflammt wird.
CHICAGO:
Aber es geht hier schon lange nicht mehr um eine Geschichte, sondern um den Versuch, Klarheit zu schaffen in einer Welt, die jemand oder etwas ausgelöst hat. Dieser Jemand oder dieses Etwas legte zwar eine Menge Spuren in bezug auf die innere Architektur des Seienden, aber Eindeutiges finden wir nicht.
Sie meinen Religion und dieses Zeug – Dinge, bei denen man sich oft bewusst in die Irre geführt fühlt! Wissen Sie, was mich an religiösen Menschen so stört? Dass sie diktatorisch sind, die Objekte ihrer Nächstenliebe sehr genau auswählen und ihnen im Namen Gottes befehlen, präzise zu funktionieren. Sie behaupten, die ganze Wahrheit zu besitzen, und das ist doch offensichtlich eine Krankheit, um nicht zu sagen ein geistiger Defekt, denn einer rationalen Überlegung kann diese Attitüde keinesfalls standhalten.
Grafik 1.2
CHICAGO:
Packen wir es also akademisch an und entnehmen dem Instrumentenkasten der Metaphysik die Theologie, genauer gesagt die philosophische Theologie, wo es nicht um den Glauben als solchen geht, sondern um die wissenschaftliche Beschäftigung damit, was alle Religionen oder religionsähnlichen Kulte gemeinsam haben: als das Substrat von Gottheit oder Gottsein. Wenn ich glaube, schaue ich andächtig-naiv von unten hinauf, und zwar nicht ganz bis zu jenem Substrat, sondern lediglich zu dem speziellen überirdischen Bezugspunkt meiner Spiritualität. Mehr noch (oder besser weniger): Selbst mit diesem komme ich als subalterner Gläubiger gar nicht in Berührung, sondern ich sehe den Priester (in meinem Fall Berenice) und ahne dessen persönliches Meta-Erlebnis (das Geistwesen der Walemira Talmai) und bekomme die geisterhaften Ahnen unseres Volkes offenbart, aber in einer Wiese, dass deren Heiligkeit jede weitere Frage verstummen lässt.
Ich verstehe: das erklärt Glauben. Wenn man aber statt dessen…
CHICAGO:
… oder parallel dazu…
… seinen Verstand benützen möchte, bleibt es einem unbenommen, in einer Reihe neben Ihren geisterhaften Ahnen die Gottheiten des Christentums, des Islam und so weiter und so fort zu sehen.
CHICAGO:
Aber das ist wieder sehr abendländisch gedacht. Als ich am Londoner Philosophie-Programm die Intercollegiate Lectures hörte – mit Billigung von Berenice, die wohl gewahr wurde, dass mich all das, was wir da trieben, intellektuell nicht völlig ausfüllte –, hat mich am meisten Ihre westliche Denkkultur fasziniert, die doch erheblich von unserer abweicht: Diese Kategorien, diese Hierarchien, dieses Schubladensystem, indem die ganze weite Wirklichkeit am Ende aussieht wie ein Wust verstaubter Karteikarten. Dieser Hochmut des Mainstream gegenüber alternativen Konzepten und Szenarien! Ich weiß gar nicht, wie man diese Position genau definieren soll!
Nennen Sie sie euklidisch!
CHICAGO:
Genau das ist es! Die euklidische Rationalität im Gegensatz zu einem System unerwarteter und ungeplanter Prozesse. Natürlich ist und bleibt es eindrucksvoll, wie Euklid seine Definitionen, Begriffe und Postulate zu einem axiomatischen Gebäude zusammenfasst. Seine Beweisführungen zeigen, immer innerhalb dieses Systems, wie wirkungsvoll und nützlich es sein kann, deduktiv vorzugehen. Allerdings – der lange und schmerzliche Prozess der Entdeckung und Entwicklung nicht-euklidischer Geometrien zeigt die Grenzen deduktiven Folgerns: dass nämlich jeder Beweis nur so gut ist wie die Axiome, von denen er ausgeht.
Oder ganz banal ausgedrückt: in einer nicht-euklidischen Geometrie ist die Gerade nicht notwendigerweise die kürzeste Verbindung zweier Punkte. Und ebenso führt das geradlinige Denken, sprich Argumentieren nicht notwendigerweise am schnellsten zum Ziel…
CHICAGO:
… oder wenn schnell, dann nicht unbedingt zum richtigen Ziel. Der Instanzenweg, der in einem nicht-euklidischen Bewusstseinsraum in zwei großen Schleifen vom simplen Dasein über den Glauben zum Wissen führt, ist lang – und dennoch für den normalen Menschen der einzige, den er hat.
Grafik 1.3
Da müsste schon ein Meister oder eine Meisterin her, um mit besonderen technischen oder mentalen Mitteln eine kurze Verbindung schaffen zu können, die den raschen Durchmarsch ohne nennenswerten Aufenthalt ermöglichen würden. Dieses so skizzierte Universum könnte allerdings genausogut auf dem Kopf stehen – es kann ja explizit kein Oben und kein Unten haben. In diesem Fall würden der lange, aber auch der kurze Weg für unser soeben gewonnenes Verständnis zurückführen an unseren evolutionären Anfang.
CHICAGO: Ich sehe, wie sehr Sie in das Problem eingedrungen sind! Da erhebt sich dann aber schon die Frage: Wieso hat Stanley Kubrick die bewussten Filme gedreht und nicht Sie? Fehlte es womöglich am Drehbuch?
DIE DREHBUCHAUTORIN:
(winkt heftig ab)
Ich weiß schon – und das sage ich jetzt ganz zahm und ohne jene chauvinistische Anzüglichkeit, die dir nur unter den Rock will –, dass mir nicht leicht ein Drehbuch recht ist, aber ich weiß ebensogut, dass ich es selbst auch nicht besser könnte. Das ist eben Stanleys Genialität.
CHICAGO:
Gibt es denn eine spannendere Ausgangssituation als die des Wettstreits der Vernunft mit dem Glauben? William von Ockham, den ich an der Universität von Anfang an als die interessanteste geistige Fingerübung für nicht-englische Philosophen betrachtet habe, stellt fest, dass der Ungläubige all das Wissen, sei es einfach oder komplex, erlangen kann, das auch der Gläubige hat – der einzige Unterschied besteht eben darin, dass der eine im Stand des Glaubens ist und der andere nicht. Der entscheidende Punkt muss sein, so Ockham, dass Wissenschaft (und ich füge jetzt eigenhändig hinzu: auf ähnliche Weise das Schreiben sowie das Verfilmen von Fiktionen) mit Propositionen, mit Thesen zu tun hat und nicht mit den Dingen an sich. Das Objekt des Ockham’schen Wissenschaftlers (und damit meinetwegen auch des Drehbuchautors bzw. Regisseurs) ist nicht WAS IST, sondern WAS MAN WEISS.
Das heißt, wenn ich mich frage, woher meinem Kollegen Stanley die Ideenwelt der „Odyssey“ zugeflogen ist, schlage ich nach bei Ockham, dem Vater des Nominalismus…
CHICAGO:
… und finde dort Objekte, die in uns Sinneseindrücke hervorrufen, die wiederum durch den aktiven Intellekt in geistige Bilder umgewandelt werden. Diese Bilder sind daher Produkte des Intellekts, nicht Abbilder, die von den Objekten in den Intellekt fließen.
Der langen Rede kurzer Sinn: Wir sind imstande, neben den vielleicht (denn völlig sicher sollte man sich darüber nicht sein) vorhandenen objektiven Bildfolgen einen jedenfalls in unserer Macht stehende subjektiven Bilderreigen zu entwerfen. Und genau das, argumentieren Sie, habe Kubrick gemacht?
CHICAGO:
Und genau das unterscheidet ihn – pardon! – von allen anderen Regisseuren, die wir kennen!
109
Ich gedachte meinen Vater, den Grafen, zu warnen. Seit ich jenen Text entdeckt hatte, war da ein Hinweis, dass etwas mit diesem Chicago, der sich als Butler in seine Nähe gedrängt hat, nicht stimmte. Immerhin gab es ja im Schloss schon lange das Gerede, der Mann stünde im dauernden Kontakt mit den Leuten, die Lady Prudence’s Landsitz in Besitz genommen haben. Und eine von denen sei die Person, von denen in der Schrift die Rede ist!
