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3. TEIL
DIE HERZDAME
UND DIVERSE SEELENFREUNDSCHAFTEN
Grafik 3.0
301
Wieder einmal ein Reparaturtermin beim sogenannten Lebensmenschen, Brigitte – oder sind wir noch bei Señorita Brígida? Diskutiert wieder einmal die, die du hättest sein können, mit der, die du vermutlich bist?
BRIGITTE:
Ach was, halt mich einfach fest. Ich komme gerade von dort, wo angeblich mein Zuhause ist, und es ist alles so deprimierend. Sicher – alte Beziehungen aufwärmen bedeutet im Normalfall „Gottseidankistnichtsdarausgeworden!” Aber umgekehrt, wie jetzt mit dir, das hätte sich doch ganz gut entwickelt.
So würde DDD’s Mama auch argumentiert haben, hätte sie von der späteren flüchtigen Begegnung ihrer Tochter mit mir erfahren: Wie hast du dich nur gegen ihn gespreizt, diesen heute noch ganz attraktiven, jedenfalls wohlsituierten Menschen, nur weil du dachtest, er wäre ein wenig pervers! Welcher Mann ist das bitte sehr nicht – da heißt es Augen zu und durch. Besser das eine oder andere zu schlucken mit einem feschen Reichen als die Zeit zu verplempern mit einem dummen Armen.
BRIGITTE:
Du weißt natürlich schon wieder alles!
Ich weiß auch, dass dein Mann weiß, dass er für dich nur zweite Wahl gewesen ist. Er ist, anders als das Kerlchen von DDD, das gar nicht ahnt wie ihm geschieht, intelligent genug um zu verstehen, wenngleich ihm der Sinn für notwendige Konsequenzen abgeht. Wenn ich mich recht erinnere, war er sogar ein sehr triebhaft veranlagter Bursche, der seine Rolle natürlich nicht a priori darin sah, für den Omas und Opas erfreuenden Pflichtnachwuchs zu sorgen.
BRIGITTE:
Harte Worte…
… aber angesichts einschlägiger gemeinsamer Erlebnisse (denn er und ich kennen uns ja schon lange) wohlerwogen. Frag ihn einmal nach Janine Reynaud!
BRIGITTE:
???
Eine Schauspielerin, die wir – leider – nur auf der Leinwand gesehen haben, in den 60ern, als Pornographie noch sehr verborgen, aber dafür wesentlich besser war als heute. Ich sehe noch das Ende eines dieser dunkelfarbig-schwülstigen Filme vor mir: Die Gutsbesitzerin wird auf der Wiese vor dem lichterloh brennenden Herrenhaus vom Brandstifter vergewaltigt (ich spare uns die Einzelheiten). Sie wehrt sich nach Kräften, so weit es ihr die Außergewöhnlichkeit der Situation, die auch sie nicht ganz kalt lässt, erlaubt. Als Feuerwehr und Polizei eintreffen, erledigt einer der Ordnungshüter den Mann nach einem kurzen Warnruf, der ungehört verhallt, durch einen Schuss in den Rücken. Dabei wird der Getroffene geradezu in sein Opfer hineingeschleudert, als er den letzten entscheidenden Stoß führt. Die Dame erlebt einen zwar möglicherweise unerwünschten, aber unaufhaltsamen Orgasmus (jedenfalls tut Janine Reynaud so als ob), ausreichend für deinen späteren Mann und mich: wir konnten nicht anders, mussten Hand an uns legen…
BRIGITTE:
Wie klein doch die Welt ist: Zwei für mich nicht unwesentliche Herren aus meinem Bekanntenkreis beim gemeinsamen Alleinverkehr!
Fall mir jetzt nicht ins Wort mit Bemerkungen über unseren damaligen körperbezogenen Gemütszustand. Natürlich gingen wir etwas wackelig aus dem Kino. Ich verweise aber zugleich auf dein Abenteuer mit Don Julio, den du aus purer Neugier ergründet hast (und auch er tat ja gar nichts außer geil wie ein Bock auf dich zu sein).
BRIGITTE:
Er war in der intimen Begegnung so direkt, völlig anders als beim Renaissanceritual, das er in Gesellschaft pflegte. Nach einer unbestimmten Zeit, in der ich ihn noch angenehm in mir gefühlt hatte, stand er wieder da, als sei nichts geschehen, die Hose geschlossen, den Ärztemantel korrekt geknöpft, ganz Wissenschaftler, möchte man sagen, und ich lag noch immer da, mit geöffneten Beinen, im Hintergrund das Panorama mit der dunstverhangenen Giralda.
Irgendwann wird er vielleicht wieder etwas gesagt haben?
BRIGITTE:
Er dozierte ein wenig: Bei den Pavianen ist die Sache klar. Das Weibchen zeigt mit flammend rotem Hinterteil an, dass es empfängnisbereit ist, selbstverständlich nur in Verbindung mit einem ausgiebigen guten Liebesspiel. Bei unserer Gattung ist das schon viel komplizierter: Beide Geschlechter können und wollen theoretisch immer (wer weiß wozu, aber es ist so), und daher muss der Sex, um Lustlosigkeit vorzubeugen, in einer Zeit, in der man ihn von Zeugung und Aufzucht entkoppelt hat, wie ein Kunstwerk sein. Wie bei jeder Kunst bedarf es aber auch hier einer wohlerworbenen und ausgereiften Technik, und da müssen wir schon weiter zurückgehen in unserer Ahnenreihe als ins 19. Jahrhundert! Wie Recht ich doch hatte mit meiner Vermutung über seine griechisch-gotisch-maurischen Vorfahren!
Er war natürlich Experte, als Gynäkologe und als Spanier, wobei seine inoffizielle Stellung als Psychotherapeut seiner Patientinnen ein Übriges tat. Die alte Macho-Herrlichkeit schien dahinzuschwinden, denn in den zunehmend physisch und emotional gleichberechtigten Beziehungen war die alte Machtverteilung obsolet. Am Horizont sah er eine funktionale Dekonstruktion von Lebensbindungen – aus der Sicht einer wahrhaft emanzipierten Frau würde es drei Partner parallel geben: einen fürs harmonische Zusammensein, einen für lustvolle Nummern und einen als Samenspender.
BRIGITTE:
Dann habe ich ihn also instinktiv ganz richtig verstanden. Im Bewusstsein, eine solche Entwicklung nicht aufhalten zu können, versuchte er diesen Tiefschlag gegen das traditionelle männliche Rollenverständnis für sich selbst hintan zu halten, indem er sich beeilte, all dem zuvorzukommen und damit das Gesetz des Handelns bei sich zu behalten. Zusammenleben (allerdings anders als er sich das vorstellte) wollte mit ihm nur Doña Margharita, während hingegen die Damen, die seine Praxis aufsuchten, eher auf den Typ 2 oder 3 aus waren: mehr oder weniger offenes Ausleben sexueller Neigungen außerhalb ihrer normalen Partnerschaft oder ein Kinderwunsch, der mit dem offiziellen Gespons aus irgendeinem Grund nicht erfüllbar war. Das eine oder das andere zu diagnostizieren und umgehend zu therapieren, war abgesehen von der normalen ärztlichen Hilfestellung sein Beruf.
Und du warst natürlich die große Ausnahme in diesem weitläufigen Konzept! Dir gegenüber war es nicht Pflicht sondern Neigung!
BRIGITTE:
Ich war für ihn keine von denen, die ihm sagten, wie oft sie was gerne hätten, hab mich einfach angeboten, und da bekam er vielleicht einmal das, was er wollte.
Aber er konnte, zumal ob seines etwas vorgerückten Alters ohnehin auch bei den anderen keine Sexmaschine sein. Schön und gut – ihm standen alle ärztlichen Geheimnisse und Mittel zur Verfügung, doch auch dann gibt es jedenfalls Grenzen.
BRIGITTE:
Vielleicht hatte er einfach die Gabe, die Damen…
… auch dich …
BRIGITTE:
… das sehen zu lassen, was sie sehen wollten!
Also es würde jetzt zu weit führen, über Möglichkeiten zu spekulieren, die unabhängig von seiner eigenen, gewissermaßen natürlichen Potenz waren. Vielleicht war er ein heimlicher indischer Heiliger, denn da wären ihm natürlich noch andere Wege offengestanden: etwa die Manipulation der Gehirnwellen mit dem Ziel außergewöhnlicher Bewusstseinszustände oder, anders ausgedrückt, die Regulierung von Gehirnstrommustern, und zwar sowohl bei sich selbst als auch bei anderen. Vielleicht ließ er also jene Damen (und auch dich) unter den Schirm seiner positiven Energie schlüpfen und verkaufte ihnen (sowie dir) dies als Paradies auf Erden, als Ziel ihrer (sowie deiner) Wünsche.
BRIGITTE:
Jetzt hast du mir noch immer nichts von Indien erzählt! Denn das was ich bis jetzt gehört habe, ist so klischeehaft, dass es dazu keiner wahren Erleuchtung bedarf: Hermann Hesse gelesen, Timothy Leary verschlungen, Indienreise gemacht, den Spuren von George Harrison gefolgt, sich von einem Swami erleuchten lassen – schon schließt sich der Kreis, perfekt und klacks!
Alles zu seiner Zeit, meine Liebe, ich jedenfalls bin von dort als ein Anderer zurückgekehrt, und ich wusste Vieles, was ich vorher nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Das Hauptsyndrom unserer abendländischen Gesellschaft, das ich als Beziehungsfalle bezeichnen möchte, sehe ich zwar auf Schritt und Tritt, aber seine Facetten sind allesamt kein Problem für mich: die Männer-sind-Schweine-Ideolo¬gie, die Sex-als-Rumpelkammer-Ideolo¬gie, die Erotik-muss-gewaltlos-sein-Ideo¬logie und so weiter bringen mich wirklich zum Lachen, obwohl mir klar ist, dass du heutzutage mit solchen Themen ganze Volksbildungs-Kursserien füllen kannst.
BRIGITTE:
Du bist manchmal tatsächlich äußerst verwirrend für eine biedere, wenn auch akademisch gebildete Hausfrau wie mich…
… die natürlich, und das sollte man nicht vergessen, ganz nebenbei auch eine etwas ausgefallene Vergangenheit hat…
BRIGITTE:
Alles zugegeben, noch dazu hier in deinen Armen in einer Situation, die mich wohlig an diese Vergangenheit erinnert, die zum Glück entschärft ist vom damaligen Stress. So ein verheirateter Single wie ich ist unweigerlich verwirrt, aber auch fasziniert von einem, der mich weglockt vom vielzitierten grauen Alltag.
Dessen süßen Versuchungen jedes bieder-hausfrauliche Wesen auf den Leim geht – neinnein, du bist im Herzen jene Künstlerin, also potentiell Ausübende eines Berufes, den dein Don Julio als Voraussetzung für einigermaßen befriedigende sexuelle Beziehungen postuliert hat in einer Zeit, in der sich deren völlige Ablösung vom Fortpflanzungskomplex ab¬zeichnet. Auch wenn sie dagegen wie wild Amok laufen: selbst in den konservativsten Rückzugsgebieten einer traditionellen, das heißt den bloßen Instinkt stützenden Moral benützen die Frauen sichere Verhütungsmittel, und ein Mann, der noch immer ausschließlich dem simplen Mechanismus des Spermien-Wettlaufs folgt, kann machen was er will, er bringt seine Gene nicht an die gewünschte Adresse.
Der spanische Grande hatte im Wissen darüber gar nicht die Absicht, sich mit dir fortzupflanzen, sondern ein mehr oder weniger folgenloses Kunstwerk zu errichten, das aber immerhin, wie man sieht, einen recht dauerhaften Bestand hat, wenn wir heute noch darüber reden. Der Verkehr mit deinem Mann hat dir hingegen zwei gesunde Kinder beschert, die du ja auch irgendwie gewollt haben musst, wenn man alles in allem nimmt – den schönen Schein eines erotischen Artefakts wolltest du ihm hingegen nicht bescheren, das wurde in eurer ersten Nacht entschieden, als du dich ihm weder als schamlose Akteurin auf der Bühne des „Flaubert? noch als lasziv vor der Kulisse der Giralda hingestrecktes Weibsstück präsentiert hast, sondern als eine, die nach ordentlichem Abschminken, Zähneputzen und Duschen nachthemdverhüllt in sein Bett schlüpfte und sich von ihm „unterkriegen? ließ.
BRIGITTE:
(herablassend) Das Hemd hatte Spaghetti-Träger, war vorn wie hinten tief ausgeschnitten und vor allem so kurz, dass es praktisch jede Einsicht möglich machte… alles andere allerdings war schon ein wenig wie du vermutest.
Was blieb ihm dann noch über als – nachdem er erfolgreich zur Reproduktion unserer Art beigetragen hatte – mit seinen Phantasien in die Arme jener Janine Reynaud zurückzukehren und dir die kalte Schulter zu zeigen?
BRIGITTE:
Ganz so düster war’s nicht, darf ich dir versichern. Wir haben schon die eine oder andere flotte Nummer geschoben, besonders wenn wir etwas getrunken hatten oder auf irgendeinen externen Reiz angesprungen sind!
Das würdest du wohl bei jedem anderen, zum Beispiel bei mir, recht lächerlich finden, diesen Quatsch von der einen oder anderen tollen Nummer! Und was soll das schon heißen – diese Externe-Reiz-Geschichte?
BRIGITTE:
Wir sind viel ausgegangen, das muss man uns zugute halten, vor allem zogen wir uns eine Menge Kulturereignisse rein. Ein einschlägiger Event, der auch in unserem Schlafzimmer eine positive spätnächtliche Explosion ausgelöst hat, war die Skandalperfomance „Ein Blick in mich”. Der Ort: ein überdimensioniertes Badezimmer im Zentrum einer Kunsthalle mit gekachelten Wänden, einer funktionierenden Badewanne, Waschbecken, Spiegelschrank, TV-Gerät sogar – ein intimer Raum sozusagen, jedoch zugänglich für das zahlreich erschienene Publikum, darunter der für Kultur zuständige Minister. Die Künstlerin, die ihren Körper offenbar mittels Kraftkammer in einen bemerkenswert sportlichen Rohstoff für ihre Aktion verwandelt hatte, schaltete den Fernseher ein (es begann ein Video mit den Rolling Stones zu laufen), entkleidete sich, legte sich auf den Boden und masturbierte. Anschließend stand sie wieder auf, ließ Wasser in die Wanne laufen und nahm ein ausgiebiges Bad. Die Männergesichter (darunter auch das neben mir) wirkten etwas verlegen, weil eben öffentlich gemachter Voyeurismus immer etwas peinlich ist. Die Frauen, zumindest die meisten von ihnen, schienen eher amüsiert: in meiner unmittelbaren Umgebung hörte ich Fachkommentare über Dauer und Echtheit des Vorgangs. Würden Sie’s auch machen? fragte mich eine etwas ältere Dame.
Jetzt aber rasch! Was hast du geantwortet? Hast du unsere eigenen Erfahrungen verleugnet wie weiland Petrus seinen Herrn?
BRIGITTE:
Keine Angst, mein innerstes Selbst ließ mir keine Zeit zum Nachdenken: Klar würde ich das machen, schmetterte ich, am liebsten sofort! Der Meinige packte mich brutal, zerrte mich geradezu zum Auto, fuhr mit halsbrecherischer Geschwindigkeit nach Hause. Wir hasteten hinauf in die Wohnung, ins Schlafzimmer, und er warf mich aufs Bett: Los, mach es nach, mach es nach! brüllte er, aber nicht bösartig, dass du glaubst, er war nur einfach ganz enorm geil auf mich.
Der Rest scheint klar, und ich denke, ich darf stolz auf dich sein!
BRIGITTE:
Er sah zu, wie ich mich selbst befriedigte, dann – ohne mir die geringste Verschnaufpause zu gönnen – fiel er über mich her, aber es machte mir nichts aus. Kannst du dich erinnern, wie wir das gewisse Stöhnen aus dem Publikum bis auf die Bühne hörten, Männer und Frauen gleichermaßen, denn wir bedienten ja beide Geschlechter?
Es war ein Akt emanzipatorischer Befreiung – nicht mehr exklusiv der weibliche Körper und der männliche Blick wie bei jener Kunsthallen-Performance sondern auch vice versa. Damit hatten wir schon lange vorweggenommen, was die junge talentierte Künstlerin intendierte, nämlich sich von allen gesellschaftlichen Rollenbildern zu befreien und zu einer eigenen autonomen Identität zu finden…
BRIGITTE:
… und nicht vielleicht einen bloßen PR-Gag zur Hebung ihres Bekanntheitsgrades zu landen, wie man ihr vielfach unterstellte. Demgegenüber erwies sich jedoch die erwähnte Nacht unserer Ehe nur als Einzelfall, dem keinerlei Nachhaltigkeit beschieden war. Für meinen Mann und mich (und wenn es dir wichtig ist, räume ich ein, dass sich keine Schuldzuweisung vornehmen lässt) war das eben keine übliche Verhaltensweise.
Da steht ihr nicht allein da – ich habe damals in der Zeitung darüber gelesen: der Minister ergriff vor so viel sich anbahnender Sinnlichkeit rasch die Flucht (da hatte er überhaupt noch nicht gesehen, worum es wirklich ging)!
BRIGITTE:
Schließlich war gerade Wahlkampf!
302
Als die Gräfin von B. spurlos verschwand, bewegte sich der Boulevard kaum – anders wäre es bei Molly Muse gewesen (der gesellschaftsfähig gewordenen Porno-Queen) oder bei Verdana Strauch (dem TV-Dummchen vom Dienst) oder bei Prinzessin Konstanze (in den Zeitungen meist „Princy” genannt).
Mein Gott, wie aufregend das immer war! Täglich konnte es passieren, dass man las: Molly hat sich von Zwicko (wie der wirklich hieß, wusste längst niemand mehr) getrennt, Verlobung geplatzt, keine Traumhochzeit, keine bunten Bilder in vielen bunten Zeitungen, keine Diashows auf den Homepages der Gazetten, die das schöne Kind im Brautkleid zeigten, und dann natürlich keine Fotoserie über das interessante Thema, was sie wohl unter der Robe tragen würde, keine Draufgabe, sozusagen in wehmütiger Erinnerung, in Form einer Auswahl von Standbildern aus ihren wichtigsten Streifen wie etwa „Drei sind nicht genug? (in dem sich, wie der Titel vermuten ließ, Ströme von Sahne über die Hauptdarstellerin ergossen) oder „Eine Jungfrau am Kilimandscharo? (in dem die Aktrice ihre Wäsche zur Abwechslung in Afrika unter lauter hochgewachsenen gutgebauten Massai-Kriegern in den Wind hängte). Und dann nicht ganz zwei Wochen später die Erlösung: Molly Muse hatte einen Neuen, er hieß Pupsi – was immer das wieder bedeutet – und war soooo lieb, machte ihr Schmetterlinge im Bauch! Neinnein, er war keinesfalls hinter ihrem Geld her, hatte selbst genug, wenn auch nicht soviel wie seine Freundin. Dann aber wieder die entscheidende Frage, die allen unter den Nägeln brannte: Wird sie noch weiter Hardcore drehen oder ist sie dafür schon zu alt?
Grafik 3.1
Mein Gott, ja, Verdana! Könnt ihr euch noch an ihren Autounfall erinnern, bei dem sie sich alles gebrochen hatte, was man sich nur brechen kann, und nachdem die Ärzte sie wieder zusammengeflickt hatten, kam erst die alles entscheidende Aufgabe – die Schönheit des Models wiederherzustellen, ohne dass irgendwelche Narben und Entstellungen zurückblieben. Schließlich lebte sie davon, dass da und dort auf der Welt eine Zeitschrift, deren Auflage ins Rutschen gekommen war, einen verkaufsfördernden Aufmacher brauchte.
Verziert wurde dieser mit einem monumentalen Bild, und man weiß ja, die Auflage steigt damit tatsächlich exorbitant (diese Männer!). Dazwischen Lesefutter für die Damen, die waren weniger an gynäkologischen Ausblicken auf Verdana interessiert als an derem wirklichen Leben oder was ihnen dafür angeboten wurde: eine missglückte Ehe, in der das arme Mädchen vom äußerst bösen Gatten (was sollte man von dem schon erwarten!) abgeohrfeigt wurde. Erfolg im Beruf – Fernsehshows von nicht mehr zu unterbietender Seichtheit, daher höchste Einschaltziffern, ein Vermögen damit verdient, sogar der geschiedene Mann tauchte wieder auf: das hätte er sich von seinem „Pummelchen? (so wurde er wirklich zitiert, natürlich neben einem Foto seiner geschlagenen Verflossenen, auf dem sie gerade etwas zum Anziehen zu suchen schien) nicht träumen lassen, und es tat ihm natürlich schrecklich leid mit den Ohrfeigen, nun würde eher er sich von ihr schlagen lassen als dass er ihr noch jemals – aber es gab ja schon längst einen anderen Mann in Verdanas Leben: „Tut uns leid!? lief die Headline. Der Ex, nicht wirklich geheilt von seiner Brutalität, verprügelte den aktuellen Verehrer. Neue Bilder, neue Artikel, Zitate des Spitalspersonals, tägliche Bulletins über den momentanen Zustand des Opfers, eine ganze Nation belegte den Übeltäter mit einem Bannfluch. Aber der hatte mittlerweile eine Karriere als Schlagerstar begonnen, und die Leute, die ihn so sehr verachteten, kauften wie verrückt seine Platten. Über all dem thronte sibyllinisch lächelnd Verdana, und viele fragten sich, ist sie wirklich so bescheuert oder hat sie einfach eine Trade Mark geschaffen, die goldene Eier legt?
Mein Gott, Prinzessin Konstanze, eine Adels¬kollegin der Gräfin von B., aber doch so – anders (hier fehlen der Regenbogen¬presse meistens die Worte: man schreibt in so einem Fall, sie war interessant und-und-und…). „Princy” war, um das gleich vorwegzunehmen, zu allerhöchster Publi¬city gelangt, als der Chauffeur praktisch ihr komplettes Liebesleben, unter ande¬rem mit ihm, geoutet hatte. Die Wogen der Empörung schlugen über dem Frevler zusammen, wobei die selben Schreiberlinge, die ihm sämtliche mittelalterlichen Foltern an den Hals wünschten (und bedauerten, dass man diese Art Strafen leider im Rechtsstaat nicht anwenden dürfe), unverschämt die von ihm zum Besten gegebenen Geschichten auswalzten. Die Methode des Tabubruchs – längst ausgereizt mit anonymen Leibern und Seelen – musste mit Hilfe der Enthüllung öffentlicher Gestalten intensiviert werden, und dazu bot die Prinzessin eine geradezu ideale Basis: in der ersten Phase noch etwas naiv, später selbst ein wenig manipulierend, aufgewachsen in der strengen Obhut eines Internats und daher mit immensem Lebenshunger ausgestattet, der sie an viele Orte führte, an die Leute ihres Standes niemals hingelangen sollten. Dort wiederum begegnete sie Leuten, die sie hätte niemals treffen sollen, teilweise von niedriger Abkunft und materieller Primitivität, teilweise von steinreicher Skrupellosigkeit. Alle schienen es darauf angelegt zu haben, Princy zu desavouieren. Erste Ehe wie sich’s ziemte mit einem Edelmenschen aus bestem Haus, der Mann teilte seine Ambitionen zwischen der Politik und seinen diversen Affären, aber er machte ihr drei ehrbare Kinder. Diese wurden ihr bei erster Gelegenheit entzogen, darauf stürzte sie sich ihrerseits ins Vergnügen – so lange bis die einäugige Toleranzgrenze der Gesellschaft überschritten war: Scheidung. Techtelmechtel mit dem Chauffeur (gelogen war’s ja nicht von ihm), sogar Heiratsabsichten wurden kolportiert. Überall Paparazzi, die jeden Schritt, Skandale provozierend, dokumentierten. Nach dem Abgang des No-Names eine längere Mesalliance mit dem Sohn eines blutrünstigen Diktators von der Südhalbkugel. Bilder gingen um die Welt, auch Zitate mit dem Unsagbaren: Er ist für die Verbrechen seines Vaters nicht verantwortlich! Offensichtlich fanden das manche schon: ein Attentat putzte den hoffnungsfrohen Tyrannenspross weg. Princy leider ebenfalls.
Im Gegensatz dazu nahmen nur wenige Notiz davon, dass die Gräfin von B. nicht mehr da war.
DIE DREHBUCHAUTORIN:
Wobei festzuhalten ist, dass sie nicht aus dem Leben, nur aus der Geschichte getreten ist, aber ich denke, nicht einmal das ist endgültig. Man muss sich das einmal vorstellen – obwohl in diesem Text bisher quasi verbal die Grenzen des Weltalls ausgelotet wurden, sollte die Figur der von B. verschwunden sein? Das wäre sehr ungewöhnlich – das hätte ich auch so niemals geschrieben!
Ich muss jetzt dringend relativieren! Sie, die unter dem Siegel
DIE DREHBUCHAUTORIN:
Und wer sind Sie?
Sagen wir, ich bin jemand, der’s wissen muss. Daher werde ich nicht umhin können, etwas aufzuklären: Die Gräfin, immer verzehrt von der Sehnsucht nach dem kleinen Mädchen (so hatte sie die Tochter in Erinnerung, die gleichzeitig ihre Schwester war), hat sich offenbar an einen Ort gedacht, viele Lichtjahre entfernt, wie schon so oft, nur scheint sie es jetzt geschafft zu haben, ihren Körper nachzuziehen.
DIE DREHBUCHAUTORIN:
Aber das letzte Mal hat sie ihre Tochter nicht in den Tiefen dieses Universums gefunden, sondern an der heiklen Schnittstelle zu einem anderen Kosmos, kurzfristig stabil gehalten durch die begnadete Berenice!
Diesmal hat die von B. es eben allein versucht. Amateurhaft, wie sie es angegangen ist, geriet sie natürlich sofort in eine andere Geschichte. Da ich davon weiß, Sie aber nicht, habe ich mich entschlossen, an dieser Stelle einzugreifen und die Erzählerfunktion zu übernehmen.
DIE DREHBUCHAUTORIN:
Das ist mir nur recht, denn dann muss ich es nicht verantworten, dass außer den Auxiliarverben, Artikeln, Konjunktionen und diversen Präpositionen das Wort „NACKT? das bisher mit Abstand häufigste in diesem Text sein dürfte, und zwar immer im Zusammenhang mit weiblicher Exhibiertheit, und das habe ich eigentlich satt. In einer der genialen Inszenierungen Jerôme Savarys läuft eine Dame (die ich mir sogar vorstellen zu spielen könnte, denn das ist eine intellektuelle Rolle) unbekleidet zwischen lauter bekleideten Männern herum, und es wird über alles Mögliche geredet, was mit dem Motiv der Nacktheit nichts zu tun hat, nur dass „sie” immer im Naturzustand zu sehen ist und „die anderen? nicht. Dann wird es ihr zu blöd und sie thematisiert ihre Frustration – die ohnehin erst langsam kommt, denn dass Frauen ein gewisses Maß an Zurschaustellung selbst inszenieren, sei unbestritten.
Und was sagen die Männer? Was ich Ihnen jetzt auch sage: Das soll ein Problem sein? Aber keineswegs – und wenn es denn eines ist, hätten wir es gar nicht so weit kommen lassen brauchen. Sehen Sie, was ich jetzt mache (dasselbe was die Herren in rubriziertem Stück nach der Beschwerde der auf der kalten Bühne fröstelnden Schauspielerin getan haben) – ich ziehe mich aus, und ich schmeichle mir, dass dabei Ansehnlicheres zutage kommen wird als bei jenen von Savary betont lächerlich gehaltenen Figuren!
DIE DREHBUCHAUTORIN:
Aber es fehlt die Dramatik, die Melodie! Sie wollen sich ja wirklich bloß ausziehen!
Nun, die Situation ist vielleicht etwas absurd, oder vielleicht ist auch nur die Szenerie zu nüchtern.
AUS DEM HINTERGRUND DES SETS:
Also, Herr Regisseur, war das deutlich genug? Für ein wenig Ambiente werden wir kein Sonderbudget benötigen!
DER GROSSE REGISSEUR:
Das Ganze ist doch zu dumm, aber meinetwegen (schnippt mit zwei Fingern) – ein purpurroter Horizont, ein Sessel, ein Kleiderständer, und jetzt: Action!
DIE DREHBUCHAUTORIN:
Und damit wir uns nur richtig verstehen, auch für Männer-Striptease gibt es einen verbindlichen Kanon: Hut (wenn vorhanden), Sakko, Krawatte (wenn vorhanden), Schuhe, Socken (wenn vorhanden), Hemd, Gürtel (besonders wichtig, sollte daher extra zelebriert werden!), Hose, Unterhose (die muss entgegen den herrschenden Gepflogenheiten auch fallen, sonst ist alles für die Katz!)
Sehen Sie, jetzt stehe ich also nackt (entschuldigen Sie, dass ich schon wieder dieses Wort benütze!) vor Ihnen, geniere mich dabei kein bisschen, denn da ich Ihnen von Anfang an, also seit meinem Besuch in Ralphs und Hardys Schloss schon so Vieles von meiner Seele gezeigt habe, kann ich Ihnen ohne weiteres auch meinen Penis zeigen.
Wenn Sie aber gestatten (und das sollten Sie aufgrund meiner Bereitschaft, auf Ihre Kritik einzugehen), möchte ich nun meinerseits darauf hinweisen, was mich an unserer Zeit stört, und ich nenne es: Die Tyrannei der Lust. Selbst sexuell Erfahrene, womöglich triebbetonte Menschen werden mehr und mehr zu Flüchtlingen – aus einer Welt, in der Sex aus allen Ecken kriecht, in der ein TV-Konsument pro Jahr durchschnittlich 14.000 sexuelle Handlungen ins Wohnzimmer geliefert bekommt. Längst hat sich das Reiz-Lust-Yo-Yo à la Pawlow in Luft aufgelöst. Niemand hechelt mehr hemmungslos beim geballten Anblick der Nacktheit. Niemand ist ununterbrochen auf den nächsten Koitus aus. Viele wollen vielmehr aus der Endlos-Schlüpfrigkeits-Schleife aussteigen. Rette sich wer kann! heißt die Parole. Rettet euch vor den Dogmen von den allzeit bereiten männlichen Liebestorpedos und den stets nach mehr lechzenden weiblichen Lustschluchten. Erotik, seufze ich, wo bist mit all deinen Facetten zwischen Getanem und nicht Getanem, zwischen Eröffnung und Andeutung, zwischen koketter Verweigerung und phantasiereichem Vollzug.
DIE DREHBUCHAUTORIN:
Ich denke ich betreibe jetzt keinen Ausverkauf meiner Seele, aber ich sag‘ es ehrlich, dieses Plädoyer hat mich richtig scharf gemacht. Das Set ist vorhanden, ein kleines Publikum ist da: ein selbst hüllenlos wortgewandter Erzähler; ein großer Regisseur, der vielleicht schon bald merkt, dass mehr in mir steckt als zwischen „Extrem groß”, „Großaufnahme”, „Nahe”, „Halbnahe”, „Amerikanisch”, „Halbtotale”, „Totale” und „Extreme Totale” zu unterscheiden; eine zumindest wegen ihres Geldes und jedenfalls wegen ihres Organisationstalentes sehr geschätzte Person im Hintergrund, die ihren allzu fernen Beobachtungsposten rasch verlassen wird, wenn sie sieht, worum es sich hier handelt. Ladies und Gentlemen, heute leider nur Gentlemen, Körper und Seele verspüren gleichermaßen das Bedürfnis: its Showtime!
Sehen Sie, wir verstehen uns!
DIE DREHBUCHAUTORIN:
Tut mir leid, Freunde, wenn ich gewusst hätte, wo das heute hingerät, hätte ich natürlich was anderes angezogen, und nun ihr müsst damit Vorlieb nehmen, was ich unter normalen Umständen vorteilhaft für mich finde. (Sie öffnet ihren Ponytail, ihr schulterlanges braunes Haar fällt herab und schwingt aus, begleitet von einigen „Aaah!“s.) Wie findet ihr denn einen schlichten Pullover, ihr Guten?
Gegen einen gutgefüllten Pullover war noch nie etwas einzuwenden. Aber es fehlt dennoch etwas – Musik!
DER GROSSE REGISSEUR:
(im Befehlston) Musik! Bitte um die Einspielung von Dave Brubecks TAKE FIVE!
DIE DREHBUCHAUTORIN:
Die schönste Begleitmusik, die man sich nur vorstellen kann. Also schön denn: Küssen wir die gute alte Ausziehnummer wach, versetzen wir uns zurück in die Klassik der lasziven Enthüllung!
AUS DEM HINTERGRUND DES SETS:
(nun schon etwas näherkommend) Mal was Neues: ein Retro-Chic-Trip! Statt wie die jungen Hühnchen im String uns auf die Schnelle zuzurufen „Cash & go!? wird unsere Freundin ihre Kleider ablegen…
… zu TAKE FIVE…
… wie die Größten des legendären Crazy Horse, sinnlich – langsam – wunderbar.
DIE DREHBUCHAUTORIN:
Wie bedauerlich, dass ich nicht eines der Kostüme dieser Sagengestalten zur Verfügung habe. Seht, da ist nur jener Pullover und die weißen Jogging-Socken und die Jeans, und je tiefer ich komme, desto näher bin ich nun euren Idolen aus Frankreich (oder wo immer diese Mädels herkamen, jedenfalls mutierten sie alle in kürzester Zeit zu waschechten Pariserinnen). Was nämlich das innerste Geheimnis jedes guten Strips ist, trage ich auch in der Alltagskleidung mit mir: das unerschütterliche und authentische Selbstbewusstsein, nicht nur über vieles reden zu können, sondern vor allem alles zeigen zu können – sich zu zeigen, wie man wirklich ist (denn man kann in dieser Situation dem Publikum nichts vorspielen), und dazu gehört eine ungeheure nach außen gerichtete Kraft, getragen von einer unerschütterlichen innerlichen Courage. Die ganze Raffinesse liegt in einem Dialog ohne Worte (obwohl ich jetzt dazu spreche, aber nicht das, was ich wirklich denke), einem Dialog der Signale und Andeutungen. Achtung, Sie da hinten! Und Sie, großer Regisseur! Und auch Sie da neben mir! Sie haben gar nicht darauf geachtet, dass ich mittlerweile BH und Slip ausgezogen habe, weil Sie mir nur ganz fest in die Augen gesehen haben! Warum denn das?
Das ist überhaupt das Wesentliche an dem, was Sie hier tun (Ihnen ist es übrigens zuvor mit mir genauso gegangen): der Augenkontakt! Die Augen des nackten Menschen, die man eigentlich ja immer sehen kann, sagen in jenem Zustand Dinge, die Ihnen nie über die Lippen kommen würden, selbst dann nicht, wenn Ihnen Ihre Zuschauer schon jahrelang bekannt wären.
DIE DREHBUCHAUTORIN:
Denn es ist Kunst, reine und wahre Kunst, die ursprünglichste, die man von Anfang an auf Erden gesehen hat, die Ausdrucksform, die uns hinwegführen soll über die Fährnisse der alltäglichen Logik und uns Erklärungen öffnen kann, die jenseits der Realität liegen, jenseits der Realität des Ortes, aber auch jenseits der Realität der Zeit!
DER GROSSE REGISSEUR:
Sehr schön gesagt! Sie beide können sich jetzt wieder anziehen!
AUS DEM HINTERGRUND DES SETS:
Schade! Was könnten nicht zwei Nackte miteinander tun anstatt sich einfach sofort wieder anzuziehen.
Einerlei: wenn ich nicht schon eine Herzdame hätte – Sie, meine Liebe, könnten es sein. So aber bleibt uns nur eine Art Seelenfreundschaft.
303
Ich kann dich jetzt noch nicht gehen lassen, sagte der Commander – eine grobe Unwahrheit übrigens: Wie für alle, die zum inneren Führungskreis der Spiegelwelt gehörten, bestand auch für ihn der strikte Befehl, niemanden „von drüben“, der die wahre Natur des anderen Universums durchschaut hatte, am Leben zu lassen. Ich würde nämlich, bevor du wieder abreist – schwindelte er weiter – noch gerne einige Fragen diskutieren, bei denen nur du mir helfen kannst.
Irgendwelchen spezifischen Kenntnissen (und vielleicht auch ein wenig seiner Zuneigung zu ihr) verdankte sie also, ohne es zu wissen, die Tatsache, dass man sie noch nicht eliminiert hatte. Bis dato war es dem Commander gelungen, die Blockade ihrer Erinnerungen gegenüber den Autoritäten seiner Welt als ausreichend hinzustellen, abgesehen davon, dass man die Berenga zwangsläufig immer wieder fortlassen musste, wenn sie neue Informationen heranschaffen sollte. Insbesondere das letzte Argument verfing bei Vorgesetzten und Kollegen des Commanders, zumal diese lange Zeit nichts von seiner intimen Beziehung zu Mango zu ahnen schienen.
Dennoch hörte man, dass der Tyrann der Völker des Alpha-*-Universums (so wurde die jenseitige Realität in den Geheimpapieren von Berengas Welt bezeichnet) solchen Fällen zutiefst misstraute, sich darüber regelmäßig und ausführlich berichten ließ und manchmal sogar selbst unter einer falschen Identität einer Sache nachging. Plötzliche Exekutionen waren da und dort passiert, obwohl man sie niemals als fremdverschuldete Ereignisse aussehen ließ.
Dagegen wirkte der Umgang der Behörden im Alpha-Universum mit dem unheimlichen und die demokratischen Strukturen bedrohenden Phänomen irgendwie kindlich-unausgegoren. Man begnügte sich damit, alle vermeintlichen und erwiesenen Begegnungen mit Personen der Spiegelrealität zu katalogisieren. Darüber hinaus wurde ein Verhaltenskodex für Funktionäre und Geheimnisträger ausgearbeitet – für den Fall, dass diese wichtigen Leute ihren Pendants aus der anderen Welt begegnen würden.
Dem richtigen Commander der Station, auf der sich Mango Berenga gerade aufhielt, hatte dieser Leitfaden allerdings nichts mehr genützt. Unserer sympathischen Forscherin half er auch nichts, da er ihr geheimnisvollerweise nicht zugänglich gemacht worden war. Gerade dieser Umstand war eine stetige Quelle der Heiterkeit für den falschen Commander und mich (ich komme übrigens auch von drüben, mein Name ist Augustus McGregor).
DIE GRÄFIN VON B.:
(beiseite, nur für Leserin und Leser) Ganz so hilflos wie wir hier dargestellt werden, waren wir natürlich nicht. In meinem ständigen Streben, eines Tages, auf welche Weise auch immer, neuerlich Kontakt zu meiner Tochter aufzunehmen, hatte ich mich ständig mit einschlägigen Phänomenen beschäftigt sowie auch passende Verhaltensweisen trainiert, wenn sie mir vielversprechend erschienen. Meine erste und ohnehin nahezu einzige Adresse hiefür war die Koori-Dame, die mir schon einmal geholfen hatte. Ein neuerlicher Kontakt – Herr Chicago, unser ehemaliger Butler, vermittelte höchst private Besuche bei der Londoner Therapeutin Dr. Berenice Talmai – brachte mir den Durchbruch. Berenice, wie ich sie nennen durfte, zeigte mir anhand ihrer Fähigkeit, sich willkürlich in der Zeitdimension zu bewegen, dass dies aufgrund eigener verborgener Veranlagungen auch für mich möglich war (wenn auch nicht in der Vollendung, mit der sie es beherrschte): Sie eröffnete mir weiters eine Beziehung zu jener Wissenschaftlerin des späten 21. Jahrhunderts namens Mango Berenga, die jetzt in mir war, während ich dann in ihr sein würde. Nennen Sie es wie Sie wollen, Seelenwanderung vielleicht, da können Sie sich am ehesten etwas darunter vorstellen… – technisch gesehen ist es eine Brücke über rund 100 Jahre hinweg. Aber halt, der Commander (der falsche, aber für mich als Mango der richtige) spricht mich gerade an.
Der Commander legte der Berenga die Hand auf die Schulter, was ihr erneut das unbehagliche Gefühl gab, dass sie tatsächlich alte Freunde waren. Ich weiß, dass all dies ein wenig schwierig für dich ist, Mango, sagte er leichthin, aber du musst mir vertrauen: Erstens haben wir dich zu Beginn nicht gezwungen, sondern du hast aus großer akademischer Begeisterung deine Teilnahme zugesagt – hier unterbrach er sich, denn er konnte förmlich fühlen, wie sich alles in ihr sträubte.
DIE GRÄFIN VON B.:
Was er natürlich nicht ahnen konnte, war, dass Mango mich innerlich anrief und auch die Walemira Talmai, und wir sagten ihr, sie müsse ausharren um meinetwillen, denn es sei nicht auszuschließen, dass sich meine Tochter nicht in einem x-beliebigen Beta-Universum befand, sondern genau in jener Spiegelwelt. Fatal für mich und unsere Welt würde es sein, überraschend mit einer Erpressung konfrontiert zu sein statt einen geordneten Deal abschließen zu können.
Grafik 3.2
Zweitens, fuhr der Commander fort, und sein Griff auf ihre Schulter wurde stärker, zweitens haben wir „dort drüben? eine junge Dame, die ich gerne mit dir zusammenbringen möchte. Die Kameraden halten zwar nichts davon, aber ich mache das aus alter Verbundenheit zu dir und nur zu dem Zweck, noch ein wenig mehr von dir lernen zu können.
Dieses Schwein! Klammheimlich wollte er private Geschäfte zu Lasten der jenseitigen Völker abschließen! Ich beschloss, ihn ab sofort sehr genau im Auge zu behalten. Wenn er nämlich glaubte, wir alle wären im Unklaren über seine Verhältnisse, dann irrte er sich gewaltig: Ich wusste nämlich mittlerweile alles von ihm!
Wie kann man eigentlich, wollte der Commander von Mango wissen, den Unterschied zwischen anderem Leben als dem eigenen einerseits und künstlichem Leben andererseits begreifen?