Man fragt sich, wie sie lebt, wenn sie tatsächlich jene Fähigkeiten besitzt, die ihr hier zugeschrieben werden. Ich meine, kann man dieses Talent auch nach Belieben ausschalten, sodass es einem nur zu Gebot steht, wenn man es gerade zu benötigen glaubt? Oder ist es immer da und ist man somit stets gezwungen, in Menschen hineinzusehen wie andere in ein aufgeschlagenes Buch, den Gesprächspartner stets auf der Zeitachse zu verschieben wie ein anderer eine Schachfigur?
Den Focus der Gefahr sah ich allerdings sehr deutlich auf meinen Vater gerichtet, denn ich selbst hatte seltsam angenehme Erlebnisse. So begegnete ich eines Tages, als ich zur Sommerzeit im Schloss weilte, auf einem der weniger belebten Gänge eines Seitentrakts, in den ich mich gerne zurückzog, meiner toten Mutter. Es handelte sich jedoch ganz offensichtlich nicht um ihren Geist, sondern ich selbst war in der Zeitlinie rückversetzt worden, was mir im übrigen keinerlei Unbehagen oder Angst bereitete, selbst als es mir im Lauf unseres Gesprächs schlagartig bewusst wurde. Die Begegnung als solche und damit auch der Inhalt des Gesagten hatte in der Vergangenheit, die meine Erinnerung füllt, definitiv nicht stattgefunden, sodass mir klar wurde, es sei dies noch dazu eine Verlagerung in eine andere, eine bloß mögliche Historie.
DER GROSSE REGISSEUR:
Hoffentlich ist das nicht ein zu durchsichtiges Set anderer Wirklichkeiten. Schließlich sind die Zuschauer heutzutage von jeder Menge utopischen Krams so vollgefressen, dass sie glauben, die zukünftige Realität bereits zu kennen. Was Sie hier beschreiben, meine liebe Komtesse…
DIE DREHBUCHAUTORIN:
Wie höflich und charmant er sein kann, wenn er will. Wieso fragst du sie nicht (so wie jede andere Frau), ob sie dir…
DER GROSSE REGISSEUR.
(tut das ab mit einer beherrschenden Geste) … was Sie also beschreiben, ist schließlich ein Phänomen der Zeitwahrnehmung, die sich bekanntlich wesentlich unabhängiger vollzieht als das Raumerleben. Damit ist Zeit auch viel leichter manipulierbar als Raum. Dazu braucht man bloß die psychische Präsenzzeit – die kleine Zeitspanne, in der das eben Vergangene noch unmittelbar bewusst ist – verlassen und in jenen Bereich vordringen, der aus dem Gedächtnis hervorgeholt werden muss. Dies hat nun nicht mehr Wahrnehmungscharakter, sondern ist bereits Erinnerungsvorstellung, und die kann naturgemäß ordentlich trügen.
DIE DREHBUCHAUTORIN:
So tief eingedrungen ins psychologische Standardwissen, können wir auch andere Phänomene archetypischer Wucht festmachen: Der Stolz darauf, dass der Vater sich zu ihr als Mann herabgelassen hat, kämpft in der Komtesse mit dem (durch die Wehklage der toten Mutter in ihrem Unbewussten repräsentierten) Abscheu vor der verbotenen Beziehung. Diese Extreme drohen nahezu, ihre Persönlichkeit zu spalten.
Ich bin zu schwach, sagte die Mutter, um den Alten von dir fernzuhalten.
Mach dir keine Gedanken deshalb, versuchte ich sie zu beruhigen. Schließlich war ich von einem bestimmten Tag an alt genug, um auf mich selbst zu achten, und es ist nicht notwendig, so zu tun, als sei ich bei all dem ganz passiv gewesen. Selbstbewusst, wie der Vater mich erzogen hat (jedenfalls auf der offiziellen Ebene dieses Prozesses), wusste ich wohl auch, wie man sich verhält, sich kleidet oder wie man spricht, um bestimmte Wirkungen zu erzielen. Dessenungeachtet denke ich auch gern an jenen anderen Teil meiner Kindheit zurück, den ich in deiner Geborgenheit verbracht habe. Weißt du noch, wie du oft beim Einschlafen für mich gesungen hast? An diesen Abenden hat sich der Graf nicht blicken lassen, da er nicht die Idylle eines Wiegenliedes, zu der er weiß Gott keinerlei Affinität hatte, zerstören wollte.
Kannst du noch einmal für mich singen? fragte ich. Und sie tat’s mit der Bemerkung, dass sie nun ohnehin bald sterben und mich (aus ihrer Sicht) völlig allein lassen würde:
Morgen früh, wenn Gott will,
wirst du wieder geweckt…
DER GROSSE REGISSEUR.
Jetzt reicht’s aber wirklich!
DIE DREHBUCHAUTORIN:
Eine exquisite Figur macht sich ein wenig selbständig – igittigitt! – und schon verfällt sie in naive Verhaltensweisen.
Wie auch immer das gesehen wird (und eigentlich kann ich auf derlei Zwischenrufe ab sofort gerne verzichten): Als ich nach einiger Zeit meine Tränen getrocknet hatte, war die Mutter wieder verschwunden (oder ich selbst in die Gegenwart zurückgekehrt).
Weit gravierender war jedoch die Begegnung mit einem Mädchen (wieder etwa an der gleichen räumlichen Stelle), von dem ich plötzlich wusste, dass es mein Kind war, das tot geboren worden war. In einer Parallelexistenz lebte es aber und kam für kurze Zeit aus einem Spalt zwischen diesem und dem anderen Universum. Meine Tochter erklärte mir ihren Rückzug aus meiner Nähe mit der für sie inakzeptablen Tatsache, dass der Graf von B. gleichzeitig ihr Vater und ihr Großvater sei.
Aufgrund der Erfahrungen mit der Mutter zögerte ich nicht lange und drückte das Mädchen fest an mich, während auch sie ihre Arme um mich schlang. Wir wussten wohl beide, dass dieses wortlose Glücksgefühl, das wir bisher als uneinbringlich erlebt hatten, nicht lange dauern konnte. Die magische Freundin des Butlers Chicago ist es, flüsterte mir meine Tochter zu, und so lange sie den Lauf der beiden aneinander vorbeigleitenden Universen synchron halten kann, sind wir zusammen.
Da schien es so gar nicht geboten, irgendetwas Ausführliches zu sagen – jeder Satz konnte zu lang sein, jeder Gedanke zu viel: der Mensch bleibt aber der er ist, diesseits und jenseits aller Demarkationslinien: Geht’s dir gut da drüben, Kleines? fragte ich, was jede Mutter fragen würde, während ich weiterhin ihre Wärme in mich aufnahm, um spätere Erinnerungen aufzuladen. Keine Sorge, Ma, antwortete sie, ich bin nicht unglücklich, schließlich ist das mein Leben, und – – – weg war sie.
Von da an hielt ich alles für möglich, auch dass Romanfiguren leben. Und meinen Vater, den konnte ich plötzlich nicht mehr warnen, weil mich irgendetwas daran hinderte. Ich wollte aber auch nicht, und dieses Nicht-Wollen vermischte sich auf merkwürdige Weise mit dem Nicht-Können.
110
Ich sag dir jetzt was, Hardy: Wir melden uns einfach zu Wort, sonst kommen wir gar nicht mehr dran! Das darf doch nicht sein, dass wir den Lesern so in Erinnerung bleiben wie zu Beginn dieser Geschichte.
HARDY:
Da schauen wir ordentlich blöd aus, was? Zwei total beknackte Typen, die sich eine Frau kaufen, dann aber nichts von ihr wollen als ein wenig Herumsitzen und Reden.
Dabei sind wir Künstler. Denk nur daran, als wir zur Schule gingen, zwei absolute Nullen, wie alle sagten, und wir glaubten das zuletzt selbst. Aber dann haben wir uns entschlossen, etwas Außergewöhnliches zu machen, freilich ohne uns allzu sehr anzustrengen.
HARDY:
Blieb wirklich nur – die Kunst! Am besten Performance Art, denn dazu braucht man keinerlei handwerkliche Voraussetzungen, nur verrückte Ideen, geldgierige Modelle sowie stinkreiche Sponsoren.
Psst! Nicht so laut, muss ja nicht gleich jeder wissen, dass da nicht viel dahinter steckt. Unsere Kunst ist die Illusion, der Taschenspielertrick, bei dem die Hand schneller ist als das Auge. Und außerdem: unser Niveau ist schon viel höher geworden, seit wir mit den ersten Arbeiten so viel Geld verdient haben. Immerhin hat die Brigitte-Installation fast 150.000 $ ge¬kostet, wofür man schon Einiges auf die Beine stellen kann: den geheimnisvollen Ort, das Schloss, die Aktrice, die angeblich bereit ist, alles mit sich geschehen zu lassen.
HARDY:
Du, Ralph, glaubst du eigentlich diesen philosophischen Kram, den du als Begleitprotokoll zur Installation verfasst hast? Dass der Mensch extrem anpassungswillig ist und so?
Klar, Hardy! Dass man selbst im Archipel Gulag versucht, eine Sinndeutung vorzunehmen, wissen wir seit Solschenizyn. Vor allem geschieht das durch den Aufbau einer persönlichen Beziehung zum eigenen Peiniger, der dies in der Regel zulassen wird, zumal es auch seinen eigenen Genuss (jedenfalls kontaktorientiert, wenn nicht sogar erotisch) erhöht.
HARDY:
Jaja, Bruder, die Seele ist ein weites Feld!
Siehst du, es ist nicht vergebens, dass ich dich im Lauf der Zeit mit Bildung vollgestopft habe. Hättest du jetzt noch gesagt „ein weites Land”, wäre die Poesie dieses Satzes perfekt gewesen (allerdings auch ein Diebstahl des geistigen Eigentums von Arthur Schnitzler)!
HARDY:
Wow – ich bin der Größte! Ich brauche einen Künstlernamen!
Da wir in der Kunst gemeinsam auftreten, werden wir uns die „Dream Twins” nennen: die Verwirklicher von Träumen, die Verzauberer des Schlafs.
HARDY:
Was glaubst du, warum sie die 100.000 genommen hat?
Hat eben auch ihre Träume! Will vielleicht ein Buch schreiben oder einen Film drehen! Und unser Deal mit ihr ist viel ehrlicher als manches andere Geschäft in der Menschenhandelsbranche. Subtiler verpackt im moralisch-institutionellen Seidenpapier sind vielleicht nur noch die Ehen alter Geldsäcke mit jungen Beauties.
HARDY:
Es hätte aber für Brigitte handfester ausgehen können! Was wären die Besucher nicht alles anzustellen in der Lage gewesen – am geheimen Ort und anscheinend ohne Zeugen und unter Umständen, die ihnen suggerierten, die Dame habe sich völlig freiwillig in diese Situation begeben.
Ehrlich gesagt – vor allem im Hinblick auf unsere Performance – hätte ich mir ebenfalls mehr erwartet. Aber diese Besucher waren absolute Weicheier, wie sich herausstellte. Am liebsten wäre ich hinuntergegangen, hätte sie alle rausgeworfen und mir selbst geholt, was ich mir wünschte. Allein – irgendetwas oder irgendjemand hielt mich zurück.
HARDY:
Jetzt wo du das sagst, wage auch ich es auszusprechen: Ralph, Bruder, glaubst du so wie ich, dass wir beide vielleicht gar nicht real sind, sondern nur in der Phantasie anderer Menschen existieren?
Gut möglich, Mann! Diese Interpretation hat etwas für sich. Schreib als Überschrift „Unser Leben ist ein Traum”, und plötzlich gewinnt alles seine tiefe Plausibilität.
111
Der Stabschef war smart. Er wusste, dass er – wollte er einen guten Job machen – nach allen Seiten hin offen und gesprächsbereit bleiben musste. Daher traf er sich auch regelmäßig mit mir, dem vielleicht erbittertsten Gegenspieler des Ordens, auf neutralem Boden, wofür er von seinem Chef naturgemäß kein Pouvoir bekommen hatte. Wir führten eigentlich leidenschaftslose, äußerst zivilisierte Gespräche, entsprechend dem Erziehungsstandard der britischen Oberschicht, die niemals einer Emotion allzu großen Raum geben würde. Bereits das erste unserer Treffen war bemerkenswert. Es fand in der First Class eines Fluges London-Stockholm statt, bei dem wir zufällig nebeneinander saßen. Die Reihen vor und hinter uns waren leer, dafür war vom Arrangeur des Termins offenbar gesorgt worden.
Was sagt eigentlich die Walemira Talmai dazu, dass wir uns unterreden? fragte der Stabschef (und gab damit elegant zu verstehen, dass er über uns bestens Bescheid wusste). Keine Einwände – im Gegensatz zu Ihrer obersten Instanz! antwortete ich knapp (und zeigte ihm, dass auch ich umgekehrt informiert war). Aber Madame Berenice könnten wir so etwas wohl kaum verheimlichen, fuhr ich fort, was den Schluss nahelegt, sie habe vielleicht selbst das Ganze eingefädelt.
Danach Schweigen (wir wussten, wir hatten genau 2 Stunden 35 Minuten Zeit, und es gab daher keinen Grund, sich frühzeitig aus der Reserve locken zu lassen).
Schließlich ging ich zu einem ersten kleinen Angriff über: Wieso fallen Sie eigentlich Ihrem Boss in den Rücken? meinte ich gönnerhaft lächelnd, aber das war für ihn kein Problem: Unsere Ordensphilosophie, alter Freund! Als ob Sie es nicht wüssten und daran täglich Ihre Sinne schärften – nämlich an der Paradoxie, dass ich die Regeln dieses Clubs auf jeden Fall befolge, ob ich nun einen äußeren Gegner wie Sie vernichte oder inneren Verrat begehe.
BERENICES DIENERIN:
Und – hast du ihn daraufhin geknackt?
Das lag keinesfalls in unserer Absicht! Ich versuchte zunächst, ihn möglichst genau kennenzulernen, um ihn schließlich (aber so weit waren wir noch lange nicht) neutralisieren zu können.
BERENICES DIENERIN:
Diesen Job hätte ich gerne übernommen – einmal was anderes als für die Walemira Talmai (sie verneigt sich ehrfürchtig) die alltäglichen Handreichungen zu machen sowie ab und zu für jemandem hier im Haus als Lustobjekt zu fungieren. Wenn nur du wieder einmal kämest, Chicago, oder mich wenigstens auf den Stabschef angesetzt hättest!
Ich komme keinesfalls dann zu dir, wenn du darauf wartest, das weißt du genau: Und was den Stabschef betrifft, ist er dort für uns nützlich, wo er ist – es geht, nochmals betont, nicht im Geringsten darum, ihm direkte Schwierigkeiten zu machen.
BERENICES DIENERIN:
Aber es wäre doch nett für ihn, wenn er ein Erlebnis mit einer furchtbar schwarzen Naturschönheit wie mir hätte…
BERENICE SELBST:
(gerade einmal einen Moment hinhörend, an Chicago gewandt) Wenn sie zu viel Unsinn quatscht, schick sie ein wenig hinaus in den Park – dort kann sie sich abkühlen! (und an die Dienerin) Merk dir eines, Liebling: Wir sind niemals Lustobjekte, da wir ja immer das tun, was die Natur uns vorschreibt, und das heißt, dass wir vom Verhalten unserer Stammesgenossen niemals überrascht werden und uns von diesen niemals Gewalt angetan werden kann!
BERENICES DIENERIN:
(übergeht den Einwurf rasch) Worüber habt ihr euch auf dem Flug noch unterhalten?
Nun, ich fragte ihn: Was halten Sie von William Ockham, Sir? Ich habe ihn im Londoner Philosophie-Verbund gründlich studiert und mein westliches Denken an ihm geübt.