Ganz einfach, meinte sie, wenn wir irgendwelche künstliche Gen-Sequenzen vor uns hätten (irgendetwas, das durch gezielte Manipulation erzeugt wurde), wäre die fragmentartige Struktur gestört. Wir sähen dann klarere Anzeichen von Ordnung in einem Muster, das normalerweise doch eher vom Zufall bestimmt ist. Daraus ergab sich für den Commander (und auch für mich, der die beiden beobachtete, ohne dass sie es merkten) zwingend die Frage, ob nicht jedenfalls der Begriff Struktur allein schon eine gewisse Ordnung nahe legte.
Auch darauf wusste die Berenga eine Antwort – hier zeigte sich, dass sie sich wirklich einer gründlichen Ausbildung unterzogen hatte, aber nun verließ ihrer Ansicht nach die Diskussion das Fach der Biologie, und sie betraten das Gebiet der Philosophie. Das sind vielleicht Binsenweisheiten für dich, meinte sie, aber eins ist klar – wie immer ein Universum entstanden ist (und ich behaupte sogar: jedes Universum!), es ist das Resultat der fundamentalen Naturkräfte: Elektromagnetismus, Quantengravitation, starke und schwache Kernkraft sowie die subreale Raumzeitstruktrur.
Konzentrieren wir uns, dozierte sie weiter, auf das Leben als solches, stoßen wir überall auf das Prinzip der Selbstorganisation. Vielfältig und üppig entsteht das zunächst primitive Leben und entwickelt sich entlang zahlloser Optionen zufällig weiter. Am Ende aber setzen sich doch immer jene durch, die in der Lage sind, ihre Umwelt nach ihren Wünschen und Bedürfnissen zu gestalten – und das kann dann wohl kein Zufall mehr sein: Diese Sieger haben bei den meisten Zivilisationen, die wir im All kennen gelernt haben, eine zweibeinige humanoide Gestalt, die uns wohlbekannte Körpersymmetrie und eine Reihe äußerst wichtiger Ausrüstungsgegenstände, als deren prominentesten ich nur das Augenpaar zu nennen brauche.
Was ich dann auf meinem geheimen Beobachtungsposten hörte, brachte mich ganz aus der Fassung, weil es ja jeglicher Ideologie widersprach, die wir „drüben? hatten und die uns lehrte, vielem von dem, was hier herüben in einem Zwischenraum aus Sein und Schein eine epidemische und dekadente Blütenpracht hervorrief, zu widersagen: mit einem Wort, der Commander hatte religiöse Anwandlungen! Behauptete allen Ernstes, wenn dies also kein Zufall sei, dann gäbe es als Erklärung eben doch nur die ordnende Hand eines höheren Wesens.
Die Berenga gab ihm die richtige wissenschaftliche Antwort: Mein lieber Freund, eine solche Annahme erfordert vor allem die Bereitschaft zu glauben und – gleichgültig ob ich ein solches Phänomen für wahrscheinlich halte (persönlich denke ich ja sogar, dass es gar nicht möglich ist) – du verlässt jedenfalls in diesem Augenblick das Terrain der Philosophie und betrittst das Gelände der Pseudowissenschaft. Wie willst du das Walten eines Gottes über Jahrmillionen erklären, ohne dass irgendetwas von ihm zu finden ist, was man als konkreten handfesten Ansatzpunkt, als etwas das gewusst werden kann und nicht etwa nur geglaubt werden muss, interpretieren kann?
GRÄFIN VON B.:
Ich bin so was von stolz auf meine Mango – nein, nicht primär wegen ihrer inhaltlichen Positionen, sondern weil sie den Männern ihrer Umgebung zeigen konnte, dass der emanzipatorische Prozess unserem Geschlecht unwiderlegbar einen ebenbürtigen intellektuellen Stellenwert verschafft hatte. Meine Gefährtin im Geist (oder wie immer man das nennen will, was Berenice über das Verhältnis zwischen Mango und mir gesagt hatte) stand als Verkörperung dessen vor mir, was in unserer Zeit bloße Vision ist – oder was, wie in meinem Fall, vielleicht gerade auf die Mitglieder einer extrem kleinen Elite zutrifft. Mango Berenga muss nicht mehr adelig sein, um als Frau eine autonome Bedeutung aufweisen zu können.
Die Ausführungen der Wissenschaftlerin verloren sich vorübergehend in einer merkwürdigen Abwesenheit, die den Commander nicht zu stören schien, denn auch er hing irgendwelchen Gedanken nach. Mir, dem von Natur aus immer Ungeduldigen, blieb nichts anderes übrig als zu warten, noch dazu, da keiner von den beiden wusste, dass ich sie überhaupt beobachtete.
GRÄFIN VON B.:
Irgendwie spürte ich in diesem Einssein mit Mango plötzlich das Bedürfnis, ihr von Brigitte zu erzählen. Diese war mir mittlerweile – wir sahen uns ziemlich regelmäßig seit unserem Mailand-Aufenthalt – so teuer geworden, dass ich bei ihr eine Ausnahme von so mancher meiner sonstigen Gewohnheiten machte: insbesondere sprach ich mit ihr über andere Bekannte, über meine Erlebnisse mit diesen und vor allem über meine Gedanken und Gefühle. So sehr ich auch überzeugt war, niemals eine andere Frau körperlich so anziehend finden zu können wie sie, fehlte mir dennoch etwas zur Vollkommenheit unserer Beziehung – was genau, konnte ich allerdings nicht definieren. Brigittes bürgerliche Bodenständigkeit fand ich attraktiv, um einige ihrer handfesten Erfahrungen beneidete ich sie (obwohl sie das nicht verstehen konnte, wenn ich es ihr sagte): Wer hindert dich daran, ohne weiteres vergleichbare Abenteuer zu suchen? fragte sie mich unbefangen. Du wärst mit einem Schlag der Star in Don Julios Frauensammlung, wenn du ihn gleich heute in seiner Praxis in Sevilla aufsuchtest, und du wärst schon morgen die Top-Nummer im Hamburger „Flaubert-Club“, würdest du ihnen deinen marmorgleichen makellosen Körper völlig entblättert zum Fraß vorwerfen. Da musste ich Brigitte natürlich energisch zurechtweisen, aber sie ließ nicht locker, wohl ahnend, dass ich, kaum hatte sie mir von dieser Episode ihres Lebens erzählt, von heimlichem, aber unbändigem Verlangen erfüllt wurde, selbst auch einmal in einer solchen Situation zu sein. Brigitte brachte es in ihrer direkten Art auf den Punkt: Wir denken natürlich fast ständig an Sex, auch wenn diese Empfindungswellen großteils vage und wahrscheinlich auch nicht objektbezogen sind – jedenfalls unterscheiden sich darin die adeligen Damen nicht wesentlich von den Frauen niedrigeren Standes. Mit dieser Differenzierung pflegte sie immer wieder zu kokettieren, da sie einerseits wusste, dass mir daran lag, und andererseits, dass diese Schranke zwischen uns beiden längst gefallen war. Ich sehe die neonfarbenen Plakate des „Flaubert? deutlich vor mir, hänselte sie mich: Eure Herrlichkeit, italienisch aufgemotzt in knalligen 600-Punkt-Lettern, ganz zu schweigen von der Auszieh-Geschichte, die sich der Manager für dich ausgedacht hat, um die Gier des Publikums so richtig anzuheizen: Du kannst dir ja denken, dass die metaphysische Ebene auch bei dieser Profession die entscheidende Rolle spielt. Mir schwebt eine Ansage vor, in der die Rede ist von verarmtem Adel, und dass die Dame des Hauses auf jede nur erdenkliche Art gezwungen sei, der Familie die Brötchen zu verdienen, und dann nimmt im Spannungsfeld deiner herabgewürdigten Vornehmheit das Schicksal seinen Lauf.
LA CONTESSA
Die mentale Abwesenheit der Berenga dauerte an, und der Commander, der romantische Tor, sah sie die ganze Zeit versonnen an, und ich saß auf meinem Beobachtungsposten, sollte längst abreisen, da mich wichtige Angelegenheiten in die andere Welt zurückriefen, wusste aber gleichzeitig, dass ich bleiben musste, wollte ich die Geheimnisse dieses Verräters (das war er für mich schon, auch wenn mir noch ernsthafte Beweise fehlten) aufdecken. Man konnte es nicht recht sagen, aber es wäre gut möglich gewesen, dass die Wissenschaftlerin es doch irgendwie geschafft hatte, ihren Geist auf die Reise nach Hause zu schicken, worauf es ihr ein Leichtes sein würde, ihren Körper nachzuziehen: sie konnte es, das hatte sie längst bewiesen, und die Aufgabe des Commanders wäre es gewesen, genauer auf sie zu achten.
GRÄFIN VON B.:
Brigittes Geschichten! Wenn du mich wenigstens in deine Arme nähmest, bourgoise Animateurin, zischte ich, dann würde ich dir hautnah zuhören. Apropos, ich kann es nach wie vor gar nicht glauben, dass ihr auf offener Bühne miteinander geschlafen habt, vor allem er, der für mich seinerzeit – auch diese Identität hatte ich inzwischen meiner Freundin preisgegeben – ein so subtiler Geliebter war! Da korrigierte sie mich: geschlafen ist nicht gerade der richtige Ausdruck, vielmehr haben wir es vor versammeltem Publikum miteinander getrieben – vor allem auch er, dein früherer sensibler Troubadour. Die Erkenntnis, dass es sich genau um ihn handelte, der – nachdem er von mir gelassen hatte – geradewegs mit einer anderen auf die Bühne dieses Etablissements gestiegen war, nagte nach wie vor an mir. Ich nahm meine ganze Courage zusammen und fragte Brigitte rundheraus: Warum wollte er nicht gleich mich mitnehmen (man hätte einen Hauch von erotischer Französischer Revolution auf die Bühne zaubern können: Marie Antoinette, im Kerker dem Henkerknecht zu Willen)? Aber darauf wusste sie keine befriedigende Antwort: ein Mann eben…
Die Berenga erwachte wie aus einem Traum, als der Commander sie ansprach. Behutsam hatte er sich Zeit gelassen, bis er sicher sein konnte, sie würde ihm wieder zuhören (die Angst, sie könnte einfach verschwinden, war ihm nicht gekommen, und er hatte damit sogar Recht behalten).
Erneut war es an mir zu staunen, dass der Commander den Argumenten der Berenga, die ihr auch in der Spiegelwelt große Ehre eingebracht hätten, noch etwas zu entgegnen wusste: Was hältst du von hochentwickelter fremder Technologie als Substrat eines sozusagen obersten Wesens? meinte er leichthin und spielte lässig seinen Trumpf aus: Jede hinreichend komplexe Technologie unterscheidet sich nicht wirklich von Magie. Magie selbst existiert nur in der Phantasie, aber die reale Basis, auf der sie gedeiht, kann alles Mögliche sein: mystische Scheinwelten ebenso wie nüchterne Maschinenräume. Und nach einer Pause, die offenbar dem Kommenden Nachdruck verleihen sollte, meinte er: Dessenungeachtet glaube ich – ich glaube so fest, dass ich zu sehen meine.
Ich meinerseits hatte genug gehört. Hier war eine ganz empfindliche Schwachstelle unseres Systems, und man würde auf diesen Typen und seine merkwürdige heimliche Geliebte, für die er offiziell lediglich der Führungsagent war, sehr genau aufpassen müssen. Die hiesige Mannschaft war dazu ganz und gar ungeeignet: großteils Diesseitige, einige wenige von drüben, aber alle mit hochspezialisierten Aufgaben in der Station, unfähig auf Gebieten außerhalb ihres ureigensten und in der Freizeit meistens in der Kantine anzutreffen. Ich würde jemanden schicken müssen…
304
Komm endlich, sonst erwischen uns die Leute des Kardinals, und dieser würde mich in seiner altrömischen Attitüde – die irgendwie gar nicht schlecht ins ausgehende 16. Jahrhundert passt, das will ich nicht leugnen – für eine nubische Sklavin halten, obwohl es Sklaven im alten Sinn gar nicht mehr gibt, aber schwarz ist schwarz, und das ist für sie letztklassig. Ich aber wäre, wenn mich die päpstlichen Gefängniswächter anhalten, gezwungen, meine Macht hervorzukehren, aber das ist sehr problematisch, denn während man sich in einer anderen Zeit bewegt, soll man dort möglichst unauffällig bleiben, nicht aktiv eingreifen.
BRIGITTES HERZBUBE:
(zugleich momentaner Erzähler) Schnell, Berenice, ich möchte endlich Giordano Bruno kennenlernen!
Wir lernen ihn nicht kennen – aus dem erwähnten Grund: wir beobachten ihn nur! Mehrfach exkommuniziert, von seinem venezianischen Gastgeber zunächst als Magier verehrt, dann aber verraten, als er mit den erhofften Geheimnissen nicht aufwarten konnte: so wurde er weitergereicht, vom örtlichen Inquisitor Gabriele Saluzzo an den obersten Inquisitor Kardinal Santaseverina, und so sitzt er jetzt bereits sieben Jahre in diesem Loch, völlig unterernährt, da er ja niemanden hat, der ihm etwas bringt, und der Kardinal Bellarmin, der die Leitung des Verfahrens übernommen hat, trägt langsam und akribisch alles zusammen, was man gegen den Beschuldigten vorzubringen hat. Während Giordano hier vegetiert, darf er weder schreiben noch lesen, und um nicht völlig verrückt zu werden, entwirft er im Geiste seine sämtlichen Schriften neu und memoriert sie unermüdlich in einem anscheinend niemals endenden Diskurs der Argumente.
BRIGITTES HERZBUBE:
Halt, um die Ecke, in dieser Zelle höre ich etwas!
Er spricht von seinem Weltbild: Ich fasse den Gedanken von der Unendlichkeit des Universums – dieses besteht aus einer unendlichen Zahl anderer Welten, die genauso wie die Erde bewohnt sein können. Während die einzelnen Welten veränderlich und auch vergänglich sind, ist das Weltall im ganzen ewig und unbewegt, da es nichts außer sich hat, sondern selbst alles Sein ist, dies deshalb weil der unendliche Gott auch nur Unendliches erschaffen kann.
BRIGITTES HERZBUBE:
(atemlos) Dieses Gebilde als Wirkung und Erzeugnis einer unendlichen Ursache und eines unendlichen Prinzips muss auf unendliche Weise unendlich sein!
Hör nur weiter: In der Einheit des göttlichen Urgrundes ist alles Sein im Zustand der Einfaltung (complicatio). Hingegen sind die Einzeldinge der Welt die Entfaltung (explicatio) des Göttlichen – Gott ist nicht außerhalb der Welt, sondern in ihr!
BRIGITTES HERZBUBE:
Das ist nichts anderes als das Bild eurer geisterhaften Ahnen!
Wenn man allerdings akzeptiert, dass in den entfalteten Einzeldingen die Einheit der Gegensätze verloren geht, fallen demzufolge bei ihnen Möglichkeit und Wirklichkeit auseinander: sie sind daher nie alles, was sie sein können, und entsprechend unvollkommen, wandelbar und vergänglich bleiben sie.
BRIGITTES HERZBUBE:
Wie du als Walemira Talmai zeigst, ist es aber aus denselben Gründen dem künstlerischen Geist, der die Anbindung an den Urgrund erhalten konnte, möglich, eine ganze oder teilweise Wiedereinfaltung (re-complicatio) vorzunehmen oder, einfach ausgedrückt, Dinge ganz oder teilweise wieder in Ordnung zu bringen.
Und Giordano Bruno hatte bereits so eine Ahnung, wie das geht. Haben die Inquisitoren ihm daher zu Recht nachgestellt, bis sie am Morgen jenes 17. Februar 1600 auf dem römischen Scheiterhaufen seine Seele vom verkohlten Leib getrennt hatten?
BRIGITTES HERZBUBE:
Wir hören, dass die Anklage ein Politikum war: Alle diese revolutionären Weltbilder der frühen Neuzeit katapultierten ja unsere Erde und mit ihr das päpstliche Rom aus dem Zentrum des Universums – gleichgültig, ob dieses wirklich unendlich ist oder nicht – in eine unbedeutende periphere Position. Brisant waren Giordanos Theorien vor allem deshalb, weil er weit über den von ihm so verehrten Kopernikus hinausging. In dessen Konzept befanden sich die Sterne immerhin noch auf einer das Planetensystem umgebenden Kugelschale – bei Bruno hingegen war die Sonne nur eine von vielen tausenden Artgenossinnen, die man nachts mit bloßem Auge sehen konnte: viele davon mochten wohl Planeten haben, daher reduzierte dieser Ansatz unsere Heimatwelt nach kosmologischen Gesichtspunkten zur Bedeutungslosigkeit, von der sich füglich keine hierarchische Position in der Gesellschaft von Gottes Gnaden ableiten ließ – eigentlich war das bereits jener „höfliche Atheismus”, von dem Schopenhauer spricht, und es war, nicht zu vergessen, ein Fanal der Unsinnigkeit jedes missionarischen Kolonialismus (samt Ausrottung ganzer Völker und ihrer Kultur). Dafür musste der Architekt dieser Ideen brennen, nicht etwa wegen des wissenschaftlichen Gehalts im engeren Sinn.
Die meine Verurteilung verkünden, haben mehr Angst als ich, der das Verdikt entgegennimmt! rief Bruno seinen Peinigern zu, und wie zu seiner späten Bestätigung, offenbar um den Querdenker noch posthum für alle Zeit zu bannen, wurde der Hauptverantwortliche für dessen Ermordung, der Kardinal Bellarmin, noch 1930 vom Vatikan heiliggesprochen: im Himmel kann nämlich nur einer von beiden sein – basta!
BRIGITTES HERZBUBE:
Es ist aber durchaus möglich, dass Bellarmin in seinem Himmel ist, während Bruno auf einer bis heute dauernden Zeitreise seine vielen Welten abklappert. Schließlich wissen wir nicht, was unser Held noch wusste (und auch niedergeschrieben hätte, wenn man ihm nur Pergament und Feder gelassen hätte). Denn wenn einer wie er schon damals einiges von der heutigen Vorstellung räumlicher Weltenstruktur vorwegnehmen konnte, dann vielleicht auch vom Phänomen des Raum-Zeit-Gebildes. Er war möglicherweise ein früher Entdecker der Allgemeinen Relativitätstheorie und hatte vielleicht bereits die Quantentheorie im Kopf oder sogar eine Verbindung der beiden (die einzige allumfassende Weltformel, nach der viele so fieberhaft suchen). Kann sein, dass ihm theoretisch klar war wie das ist mit gekrümmtem Raum und gekrümmter Zeit: dass wir zwar glauben, mit vier Zahlen die räumliche plus zeitliche Position eines Ereignisses darstellen zu können, dies aber leider jenseits der Alltagstrivialität nicht zutrifft.
Bitte um vollkommene Ruhe!
– – – – –
BRIGITTES HERZBUBE:
(nach langem Warten, bei dem ich ganz zappelig wurde wegen der Unterdrückung meiner Redseligkeit) Die bei trivialer Betrachtung ermittelten Punkte der Lage eines Objekts (dreimal Raum, einmal Zeit) könnten einem die Illusion eines vierdimensionalen Gebildes geben, in dessen Kontext es möglich wäre, die Realität auf eindeutige Art zu entschlüsseln. Dann kommt aber 1905 ein Angestellter des Schweizerischen Patentamtes namens Einstein daher und behauptet, dass jemandes zeitliche und räumliche Position davon abhängt, ob oder wie schnell er sich bewegt. Er behauptet weiter, dass Raum und Zeit unentwirrbar miteinander verbunden sind. Schön – man muss also nahe der Lichtgeschwindigkeit reisen, um die Zeit schneller vergehen zu lassen, oder schneller als das Licht, wenn man die Zeit zurückdrehen will. Dabei tritt ein peinliches technisches Problem auf: in diesen Geschwindigkeitszonen bedarf es eines unendlich hohen Aufwands an Energie. Die metaphysischen Probleme sind jedoch noch größer, speziell die Frage, wenn wir aus der Gegenwart in die Vergangenheit zurückgehen, kommen wir dann in die eine konsistente Historie oder in eine von vielen alternativen Historien? Hoffentlich gibt es eine wie immer geartete überirdische Chronologieschutz-Agentur, die den Historikern eine gewisse Sicherheit verleiht und eine heile Rückkehr in das garantiert, was wir als unser wirkliches Leben ansehen!
Der Frosch sitzt im Sumpf und träumt von Zeitreisen.
BRIGITTES HERZBUBE:
Denselben Zynismus könnte man – mutatis mutandis – bei Goethes Wahlverwandtschaften, bei Joyces Ulysses, bei den Träumen der Tochter des Schlafs und so weiter anwenden. Schließlich bedeutet jede höhere Lebensform, den Kopf aus dem Schlamm zu erheben – ganz real und gar nicht metaphysisch gemeint. Denn ob damit wirklich etwas erreicht wurde (immer vorausgesetzt, man hängt nicht bedingungslos dieser „Krone-der-Schöpfung“-Ideologie an), ist füglich zu bezweifeln: Der Affe mit dem maßlos vergrößerten Gehirn rottet die anderen Arten systematisch aus – was bitte sollte die Evolution damit bezwecken wollen?
Versuch’s doch mal zu deuten!