Der Stabschef, jeder Zoll ein britischer Gentleman (der übrigens nie ein Verhältnis mit einer Koori eingehen würde!) und Meister aller Klassen bei seiner äußerst reservaten NATO-Truppe, hatte das Dossier auch in diesem Fall parat: William of Ockham, Franziskaner, Nominalist, Beiname eines „doctor invincibilis“; geboren 1280; „bachelor’s degree“ in Oxford und „master’s“ in Paris; wahrscheinlich, das heißt ziemlich sicher Schüler des Duns Scotus; eigene Lehrtätigkeit an der Sorbonne, wo die philosophische Fakultät allerdings vor seinen Ansichten warnt; unterstützt den Ordensgeneral Michael von Cesena bei dessen Eintreten für das absolute Armutsideal, damit in Opposition zu Papst Johannes XXII.; Propagandist Kaiser Ludwigs des Bayern im Streit mit der Kirche; nach dem Tod des Mentors bleibt Ockham zusammen mit den anderen radikalen Franziskanern im Regen stehen; er stirbt 1349, während des Versuchs, klein beizugeben und die Aufhebung seiner Exkommunikation zu betreiben.
Wäre das interessant gewesen, für eine der beiden Seiten geheimdienstlich tätig zu sein! meint der Stabschef nach einigem Überlegen. Und entsprechend Ihrer Neigung wohl eher auf der weltlichen Seite? forschte ich ihn vorsichtig aus. Ach, das hat nichts mit Neigung zu tun, parierte er unbefangen, sondern mit der Tatsache, dass die Position des Kaisers die viel schwierigere gewesen sein dürfte. Schließlich waren auch seine eigenen Territorien von Agenten des Papstes durchsetzt – jeder Priester im Wittelsbacherland ein potentieller Feind des gebannten Herrschers. Aber wahrscheinlich, setzte er fort, bedeutet schon das, den Motivationshorizont der damals Lebenden zu überfordern. Wie überhaupt der wahre Sinn von Geschichte (so man ihm überhaupt auf die Spur kommen will) weit jenseits der Frage, wie es denn gewesen sei, liegt: wie es dazu gekommen sei, was diesen oder jenen bewogen habe, so und nicht anders zu handeln.
Zustimmend meinte ich: Das müssen Sie sich auf der Zunge zergehen lassen, wie William eines seiner philosophischen Werke genannt hat – Expositio aurea et admodum utilis super totam artem veterem, also quasi eine herrliche und zugleich ungemein nützliche Darlegung sämtlichen alten Wissens, worin eine akademische Anmaßung zum Ausdruck kommt, die man heute nur sehr schwer nachvollziehen kann.
BERENICES DIENERIN:
Wenn man ganz ehrlich ist, gilt dasselbe noch einmal auf der Meta-Ebene, auf der dein Gespräch mit dem Stabschef anzusiedeln ist: Umberto Eco lässt grüßen!
Was weißt du schon von Eco?
BERENICES DIENERIN:
Ich lese sehr viel mit Verlaub – oder was glaubst du, sollte ich die ganze Zeit, seit wir hier sind, gemacht haben, um meinen Verstand in Bewegung zu halten. Ich habe gelernt, die Jagd, mit der ich mich in der Heimat beschäftigte und die mich großteils erfüllte, ins Geistige zu sublimieren!
BERENICE SELBST
(kommt Chicagos Bemerkung zuvor, obwohl man inzwischen wiederum annehmen konnte, sie wäre der Unterhaltung nicht gefolgt) Beherrsch‘ dich, mein Guter, und sag‘ jetzt nichts Unüberlegtes!
Aber sie unterstellt, hier würden analog zu Eco Geschichten erzählt, die lediglich eine gnadenlose Ausbeute historischer Lesefrüchte seien! Ich sage doch nichts anderes als dass ich im intellektuellen Geplänkel mit dem Stabschef ein bestimmtes Thema, bei dem ich sattelfest war, angeschlagen habe – ich habe dich doch richtig verstanden, dass es nur um den Kontakt als solchen und nicht um den Inhalt unseres Gespräches ging? Und ich darf wohl sagen, mein Kontrahent und ich konnten Waffengleichheit und Ebenbürtigkeit feststellen, als wir die alte Spiegelfechterei der Christologie am Beispiel Ockhams noch einmal durchkämpften: Kann man dem Philosophen dabei zustimmen, dass die menschliche von der göttlichen Natur Christi vorausgesetzt und angenommen wird?
Das haben wir eine ganze Weile diskutiert, bis wir dann knapp vor der Landung in Stockholm abbrechen mussten und den Flieger wie zwei scheinbar Fremde verließen: Folgerichtig wäre doch der Consubstantiation vor der Transsubstantiation der Vorzug zu geben, denn weder die Schrift (wenn man sie genau liest), noch der eigene Verstand (wenn man ihn gebraucht) widersprechen der Möglichkeit, dass die Substanz Brot in der Eucharistie bestehen bleibt. Denn: es ist nicht nötig, dass die göttliche Substanz die irdische verdrängt, tritt sie doch in diesen Zusammenhang ohne Quantität ein…
BERENICES DIENERIN:
Und darüber können sich Männer nun stundenlang unterhalten?
Du hast gar nichts verstanden – das war nicht Unterhaltung, sondern ständiger Vergleich, Ausloten der gegenseitigen Spielräume mit dem Ergebnis erster Umrisse einer friedlichen Koexistenz: Politik eben!
BERENICES DIENERIN:
Das heißt, ihr habt um die Wette gepisst und es ist unentschieden ausgegangen? (zur Walemira Talmai gewandt) So lautete dein Auftrag?
BERENICE SELBST:
(hat offenbar beiden längst nicht mehr zugehört).
Über Ockhams Rasiermesser haben wir jedenfalls nicht diskutiert, denn das wäre ein wirklich brisantes Thema, heute mehr denn je: die Überflüssigkeit von Vielheit! Das sogenannte Ökonomieprinzip verlangt vom Philosophen, alle für die Erklärung einer Sache überflüssigen Begründungen wegzulassen, nämlich im Wortsinn wegzuschneiden, was zugleich Metaphysikkritik auf sprachlicher Basis bedeutet und – nebenbei – die Mahnung, nicht auf Formulierkünste (vor allem nicht auf die eigenen) hereinzufallen.
BERENICES DIENERIN:
Du meinst, Ockham wende sich hier gegen den Irrglauben, jedem sprachlichen Ausdruck müsse auch eine eigene Realität entsprechen? Diese Gefahr ist doch für englische Philosophen deutlich geringer als für deutsche (wie man in der Philosophiegeschichte nachlesen kann), wenn man nämlich bedenkt, um wieviel mächtiger der Wortschatz des Deutschen ist als jener des Englischen: Da erklärt sich ein wenig manch dicker Wälzer, der im 19. Jahrhundert geschrieben wurde.
Die Vermehrung von Entitäten sollte nicht ohne jede Notwendigkeit geschehen – damit nimmt Ockham schon etwas von der Kritik vorweg, die Nietzsche einige Jahrhunderte später an der denkenden Décadence üben wird, greift aber gleichzeitig auf etwas zurück, das Aristoteles gut eineinhalb Jahrtausende davor geschrieben hat. Merkwürdigerweise kam vom Stabschef dazu nur eine menschlich anrührende Bemerkung: Was immer sie tun, wie hemmungslos sie sich auch bei den Ideen anderer bedienen, wogegen sie auch kämpfen, am Ende versuchen sie noch immer, ihren Frieden mit dem Jenseits zu machen, denn ein Exitus ihres Geistes zusammen mit jenem des Körpers erscheint ihnen unerträglich.
BERENICES DIENERIN:
Und – hast du ihn womöglich getröstet?
Sollte ich jemanden trösten, der „Ockhams Razor“ als Kürzel für eine spezielle britische Militäreinheit, von der die NATO gar nichts weiß, kreiert hat: Office for Randomizing Zones of Obstructive Raids, kurz O’RAZOR, und die beschäftigten sich beileibe nicht nur mit der Auswahl von Terrorzielen, sondern führten die geplanten Schläge auch erbarmungslos durch. Unser Freund war als Befehlshaber nicht jener Schöngeist, als den man ihn in den Clubs und Salons von Upper Class London kannte. Er hatte die Nahkampfausbildung der Royal Army und ebenso jene des US Marine Corps (für ihn als Briten eine Hölle der primitivsten Demütigung) erfolgreich absolviert, vermochte mit einem bestimmten Griff zu töten – wünsch dir also nicht unbedingt, in seine Hände zu geraten.
BERENICES DIENERIN:
Dennoch fasziniert er mich…
… weil die meisten Frauen üblicherweise Macht attraktiv finden…
BERENICES DIENERIN:
… und ich würde gerne viel mehr Näheres über ihn erfahren, zum Beispiel wie er die Boys von O’RAZOR für einen Einsatz zusammenzieht.
Die arbeiten normalerweise gut getarnt in diversen Zivilberufen und lesen in der „Sun“ eine Annonce, die so oder ähnlich lautet:
Ankündigung
eines Vortrags mit dem Thema
William von Ockhams
Stellung als spätscholatischer
Nominalist
in der allgemeinen
Philosophiegeschichte
Entscheidend ist dabei immer Ort und Zeitpunkt des vermeintlichen Vortrags, zu dem unter Garantie niemand (schon gar nicht aus der üblichen Leserschaft der „Sun“) erscheinen wird – wohl aber die Eingeweihten. Dort erfolgen dann Befehlsausgabe und Strategiebesprechung und danach – wenn es der Zeitplan überhaupt erlaubt – ein oder zwei Wochen unverfängliches gemeinsames Training in einem Athletikverein.
Zu guter Letzt schlagen sie zu, um dann dem Stabschef (den übrigens von dieser Mannschaft keiner in seiner Ordensfunktion kennt, sondern als treuen Offizier Ihrer Majestät) Meldung zu machen: Target extinguished – das bedeutet dann, jemand hat ins Gras gebissen.
BERENICES DIENERIN:
Woher willst du all das wissen?
Die Walemira Talmai verfolgt mit großer Aufmerksamkeit sämtliche Aktivitäten des Stabschefs, vor allem auch jene, die mit dem Orden in keinem Zusammenhang stehen, denn wir wollen jeweils ein möglichst umfassendes Bild der Lage haben.
BERENICES DIENERIN:
Und ihr seht tatenlos zu, wie der Typ Leute abmurksen lässt?
BERENICE SELBST:
(plötzlich aufmerksam geworden) Genug gefragt! Wir handeln schon richtig, darüber brauchst du dir nicht den Kopf zerbrechen!
Und zu deiner speziellen Beruhigung – der Stabschef besitzt auch in diesen Geschäften eine bemerkenswerte Sensibilität. Lass es mich einmal so for¬mulieren: Um die Opfer von O’RAZOR ist in dieser Welt nicht wirklich scha¬de…
112
Ich erinnere mich noch genau daran, wie das Raunen über interstellare Kontakte in den höheren Rängen der US Forces deutlich zunahm. Nicht dass jemand behauptete, es sei wieder einmal ein gestrandetes UFO gefunden und dessen Besatzung verhaftet worden – aber irgendeinen Anlassfall muss es gegeben haben. Auf Anfrage sagte mir mein unmittelbarer Vorgesetzter in Ramstein, in einer bei ihm seltenen Mischung von Zurückhaltung und Zorn: Geheimsache bis zur Kommandostufe des Generals! Das bedeutete normalerweise, dass er selbst nichts wusste, und das machte ihn krank. Das geht Sie nichts an, Lieutenant Wolf! bellte er folgerichtig mich an. Die Wissenschaftsoffiziere (Sie wissen schon: alles hohe Chargen, obwohl sie in ihrem Leben noch nie einen wirklichen Feind gesehen oder gar auf diesen geschossen haben) liefen mit geheimnisvollen Gesichtern herum. Auf Seiten des Ordens pfiff mich unser Stabschef zurück, indem er sagte: Wir haben damit nicht das Geringste zu tun!
Gefühlsmäßig erschien mir das als die dickste Lüge, die ich seit langem gehört hatte. Da ich mir ohnehin nicht gerne das Denken verbieten lasse, schon um mich selbst zu schützen, begann ich vorsichtig, da und dort ein wenig nachzufragen, viel zu lesen (obwohl mir das nicht besonders gegeben ist) und in den verschiedenen Datenbanken, soweit sie mir zugänglich waren, zu suchen, wobei ich mich bemühte, keine Spuren zu hinterlassen. Was ich mir dabei zusammenreimte, war etwa Folgendes:
Man weiß, dass viele Sonnensysteme älter sind als unseres, dementsprechend gibt es viele Planeten, auf denen längst Leben entstanden sein kann. Die möglichen Zivilisationen dort sind – wenn sie noch immer existieren – viel weiter als unsere. Wenn wir zum Mond fliegen, erscheint es denen als Gehopse von Flöhen, wenn wir Langstrecken-Funksignale ins All senden, kommt es ihnen vor wie Grillengezirp.
DIE KOMTESSE:
Dennoch: wir sind da!
Ja, wir sind da, auch wir gehören daher zu denen, die es geschafft haben, jedenfalls bis jetzt. Auch wir machen uns inmitten der allgemeinen Prozessrichtung des Universums von mehr Ordnung zu mehr Unordnung breiter als wir sind, transformieren dabei Energie der strukturierten Form wie Nahrung, Sonnenlicht oder Elektrizität exzessiv in planlose Hitzeenergie.
DIE KOMTESSE:
Wie andere auch kamen wir dadurch tatsächlich auf die naive Idee, das Universum sei genau auf unsere Bedürfnisse so fein abgestimmt. Um nur von der Sonne zu sprechen: sie dürfte nicht jünger sein – da wäre sie nicht stabil genug; sie dürfte nicht größer sein – da würde sie zu wenig Licht geben; sie dürfte nicht weiter weg vom Zentrum unserer Galaxis liegen – dort würde sie keine Planeten mit fester Masse haben; ihre Farbe im Spektrum dürfte nicht anders sein – da wäre sie ungeeignet für die Photosynthese. Und dann die Erde selbst – alles muss exakt passen: die Gravitation, die Dicke der Erdkruste, die Rotationszeit, die Interaktion mit dem Mond, das Magnetfeld, die Achsenneigung, die Zusammensetzung der Atmosphäre und vielleicht noch zwei Dutzend anderer Parameter – sie alle zusammen sollten noch dazu über eine lange Zeit ziemlich konstant bleiben.
Es liegt also ziemlich auf der Hand: Wären die Lebensbedingungen nicht so günstig für uns, würden wir gar nicht darüber nachzudenken brauchen. Man sollte daher die physikalischen Konstanten als gegeben akzeptieren und von dort weg fragen, welche Schlussfolgerungen aus der Tatsache zu ziehen sind, dass das Leben genau hier und genau jetzt existiert – und dass es sich relativ hastig entwickelt hat. Vielleicht ist deshalb jemand da draußen nervös geworden: kommt daher von Zeit zu Zeit vorbei und sieht nach, wie es uns geht, aus Sorge darüber, dass die hierorts aus dem Leben resultierende spezifische Intelligenz sehr rasch zu einer galaktischen Landplage werden könnte.
DIE KOMTESSE:
Und das ist die alleroptimistischeste Auslegung – denn wenn es die Besucher wirklich schon gegeben hätte, warum wären sie nicht geblieben und hätten die Erde kolonisiert? Ein Kolumbus des Weltraums zieht doch nicht unverrichteter Dinge wieder ab! Jeglicher Kontakt mit Aliens müsste wesentlich spektakulärer und vor allem für uns wesentlich unerfreulicher sein. Ich weiß zwar nicht genau, was sie mit uns machen würden – uns bewusst ausrotten oder ohne viel zu merken über uns hinwegtrampeln – aber etwas in der Art.
Als Wesen, die ein Set von Überlebensinstruktionen ähnlich den unseren besitzen, hätten auch sie einen Mechanismus, der diese Anweisungen ausführt, wie gefährlich das auch immer für uns wäre. Im denkbar ungünstigsten Fall funktionieren sie wie Computer-Viren und sind damit auch dementsprechend destruktiv.