BRIGITTES HERZBUBE:
(als Edouard) Ich bin so reich, dass ich die ganze Landschaft meiner Güter zu einem gigantischen Kunstwerk umgestalten kann…
BRIGITTES HERZBUBE:
(als Bloom) Ich bin so gerissen, dass ich eine ganze Stadt mit all ihren Bewohnern und deren Biografien in mein Bewusstsein reinziehen kann…
BRIGITTES HERZBUBE:
(als legendärer Ahne der Walemira Talmai) Ich bin so durchdrungen von den Kräften der Physis, dass ich ihre scheinbaren Gesetze relativieren kann…
GIORDANO BRUNO:
Nun denn, waltet eures Amtes, ihr Lemuren des Aberglaubens. Jemand, der mir ganz nahe ist, hat mir auf geheimnisvolle Weise das Stichwort für meine Rettung geliefert: Ich relativiere! (feierlich) Sollte der Tod kommen – ein schlimmer Tod, Leute, im Feuer – werde ich nicht mehr da sein: ein ganz grundlegender Trost. Sollte es mir aber gelingen, durch den mir dargebotenen Spalt des nur bedingt geregelten Kontinuums zu schlüpfen und somit als Individuum unversehrt zu bleiben, muss der Tod, der furchtbare, fernstehen.
Jetzt kommt’s darauf an sich zu konzentrieren!
– – – – –
Und geschafft!
BRIGITTES HERZBUBE:
Du behauptest jetzt sicher, den Bruno gerettet zu haben, aber wer weiß? Ist es nicht dasselbe idealisierende Geschwafel, mit dem irgendwelche aus den Wolken ihrer Illusion gefallene Anhänger ihre Leitfiguren auferstehen und zum Kristallisationspunkt neuer Religionen werden ließen? Und hast du nicht behauptet, Zeitreisende dürften sich nicht einmischen? Andererseits – wozu wären wir hierher gekommen, wenn wir nicht vorgehabt hätten, etwas zu unternehmen.
Du bist der Zeitreisende – ich bin deine Zeitmaschine. Du bleibst tunlichst Zuschauer – ich hingegen erfülle einen Auftrag.
BRIGITTES HERZBUBE:
Sehr nett mich mitzunehmen! Wie passt das jetzt mit Hawkings Erkenntnissen zusammen, die sich für mich unversehens mit Realität gefüllt haben?
Der Gedanke einer Initiierten des Koori-Volkes (und der jedes anderen Menschen, wenn er nur will und wenn er nur seine eigenen Fähigkeiten für möglich hält) ist schneller als das Licht. Und den Bruno – da ist er ja, ciao Giordano! –, den brauchen wir noch.
305
Was unser Freund Kopernikus in einer Schrift als „astrum obscurum? bezeichnet hat, ist im wahrsten Sinne dunkel geblieben bis in jene fernen Tage, in denen man sich endlich eine Vorstellung von dem machen konnte von dem, was er gemeint hat.
Als das Dokument „De discriminibus et tentationibus orientibus ex Astro Obscuro appropinquante detectis Copernico Nicolao astrologo Caeli Siderumque cognoscente? zum ersten Mal entdeckt wurde, geschah dies etwa um das Jahr 1550 in der verbotenen Ab¬teilung einer deutschen Klosterbibliothek an einem Ort, der besser ungenannt bleibt. Entgegen dem Befehl der Kurie in Rom – ergangen an alle geistlichen und weltlichen Obrigkeiten, insbesondere an alle Knechte des Herren, die den Krummstab führten –, sich der zwanzig bekannten Exemplare der Schrift habhaft zu machen und diese als Teufelswerk zu vernichten, hatte der Abbas des bewussten Klosters seine Kopie des Kopernikanischen Werkes in den Tiefen seines Librariums versteckt und statt dessen mit großem Pomp zwei uralte Buchdeckel mit viel leerem Pergament dazwischen verbrennen lassen.
Was er nie erfuhr war, dass kurz danach ein junger abtrünnig gewordener Novize dieses eine Buch, das ihm den Schlaf geraubt und die Sinne verwirrt hatte, bei seinem Abgang mitgehen ließ. Da er nicht wusste, wohin er sich wenden sollte (die Eltern waren bereits gestorben), nahm ihn an Sohnes statt ein entfernt verwandtes Ehepaar auf, das ohne eigenen Nachwuchs geblieben war und daher die Schande des gescheiterten Ordensmannes mit der Aussicht, der Welt einen Erben präsentieren zu können, überkompensierte.
BERENICE:
Was das wohl noch mit der Schrift über das gefährliche dunkle Gestirn zu tun hat? Wir haben bis jetzt nicht mehr erfahren als dass des Kopernikus Werke entgegen der landläufigen Meinung kirchlicherseits doch nicht alle unbeanstandet blieben. Wo ist der bekannt straffe Stil des berühmten Leo di Marconi geblieben?
Nur Geduld, Ma’m – freut mich übrigens, endlich ihre persönliche Bekanntschaft zu machen!
Der Hausherr, ein biederer Bäckermeister, versuchte den jungen Ex-Frater Cornelius, jetzt bürgerlich Konrad, in alle Künste und Kniffe seines Handwerks einzuweihen, und der stellte sich auch gar nicht so ungeschickt an, abgesehen von einzelnen Momenten der Geistesabwesenheit, wenn er an die Prophezeiung des Buches dachte. Mit der Zeit bekamen allerdings diese Blackouts noch eine andere Ursache: was nämlich der Adoptivvater nicht merkte, war das steigende Interesse, das der junge Mann gegenüber der Meisterin entwickelte und das von ihr offiziell nicht erwidert, dabei aber nach Kräften geschürt wurde. Was konnte denn wirklich der Konrad dafür, wenn er an einer bestimmten Kammertür vorübermusste, diese nur angelehnt fand und durch den schmalen Spalt blickend ansehen musste, wie sich die Bäckersfrau stöhnend selbst berührte?
BERENICE:
Jetzt aber rasch – man kennt diese Art Geschichten: Er landet im Bett seiner Madonna, sie lieben einander bis zum Wahnsinn, sehen nur den Ausweg zu fliehen, aber wohin und wovon leben? Halt! Das Buch! Da steht doch drinnen, dass am 17. Februar des Jahres 1600 dieses obskure Ding mit der Erde zusammen¬treffen und das Ende derselben herbeiführen würde (samt und sonders nämlich, inklusive Papst und Kaiser sowie aller sonstigen christlichen und heidnischen Fürsten mit all ihren Untertanen, seien sie nun gesellschaftsfähig oder dem Zigeuner- und Hurenpack zugehörig). Die Drohung, diese Prognose des Kopernikus zu veröffentlichen – und damit die Heilslehre ad absurdum zu führen, die da sagt, niemand kenne den Tag oder die Stunde –, müsste den Vatikan ohne Zweifel zur Zahlung einer großen Summe an das gewiefte Pärchen veranlassen, womit man sich dann in den Orient oder in die neuentdeckten transozeanischen Gefilde absetzen und dort ein bequemes Leben in Liebe führen könnte.
Gesagt getan. Womit man nicht gerechnet hatte, war die absolute Skrupellosigkeit der kirchlichen Machthaber. Die beiden Erpresser landeten, ehe sie sich’s auch nur versahen, in einem finsteren Verlies, und man möchte wetten, dort habe sich bald einer gefunden, der sie gegen das Versprechen ewiger Seligkeit, abgegeben vom Cardinal Camerlengo (Seine Heiligkeit selbst hat davon natürlich nichts gewusst), abmurkste. Ein trauriges Ende zweier Liebender!
Das Buch, dessen Vernichtung nun in greifbare Nähe gerückt war, ging allerdings neuerdings verschollen. Wieder fand sich jemand, den es so faszinierte, dass er es über einen bestochenen Beamten an sich brachte, und seine Absicht war verstärkt durch die Möglichkeit, den Plan der beiden naiven Deutschen mit südlicher Raffinesse gelegentlich doch einmal und erfolgreicher durchzuführen.
Sein Name war Giordano Bruno. Leider ereilte ihn der Tod, der ganz individuelle, nicht der angekündigte des Planeten (der die ganze Welt mit ins Verderben gerissen hätte – der blieb am errechneten Datum, wie wir Heutige wissen, ohnedies aus, was von Vielen, die nicht wahrhaben wollten, dass Kopernikus sich schlicht verrechnet hatte, banalerweise auf die Gregorianische Kalenderreform zurückgeführt wurde). Die Schrift verschwand endgültig im Strudel der Geschichte.
BERENICE:
Und jetzt kommt Mango Berenga ins Spiel. Sie war ja nicht nur Genetikerin, sondern auch Astronomin (in ihrer Zeit wird großer Wert auf duales Expertentum gelegt). Sie fand in einer wissenschaftlichen Datenbank einen Hinweis auf „De discriminibus…”, trieb den Text in Übersetzung auf, später sogar das Original, so sehr war es ihr ans Herz gewachsen. Sie wusste nicht genau, wieso, aber wenn sie diesen nunmehr schon uralten, bereits von der physischen Zerstörung bedrohten Druck in Händen hielt, war es eine Art sinnliches Erlebnis für sie. Deshalb habilitierte sie sich mit der Arbeit
Die Deutung des
Eine neue Kopernikanische Wende
in ihrem zweiten Fach, Unterabteilung Kosmologie oder, wie man es später nannte, Astrophilosophie.
– – – – –
General Harriet H. Skelton, Chief US Armed Forces Liaison Officer to the National Security Council (gemäß militärischem Leitsystem hieß ihre Dienstelle „CLONSCO“) war die erste Frau auf diesem hohen und sensiblen Posten. Der Präsident, der sie dort hingesetzt hatte, war hinsichtlich ehrgeiziger männlicher Stabsmitarbeiter ein gebranntes Kind: zu oft war sein ziemlich geringer intellektueller Radius von den betreffenen Herren gnadenlos instrumentalisiert und ausgebeutet worden. Hingegen konnte er unbekümmert General Skelton anrufen und sagen: Hi, HH, meine Liebe, erklär mir was du mit diesem Memorandum meinst und welche Folgen es für mich haben wird.
HH war völlig perplex, als man ihr diese Habilitation vorlegte, die in unserer üblichen kontinuierlichen Zeitbetrachtung offenbar erst in einigen Jahrzehnten geschrieben und veröffentlicht werden würde und über deren Urheberin umfangreiche Daten-Scans nicht das Geringste gebracht hatten: diese Frau (wenn es eine war, was man aufgrund des Namens nicht eindeutig sagen konnte) war hier und heute – in landläufigen Sinn – nicht vorhanden!
Ebenso umwerfend wie der Inhalt der Kopernikanischen Schrift (der in der Arbeit dieser Unperson derart ausführlich umrissen war, dass einen nahezu jene Faszination übermannte, die beim Lesen des Originals entstand) war die Deutung, die Mango Berenga versuchte: Kopernikus habe, ausgedrückt mit den Mitteln seiner Zeit, gar keinen Asteroiden gemeint, der auf die Erde stürzen würde, sondern ein anderes Universum, das an unseres andockte. Dessen Tore würden sich eines Tages öffnen und dessen Kreaturen langsam aber sicher in unser All einsickern.
Den Berechnungen der Habilitation zufolge war der Berührungsvorgang der beiden Realitäten tatsächlich im Jahr 1600 passiert, mit der Einschränkung, dass es dabei zu einer – gemessen am Weltenlauf – winzigen Anomalie gekommen war, insofern die Zeitrechnungen der beiden Systeme nicht mehr wie zuvor exakt synchron verliefen, sondern um rund 100 Jahre differierten. In dem Gebilde, das Mango Berenga das Spiegeluniversum nannte, war man nun ein Säkulum voraus, und auch die nähere Umgebung des Portals auf unserer Seite war von diesem Phänomen betroffen.
Die Generalin konnte sich auf viele dieser Überlegungen keinen Reim machen, aber unter der berechtigten Annahme, dass die Infiltration unserer Welt lange vor Erstellung der Habilitation begonnen haben müsse, der Feind also bereits mitten unter uns weilte, während sie, HH, das CLONSCO-Büro leitete, ließ sie alle Beobachtungen sammeln, die man damit in Zusammenhang bringen konnte. Ihre Aufgabe war es schließlich, Szenarien bis zum Jahr 2025 zu erstellen und dem militärischen Planungsstab alles vorlegen, was nur im entferntesten irgendeine Bedrohung der USA darstellen konnte.
Ich gestehe, das Thema packte mich, kaum hatte ich davon Wind bekommen, und ich konnte mich kaum beherrschen, aber eingedenk der handfesten Drohungen gegen mein Leben ließ ich die Finger davon. Da bat mich HH plötzlich zu einem Interview, wahrscheinlich um Verschiedenes durch mich an die Öffentlichkeit zu lancieren, und zu meinem nicht geringen Entsetzen kamen dabei Dinge zur Sprache, von denen ich mich strikt fernhalten sollte.
CLONSCO konnte bedeutende Erfolge aufweisen: Da war einmal das Dossier über den Orden der Orangenblüte, zusammengetragen auch und vor allem in dem Bewusstsein, dass nicht wenige Offizierskollegen heimlich dieser Organisation angehörten oder ihr zumindest anhingen. Die Mitarbeiter warnten die Generalin geradezu davor, dass ein Vorantreiben der Recherchen früher oder später einen vernichtenden Schlag zur Folge haben könnte, und das hieß im Kontext der Bruderschaft, noch dazu wenn es gegen eine Frau ging, einen Akt exorbitanter Grausamkeit, den man sich gar nicht ausmalen wollte. Dennoch wurde an diesem Thema weitergearbeitet, und die Identifikation von Personen war bestürzend: allen voran ein US-Senator, der einerseits Ambitionen auf den Chefsessel im Orden, andererseits auf jenen im Weißen Haus erkennen ließ, mit guten Chancen, beide zu erobern, bis er durch diese Charlene Thomson zur Strecke gebracht wurde – die Befehlskette für diese Exekution (jedenfalls, dachte HH, als sie den entsprechenden Bericht vor sich liegen hatte, eine recht angenehme Form der Liquidierung) war bis zu einem britischen Baronet zurückzuverfolgen, der im übrigen auch den Konkurrenten des Senators um die Ordensführung, den Nazi-Grafen von B. (wie ihn die Generalin für sich nannte) beseitigt zu haben schien und konsequenterweise selbst als starker Mann die Spitze des °B° erklomm, obwohl er weiterhin bescheiden auf seine provisorische Position verwies. Dann allerdings trat etwas Seltsames ein, das man nur recht mühsam für das Dossier aufschließen konnte: Es hatte den Anschein, als ob der Stabschef, wie man ihn im Orden apostrophierte, seine eigene Organisation ausdörren ließ, bis sie auf ein Niveau der Bedeutungslosigkeit gesunken war, die sonst nur Klassentreffen ehemaliger High-School-Absolventen auszeichnet. Jedenfalls beschloss die Chefin von CLONSCO, die Gelegenheit zu nutzen und der Bruderschaft den Rest zu geben.
Ich will das alles nicht wissen, HH, flehte ich. Die haben gesagt, sie bringen mich um, wenn ich ihnen weiter nachschnüffle. Na schön, sagte die Generalin, dann eben nicht, und so kam es, dass ich von ihr nichts über O’RAZOR erfuhr. Dieses Dossier stand, auffallend dünn, ganz oben auf HHs Hitliste, aber es enthielt nur wenige allgemeine Informationen in Stichwörtern: Stabschef – irgendetwas zu tun mit William Ockham (die Skelton war sogar nach England geflogen und hatte sich den gleichnamigen Ort genauer angesehen – allerdings gab es dort nichts Auffallendes, außer einigen betrunkenen Amerikanern, meist von nahegelegenen US-Stützpunkten).
BERENICE:
Wenn man Harriet H. Skelton in Ockham herumspazieren sah, konnte sie einem Leid tun. In dem Glauben, ihren Gegnern auf der Spur zu sein, ohne dass diese etwas merkten, wurde sie längst ihrerseits von diesen beobachtet, aber es gab ja eigentlich nichts zu sehen, als eine nicht mehr ganz junge Dame aus den USA, die sich in ihren Zivilkleidern sichtlich unwohl fühlte. Zu ihrem Glück fand sie nichts, und so ließ man sie ungehindert ziehen: Besser man kennt die Person, die hinter einem her ist! sagte Sir Basil trocken zu meinem Seelenfreund Chicago. Das vor allem hatte die Generalin noch nicht mitgekriegt: dass sich eine lose, aber menschlich sehr tragfähige Beziehung zwischen diesen beiden Männern entwickelte, über die sehr viele informelle Informationen liefen. Mir persönlich kam das sehr entgegen, wurde ich doch auf diese Weise nicht ständig mit der Frage konfrontiert, woher ich Dinge wusste, die ich auf normalem Weg niemals zur Kenntnis bekommen hätte. Was HHs weitere Aktivitäten betrifft – sie flog nicht direkt in die USA zurück, sondern in die Schweiz, was außer mir niemand zu bemerken schien. Ich ließ sie aber gewähren, denn was sie dort vorhatte, widersprach meinen Intentionen nicht.
Zurück in Washington gab die Generalin in ihrer Dienststelle die Parole aus, Wissenschafter mit Phantasie finden, die in die Sandkastenspiele von CLONSCO ein noch ungezügelteres Maß an Spekulation einbringen sollten, als dies ihr Stab oder sie selbst darstellen konnten. Von den Ideen der vier Gelehrten, die man schließlich als Beraterteam ausgewählt hatte – übrigens sollen dabei astronomische Honorare ausgehandelt worden sein – wurden schließlich folgende Abwehrszenarien gegen die Bedrohung aus dem Alpha-Stern-Universum formuliert:
• Schreiners stahlverkleideter Globus mit seinen umgesiedelten Menschenmassen bot unter anderem die Möglichkeit, großflächige DNA-Tests durchzuführen und auf diese Weise die nicht hierher gehörigen Individuen zu isolieren;
• Ivanovichs Terraforming des Mars war die – wenngleich kostspielige – Chance, durch Migration weiter Teile der Menschheit auf einen unbewohnten Planeten unter Aufgabe der Erde diese Aussonderung der nichthumanen Elemente zu gewährleisten;
• Kouradraogos virtuelle Intelligenzen wären schlechthin in der Lage, diese Aufgabe zu erfüllen, wenn man sie mit dem entsprechenden Sensorium ausstattete;
• während Migschitz‘ extrem planwirtschaftlicher Ansatz (jedenfalls wie ihn die Militärs rund um die Generalin verstanden) dazu dienen konnte, die Eindringlinge von der für sie notwendigen spezifischen Ressourcenbasis abzuschneiden.
Ich wusste das alles informell und wagte nicht, mich konkret hinter die Story zu klemmen, für die ich zehn Pulitzer-Preise hintereinander bekommen und ein Riesenvermögen an Tantiemen verdient hätte. Wissen Sie, was das für einen Marconi bedeutet – den professionellen Ruin, den beruflichen Offenbarungseid, aber ich hatte derartig Angst vor diesen Killern des Baronets, dass ich mich nicht einen Millimeter bewegte. Was ich da erzähle, ist nur in meinem Kopf, unbeweisbar, denn jeder Beleg ist peinlichst vernichtet worden, sei es von mir selbst oder – na, Sie ahnen es.
Bis zum Verschwinden der Professoren wurde mit ihnen unter Hochdruck an einer Verfeinerung ihrer Verfahren mit entsprechenden Kosten-Nutzen-Rechnungen gearbeitet, wobei ein Vertreter des sogenannten Reptilienfonds, also des ohne Kontrolle durch den Kongress zur Verfügung stehenden Geheimbudgets, maßgebliche Impulse zu geben hatte. Gleichzeitig musste sich Colonel Dan Kendrick, HHs wichtigster Mitarbeiter (ein relativ junger Schleimer, den sie eigentlich nicht leiden konnte, aber sie war auf ihn dringend angewiesen), dem Thema Mango Berenga widmen, denn diese Person, von der man zunächst nicht die geringste Vorstellung oder auch nur Evidenz hatte, war der einzige Schlüssel zum „Dossier ?*? überhaupt.
BERENICE:
Und das muss man dem Colonel lassen: Herauszufinden, dass die Gräfin von B. irgendetwas mit dieser Berenga zu tun haben könnte, war schon eine Meisterleistung für sich. Weiter kam er allerdings nicht, denn es gab starke Gegenkräfte. Die Gräfin hatte – als die andere – am anderen Ort zur anderen Zeit, den Auftrag bekommen, die vier Wissenschaftler beim Commander jener zeitlich wie örtlich weit entfernten Station abzuliefern, der sie seinerseits unbekannten Zwecks (so sagte er jedenfalls!) in das Spiegeluniversum verfrachten wollte. Geschickt, nämlich indem man die Redseligkeit eines berühmten Regisseurs (der mit Sir Basil ein gemeinsames Lokal in London frequentierte) einsetzte, wurde die Aufmerksamkeit des Baronet auf die vier Gelehrten gerichtet. Cheltenham sah eine Chance, sich für die von ihm vermuteten Machenschaften gegen seine Person und den Orden zu rächen: Wenn einer den Orden zugrunde richtet, dann bin ich das! hatte er britisch-geistreich dem Lieutenant Wolf anvertraut.