DIE KOMTESSE:
Wir können somit getrost annehmen: aus diesem Universum war noch niemand hier! Und was mögliche andere Universen betrifft: da bedarf es komplexer Fähigkeiten und Vorgangsweisen, um mit ihnen in Verbindung zu treten. Dank der Walemira Talmai konnte ich immerhin diese Erfahrung machen.
Oder sie hat Ihnen etwas vorgegaukelt!
DIE KOMTESSE:
Und wenn schon. Ich bin dennoch von tiefstem Wissen erfüllt – und es ist gleichgültig, ob ich mir das nur einbilde.
Lassen wir die anderen Realitäten einmal beiseite: Welchen Rat sollte man jetzt Ihres Erachtens den militärischen Eggheads geben, die sich so emsig um unsere Zukunft sorgen?
DIE KOMTESSE:
Die denkbaren Probleme der Aliens sind zugleich unsere denkbaren Probleme. Sie waren noch nicht da? – Gut, da gibt es vier Möglichkeiten: 1. weil die Wahrscheinlichkeit für die Entstehung von Leben in unserem Universum an sich gering ist; 2. weil diese Wahrscheinlichkeit zwar groß ist, aber jene für Intelligenz minimal; 3. weil zwar viel für eine hohe Intelligenz und den damit verbundenen technischen Fortschritt spricht, dieser aber dann umso sicherer in die Selbstzerstörung jeder Zivilisation mündet; 4. schließlich, weil es zwar auch andere intelligente Wesen in unserem Universum gibt, es diesen aber nicht im Traum einfällt zu verreisen.
113
Die Walemira Talmai (das ist „die, der das Wissen weitergegeben wurde”) kannte sich selbst als intensiv lebendes und alles intensiv erfahrendes Wesen. Überaus mühsam erschien ihr, was sie aus ihrer eigenen komplexen Welt als alltägliche Umgebung ihrer Mitmenschen herausfiltern musste, um mit diesen überhaupt kommunizieren zu können. Deshalb sprach sie von sich selbst oft nur in der dritten Person – um der Schwierigkeit zu entgehen, ein wie immer geartetes Ich für die normalen Gesprächspartner definieren zu müssen. Mehr noch: sie dachte auch so, wenn sie versuchte, die – für ihre Begriffe wesentlich eingeschränkte – Geisteswelt gewöhnlicher Leute nachzuvollziehen, und es ist wichtig zu betonen, dass sie dies in aller Bescheidenheit tat, denn überlegen fühlte sie sich nicht. Sie existierte bloß in dem Bewusstsein, von den anderen als anders empfunden zu werden: Die „Tochter des Schlafs” war von einer besonderen Atmosphäre umgeben, die aus ihrer psychischen Kraft, aus allen spirituellen Überlieferungen und aus einer magischen Weltordnung gewebt war. Ihr selbst stand, ohne dass sie sich lang besinnen musste, die Fähigkeit zu Gebote, geistige Energie zu steuern und zu transformieren. Mit den Bezeichnungen Hypnose, Präkognition, Telepathie und Teleportation konnte sie nicht viel anfangen, stellten das doch für sie ganz gewöhnliche und in keiner Weise paranormale Techniken dar. Für Berenice war damit keine Manipulation der Naturgesetze verbunden…
DER STABSCHEF:
… was ihr westlich-aufgeklärte Beobachter wie ich – bevor ich mich eines Besseren besinnen musste – gerne unterstellten…
… sondern einfach die Beherrschung des eigenen Geistes und des eigenen Körpers. Im Prinzip hatten wir ja alle, die mit Berenice aus der fernen Heimat nach England kamen, mehr oder weniger diese Fähigkeit, denn wir waren noch weitab von der sich unaufhaltsam ausbreitenden weißen Zivilisation aufgewachsen und hatten die traditionellen Initiationsriten durchlaufen. Der wesentliche Unterschied zwischen unserer Gruppe und der Walemira Talmai bestand darin, dass sie unsere Meisterin war, weil ihre Ausbildung in jeder Beziehung härter war und jeder von uns dabei kläglich gescheitert wäre.
DER STABSCHEF:
Wie Sie das ansetzen zu sagen, Chicago, wird mir ganz feierlich zumute.
Mit Recht nehme ich dabei Haltung an und spreche im gehobenen Ton: Sie, die „Tochter des Schlafs”, der Einfachheit halber Berenice genannt, musste das Tor durchschreiten, das eine völlige Zerlegung der herkömmlichen Persönlichkeit und den anschließenden Wiederaufbau im Zeichen der geisterhaften Ahnen, das heißt in deren ungeheuer komplizierter schöpferisch-chaotischer Struktur bedeutete – ein äußerst gefährliches Unterfangen, bei dem sich im Lauf der Geschichte unseres Volkes (in der all das Vergangene stets gegenwärtig bleibt) genug Kandidaten am Ende nicht wiedergefunden haben und als völlig verwüstete und verwünschte Tiere unwiederbringlich für ihren Stamm in die Wildnis entsprungen sind.
Ich selbst hatte an der Schwelle zum jungen Krieger einen Vorgeschmack davon erlebt, als ich, wie es der Brauch war, wochenlang isoliert im Busch lebte. Davor war man von den Frauen aus der sorglosen und vor allem betont erotischen Geborgenheit des Kindseins an die Männer übergeben worden, die einem mit drastischen Mitteln zu zeigen hatten, dass das Leben eines Erwachsenen eine Welt der Verantwortung, der Verletzung und des Todes war. Die zuletzt erfolgte fast überfallsartige Beschneidung symbolisierte als finaler Gewaltakt die beiden grundlegenden Ängste, jene vor der Trennung von der Mutter und jene vor der Allgegenwart des Sterbens: wobei diese beiden im Grunde identisch sind.
Schmerz fühlt man bei der abschließenden Zeremonie (hingestreckt auf einem Altar aus Leibern, den die Männer des Stammes zusammengekauert gebildet haben) eigentlich keinen mehr – die endlosen schlaflosen Nächte in der Einsamkeit haben einen oft an geistige Orte geführt, die jenseits aller Empfindungen liegen: zu all dem immer wieder die gespenstischen, von irgendwoher kommenden Geräusche der Schwirrhölzer, geheimnisvoll die Verbindung mit der Geisterwelt suggerierend. Nach der Beschneidung schließlich die wilden, ekstatischen Tänze, die Bumerangwürfe nach den rundherum lauernden Dämonen.
Aber wie gesagt, was ist das gegen die Initiation einer Walemira Talmai, die ein Vielfaches des normalen Stammesangehörigen ertragen muss auf dem Weg zur Vollendung ihrer Persönlichkeit. Dieses völlige geistige und körperliche Ausgeliefertsein an jedes und jeden, um in der völligen Erniedrigung die Festigkeit zu finden, die später den Bezug aufzubauen vermag zu außerordentlichen und außergewöhnlichen Sphären. Nicht durch einen Tod hat sie zu gehen, sondern durch hundert, und nicht einen Wahn hat sie zu durchleben, sondern deren hundert – draußen in ihrer Höhle, die sie sich suchen muss. Und wenn sie das überstanden hat und viele unerkannte Gestalten dort unaufhaltsam bei ihr und über ihr und in ihr sind, wird die Novizin ab sofort ständig von ihrem Geistwesen begleitet, das ihr einen Quarzkristall in den Kopf gesungen hat als Gabe der Hellsichtigkeit, ein heiliges Feuer in die Brust gesungen hat als Gabe der Außerirdigkeit und ein Luftseil in ihren Leib hineingesungen hat als Gabe der mühelosen Überwindung von Raum und Zeit und anderen Hindernissen, von denen ich mir gar keine Vorstellung machen kann.
DER STABSCHEF:
Klingt recht konsistent und plausibel, wenn man es als hermetisches System belässt – allein, in mein Gehirn verpflanzt, regt sich so mancher Zweifel. (beiseite, nur für Leserin und Leser:) Das war, wie Sie vielleicht bemerkt haben, der Versuch eines synthetischen Shakes¬peare-Zitats – der Versuch eines Engländers, auf seine Weise mit dem Unbehagen fertig zu werden, das eine geballte Ladung Esoterik in ihm auslöst. (wieder zum Gesprächspartner:) Und Sie sind gerne in der Nähe der Erhabenen?