Ich habe solche Angst, Doktor – allein solche Dinge zu hören, kann einen wie mich den Kopf kosten. Übrigens – und das sage ich nur der guten Ordnung halber, nicht weil ich wirklich einen derartigen Verdacht hege – die Queen hat von all dem, was sich da unter ihrem Oberkommando abspielte, nichts gewusst…
BERENICE:
Schon gut, Marconi, ich weiß, Sie müssen sich ein wenig abreagieren, aber suchen Sie sich dazu nicht die Königin aus, die kann nun gar nichts für Ihre Zustände. Bleiben Sie einfach hinter mir, dann wird Ihnen hoffentlich nichts geschehen, und Sie können auch noch was lernen. Was mich nämlich im Moment beschäftigt, ist Folgendes: Wenn man bedenkt, wie schwierig es für unser physiologisches Gehirn ist, auf einer meta-biologischen Ebene Kontinuität und Erinnerung zu produzieren, wie problematisch muss das erst bei einer Raum- und Zeitreisenden sein, die nicht wie ich die höchste Initiation durch die geisterhaften Ahnen des Koori-Volkes erhalten hat und dadurch immun ist gegen den Wahnsinn, der hinter paranormalen Fähigkeiten versteckt ist.
Und was ist Ihre Diagnose, Ma’m?
BERENICE:
Ich denke, die Gräfin von B. hat gelernt, den gemeinsamen Schatz der Erleuchteten ohne Schaden für sich selbst zu nutzen.
Wie lautet daher Ihre Prognose?
BERENICE:
Wenn ich mit meiner Hoffnung richtig liege, dann brauchen wir uns um die von B. keine Sorgen zu machen, ebenso wenig wie um ihre Re-Inkarnation als Mango Berenga…
Und wenn nicht?
BERENICE:
Dann Gnade euch gewöhnlichen Menschen Gott!
306
Als Drehbuchautorin meine ich, es wäre noch eine Geschichte nachzutragen von Hardy und Ralph. Wir kennen die beiden von früher, Sie erinnern sich: der eine klein und dick, der andere groß und schlank, aber sie haben keinen richtig bleibenden Eindruck hi¬nterlassen. Reich waren sie offensichtlich, konnten mit ihrem Wohlstand nur so um sich werfen; nannten sich die „Dream Twins“, von Beruf Performance-Macher, waren aber gar nicht so toll hinsichtlich ihrer Ideen, sondern ließen die Kostspieligkeit ihrer Sets für sich sprechen; der Nervenkitzel des Publikums bestand im Wesentlichen darin, dass die meisten Akteure bereit waren, gegen entsprechende Kasse einfach alles zu machen.
DER GROSSE REGISSEUR:
Aber dieser Ralph, dieser Hardy waren – wie sich herausstellte – Kunstfiguren! Relativ blutleere Charaktere, wie ich außerdem hinzufügen möchte!
Blutleer hin oder her: Kunstfiguren sind wir alle hier – wie sich inzwischen herausstellte, als uns Sie-wissen-schon-wer darauf aufmerksam machte.
DER GROSSE REGISSEUR:
Wenn man ihm denn Glauben schenken darf! Wenn er nicht durch sein Auftreten hier im Innenraum unseres Projekts selbst eine bloße Figur geworden ist!
Also auf einer Meta-Ebene mag das richtig sein, aber das ist ein Konzept, das zu nichts führt – es sei denn, wir wollen uns auf konzentrischen Kugelschalen immer weiter nach draußen bewegen: ein Erzähler, der sich im Text deklariert und damit eo ipso einen Über-Erzähler insinuiert, bis dieser seinerseits hier eintritt, was die Vermutung eines Über-Über-Erzählers begründet und so weiter und so fort.
Ich will lediglich meine Geschichte anbringen: Ralph und Hardy waren schweizerische Staatsbürger und schienen außer ihren spleenigen Kunstaktionen…
DER GROSSE REGISSEUR:
… sogenannten Kunstaktionen…
… keiner wie immer gearteten Tätigkeit nachzugehen. Den Haushalt ihrer schloß-ähnlichen Bleibe führte ihnen ein Wesen namens Franca Caravagio¬lo, das sie in einem Restaurant aufgelesen hatten, wo sie als Saaltochter jobbte. Hardy, hatte Ralph gesagt (er war sozusagen der Kopf des Duos), die engagieren wir. Ganz recht, Ralph, hatte Hardy geantwortet (und sich damit als der für die unteren Körperregionen Zuständige geoutet), denn wenn wir die ordentlich bezahlen – so etwa das Zehnfache, was sie hier verdient (Ralph) – dann können wir sicher alles von ihr haben, was wir wollen (Hardy).
Eine Schönheit konnte man Franca schon damals nicht nennen, sie war von eher derber Gestalt, dabei aber nicht unästhetisch anzusehen – man hätte meinen können, sie wäre Tacitus‘ Georgica entsprungen: eine Tschingg, wie man Leute mit italienischer Muttersprache in der Deutschschweiz nennt.
Als Servierkraft fühlte sich Franca nicht sonderlich wohl, und so war sie denn hocherfreut, als Ralph und Hardy sie als Hausdame engagierten. Zwar stellte sich bald heraus, dass dies eine grobe Übertreibung war, denn in Wahrheit gab es gar kein anderes Personal und sie musste alles selbst machen, vor allem auch die gröberen Arbeiten. Der Verdienst war jedoch gut, und sie gab sich zufrieden, bis Hardy, der kleine Dicke, der für die unteren Regionen Zuständige, nicht mehr warten wollte und sich in einer einmalig romantischen Anwandlung mit offener Hose kräftig gegen ihre Rückseite presste, während sie am Küchentisch das Gemüse putzte.
Sie war nicht überrascht. In der Welt, aus der sie kam, wusste man genau Bescheid über den Marktpreis jedweder Person, jedes Gedankens, jedes Wortes und jeder Tat. Franca hatte längst erwartet, dass einer der beiden oder alle beide den Mehrwert abschöpfen wollten, der in ihrer Gage steckte. Nun war’s eben so weit, und mit der Natürlichkeit, mit der sie daheim auf dem Land kopulierende Kühe, Schweine, Hunde oder Stubenfliegen betrachtet hatte, nahm sie das hin, was sich da in ihre Kehrseite bohrte.
Mach nur weiter, Franca, sagte Hardy und biss sie ins Ohr, während er zugleich ihre Brüste mit beiden Händen umfasste. Allzu viel hatte sie bei dieser Sommerhitze ja nicht an unter ihrem Schürzenkleid, sodass der Angreifer leicht das ertasten konnte, woran ihm lag. Als es ihn nach Süden trieb, verwehrte ihm Franca, noch immer Gemüse schälend, mit einer kräftigen Zangenbewegung ihrer Beine den Zugang. Sie wollte es wenigstens versucht haben, den Preis hinaufzutreiben, schließlich hatten dieser Lackel und sein Bruder Geld wie Heu: Das kostet Sie aber extra, Herr Hardy, meinte sie leichthin. Sie spürte, wie heiß er schon war, und war entschlossen, hier endlich den Grundstock zu einem eigenen Vermögen zu legen.
Würden dir 1000 Franken zusagen? stieß er hervor. Franca legte das Messer aus der Hand: Hier auf den Tisch und es geht los! antwortete sie mit ihrer rauen kehligen Stimme.
Der Bursche muss tatsächlich immer so viel Geld lose in seiner Jackentasche gehabt haben (Franca registrierte das für spätere Gelegenheiten sehr genau), denn er holte den entsprechenden Geldschein raus und knallte ihn mit der Hand auf den Tisch. Jetzt dreh dich zu mir und zieh den Fummel hoch! zischte er ihr zu. So wie das geschehen war, riss er ihren Slip nach unten und drang in sie ein. Mit einer Kraft, die man dem unsportlich wirkenden Mann nicht zugetraut hätte, hob er Franca etwas an, um es bequemer zu haben, und sie antwortete, indem sie die Arme um seinen Nacken schlang und sich seinem Rhythmus anpasste.
Ralph war bereits die ganze Zeit in der Tür gestanden. Als alles vorbei war, und das ging bei Hardy normalerweise sehr schnell, klatschte Ralph dreimal in die Hände: Bravo! rief er, aber das nächste Mal könnte man für 1000 Eier schon etwas mehr Widerstand leisten! Er ließ seine Blicke unverschämt über Francas Kurven schweifen. Was ist, bellte er, bist du nur für ihn da?
Natürlich nicht, beeilte sich die Cara-vaggiolo zu versichern, natürlich nicht, Herr Ralph! Sie wieselte ihm entgegen – schließlich konnte der Große Schlan-ke es jetzt nicht gut billiger geben als sein Bruder. Ralph jedoch stieß sie zurück. Sie sah etwas Ungewohntes in seinem Blick, das sie nicht richtig einordnen konnte. Ihr eigener Gesichtausdruck nahm eine stumpfe Verblüffung an, denn bei Ralph ortete sie komplexere Begehrensmuster als beim einfacher gestrickten Hardy. Sie fühlte in seinen Augen sinnliche Fresslust, Kannibalismus geradezu, so intensiv, dass sich ihr Unterleib zusammenzog. Kein Wort kam über ihre Lippen.
Ralph zückte die obligat gewordenen 1000 Franken. Franca wollte sie ihm wortlos aus der Hand reißen und zu den anderen stecken, die in ihrem BH verschwunden waren, doch bevor sie den Schein erhaschen konnte, ließ Ralph ihn fallen. Hol dir doch das Geld! brüllte er, und als sie sich rasch hinkniete und nach dem Tausender griff, setzte er seinen Schuh darauf: Er beschied sie in sein Zimmer und nahm die Banknote wieder an sich.
Franca war unsicher. Sie verlagerte das Gewicht ihres Körpers nach vorn, gab der verführerischen Anziehungskraft des leicht knisternden Papiers nach. Wie in Trance machte sie kehrt und ging zur Tür. Sobald sie nicht mehr auf der Hut war (Ralph blickte ihr heimlich den Gang entlang nach), bekamen ihre Bewegungen etwas Animalisch-Sinnliches, und dem verstohlenen Beobachter lief das Wasser im Mund zusammen, ganz so als würde er die delikate Homepage www•Bianchi•ch betrachten.
Der Weg bis zu Ralphs Zimmer gab Franca etwas Zeit, die komplizierten Gedankengänge zu durchlaufen, die es jetzt in aller Schnelligkeit zu bewältigen gab. Insbesondere an die nette, aber auch resolute Amerikanerin musste sie denken, die sie beim Einkaufen angesprochen hatte: Wahrscheinlich haben Sie in Ihrem Leben noch nicht viel Glück gehabt, Mädchen, aber das kann sich schlagartig ändern, wenn Sie unser Interesse an Ihren Brötchengebern befriedigen können! Die Dame wirkte auf Franca irgendwie militärisch (obwohl ihr bis dahin nur männliche Typen dieses Metiers untergekommen waren – besser gesagt, diese waren über sie gekommen). Sie deutete an, dass Ralph und Hardy im Visier der US-Regierung waren.
DER GROSSE REGISSEUR:
Daher weht also der Wind! Wusste ich’s doch, dass diese zwei Pfeifen mit Kunst keinen Pokal gewinnen würden. Wenn es nur Ihrer Heldin gelänge, sie auffliegen zu lassen!
Immer langsam, Meister! Das Ganze wollte reiflich überlegt sein: Zwei Tage später wurde Franca an einer einsamen Stelle mit dem Auto abgeholt, und während ihre neue Freundin Fluch-Tiraden über das Fehlen eines Automatikgetriebes von sich gab, fuhren die beiden ein wenig spazieren. Sie müssen sich das gut überlegen, denn wenn Sie einmal zusagen, gibt es kein Zurück, wurde Franca aufgeklärt: Sie würde noch eine lange Zeit mit den Herren zusammenleben, sich von ihnen alles bieten lassen müssen, egal worum es sich handelte, um nur ja keinen Verdacht zu erregen. Sollten Ralph (besonders der) und Hardy (bei ihm war es eher unwahrscheinlich) auch nur den leistesten Verdacht hegen, befände sie sich in unmittelbarer Lebensgefahr. Wie gesagt, betonte die Agentin bedeutungsvoll, es geht um viel! Ein dickes Kuvert a conto dieser Gefahren wechselte die Besitzerin.
Im Bewusstsein, dieses Angebot nun ernsthaft angenommen zu haben, wartete Franca in Ralphs Zimmer, wohl wissend, dass sie sehr flexibel würde sein müssen – und im Gedanken an den namhaften Dollar-Betrag war sie auch ohne Wenn und Aber dazu bereit. Ralph betrat den Raum und fasste ihr übergangslos an die Innenseiten der Oberschenkel, die sie ihm in der Küche beim Niederknien enthüllt hatte. Wie zuvor bei Hardy stoppte sie auch bei ihrem zweiten Chef weitere Aktivitäten mit einem kräftigen Druck ihrer Beinmuskulatur. Erst das Geld, Herr Ralph!
Er: Bist du verrückt? Ich will im Moment gar nichts Außergewöhnliches von dir, daher zahle ich auch nicht. So billig wie mit meinem Bruder kommst du nämlich bei mir nicht davon, und das hier – er brachte einen äußerst schmerzhaften intimen Griff bei ihr an –, das hier hole ich mir umsonst. Franca erschrak heftig, denn die zuerst bedächtig, aber zielstrebig aufgebaute Nonchalance brach im Nu in sich zusammen: worauf hatte sie sich da bloß eingelassen? Wieder allein in der Küche hörte sie noch Ralphs schneidende Stimme: Was immer du für ein Spiel mit uns treibst, ich werde dir auf die Schliche kommen, und dann Gnade dir Gott!
– – – – –
Der nächste Schritt war für Franca Caravaggiolo sehr merkwürdig. Ein Mädchen fürs Grobe wurde engagiert, desgleichen eine Köchin, ein Gärtner, ein Chauffeur. Wenn du noch jemanden benötigst, sag es nur, flötete Ralph, du bist die Hausdame und du triffst die Anordnungen. Als das neue Personal eingearbeitet war, drängte Ralph darauf, dass Franca sich über die Maßen körperlich pflegen und äußerlich aufrüsten ließ: eine Kosmetikerin kam ins Haus, eine Masseuse, ein Coiffeur, die Direktrice eines Modehauses mit zwei Vorführdamen sowie ein Schmuckdesigner.
Damit die Gedanken sich jetzt nicht in die falsche Richtung entwickeln – es kam kein Sprachlehrer und keiner, der ein wenig Allgemeinbildung mitbrachte, und auch niemand, der die wichtigsten Benimmregeln vermittelt hätte, denn Ralph war kein Professor Higgins, wie man vielleicht einen Moment lang vermutet hat, sondern bloß einer, der vor aller Öffentlichkeit zeigen wollte, dass er diese Frau gekauft hatte.
DER GROSSE REGISSEUR:
Und wie viel musste er anlegen, damit auch die Franca Caravaggiolo bereit war, die Umwelt merken zu lassen, dass man sie kaufen konnte?
Den ganzen Flitter ließ sich Ralph gute 25.000 bis 30.000 Franken kosten, nicht gerechnet die 20.000, die er seiner Hausdame direkt überreichte – für noch einzufordernde Dienste, wie er dabei sagte. Am darauffolgenden Samstag ging er mit Franca ins Theater (Hardy blieb vor Staunen der Mund offen, und selbstverständlich wagte er sich jetzt nicht mehr ohne zu fragen heran, da sein Bruder die Hand auf der Beute hatte). Während der Aufführung griff Ralph ungeniert zwischen ihre Beine, die von einem Minirock nur ansatzweise bedeckt waren, wiederum um den Sitznachbarn zu zeigen, dass er seinen Besitz ausführte. Beim anschließenden Besuch in eben dem piekfeinen Restaurant, in dem seine Partnerin früher gearbeitet hatte, bestellte er, ohne sie zu fragen, die teuersten Speisen und die erlesensten Weine und ließ zum Abschluss den ältesten Cognac auffahren, den der Keller aufbieten konnte. Er genoss das Wissen darum, was sich Francas Ex-Kolleginnen und -Kollegen dachten, die den beiden mehr oder minder verhohlene hasserfüllte Blicke zuwarfen. Die Caravaggiolo selbst war zunächst etwas unsicher, entschied sich dann aber ebenfalls dazu, die Situation vorerst auszukosten – sie fühlte undeutlich, dass im Verlauf der Nacht noch gewaltige Überschreitungen auf sie warten mochten.
DER GROSSE REGISSEUR:
Ich denke, dass es die konkrete Offenlegung eines ungeheuren Reichtums war, der sie in jeder Weise gefügig machte. Dieses Phänomen übersteigt alle nur denkbaren reinen Gefühlssyndrome.
Dabei war allerdings die Heldin unserer kleinen Geschichte nicht derart naiv, denn sie gedachte immerhin, nicht nur Ralphs Goldader anzuzapfen, sondern auch jene, die sie sich mit Informationen über ihn erschließen konnte.
DER GROSSE REGISSEUR:
Das ist einmal wirklich ein Stoff, der mich vom Sessel reißt, den werden wir verfilmen, mit Ihrer Drehbuchfeder und meiner Regiepranke, und ich sage Ihnen, wir werden damit berühmter als Stanley Kubrick!
AUS DEM HINTERGRUND DES SETS:
Und wer bitte bezahlt, wer fragt mich zum Beispiel, ob ich dafür etwas locker zu machen bereit bin? Immerhin ist Kubrick dabei – das wisst ihr beide nicht, aber ich umso besser – sein Epos „Eyes wide shut” zu schaffen!
DER GROSSE REGISSEUR:
Wie auch immer! Interessiert oder nicht, das ist hier die Frage. Wenn etwas einmal ein Erfolg ist, kann man nicht mehr einsteigen und Profite machen. So ist eben das Gesetz unserer Branche!
AUS DEM HINTERGRUND DES SETS:
Also gut – interessiert! Wie geht es weiter?
In dieser Nacht, konditioniert durch jene aus zwei Geldquellen gespeiste doppelte Gefügigkeit, gestattete Franca ihrem Körper, sich von ihr zu lösen und völlig in Ralphs Besitz überzugehen. Seine Sklavin war sie geworden, und es wurden viele Arten sexuellen Verkehrs durchexerziert. Francas Vorahnung, dass es zu ungeahnten Vorgängen kommen werde, bestätigte sich nur zu gut, so etwa wenn sie das eine oder andere Mal seufzte: Sie quälen mich sehr, Herr Ralph, aber machen Sie ruhig weiter, denn ich gehöre Ihnen. Oder als sie (während er längst erschlafft dalag und nur noch matt auf ihre Berührungen reagierte) schließlich ebenfalls ungeheuer müde wurde und am Einschlafen war – da riss er sie wieder hoch, indem er sie anschrie: An die Arbeit! Wofür bezahle ich dich? Noch einmal versuchte sie ihr Möglichstes, mit steinschweren Gliedmaßen, keine Lust war mehr dabei, nur Befehl und Gehorsam.
Nachdem ihr Ralph solcherart seinen Willen aufgezwungen hatte, gab sie sich der Hoffnung hin, an ihn gedrückt endlich Ruhe zu finden. Er aber schickte sie mit einer barschen Bemerkung in ihr Zimmer, und sie musste auch diesen Leidensweg noch gehen, bevor sie in ein traumloses Vergessen sinken konnte.
DER GROSSE REGISSEUR:
Derlei Details wird sie ja wohl der Amerikanerin vorenthalten haben?
Vollkommen richtig, aber nach diesen Erlebnissen sah sie endlich einen Weg, genauer herauszufinden, was an den beiden Brüdern faul war. Dazu benützte sie Hardy, den kleinen Dicken, den sie jetzt als geradezu liebenswert empfand und der äußerst glücklich war, eines Tages, als Ralph einige Tage außer Haus verbrachte, auch endlich zu ihr ins Bett kriechen zu dürfen. Unter den strengen Blicken des großen Schlanken war die Küchentischsache die bisher einzige magere Ausbeute seines Begehrens gewesen.
Nicht nur, dass Franca bereits an der Tür zu ihrem Zimmer 2000 Franken kassierte (doppelt so viel wie in der Küche erschienen ihr in diesem intimeren Rahmen nur recht und billig), sie brachte ihn darüberhinaus, als er gerade wohlig in ihr steckte, zum Reden. Von geheimen Treffen erzählte er (wollte sich damit recht wichtig erscheinen lassen), von großen schweren Koffern, die übergeben wurden und von denen er angeblich selbst nicht genau wusste, was sie enthielten. Von Schwarzafrikanern erzählte er, von Lateinamerikanern, Arabern und Leuten aus Südostasien.
– – – – –
Machen Sie den beiden den Vorschlag, ihre sogenannten Geschäftspartner in die Villa einzuladen, schlug die Ami-Dame vor. Auf diese Weise können Sie sich selbst viel direkter einbringen und brauchen nicht warten, bis Sie Hardy etwas herauslocken. Ein noch dickeres Kuvert als das erste Mal unterstrich diese Idee.
DER GROSSE REGISSEUR:
Die gute Franca wird sich allerdings gefragt haben, wie sie dies an den Mann bringen könnte, zumal sie spätestens zu diesem Zeitpunkt wusste, dass Ralph ein ganz Ausgeschlafener war, der sich nicht ohne weiteres würde in die Suppe spucken lassen.
Mittlerweile – diese Vorgänge erstreckten sich über Monate – war das Verhältnis zwischen Franca und den Brüdern in eine Art Ehe zu dritt übergangen, wobei allerdings Hardy darauf angewiesen blieb, welche zeitlichen, örtlichen und sachlichen Spielräume ihm verordnet wurden, während Ralph selbstverständlich weiter spontan zugreifen durfte. Die Frau im Dreieck stand im Spannungsfeld zwischen den simplen, fast kindlich zu nennenden Wünschen des einen und den ausschweifenden, wüsten Phantasien des anderen. Ralph war geradezu besessen von der Möglichkeit, alles was er in der bewussten Grauzone der Kunst gesehen, gehört oder gelesen hatte, wirklich ausprobieren zu können, Dinge, von denen wir annehmen dürfen, dass sie reine Fiktion sind – angefangen von der Geschichte der Justine bis zu jener der O. – in die Tat umzusetzen.
Den Vorschlag, die geschäftlichen Aktivitäten hierher in die Villa, jenes schlossähnliche Gebäude fernab der Zivilisation, zu verlegen, machte Franca ihrem Boss an einem Nachmittag, an dem sie faul neben ihm auf der Couch im Salon lag und er lediglich kleine Fingerübungen auf ihrer Haut veranstaltete.
Hast du’s nicht gesehen, fuhr Ralph hoch und brüllte sie an: was sie von seinen Geschäften wisse, ob sein verblödeter Bruder darüber gequatscht habe und so weiter. Immer wieder zwischendurch die Drohung, sie kurzerhand umzubringen, wenn sie es wagen sollte, sich in seine Angelegenheiten zu mischen. Erst als er sich beruhigt hatte, setzte Franca wieder nach: ihr Argument sei nicht schlecht, die Villa ein sehr geeigneter Ort, sie selbst könne als wirkliche Hausdame agieren, zeigen, was sie imstande sei.
In Ralphs Augen glitzerte es. Erst jetzt, da er von einer ganz neuen sadistischen Imagination fortgerissen wurde, erwärmte er sich für Francas Angebot: Ja, schwärmte er, und ich könnte dich an meine Partner, die dann auch über Nacht unsere Gäste sein würden, verleihen. Und glaube mir, die haben noch ganz andere Radikalitäten drauf als ich.
Franca triumphierte – sie hatte ihn ganz leicht dazu gebracht, seine übliche Vorsicht fallen zu lassen, allerdings zu einem Preis, der sie innerlich erschauern ließ!
DER GROSSE REGISSEUR:
Gehen wir doch der Kürze wegen gleich in medias res!
Was in den nächsten Wochen an ihr vorbei oder besser über sie hinwegzog, war bemerkenswert – eben jene Männer, die Hardy angekündigt hatte, allesamt Typen, in deren Kulturkreisen die Frau als solche einen noch geringeren Stellenwert einnimmt als dies selbst in der abstrusen Beziehung Ralphs zu seiner Sklavin der Fall war: Konkret drei Schwarzafrikaner, zwei Lateinamerikaner, zwei Araber und drei Südostasiaten. Aber Franca biss sich da durch, immer im Gedanken bei ihrem wachsenden Vermögen, denn sie kassierte mittlerweile dreifach: die Brüder zahlten weiterhin, gegen die Besucher hielt Franca die Hand nochmals auf, und die Zuwendungen der Amerikanerin flossen reichlich angesichts der Informationen, die ihr geliefert wurden.
Ahmed Al-Qafr war mit Abstand derjenige, der den größten Eindruck bei Franca hinterließ – nein, den wird sie nicht vergessen, solange sie lebt, denn durch ihn hat sie mehrmals echte Todesangst ausgestanden, abgesehen davon, aber das war ihr weniger neu, dass er sie zu demütigen wusste. Der elegante Fürstensohn von der arabischen Halbinsel brachte einen Sack aus undefinierbarem Material, schwarz und elastisch, mit und verlangte von ihr (aufgestachelt durch Ralphs leichthin gemachte Bemerkung, dass man auf diese Hausdame keinerlei Rücksicht zu nehmen brauchte, denn sie mache alles gerne und freiwillig), sich dieses Ding selbst über den Kopf zu stülpen und das daran angebrachte Band um den Hals zuzuziehen. Alles was der vornehme Herr in der Folge mit Franca durchexerzierte, war bei ihr überlagert durch das Gefühl, einen endlosen lichtlosen engen Gang aus Gummi entlangzustolpern und dabei an zunehmender Atemnot zu leiden, die ihr fast das Bewusstsein raubte.
DER GROSSE REGISSEUR:
Und was förderte sie zutage, das es wert war, sich derart zu entäußern?
Was das Durchhaltevermögen bei den lebensbedrohenden Auftritten des Arabers und den auch recht unangenehmen Parcours mit den anderen Herren ihr am Ende bescherte, war, sie alle (insbesondere Al-Qafr und ihren Herrn Ralph, zwangläufig aber auch den Herrn Hardy) zu sehen, wie sie in einer Reihe, mit schweren Hand- und Fußfesseln und – für Franca ein besonders faszinierender Clou – mit Säcken über den Köpfen durch US Special Agents unter dem Kommando jener freigiebigen Dame zu einem großen Hubschrauber eskortiert wurden, der bald darauf mit ihnen in der Nacht verschwand. Der Zerstörer USS Battle Ax wartete im Mittelmeer.
Auf diese Weise wurde auf einen Schlag eine gesamte Organisation, die sich der Verwandlung von illegal importiertem Golderz in völlig legal zu exportierende Goldbarren verschrieben hatte, vernichtet. Mehrere Jahre hinweg war aus schwarzafrikanischen Staaten goldhaltiges Material aus regierungseigenen Minen auf normalen Linienflügen Koffer für Koffer in die Schweiz gekommen. Ralph und Hardy hatten (während sie für die Welt die tölpelhaften Dream Twins verkörperten) für die Gewinnung des Feingoldes gesorgt und die fertigen Barren den Kurieren aus Südamerika, dem arabischen und dem südostasiatischen Raum zwecks umgehender Verbringung zu den Interessenten in ihren Heimatländern übergeben.
Was das die Amis anging? Sie wollten, wie es ihrer Rolle als Weltpolizist zukam, abstellen, was die Schweizer zuließen, und HHs CLONSCO wollte insbesondere eine wesentliche Finanzquelle des Ordens der Orangenblüte verschütten – Ralph und Hardy arbeiteten mit ihrem genialen Projekt…
DER GROSSE REGISSEUR:
… dem man als einzigem ihrer Vorhaben die wahre Kunst nicht absprechen mag…
… nicht nur in die eigenen Taschen, sondern auch in die Kassen der fahlen Bruderschaft.
Zum Schutz Francas vor etwaigen Racheakten ließ die Generalin einen der Agenten in der Villa zurück – mit dem wurde die Caravaggiolo sofort gut Freund: er war nämlich ein amerikanischer Tschingg namens Filiberto Dallabona. Er half ihr in allem, besonders als bald darauf die Papiere über die beglaubigte Schenkung des verbliebenen Ralph-und-Hardy’schen Besitzes an die ehemalige Hausdame überbracht wurden. Sie war nun selbst sagenhaft reich und stellte Filiberto in ihre Dienste.
307
Als mein Mitarbeiter Dan Kendick das Büro betrat, war ich gleich neugierig – er war der beste Spürhund meiner Truppe und brachte die bei weitem interessantesten Informationen. Was mich an ihm wahnsinnig nervte, war sein ständiges dreckiges Grinsen, das man nur vorübergehend abstellen konnte, wenn man ihm befahl, Haltung anzunehmen. Wie auch immer, man kann nicht alles haben: der Preis für seine fachliche Qualifikation war seine Schleimigkeit. Ich sah ihn direkt vor mir, wie er im Offizierstreff den anderen erzählte, es gäbe keinen größeren Kick für einen jungen Colonel, als von seiner kommandierenden Generalin (das war ich) einen geblasen zu bekommen. Vorsichtig, meine möglicherweise gereizte Reaktion abtastend, hatten Leute mir diesbezügliche Andeutungen gemacht – es gab allerdings nicht die Spur eines Beweises.
ALEX:
Aber das ist doch keine Schande, wenn man in die sexuellen Phantasien anderer einbezogen wird – jedenfalls tut’s nicht weh, und schließlich heißt es nichts anderes als dass du für deine 45 noch super aussiehst.
Danke für das nette Kompliment!
ALEX:
War mir ein besonderes Vergnügen, General, Ma’m!
Dazu salutierte sie, mit einem leichten Anflug von Persiflage, aber das störte mich längst nicht mehr. Wenn man sich mit aller Kraft hochgearbeitet hat, sehen alle nur mehr die Rolle, die du spielen musst, während du selbst das Gefühl hast, dich nicht verändert zu haben. Mein Gott, war das alles schief gelaufen: ich als junge Kadettin bei der Army – eine Kurierfahrt zum Navy-Stützpunkt Charleston – der Adjutant des Admirals, dem ich die Posttasche überreiche, lädt mich zum Essen ein – er ist ganz sympathisch, daher gehe ich mit ihm tanzen – Fazit: eine heiße Nacht, ich bin schwanger, warum auch nicht – ich heirate Captain Gus Skelton, das Kind ist eine Tochter, Alex, alle sind von dieser Familie entzückt. Zehn Jahre später hat mein Mann noch immer denselben Rang, und da ich ihm auf der Karriereleiter davonziehe, lässt er sich so weit weg wie irgend möglich versetzen: Diego Garcia im Indischen Ozean, in der Hoffnung, dass ihm dort die Superiorität seiner Frau nicht dauernd an den Kopf geworfen wird. Ich ziehe mit dem Mädchen nach Washington, arbeite im Büro des Nationalen Sicherheitsrates mit, verdiene gut, noch dazu erbe ich von meinen Eltern ein schönes großes Haus. Es besitzt einen riesigen Wintergarten, darin einen Swimmingpool, gestaltet wie ein See, der inmitten des Dschungels liegt. Man kann ihn sommers wie winters benützen.
Zu diesem Gewässer entwickelte Alex eine fast magische Beziehung, wie unsere Haushälterin und de facto Erzieherin des Kindes mir meldete. Ich selbst war ja so wenig zu Hause, dass ich nichts mitbekam, außer wenn es Mrs. Ortiz etwas als besonders wichtig erachtete und damit meinen beruflichen Panzer sozusagen gewaltsam durchstieß, während ich gerade frühstückte, duschte oder mich ankleidete. Für Alex blieb nicht mehr Zeit als ein schneller Kuss und ein stereotyper Wortwechsel (Wie geht’s, Kleines, bist du okay? – Danke , Ma!). Die Poolgeschichte an sich hatte ich noch nicht als bemerkenswert empfunden: erst als die Ortiz mir sagte, dass die Fünfzehnjährige zu tauchen begonnen hatte und ihren Spaß daran zu finden schien, möglichst lange unter Wasser zu bleiben, wurde ich hellhörig.
ALEX:
Nicht hellhörig genug, denn du hast nie nach den Ursachen geforscht (was in deinem Beruf für dich selbstverständlich gewesen wäre): Ich war allein, so allein, wie niemand sonst sein konnte, und wenn ich mich an die tiefste Stelle des Pools zurückzog und dort im Dämmerlicht verharrte, schien mir das ein perfektes Symbol meines Zustands zu sein, so vollkommen, dass ich am liebsten gar nicht mehr nach oben gekommen wäre.
Mrs. Ortiz stand, wie sie mir berichtete, in jener Zeit oftmals versteckt hinter den ausladenden Pflanzen des Wintergartens, am Sprung, etwas zu tun, ohne genau zu wissen was. Nach einigen dieser mittlerweile drei bis vier Minuten dauernden Tauchgänge beruhigte sie sich wieder etwas, da sie erkannte, dass es sich hier um keine Selbstmordversuche handelte. Das Mädchen schien lediglich darauf aus zu sein, an Grenzen vorzustoßen, meinte sie. In mir klickte es – wo war mir dieses Motiv „Minutenlanges Atemanhalten? schon einmal begegnet? Ich musste lange nachdenken, aber mein nahezu fotografisches Gedächtnis ließ mich nicht im Stich und ich erinnerte mich an das Dossier über die seltsame australische Heilige, die in London als Therapeutin praktizierte. Einen Zusammenhang zwischen ihr und meiner Tochter vermochte ich aber nicht auszumachen.
ALEX:
Die Walemira Talmai oder später Dr. Berenice Talmai konnte Botschaften über weite Entfernungen vermitteln, wenn sie feststellte, dass jemand in einem ihr verhältnismäßigen Seelenzustand war und sie zu rufen schien. Ihre telepathische Nachricht gab mir das Instrument in die Hand, mich von den banalen Atemlosphasen zuletzt auf fünf Minuten zu steigern: einerseits war es die Meditation über Gesetze (auch solche der Natur) hinweg und andererseits das bewusste Einsetzen sexueller Handlungen zur Stimulierung solcher Überschreitungen.
Also, vielleicht begreife ich heute mehr, aber damals war ich in höchstem Maß alarmiert und beruhigte mich erst ein wenig, als die Ortiz keine Selbstzerstörungsabsicht sehen mochte. Umso mehr wurde ich aufgerüttelt, als mir einige Monate später Colonel Kendick triumphierend ein Filmnegativ auf den Tisch legte.
Das stellt Ihre Tochter dar, General, Ma’m! Sie scheint sich entschlossen zu haben, ihre Einsamkeit – in der wir sie schon die ganze Zeit observieren (ich begriff plötzlich, dass er in Wahrheit als Spitzel des FBI auf mich angesetzt war) – zu überwinden und vor ein Publikum zu treten. Die Auster öffnet sich, die Perle kommt zum Vorschein! fügte er überflüssigerweise hinzu. Werden Sie bloß nicht poetisch, Sie Schleimer – ich benützte ihm gegenüber erstmals das Wort, das mir schon lange auf der Zunge lag. In einem noch immer männerdominierten Verein musste er das aushalten. Was glauben Sie, was das genau bedeutet?
Grafik 3.3
Da lachte sein Baptistenherz: Ich glaube an Jesus Christus, an das Marine Corps und an mein Vaterland Amerika, Ma’m! schmetterte er mir entgegen. Hier ginge es allein um Tatsachen, und die würde er mir sofort in allen Einzelheiten darlegen.
Tolle Show, sagte er lüstern, ich hab’s sehr genossen. Man konnte ganz in der Nähe stehen und mitansehen, wie es Alex und ihr Assistent, übrigens ein gewisser Ray, es so spannend wie möglich machten.
ALEX:
(damals) Manche von euch haben mich schon als Entfesselungskünstlerin gesehen, aber diesmal wird’s ganz anders. Wir nehmen die Ketten und machen es wirklich interessant.
RAY:
Ich weiß nicht Alex, Ketten! Was machen wir, wenn du in ernste Schwierigkeiten kommst. Niemand kann dich nach oben bringen, wenn du den Bleigürtel trägst und ihn nicht selbst ablegen kannst!
ALEX:
(damals) Also gut, wenn ich das dritte Set Luftblasen ausstoße, dann kommst du runter und öffnest die Schlösser. Nun, da wir ein Notsignal haben, kannst du mir doch die Ketten anlegen, damit die Leute hier ihren Spaß kriegen!
Kendick atmete selbst beim Nachempfinden der Geschichte schwer, und seine rechte Hand schien zwanghaft an eine bestimmte Stelle seiner Hose fahren zu wollen, als er so vor mir stand.
Reißen Sie sich zusammen, Mann! bellte ich, aber er nützte beinhart die Situation: Reißen Sie sich lieber zusammen, General, stieß er gefährlich leise hervor – noch bin ich nur am Erzählen, noch stelle ich Ihnen nicht meine Bedingungen, um daraus keinen Skandal werden zu lassen! Ich wusste, dass es eine Überreaktion war, aber ich fingerte nach meiner Dienstwaffe, die ich in der halboffenen rechten oberen Schreibtischlade wusste. Davon bekam der Colonel in seiner Exaltation nichts mit. Er berichtete, wie dieser Ray meiner Alex, die gleichermaßen erregt und konzentriert schien, den Bleigürtel umlegte und festzurrte. Dann kettete er ihre Beine zusammen und brachte das Schloss an. Wie er sich dabei angestellt hat, dieser Tolpatsch! murrte Kendick, das wäre mir nicht passiert! Dabei war es so, dass ihm sogar bei seiner nachträglichen Schilderung noch die Hände zitterten. Ich erfuhr, wie Kette Nummer 2 an den Händen meiner Tochter angebracht wurde, während sie dastand in einem Nichts von Bikini, braungebrannt und in „High Definition“. Der Bursche sparte keine Einzelheit aus: Ich sage Ihnen, HH, die sah so aus (meine Hand hatte den Revolver gefunden), als ob sie gleich kommen würde (mein Finger berührte den Abzug) – was für eine Frau!
ALEX:
(damals) Jetzt die dritte Kette, Buddy, mit der verbindest du Hand- und Fußfesseln, damit ich nur ja keinen Trick anwenden kann!
RAY:
(offenbar erstmals richtig besorgt) Aber wie willst du dann noch rauskommen?
ALEX:
(damals) Das lass nur meine Sorge sein – ich bin die Entfesselungskünstlerin, schon vergessen? (ungeduldig) Jetzt mach schon, Ray, ich bin so high wie noch nie zuvor in meinem Leben, und wenn wir später allein sind, werde ich es wohl noch sein, und du wirst davon profitieren!
Sie beugte sich vor – bei Kendicks weiterer Erzählung wurden meine Fingerknöchel weiß, so fest drückte ich den Revolver –, um es Ray zu ermöglichen, sie kurzzuschließen, so nennen es jedenfalls die Boys von der Militärpolizei. Alex hyperventilierte währenddessen, dann atmete sie nochmals aus, zählte eins-zwei-drei, holte das letzte Mal tief Luft und weg war sie.
Plötzlich wandten sich wieder alle Augen Ray zu, der inzwischen die Schlüssel für die Kettenschlösser gesucht hatte.
RAY:
Dieses Miststück! Jetzt hat sie auch noch die Schlüssel versteckt! Ich kann ihr nicht helfen, selbst wenn ich es noch so sehr wollte! Niemand kann das!
Mir blieb fast das Herz stehen.
ALEX:
Eine Minute lang machte ich nichts, um dem Publikum die Sache spannender zu gestalten (die meisten schauten natürlich ständig auf die Uhr). Ich war in dieser Zeit sehr entspannt, schließlich konnte ich es erwiesenermaßen sehr lange unter Wasser aushalten. Als ich jedoch danach aus der Handfessel schlüpfen wollte, zeigte sich, dass ich mich auf ein extremes Training-on-the-Job eingelassen hatte: die Ketten waren ganz anders als die bis dahin ausschließlich verwendeten Schnüre. Meine Hände waren leicht angeschwollen und gingen nicht durch die Schlaufen. Ähnlich war’s mit den Füßen: meine Gelenkigkeit reichte nicht aus, um sie so zu spreizen, dass ich mich befreien konnte. Ich probierte es immer wieder, aber erfolglos.
Kendick trompete: Wir hatten 2 Minuten 30 – alle waren zuhöchst alarmiert, aber Männer wie Frauen fühlten sich durch den Vorgang auch äußerst stimuliert. Zweieinhalb Minuten und noch immer kein Fortschritt!
ALEX:
Die Schmerzen der unnatürlichen Stellung und der nach Luft ringenden Lunge wurden fast unerträglich, andererseits erahnte ich einen aufkommenden Orgasmus, von dem ich befürchtete, dass er mich meine letzte Reserven kosten würde. Ich kämpfte meinen Körper nieder, und diesmal endlich gelang es mir, meine rechte Hand millimeterweise aus der Kette zu ziehen – die linke war dann ein Kinderspiel angesichts der gelockerten Fessel. Rasch nahm ich den Bleigürtel ab und stieß mich ab, der rettenden Oberfläche entgegen.
Vier-fünf-sechs Hände griffen zu, um sie rauszuziehen, HH. Am Beckenrand liegend und einige tiefe Atemzüge später (die Fußfessel war mangels Schlüssel noch immer nicht gelöst) begann Alex wild zu fluchen, weil sie es nicht geschafft hatte. Aber du hast es geschafft, Darling, sagte Ray, du hast 3:45 geschafft in einer Situation tödlicher Bedrohung, das zählt mehr als die doppelte Zeit, in der du bloß friedlich und bewegungslos im Wasser schwebst!
ALEX:
(damals) Aber ich habe mir das so fest vorgenommen, und es hat nicht geklappt. Was sollen die Leute sagen, jetzt wo die Performance schiefgegangen ist?
Der Colonel kam zum Ende seiner Story: Wie zur Antwort begannen wir alle wie verrückt zu applaudieren, was Alex wieder ein wenig versöhnte, noch dazu als ihre Zuschauer von ihr alle Einzelheiten wissen wollten, wie sie in jeder Sekunde empfunden und was sie genau gespürt hatte, und sie begann bereitwillig Auskunft zu geben, mehr als bereitwillig, würde ich sagen – aber jetzt zum Geschäft, General, Ma’m!