Ja, denn ich glaube, sie mochte mich gleich, nachdem sie mich das erste Mal, daheim noch, wahrgenommen und mich mit unbeweglichem Gesicht und ernstem Blick gemustert hatte – mit Augen, die als Sensoren dienten für ihren mich ganz und gar durchdringenden Verstand, als er sich prüfend meines Charakters und meiner Intentionen bemächtigte.
DER STABSCHEF:
(beiseite, nur für Leserin und Leser:) Mir wird ganz schwindelig. Da habe ich mich mit Leuten eingelassen, dagegen ist unser ganzer Orden ein einziger Chorknabenverein. Was soll man bitte mit einer Dame anfangen, die imstande ist, einen bis in die hintersten Falten der Phantasie zu röntgenisieren?
DER UNMENSCHLICHE SCHREI, DER FÜR UNEINGEWEIHTE ZU HÖREN IST, WENN DAS GEISTWESEN MIT SEINER ANEMPFOHLENEN KOMMUNIZIERT:
(aus den Tiefen des Gebäudes, in der Stabschef unbemerkt für seine Ordensbrüder zu Gast ist, um den Kontakt mit Chicago weiter zu pflegen)
Sie Ärmster, jetzt stehen Sie wie erstarrt – so geht es einem, wenn man das erstmals hört. Offenbar hat irgendjemand etwas gedacht, das missbilligt wird…
Jedenfalls meine ich, die Walemira Talmai hat mich für würdig befunden, in ihrer Nähe zu sein, dort draußen im Outback ebenso wie später in England. Es erfüllte mich mit Stolz, dass sie mich in ihre Überlegungen einbezog: denn sie ist eine Frau von extremer Entschlusskraft, die an ihre Bestimmung glaubt und nach ihrem Glauben handelt. Und ich meine, darüberhinaus gefiel ich ihr auch: ein athletischer Mann von großen Jagdehren, dessen Rat selbst von Älteren gern gehört wurde – ein künftiger Häuptling.
DER STABSCHEF:
Und – wie ist sie so … menschlich gesehen?
Damit Sie sich jetzt keine falschen Vorstellungen machen – sie durfte mich nicht wirklich an sich heranlassen, das verboten ihr Standes- und Stammesehre. Dennoch wusste sie es sehr wohl einzurichten, dass ich mich viel in ihrer Nähe aufhielt. Manchmal rief sie mich frühmorgens – bei solchen Gelegenheiten kniete ich mich zwischen ihre geöffneten Schenkel hin und bereitete ihr mit meiner Zunge Freude, geübt in der Heimat, wo man lernt, aus einem hohlen Ast den wilden Honig herauszulecken. Allein durch diese Handlung war ich ihr wichtigster Seelenfreund und –bruder) …
DER STABSCHEF:
(beiseite, nur für Leserin und Leser) Das ist ja einmal eine wirklich interessante Information – Kenntnisse über intime Details von Verhandlungspartnern sind schließlich von unschätzbarem Wert. Aber andererseits, ein wenig Skepsis ist schon angezeigt beim alten Chicago, denn der ist ebenfalls ein Meister der Desinformation.
… allein dadurch erlebte auch ich ziemliche Wonnen, aber unbescheiden wie man schon einmal ist, als kräftiger Mann, der mit gesunden natürlichen Trieben ausgerüstet ist, wollte ich mehr. Berenice war da sehr verständnisvoll: ein Wink nur von ihr und ihre Dienerin, die ihr bei den alltäglichen Verrichtungen zur Hand ging, stand mir sozusagen stellvertretend zur Verfügung.
114
Charlene!
CHARLENE:
(ist nicht da)
Na schön, dann muss ich Ihnen dieses Interview eben ohne die Unterstützung meiner PR-Assistentin geben. Wird ja auch zu schaffen sein!
REPORTER LEO DI MARCONI:
Davon gehe ich doch aus, Mr. Hawborne, Sir! Erste Frage: Wie würden Sie das Leben eines US-Senators beschreiben?
Grafik 1.4
Rundheraus gesagt: So ein armer US-Senator hat es schwer. Zur Illustration zeige ich Ihnen jetzt ein Organigramm, auf dem Sie mit einem Blick die ganze soziale Verstrickungsproblematik erkennen können.
REPORTER LEO DI MARCONI:
Soweit verstehe ich, was Sie mir sagen wollen, vor allem über die Kollision von Wähler-Erwartungen mit Lobby-Wün¬schen. Meinen Sie aber wirklich, das parlamentarische System unseres Landes könne keine Problemlösungen produzieren, sondern nur alkohol- und drogenabhängige Abgeordnete?
Was reden Sie da? Geben Sie einmal her! Zum Teufel, das ist das falsche Organigramm! Da hat sich meine Mitarbeiterin einen Scherz erlaubt!
REPORTER LEO DI MARCONI:
Nun weist jeder Scherz ein Körnchen Wahrheit auf. Wie sieht die Wahrheit bei Ihnen aus?
Passen Sie auf, mein Lieber – Sie haben sich über mich informiert – okay? Sie kennen meinen Werdegang – okay? Sie haben jedes Details angesehen, und wenn es nur das Geringste gäbe, woraus Sie eine schmutzige Story machen könnten, würden Sie’s tun – okay? Also – wo ich herkomme, wird nicht gelogen! Und da gibt es auch nichts mit Drogen! Wie jeder aufrechte Amerikaner verachte ich aber ein Glas Bourbon nicht!
REPORTER LEO DI MARCONI:
Wie ist das jetzt mit Ihrer PR-Assistentin? Wie lange arbeitet sie schon für Sie?
Seit ich für meinen Staat nach Washington gegangen bin. Wozu die Frage?
REPORTER LEO DI MARCONI:
Zweifellos eine ziemlich lange Zeit, in der man einander näher kennenlernt…
Solche Vermutungen schminken Sie sich ab! Diesbezüglich können Sie mir schon gar nichts anhängen!
REPORTER LEO DI MARCONI:
Das verstehen Sie ganz falsch – ich will Ihnen gar nichts anhängen, und das ist auch kein Untersuchungsausschuss des Kongresses, wie Sie fälschlicherweise zu glauben scheinen.
Ich weiß, wo ich bin, verdammt!
REPORTER LEO DI MARCONI:
Ist es eigentlich normal, dass eine vom Steuerzahler erhaltene Mitarbeiterin eines Senators mit diesem Scherze treibt, die – gelinde ausgedrückt – schon etwas merkwürdig sind?
Was wollen Sie denn damit sagen?
REPORTER LEO DI MARCONI:
Nun – wenn Sie so ein Papier hier liegen haben, wenn Sie es mir sogar irrtümlich überreichen, steht doch außer Zweifel, dass Ihre Person dazu in irgendeiner engen Beziehung steht…
Pure Spekulation!
REPORTER LEO DI MARCONI:
… und dass die Verfasserin dieses Papiers zu Ihnen in einer sehr engen Beziehung steht…
Stimmt – wir arbeiten sehr eng zusammen!
REPORTER LEO DI MARCONI:
Auch nachts?
Auch nachts, wenn es sein muss!
REPORTER LEO DI MARCONI:
Auch in jener Nacht, in der Sie mit Ihrer Assistentin (und nachweislich nicht mit Ihrer Frau) den Ball der Auslandspresse besucht hatten und danach noch in Ihr Büro zurückgekehrt waren?
Wenn es so war, wird es einen dienstlichen Grund gegeben haben!
REPORTER LEO DI MARCONI:
Aus verlässlicher Quelle weiß ich, dass einer Ihrer Kollegen Ihnen dort eine Überraschung bereitet hat: Acht Geiger spielten für Sie und Ihre Mitarbeiterin bis zum frühen Morgen Mendelssohn. Ich könnte Ihnen sogar die genaue Abfolge der einzelnen Stücke vorlesen.
Haarsträubender Unsinn!
REPORTER LEO DI MARCONI:
Und was haben Sie zur Medelssohn’schen Begleitung gemacht? Gearbeitet?
Kein Kommentar!
REPORTER LEO DI MARCONI:
Und jetzt zum Kern der Sache! Ist das Ihre Unterschrift, Sir?
Grafik 1.5
Ja, das heißt nein! Sie wäre es – ohne die beiden Ringe links und rechts des B!
REPORTER LEO DI MARCONI:
Es heißt, mit diesen beiden Ringen würden Sie Ihre Unterschrift dann verzieren, wenn Sie sich jemandem als Mitglied eines Geheimbundes zu erkennen geben wollen, in dessen Namen zwei O und ein B vorkommen!
Völliger Blödsinn! Völlig aus der Luft gegriffen!
REPORTER LEO DI MARCONI:
Mein Informant sagt mir, den Hinweis auf dieses Geheimzeichen von Ihrer PR-Assistentin bekommen zu haben.
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Mich, den kleinen Brian, mich allein hatte die Walemira Talmai gerufen. Eines Tages fühlte ich es ganz deutlich und leistete unverzüglich Folge. Ich hatte von Lieutenant Wolf genug geheimdienstliche Ausbildung erhalten, um mich jederzeit unsichtbar machen zu können, will sagen unbemerkt von Ramstein Air Base zu verschwinden und nach England zu gehen. Als ich vor dem Anwesen der verstorbenen Lady Prudence auftauchte (das ich recht genau vom Hörensagen kannte, denn es wurde jedem, auch dem einfachsten Mitglied des Ordens vorsorglich beschrieben), stand alles weit offen, denn ich wurde erwartet.
Jemand zeigte mir ein Zimmer und empfahl mir, mich auszuruhen. Obwohl ich von Natur aus hektisch bin und an diesem Tag besonders nervös war, legte ich mich aufs Bett und fiel auch prompt in einen tiefen, erfrischenden Schlaf, und als ich die Augen wieder öffnete, folgte ich in einem Zustand zwischen Wachsein und Trance dem jetzt wieder sehr deutlichen Ruf. Wie von selbst fand ich meinen Weg durch das Gebäude bis in einen großen Saal, der offensichtlich einmal der grundherrlichen Repräsentation der Lords gedient hatte. Auf einem Podest an der Stirnseite stand vor einem violett bezogenen Diwan aufrecht die Walemira Talmai.
Ich näherte mich vorsichtig. Obwohl sie mich während meines bisherigen Aufenthalts bereits zehnmal hätte ins Jenseits befördern lassen können, hatte ich plötzlich Angst, dass es genau in diesem Moment passieren würde. Dann aber wurde ich – ich wusste nicht wie – von ganz anderen Gefühlen für meine Gastgeberin hingerissen. Auf einen hoheitsvollen Wink von ihr kniete ich dicht vor sie hin, wobei ich meinen Blick nicht von ihr lassen konnte.
Sie öffnete die goldene Agraffe ihres dunkelgrünen Umhangs und ließ diesen hinter sich gleiten – es war die vielleicht beste und wirksamste Abwerbung eines Feindes innerhalb der vergangenen tausend Jahre.
Da stand sie jetzt in ihrer schwarzen Pracht, lediglich angetan mit den unsichtbaren Insignien ihrer Würde und bemalt mit dem weißen Netzwerk ihrer Stammessymbolik. Auf ihrer glänzenden Haut begann ich Bilder zu sehen – Charlene und mich bei pubertären geschwisterlichen Liebesspielen; Betty McAllister vom College, die – ausgerechnet mit mir – ihren ersten Zungenkuß tauschen wollte; Reverend Parker Lee, der uns in der Sonntagsschule erklärte, dass nur der eine Chance hat, den Gott liebt; die Ausbildung bei der Army, wo sie mich halbtot schlugen, um einen Mann aus mir zu machen; dann plötzlich die blutverschmierten Stars and Stripes; Leichen, Feuer, Explosionen (mein Herz begann zu rasen, aber Madame Berenice legte ihre rechte Hand auf meinen Scheitel); den „bösen Lieutenant Wolf”, der gar nicht so böse war, sondern bloß zynisch, und der mich davor bewahrt hatte, vollends zum Monster zu werden: ich erkannte, dass er uns mit dem Orden zusammengebracht hatte, um uns aus Vietnam herauszuholen.
Ich stand vor dem Desaster meines Lebens. Offenbar war diese Erkenntnis nötig, aber die Walemira Talmai quälte mich nicht allzu lange damit. Bald schon nahm sie meinen Kopf in beide Hände, zog mich an sich, und ich durfte ihre Brüste und ihre Scham küssen. Ich verlor fast die Besinnung von der sexuellen Attraktion, die von ihr ausging, woran ich mich aber am meisten erinnere, sind der exotische Duft und über allem die starke Magie ihrer Persönlichkeit. Ich fühlte alle Bezüge zu meiner Vergangenheit hinschwinden und wusste, dass ich für diese Frau töten würde, wen immer sie mir zu eliminieren befahl. Für sie, so war ich plötzlich entschlossen, würde ich den ganzen Orden der Orangenblüte ausrotten.
Spätestens da nahm sie diesen Defekt in meinem Inneren deutlich wahr. Daher berührte sie am Höhepunkt meiner Erregung (und auch ihrer, wie ich bemerkte), als wir beide ganz durchlässig füreinander waren, mit spitzen Fingern meine Wangen, durchdrang meine Haut und meine Schädelknochen und förderte etwas zutage, was wie ein Kieselstein aussah, den sie fast achtlos zu Boden fallen ließ. Jetzt kann er niemandem mehr schaden, sagte sie mit ihrer dunklen, offenbar in den Wogen ihrer Gefühle noch tieferen Stimme.
Ich fühlte, dass ich plötzlich völlig frei war von unsinnigen Zwängen. Durch ein erstmals geöffnetes Fenster sah ich ganz andere Möglichkeiten meines Lebens als je zuvor: Ich – der bisher allgemein und vor allem von mir selbst als mittelmäßig eingestuft worden war – hatte die Gaben der Weisheit und der Wissenschaft erhalten, während sich der unselige Zerstörungswahn in Nichts aufgelöst hatte.
Alles weitere, meinte Berenice, brauche ich dir nicht zu schenken, denn es ist in dir. Weißt du übrigens, dass du ein zärtlicher Liebhaber sein könntest? Wie selten habe ich es heute bedauert, dass mir ein mehr als nur flüchtiges Einlassen mit weniger Kundigen als ich es bin verboten ist, will ich meine magischen Kräfte und Fähigkeiten nicht einbüßen.
Dann muss ich ein Kundiger werden! sagte ich schnell und ohne zu überlegen. Wohin wende ich mich, um den Beginn dieses Weges zu finden?
DER UNMENSCHLICHE SCHREI, DER FÜR UNEINGEWEIHTE ZU HÖREN IST, WENN DAS GEISTWESEN MIT SEINER ANEMPFOHLENEN KOMMUNIZIERT:
(aus den Tiefen des Gebäudes, die Brian nicht gesehen hat; für ihn war es nichts anderes als ein markerschütterndes, aber unverständliches Fanal)
Wenn es an der Zeit ist, wies mich die Walemira Talmai an, wird ein neuer Ruf an dich ergehen. Zwinge ihn nicht herbei, und zwing mich nicht … – sie blickte plötzlich verloren, ich verstand erst unendlich langsam, dass ich sie, die ich gerade noch festgehalten hatte, verlor an einen von vielen Seinszuständen, in denen sie sich gleichermaßen bewegte. Ich schlich davon, ihr wieder fremd geworden, mit nur einem Fünkchen Hoffnung auf ein dereinstiges Wiedersehen.
Ich fand mich in einer Landschaft, die ich zwar schon bei meiner Anreise hierher gesehen hatte, nun aber nur unter größter Anstrengung wiederzuerkennen imstande war. Dennoch: das gute alte Training von Uncle Sam verhinderte, dass ich in die Irre ging. Am Rande des Dorfes, wo ich meinen Mietwagen zurückgelassen hatte, um weniger Aufsehen zu erregen, traf ich den, den man Chicago nannte. Ich erkannte ihn sofort nach der Beschreibung, die jedem Ordensmitglied eingehämmert worden war. Auch er schien zu wissen, wen er vor sich hatte: die beiden Organisationen mussten einander perfekt ausspioniert haben.
Eines aber wusste Chicago allem Anschein nach