Er spekulierte laut, wie eine solche Tochter zu meiner Karriere passen würde. Er räumte zwar ein, dass bei dem Event keine wirkliche Öffentlichkeit gegeben gewesen sei, einfach Freunde und Bekannte vom College, allenfalls Bekannte von Bekannten, die neugierig geworden waren. Anwesend war allerdings das FBI, vertreten durch ihn, Kendick, der auch die Fotos gemacht hat.
Jetzt war die Katze aus dem Sack. Wie ist es möglich, fragte ich ihn, dass Sie für diese Dienststelle und zugleich für das FBI arbeiten? Wer ist dann ihr Führungsoffizier?
Naive Frage, HH, lächelte er: Hier sind Sie’s und dort ist’s jemand anderer. Faktum ist, dass ich jenem anderen gar nichts erzählen muss, wenn Sie jetzt ruhig aufstehen, die Tür dieses Büros von innen abschließen und mir einen kleinen Gefallen tun, von dem ich schon lange träume.
Sie meinen das, was Sie im Offizierstreff behaupten, dass es längst geschehen ist?
Genau das, HH, warum sollte es Theorie bleiben, wenn sich eine so schöne Gelegenheit ergibt?
Die Tür schloss ich per Knopfdruck von meinem Platz aus. Damit hatte Kendick nicht gerechnet, dass ich gar nicht aufstehen musste, um seinen Wunsch zu erfüllen. Ich bat ihn sodann, sein Instrument, auf dem ich spielen sollte, auszupacken und langsam links von mir um den Schreibtisch herumzugehen. Herausfordernd befolgte er meine Anweisung, und als ich sah, was ich an ihm bisher noch nie gesehen hatte, tat er mir fast ein wenig leid, denn er war wirklich so gut gebaut, dass man in Versuchung kommen mochte. Dann aber dachte ich an den Ton, mit dem er über meine Tochter gesprochen hatte und verwirklichte meinen Plan. Meine rechte Hand fuhr aus der Lade und ich schoss den Schleimer in den Kopf. Ich legte meine Waffe ab, zerzauste mein Haar, brachte meine Uniformjacke in Unordnung und riss den Kragen meiner Bluse kräftig ein. Dem Toten, der mit offener Hose daliegend einen bemerkenswerten Anblick bot, brachte ich mit meinen Fingernägeln noch einige Kratzer auf beiden Wangen bei.
Den ersten, die hereingestürzt kamen, schrie ich etwas von einem Vergewaltigungsversuch zu. Bald danach wurde ich für weitere Untersuchungen abgeführt. Ich ließ alle Fragen über mich ergehen, selbst die, ob ein 170-Pfund-Mann einer 150-lb-Frau überhaupt gefährlich werden könne, oder die, ob ich der Ansicht sei, jemand wie ich würde von einem wesentlich jüngeren Offizier ernsthaft zum Objekt seiner Begierde gemacht. Ich blieb hartnäckig bei meiner Version des Tathergangs, und so konnten sie nichts anderes tun, als mich nach einer Nacht im Militärgefängnis von Arlington wieder zu entlassen. Ich wurde unter Hausarrest gestellt.
Ich wusste, dass in dieser Situation automatisch alle geheimen Operationen, die ich zuletzt initiiert hatte, routinemäßig unverzüglich gestoppt wurden, aber ich sagte dazu nichts. Unter anderem hieß das, die Agenten, die den arroganten Engländer, Sir Basil Diesunddas, die zwei amerikanischen Verräter, die mit ihm zusammenarbeiteten (irgendwo in der Grauzone zwischen dem ominösen Orangenblütenorden und dem nicht weniger obskuren O’RAZOR-Verein) sowie die liebe Charlene Thomson kurz vor Vollendung ihres neuesten Coups hopps nehmen sollten, wurden in letzter Sekunde zurückgepfiffen. Diese blöden Idioten, dachte ich, wegen des nunmehr nutzlosen Kadavers von Kendick (im Moment verstellte mir mein Hass den Blick auf die Tatsache, dass ich ohne den Colonel die meisten der zugrundeliegenden Tatsachen gar nicht besessen hätte) ließen sie die Chance sausen, die vier entführten Wissenschaftler, die uns so viel bedeuteten, wieder zurückzube-kommen. Ich hätte in diesem Zusammenhang gerne in der Schweiz angerufen, ließ es aber sein, da sie mit Sicherheit mein Telefon abhörten. Auch über die Aktivitäten der Koori-Gruppe, deren weltlicher Führer, wie wir ihn intern nannten, zuletzt ebenfalls in Wien observiert worden war, machte ich mir weiter Gedanken – allein, es war nicht mehr mein Job. Ich wurde zwar lediglich suspendiert, aber den Gesetzen unserer Branche zufolge kommst du auf einen solchen Posten nicht zurück.
Zuhause hatte ich erstmals in meinem Leben viel Zeit. Bedauerlicherweise war Alex nicht da, mit der ich gerne (jetzt schon ohne jede Bitterkeit, denn was war ihr Tun gegen das, was der Schleimer daraus gemacht hatte) in Ruhe über die ganzen Vorgänge gesprochen hätte. Ich ließ mir von der Ortiz die Sachen meiner Tochter zeigen: der Bleigürtel passte, nur ganz wenig musste ich ihn verstellen. Brauchen Sie einen Badeanzug, Ma’m, fragte die Haushälterin, aber ich winkte ab: Sie wissen ohnehin, wie ich aussehe, Juanita!
Ich glitt unter Wasser und begann zu verstehen.
Nach einigen Tagen und vielen ehrgeizigen Tauchversuchen (wenn ich etwas mache, dann gründlich) kam ich langsam in höhere Limits, wenn auch nicht in jene Kategorie, die mir Kendick von meiner Tochter genannt hatte, aber 2:30 war schon mal drin. Was mir offenbar fehlte, war eine Art von Grenzgängerphilosophie, und so etwas kann man bekanntlich nicht simulieren. Von der Möglichkeit, die Zeiten mittels körperlicher Stimulation zu verbessern, machte ich allerdings schon Gebrauch, wenngleich mir zu meinem Missbehagen in die durch meinen Kopf geisternden Phantasien Colonel Kendick mit seinem Instrument hineinplatzte – einerlei, wenn man ihm nicht ins Gesicht sehen musste, war er eigentlich ein hübscher Junge.
Während eines dieser Abenteuer spürte ich, dass jemand in meiner Nähe war, dass es sich aber um keinen Feind handelte – Alex schwamm auf mich zu, als ich mich umdrehte, war sie schon ganz nah, wie ich trug sie nur ihr Geburtstagskostüm, wie wir Amerikaner zu sagen pflegen, und unsere Umarmung an der tiefsten Stelle des Pools entbehrte nicht einer starken körperlichen Spannung. Dann fuhren wir beide nach oben. Ich wollte so viel sagen, aber sie kam mir zuvor.
ALEX:
Wetten, dass ich doppelt so lange unten bleiben kann wie du? Wir tauchen zugleich, wenn du es nicht mehr aushältst, holst du Luft, kommst wieder runter, und du wirst sehen, ich besiege dich trotzdem!
Ich tat mein Möglichstes. Ich wusste, wenn ich sie leichtfertig gewinnen ließe, würde sie es merken, und dennoch kam es so wie sie gesagt hatte. Während ich das zweite Mal mit brennender Lunge an die Oberfläche schnellte, kam sie mir langsam nach, und mit einem Lächeln, das jeder Primadonna zur Ehre gereicht hätte, tauchte sie auf, holte nur unmerklich Atem und klammerte sich an mich.
Jetzt endlich wagte ich meine Frage zu stellen: Fühlst du dich nicht benützt, als Opfer sogar, wenn du dich den Leuten so zeigst, wie ich es auf gewissen Fotos gesehen habe?
ALEX:
Aber Ma, das Gegenteil ist der Fall. Ich habe zwei Freundinnen am College, die strippen, und eine dritte arbeitet als Prostituierte. Wir alle betrachten das als Versuche, aus dem Circulus vitiosus auszubrechen, der uns einen so negativen Einfluss auf das Leben unserer Mütter auszuüben scheint: die lebenslängliche Verurteilung zu Haus-, Fabriks- oder Büroarbeit. Wir wollen mit unseren spektakulären Aktionen, für die wir uns frei entschieden haben, zeigen, dass daran nichts falsch oder sündhaft ist. Hier bin ich, sage ich im Moment, in dem meine Performance beginnt, dem Publikum. Ich bin bewundernswert, ich bin liebenswert, das ist es, was ich bin. Es ist nicht pervers, diese Schönheit zu besitzen, diese Kunst zu beherrschen, und mittlerweile beherrsche ich sie auch perfekt. Den Ray habe ich übrigens in die Wüste geschickt, ich suche jetzt eine weibliche Assistenz, die gut aussieht und so hervorragend schwimmen und tauchen kann, dass sie im Notfall die Nerven bewahrt und mich rettet.
In dieser Nacht bat ich Alex, in mein Bett zu kommen, und so sehr sie schon eine junge Dame war, ich holte all die kindlichen Zärtlichkeiten nach, die ihr ganz offensichtlich entgangen waren…
308
Kennst du Wien, Charlene? fragte der Stabschef. Nun, sie war immerhin PR-Assistentin eines Senators gewesen, da war es doch kein Wunder, dass sie wusste, wo Vienna, Austria, lag, während andere Amis allerhöchstens The Tyrol & The Trapp Family intus haben. Sie sollte drei ihrer Freundinnen dorthin einladen und mit ihnen gemeinsam einen vertraulichen Auftrag erledigen, über dessen wahre Natur (O’RAZOR!) die drei anderen Chicks nichts wissen mussten. Es ging noch immer um die vier „Gelehrten?, die ich mit Brian und Yellowhawk aus dem Grenadier Hotel geholt hatte: Sie erinnern sich, dass wir sie in einem eher beklagenswerten Zustand an Bord einer Royal-Navy-Fregatte verlassen haben.
Charlene reiste gut vorbereitet auf Umwegen nach Wien – die Logistik des Ordens, derer sich Sir Basil in diesem Fall bediente, funktionierte noch immer einigermaßen verlässlich, während unsere fahle Brüderschaft darüber hinaus zu gröberen Missetaten nicht mehr imstande war. Immerhin: man organisierte Reiseplan, Tickets, Hotelbuchungen sogar, wenn erforderlich. In Wien war im Hotel Sacher für Charlene reserviert, sie fand’s einzigartig. Den Freundinnen würde dieser Ort jeden Verdacht, es könnte etwas faul an der Sache sein, nehmen.
Als die drei Hübschen dann eintrafen und ebenfalls ihr Quartier bezogen hatten (verzeihen Sie meinen militärischen Sprachstil, aber ich bin eben ein alter Soldat), erwartete sie Charlene mit einem fashionablen Dinner, während dem jede neugierige Frage nach dem Zweck des Zusammentreffens zurückgewiesen wurde.
BRIAN:
Und wir hockten auch dort rum, unbequem ausstaffiert mit dunklen Anzügen, weißen Hemden und zu allem Übel mit Krawatten, mussten fein tun, nur weil es in dieser verrotteten Scheiß-Stadt so üblich war. Wenn ich nur daran denke: gekochtes Rindfleisch zu essen statt eines ordentlichen Steaks! Du, Murky, bist ja damit wesentlich besser klargekommen!
Ich nahm mir ein Beispiel an Sir Basil und Chicago, die an einem dritten Tisch saßen, ebenso wie wir nicht erkennen ließen, dass sie mit von der Partie waren, und das Ganze offensichtlich genossen. Wie auch immer, die drei Damen, die bei Charlene zu Gast waren, nennen wir sie Amy, Pussy und Trudy, standen hervorragend im Futter und sahen bestens aus, vielleicht für Europa etwas zu schrill: Amy zu pink, Pussy zu neongrün und Trudy zu lichtblau, und alle drei viel zu blond. Sie unterhielten sich königlich, auch ohne dass ihre Neugier befriedigt worden war, und blickten verstohlen durch den Speisesaal, wo da und dort die feinen und vermutlich betuchten Herren saßen – in ihrer Branche waren sie einfach Profis.
BRIAN:
Professionelle Huren!
War nicht Trudy (die dich in deinem jetzigen Outfit gar nicht wiederzuerkennen schein) diejenige, die dich in Washington zu sich nach Hause eingeladen hat, während ich mit Charlene zusammen war?
BRIAN:
Sicher doch!
Das war jedenfalls ganz was anderes als man dir bei deinen gelegentlichen Bordellbesuchen im Nachbarort von White Rock geboten hat. In Trudys Appartment passierte nichts Hurenhaftes, das hatte einfach Stil – da verwette ich meinen Arm.
BRIAN:
Hast schon irgendwie Recht, Alter, aber echte Klasse hat einzig und allein Charlene. Wie sie an jenem Abend so dasaß – allein der Unterschied in der Kleidung: der piekfeine französische Fummel, den ihr Sir Basil gekauft hatte. Vorne hochgeschlossen, hinten ausgeschnitten bis zum fünften Lendenwirbel und leicht gerafft. Wie ich sie kannte, hatte Charlene sich vor dem Kauf unzählige Male vor einer Galerie gegeneinander verwinkelter Spiegel bei allen möglichen Stellungen und Bewegungen beobachtet, da verließ sie sich einfach auf niemand anderen, und so konnte es ihr auch nicht passieren, dass irgendwo etwas hervorblitzte, was sie gerne ihrem jeweiligen Intimpartner reservierte.
Sie war frivol, aber niemals ordinär!
BRIAN:
Immerhin konnte aber jeder sehen, dass sie keinen BH trug und ihre Brüste dennoch kein Anzeichen von Nachlässigkeit zeigten.
Gewichte, mein Lieber, Joggen, Schwimmen, Yoga nicht zu vergessen, alles auf der Basis einer gesunden ländlichen Herkunft. Da hat sie dir einiges voraus, mein Freund, bei ursprünglich gleichen Voraussetzungen!
BRIAN:
Fit bin ich auch, wie du am besten weißt. Aber hätte ich mich vielleicht als Betthäschen bei einem Senator verdingen sollen?
Du bist ein Affe geblieben, und wenn du mich nicht getroffen hättest, wär’s noch schlimmer mir dir. Aus deiner Schwester aber ist eine Königin geworden. Wenn du allein bedenkst, dass sie mit mir geschlafen hat, ohne sich wirklich herabzulassen zum Jungen aus der Bronx, und unbelastet davon ist sie heute die Favoritin eines britischen Baronets!
BRIAN:
Und sie kann noch höher steigen, wenn sie will!
Ich denke, sie liebt ihn, und er liebt sie, obwohl das im Zusammenhang mit den beiden etwas seltsam klingt – sie sind ja nicht gerade die ur-romantischen Typen, aber ich habe sie beobachtet, wenn sie sich ganz allein glaubten: da lag ein Zauber über der Szene, dem auch ich mich nicht entziehen konnte, so als ob Charlene in seiner Gegenwart die Aura ihrer Unschuld wiedergewonnen hätte…
BRIAN:
Oh boy, don’t stop, mir Märchen zu erzählen – wer wäre dazu besser geeignet als der böse Wolf?
Auch wenn es später im Leben ist – mit einem Mal ist man allein wie nie zuvor, und wenn da jemand ist, den man noch nie hatte, erlebt man den Sex neu, löst Blicke und Hände wieder von theoretischen Gebilden wie etwa schlüpfrigen Illustrierten-Fotos. Die Lust wird wieder total körperlich, das ergibt neue Gefühle, vermeidet alte Irrtümer und gibt den Weg frei für unerwartete Dinge, die anderen vielleicht seltsam erscheinen.
Sir Basil zum Beispiel (oder vielmehr sein Körper, den er zu lange schon seinem messerscharfen Verstand unterworfen hatte), schien unbewusst auf eine solche Gelegenheit gewartet zu haben. Trotz seines etwas fortgeschrittenen Alters ist er topfit, denn du weißt selbst, die Ausbildung bei unseren Marines und daheim bei der Mördertruppe von Eliza-Britt vergessen seine Muskelfasern und Nerven lange nicht. Jetzt stell dir einmal vor – Cheltenham kann mit einer Bewegung seiner zwei Fingerkuppen zwischen Betäubung und sofortigem Tod seines Gegners entscheiden, und da sollte er nicht seiner Liebespartnerin tiefe und subtile Lust bereiten können?
BRIAN:
Ich träume jetzt wieder öfter von Vietnam, besonders wenn ich Wörter wie Mord und Tod höre…
Keine Angst, diesmal bringen wir keinen um, Buddy! Die vier Jungs sollten ja auch nur an einen endgültig sicheren Platz verfrachtet werden. Zu diesem Zweck musste Charlene mit ihren drei Freundinnen sehr streng umgehen, obwohl sie ihnen an sich ein nächtliches Abenteuer gerne vergönnt hätte. Sie verbot ihnen bis auf weiteres, einen der Herren aus dem Restaurant abzuschleppen, was ihr umso leichter fiel, als auch sie und Sir Basil während dieser Operation so tun mussten als würden sie einander nicht kennen (daher keine heimlichen Zimmerbesuche!). Für den nächsten Morgen um null-neunhundert-dreißig – auch in Washington hatte man sich eine pseudomilitärische Zeitzählung angewöhnt, schließlich steht Amerika praktisch dauernd im Krieg! – wurden Amy, Pussy und Trudy in Charlenes Appartment zum gemeinsamen Frühstück eingeladen.
– – – – –
Na Mädels, fragte Charlene beim Kaffee, was machen eure Senatoren (war rein rhetorisch, sie wusste es ohnehin, und folgerte daraus, dass die drei finanziell ein wenig ausgetrocknet waren)? Abgewählt – reumütig heimgekehrt zu Muttern – in die Wirtschaft gegangen! lauteten die Antworten. Und warum hast nicht wenigstens du, Trudy, deinen Boss begleitet?
Pass auf, jetzt kommt’s! Weißt du, was Trudy antwortete, mit dem gewissen Augenaufschlag, den du ja kennengelernt hast, und ihrem Harvard-Schmoll-Mündchen (sie war tatsächlich in Harvard, auch wenn du das nicht für möglich hältst!): Du machst wohl Witze, Charlene, Darling, was sollte er mit jemandem wie mir in der Chefetage der General Business Corporation? Dorthin nimmst du dir eine ältliche Pute, die 180 pro Minute stenografiert – und für deine Frau kein Problem darstellt, denn die lebt jetzt mit dir am selben Ort und nicht fern der Hauptstadt!
Ich sehe, ihr könntet ein wenig Bares gebrauchen! meinte Charlene leichthin. Und in Richtung der gierig aufgerissenen Augen setzte sie fort: Es geht um vier Landsleute von uns, die treffen wir in Italien, begleiten sie hierher nach Wien und kriegen einen Haufen Geld dafür!
Trudy, die Klügste: Und wo ist der Haken? Es gab angeblich keinen: Die Vier waren eigenbrötlerisch und ein wenig dämlich, sollten sich hier diversen medizinischen Behandlungen unterziehen, weigerten sich jedoch standhaft, mit Familienmitgliedern zu reisen. Frauen und Kinder waren aufs Äußerste besorgt, es ging um wahnsinnig viel Kohle, die nicht in falsche Hände geraten sollte…
BRIAN:
Reine Phantasie und klingt doch so echt, dass sich die Wirklichkeit davor verstecken müsste!
Ja, und man wollte das Beste aus der Situation machen, indem man – unbewerkt von den Herren – Begleiterinnen engagierte, die ihnen gefallen mussten, die ihnen auch ein wenig zu Willen sein sollten, damit sie nicht von der Reiseroute abkämen. Übrigens, fügte sie hinzu, einer der Vier ist schwarz, wer übernimmt den?
Den übernahm Pussy, die hatte schon einschlägige Erfahrungen. Am Vorabend noch hatte sie ihre Blicke fast nicht von dem dunkelhäutigen Gentleman lösen können, der an einem der Nachbartische mit einer anderen soignierten Type gesessen war, wobei sie nicht ahnte, das es sich dabei um keinen Afro-Amerikaner oder Afrikaner, sondern um einen vornehmen australischen Ureinwohner handelte.
BRIAN:
Chicago… so einen Anklang fand der?
Du weißt, dass er dies wenn nötig herbeiführen konnte, aber dazu bedurfte es in der Regel nicht. Jedenfalls vermied es Pussy auftragsgemäß, ihm schöne Augen zu machen, und damit hatte es sich.
BRIAN:
Soviel ich mir vorstelle, unterhielten sich die Damen beim Frühstück dann noch über die entscheidende Frage, worüber man mit den vier Zielobjekten (so drückte sich Charlene wirklich aus!) reden sollte, und unsere Mitverschwörerin gab sich selbst die Anwort mit einem Zitat: Zum Reden bezahlt euch Uncle Sam nicht! Als sie fragten, wer sie denn nun wirklich bezahlte, erwiderte Charlene kühl: Ich!
Iiiiiek! rief Amy, die bis jetzt noch nicht viel gesagt hatte – und wie viel ist es? Dürfen wir das wenigstens erfahren? Sie schlug die Beine übereinander, sodass der Schlitz ihres Kleides aufsprang und den Blick auf eine dunkle Stelle zwischen ihren Beinen freigab. Trägst du noch immer keinen Slip, Amy? fragte Charlene leicht tadelnd: Das hat keine Klasse, weißt du, und was wir für diesen Auftrag brauchen, ist Klasse, jede einzelne von uns. Dafür bekommen wir von meinen Auftraggebern pro Kopf und Nase 75.000 Bucks!
Die drei erstarrten. Bei Amy reichte der Atem nicht mehr aus für das bekannte „Iiiiiek!?, Pussy bekam ein ganz feuchtes Näschen…
BRIAN:
… und wer weiß was noch!
Shutup! Trudy, die Klügste von allen, sah im Geist schon den finanziellen Grundstock für die Vollendung ihrer Altersversorgung vor sich. Aber Charlene war noch nicht fertig: 75.000 gleich und weitere 75.000 nach erfolgreicher Beendigung der Aktion! Daher: seid ihr in Schuss, Mädchen? Bereit dafür, was die vier Dämlinge allenfalls von euch wollen? Nicht zimperlich, wenn ihr einem von denen einen ausgefallenen Wunsch erfüllen müsst, damit er bei der Herde bleibt?
Jaaa! riefen sie im Chor und reckten kampfeslustig ihre Brüste nach vorn. Charlene inspizierte sie mit kritischer Miene (anders hätte der Seargent in unserem alten Haufen auch nicht durch die Reihen gehen können) und registrierte befriedigt, dass die Effekte der Magie des Geldes sich deutlich unter dem dünnen Stoff ihrer Kleider abzeichneten.
– – – – –
Währenddessen hatte sich die Fregatte mit den vier unfreiwilligen Passagieren an Bord ohne weitere Formalitäten auf den Weg gemacht. Auf hoher See trat überraschenderweise Dr. Julio Sanchez-Barzon auf den Plan.
BRIAN:
Sir Basil kennt wirklich Gott und die Welt. Und jedermann ist ihm verpflichtet.
Wie anders, wenn er als einer von wenigen wusste, dass der Spanier vor seiner Zeit als Gynäkologe an politischen Gefangenen des Franco-Regimes mit Psycho-Pharmaka experimentiert hatte! Wir haben es ja erlebt: Cheltenham erpresst niemanden, dessen Know-how er benötigt – der macht’s auf die elegante Tour. Allein, wie er Doña Margharita die Hand küsste, untröstlich, dass er ihren Gemahl auf einige Tage entführen müsse, sie werde verstehen, die Verbundenheit alter Kameraden (was immer das heißen mochte). Sie schien Wachs in seinen Händen, und ich stand dabei in meiner Paradeuniform, alles sah sehr offiziell aus. Der Arzt war zutiefst dankbar für diese Art der Diskretion und auch für die Möglichkeit, dem ehelichen Stall wieder einmal entrinnen zu können.
Sir Basil zog ihn ins Vertrauen, ohne ihm mehr als das Allernotwendigste zu verraten. Jedenfalls, als das Schiff ins Mittelmeer einfuhr, waren die vier Herren bereits in einem sehr harmlosen Zustand: ihre hochfliegenden Pläne hatten sie vergessen, aber sie konnten normal essen, schlafen, sich anziehen und so weiter, und sie lächelten verbindlich, wenn man sie ansprach…
Während des Manövers „Maritime Endeavour“ der NATO Standing Naval Force Mediterranean (Sir Basil ist wirklich ein Genie!) fiel es nicht weiter auf, dass die bewusste britische Fregatte im Flottenstützpunkt Neapel ihre Fracht löschte: vier Männer in Navy-Trainingsanzügen, die – freundlich grinsend – von einigen Seepolizisten in ein sicheres Haus im Weichbild der Stadt eskortiert wurden. Nachdem man ihnen Gelegenheit geboten hatte, sich in einen zivilisierten Zustand zurückzuversetzen (dazu waren sie wie gesagt selbständig genug), machten sie die Bekanntschaft von Charlene und ihren Mitstreiterinnen. Danach erfolgte die Zuteilung: Pussy und Kouaradrogo wie vereinbart; Amy und Schreiner sowie Trudy und Ivanovich – diese Paarungen ergaben sich spontan; schließlich, wie Cheltenham es seiner Favoritin bei der genauen Planung vorgegeben hatte: Du nimmst Migschitz, dem werden wir um ein Quäntchen mehr verpassen, sodass er dich nicht anrührt.
BRIAN:
Und wie man Schwesterchen kennt, wird sie die Gelegenheit ergriffen haben, den Boss ein wenig auf den Arm zu nehmen. Stramm stehend, wird sie gesagt haben: Ja, Sir! Aber ist das nicht unfair gegenüber den Kameradinnen?
Er war nicht der Bursche, der auf so etwas einging, nahm aber, sich selbst neuerdings genau beobachtend, zur Kenntnis, dass er Charlene zu diesem Zeitpunkt nicht mehr missen konnte und schon gar nicht in irgendeiner Weise teilen wollte. Sie aber nahm es als untrügliches Zeichen seiner Liebe, denn dass jemand seines Kalibers sie um ihrer selbst willen begehrte, war ein bisher noch nicht dagewesenes Gefühl.
– – – – –
Wenn ich daran denke, wie wir in und um Neapel alle Hände voll zu tun hatten: Abschirmung unserer Truppe nach außen, genaue interne Überwachung jedes einzelnen entsprechend Cheltenhams Motto: Trau niemandem, am wenigsten dir selbst! Mir persönlich wäre es nie in den Sinn gekommen, ausgerechnet Trudy zu verdächtigen, aber dann erwischten wir sie dabei, wie sie versuchte, aus dem sicheren Haus, das sie vereinbarungsgemäß nicht verlassen durfte, eine Nachricht zu einem toten Briefkasten zu bringen. Noch wussten wir nicht, für wen sie arbeitete und an wen die Botschaft – sie bezog sich auf den Termin unserer Abreise nach Wien – gerichtet war.
BRIAN:
Da tauchte plötzlich Doña Margharita auf. Sie hatte die perfekte Tarnung: die eifersüchtige Ehefrau auf der Suche nach ihrem treulosen Don Julio!
Hool, so hieß er in unserer bunten Gesellschaft, bekam vielleicht einen Schock, als er seine Alte aufkreuzen sah, aber er musste sich nicht mehr schrecken, denn sie war bereits im sicheren Griff von zweien unserer Jungs, die sie in den abhörsicheren Raum des Gebäudes brachten. Sir Basil hielt sich mit der Geschichte der Lady gar nicht auf und gab sich kurz angebunden (keine Spur mehr von Handküssen): Entweder sie würde freiwillig sagen, was sie hier zu suchen hätte, oder man würde es gewaltsam aus ihr herausholen!
Nur über meine Leiche, Señor! schmetterte die stolze elegante Dame, doch nachdem ich einige meiner ausgekochten Spielchen mit ihr getrieben hatte, gab sie klein bei und erzählte von den Plänen der amerikanischen Generalin, in die sie zwar selbst nur geringfügig eingeweiht war, aber wir konnten uns das Wesentliche schon zusammenreimen: Trudy sollte Margharita Informationen über unsere Zeit- und Reisepläne zukommen lassen, und diese wiederum war beauftragt, als Briefträgerin nach Washington zu fungieren.
BRIAN:
Ein Anruf Sir Basils bei Freunden im Pentagon machte ihm allerdings klar, dass uns von dort her keine Gefahr mehr drohte…
… und obwohl wir überhaupt nicht verstanden, wie das gemeint war, verließen wir uns mittlerweile blindlings auf das Geschick unseres Führers, wie er zuweilen genannt wurde, aber nur wenn mit äußerster Sicherheit anzunehmen war, dass er es nicht hören konnte.
Den Damen machte Cheltenham klar, dass sie ihre Chance bekämen, wenn sie sich kooperativ zeigten. Einige von uns, drohte er, werden am Ende unseres Jobs eine weite Reise antreten, so weit wie niemand sie sich vorstellen kann, und von dieser Reise gibt es aller Voraussicht nach kein Zurück. Wenn Sie, Trudy, in einer Woche mit viel Geld, verdient oder unverdient, in die Staaten zurückkehren wollen und wenn Sie, Doña Margharita, die Absicht haben, wieder in ihrem Appartement am Paseo del Cristóbal Colón zu leben, als sei nichts geschehen mit ihrem geliebten Don Julio an der Seite, dann macht ihr jetzt Gottverdammich das was ich sage. Trudy spielt ihre Rolle wie geplant und Marge (ich darf doch Marge sagen?) – Marge betätigt sich ein wenig in der Truppenbetreuung.
BRIAN:
Sir Basils wacher Verstand arbeitete wie immer auf mehreren Ebenen – und wie immer schlug er mehrere Fliegen mit einer Klappe. Die Jungs, sogar die erfahreneren wie du und ich, waren wegen Charlene und den drei anderen Kindergärtnerinnen der Profs ziemlich aus dem Gleichgewicht: da bot eine einerseits aus Angst gefügige, andererseits aber auch ein wenig erlebnishungrige Dame wie unsere Señora ein willkommenes Ventil. Mit der Bezeichnung „Marge? hatte Cheltenham sie geschickt auf das gewünschte Niveau hinabgedrückt und auf dieser Ebene unternahm die Doña den einen oder anderen scharfen Ritt mit einem, der gerade dienstfrei hatte.
Gleichzeitig hatte Sir Basil aber einen Entlastungsangriff zugunsten Don Julios geführt, da man füglich annehmen konnte, dass er es als Ehemann künftig wesentlich leichter haben würde als vor diesen Ereignissen. Cheltenham plante langfristig: wann immer er wieder einen skrupellosen Arzt bräuchte, würde er diesen problemlos zuhause loseisen können – und niemand würde nachspionieren, ganz zu schweigen von Sanchez‘ privaten Eskapaden, die ab sofort unter Verweis auf „Marge? sanktionsfrei bleiben mussten. Vielleicht aber, dachte Sir Basil einmal mir gegenüber laut, vielleicht begehrt er die ihm Angetraute von Neuem, nachdem er gesehen hat, dass sie für einige stramme Burschen durchaus noch einen Marktwert hat.
Somit entstand auf dieser Reise, die uns mit einem Autokonvoi ohne weitere Zwischenfälle (der Feind bewegte sich nicht im geringsten, dennoch erlahmte unsere Wachsamkeit nicht) nach Wien führte, neben der Geschäftsbeziehung eine Art Freundschaft zwischen dem Spanier und unserem Briten, die sich darin äußerte, dass bei jeder sich bietenden Gelegenheit Whist gespielt wurde. Als vorübergehende Zölibatäre konnten die beiden auch nichts Besseres tun, nur dass sie bedauerlicherweise immer zwei von uns als Partner missbrauchten.
309
Was wir da alles erzählen! Manchmal denke ich, wir sollten einmal der Tatsache Erwähnung tun, dass es ganz normale Frauen, Männer und deren Beziehungen zueinander gibt.
DER MOMENTANE ERZÄHLER:
(zugleich Brigittes Lebensmensch) Ja, Brigitte, meine Herzdame, erzähl dieses Märchen von der schmalen Schicht der sogenannten Normalität, die sich durch die menschliche Gesellschaft zieht. Man hat sie auf rund 20 % geschätzt, aber selbst das ist meines Erachtens noch zu hoch gegriffen angesichts der Tatsache, dass Normalität nicht nur ein Ideal des Menschen schlechthin ist, sondern darüber hinaus eine Funktion des jeweiligen Kulturkreises, also eine Art Sub-Ideal.
Und man weiß doch, wie das ist mit den Idealen und Sub-Idealen: obwohl Phänomene einer numerischen Minderheit von Leuten, wird diese Gruppe üblicherweise von großer Homogenität sein, während die zahlenmäßige Mehrheit in viele viele Untergruppen zersplittert und dadurch ganz leicht manipulierbar oder sogar beherrschbar ist. Denk nur an Nietzsche, der jede Form altruistischer sozialer Ziele sei als Herrschaftsinstrument der Schwachen über die Starken interpretiert…
DER MOMENTANE ERZÄHLER:
… allerdings verkleidet als Nächstenliebe, als revolutionärer Gleichheitstraum oder – vielleicht am infamsten – als Propaganda für ein end-erlöserisches Nirvana. Aber wenn du als Frau eine Geschichte wie die von Franca Caravaggiolo und den mit ihr inszenierten Übertretungen als unmoralisch und abnormal empfindest, wenngleich sie hier von einer Frau vorgetragen wurde, dann erzähl uns eben in Gottes Namen die Idylle von Hans und Grete.
Ganz nebenbei gefragt: Habt wir euch vorhin eigentlich wieder angezogen? Ich war mir darüber nicht im Klaren.
DER MOMENTANE ERZÄHLER:
Ja, wir saßen am Set, unauffällig gekleidet wie zuvor. Der große Regisseur belehrte uns darüber, dass man nur in extremis die Verhältnisse des Menschen ausleuchten kann, denn nur wenn man alle erdenklichen Monstrositäten, zu denen unsere Art fällig ist, in die Betrachtung einbezieht, wird man ein vollständiges Bild erhalten – einen Spiegel, in den jeder (und jede) von uns schaudernd blickt oder staunend oder amüsiert oder beglückt oder animiert oder konsterniert, je nachdem wie sehr sie (oder er) sich seine (oder ihre) eigenen komplexen Seelenzustände eingesteht.
Die Stimme aus dem Hintergrund wird jedenfalls beim Stichwort Monstrositäten aufgewacht sein und an das viele Geld gedacht haben, das sie als Financier der in den 60er Jahren so beliebten Mondo-Cane-Filme gemacht hat – und an die Dauererektion, die ein Produzent beim Auswählen immer ausgefallenerer Sujets hatte.
DER MOMENTANE ERZÄHLER:
Apropos – erinnerst du dich noch an die Szene mit den Ameisen… aber halt, da gab’s zwei verschiedene in zwei verschiedenen Filmen. In der einen Szene wird jemand bei lebendigem Leib von großen Ameisen aufgefressen, in der anderen braten irgendwelche Eingeborene große Ameisen auf heißen Steinen und verzehren sie zum Mittagessen.
Nur keine Geschmacklosigkeiten – die Andeutung reicht, um zur Vielfalt dieses Textes beizutragen!
DER MOMENTANE ERZÄHLER:
Na schön – die Geschichte also!
Hänsel und Gretel, ich meine mich (noch im nachhinein höchst alarmiert von der nicht nur literarischen Existenz der Gebrüder Ralph & Hardy und von den sexuellen Eskapaden, die sie genauso gut hätten mit mir ausleben können) und dich (mit dem ich allerdings nicht verheiratet bin, denn dich, den ich am meisten liebe, hab ich nicht genommen oder nicht bekommen, dafür aber gehört mir Romuald, auch Romi oder der Triebhafte genannt, der längst schon die eheliche Wohnung flieht, wenn er etwas erleben möchte, dort aber die Sorge für zwei von ihm pünktlich erzeugte Kinder zurückgelassen hat) – aber das ist schon wieder so kompliziert! Gibt es denn wirklich keine normalen Beziehungen mehr?
Grafik 3.4
DER MOMENTANE ERZÄHLER:
Hat es sie je gegeben, oder haben wir sie nur fälschlicherweise immer wieder postuliert, weil wir unser eigenes Geist- und Körperempfinden, koste es was es wolle, als normal empfinden müssen, geordnet wie ein Symphonieorchester mit einem starken Ich-Dirigenten, obwohl wir insgeheim sehr wohl wissen, dass alles wesentlich unwägbarer, hintergründiger und vor allem tückischer abläuft – natürlich potenziert, wenn Zwei im Spiel sind: Außer in den Fällen Du-okay ? Ich-okay, Du-gehst-mir-auf-den-Geist ? Ich-geh-dir-auf-den-Geist, Du-bist-mir-egal ? Ich-bin-dir-egal, Zu-dir-fällt-mir-nichts-ein ? Zu-mir-fällt-dir-nichts-ein überall das totale Chaos der Beziehungen.
Und das jetzt noch rasch wechselnd im Zeitablauf!
DER MOMENTANE ERZÄHLER:
Das jault wie eine Drehorgelwalze! Da treffe ich – genetisch ein Mann mit den entsprechenden äußeren Geschlechtsmerkmalen und der passenden zivilisatorischen Geschlechtserscheinung, aber: vom Geschlechtsidentitätsempfinden her im Moment indifferent! – auf dich – weiblich/weiblich/weiblich über weite Bereiche der Morphologieskala, aber: das Gefühl deiner Identität ist gerade männlich! So passen wir gut zusammen, aber im nächsten Moment verschieben sich schon wieder die Gewichte und wir driften zusehends auseinander, fragen uns schon kurz darauf, was wir eigentlich aneinander gefunden haben.
Dies vor dem Hintergrund, dass ich permanent sexuelle Codes aussende, obwohl ich dabei gar nicht immer an Sex denke, nur deshalb weil ich im Sozialisationsprozess zur Frau gemacht wurde, als die ich so nicht geboren bin, und du missverstehst mich vielleicht deshalb ständig, weil du nicht anders kannst, als diese Codes als Aufforderung zum Tanz zu begreifen.
DER MOMENTANE ERZÄHLER:
In diesem Sinn sitzt man (als Mann) vielleicht im Bus und vis-à-vis lässt sich eine Passagierin mit einem äußerst kurzen Rock in den Sitz fallen (der Busfahrer hilft ein wenig mit, indem er in diesem Moment ruckartig losfährt). Die Sitzfläche fällt zur Lehne hin stark ab, und die Dame bietet mit stark nach oben gerichteten Knien den allertiefsten Einblick, den sie noch in aller Unschuld verstärkt, indem sie die Beine übereinander schlägt. Und weil sie sich all dessen überhaupt nicht bewusst ist, würde sie höchst verwundert sein, wenn man über sie herfiele. Da man aber ausgezeichnet domestiziert ist, begnügt man sich mit einem Stoßgebet: Danke, lieber Gott!
Ich könnte dich anknabbern, wenn du solche haarsträubenden Episoden erfindest – und daher tu ich’s auch, denn welch besseres Stimulans gibt es als ein gutes Stück Verbalerotik!
DER MOMENTANE ERZÄHLER:
Moment, ich bin ja noch nicht fertig, ich möchte noch sagen, dass bei einer Ich-Du-Beziehung zwei auf einer ganz schmalen Brücke aufeinander zugehen; und dass sie ständig auf das Gleichgewicht zwischen ihrer eigenen und der fremden Meinung achten müssen, um nicht herunterzufallen; dass sie dabei draufkommen, nur mit diesem einen Du das eine augenblickliche Ich zu sein; dass die Brücke daher nicht morgen noch einmal in dieser Beziehung und schon gar nicht universell für alle Beziehungen zur Verfügung steht…
Schon gut, schon gut, it’s Showtime again! Tu endlich deine verdammte Pflicht als Mann!
– – – – –
Spielen wir ein Spiel, schlug ich vor, als ich in angenehmer postkoitaler Erschlaffung in seinen Armen ruhte – jeder von uns erzählt einen seiner bedeutenderen Seitensprünge. Ich beginne, aber ich berichte nicht über meine Erlebnisse mit dir…
DER MOMENTANE ERZÄHLER:
Schade!
Nein, das wäre doch Unsinn, ich erzähle dir lieber von meiner Affäre mit einem Journalisten aus Amerika.
DER MOMENTANE ERZÄHLER:
Aber du hast dich doch noch nie für Zeitungsgeschichten interessiert!
Mein Gott, das war ja auch nicht Gegenstand unserer Liaison. Seine Artikel allerdings hab‘ ich mir alle reingezogen, jedenfalls während jener Zeit. Romuald fiel vorerst gar nichts auf oder es wollte ihm nichts auffallen. Ich bemühte mich sehr, ihn nichts merken zu lassen, aber der radikale Rückgang unserer Geschlechtsverkehrsfrequenz war wohl deutlich genug. Solange da niemand war, fügte ich mich in das Schicksal, seine Sexmatratze zu sein, aber da ich nun meinerseits jemanden begehrte, war ich diese Rolle gründlich leid. Meine hausfraulichen und mütterlichen Pflichten vernachlässigte ich jedoch nicht.
DER MOMENTANE ERZÄHLER:
Wo hast du Leo di Marconi eigentlich kennen gelernt?
Woher weißt du, dass es Leo war?
DER MOMENTANE ERZÄHLER:
Ich bitte dich – der allseits anerkannte Pulitzer-Preisträger! Wie sollte ich ihn nicht kennen?
Ich hab dich nicht gefragt, ob du den weltberühmten Marconi kennst, sondern woher du weißt, dass er derjenige ist, mit dem ich ein Verhältnis hatte!
DER MOMENTANE ERZÄHLER:
Und wenn ich jetzt souverän darauf hinwiese, dass ich fast alles über meine Personen weiß? Aber nein: Ich antworte nur verlegen, dass ich dich immer aus der Ferne beobachtete, getrieben von meinem lebenslangen ungestillten Verlangen nach dir!
Ich konnte nicht anders in diesem Moment. Ich legte zur Gänze meine Psychologinnen-Maske und meine Rolle als erfolgreiche Besitzerin einer Kommunikationsberatungsfirma ab und nahm diesen großen Jungen, der seine Seele soeben weit aufgesperrt hatte (ein äußerst seltener und ungewöhnlicher Augenblick in einem Männerleben), in meine Arme und ließ ihn spüren, dass alle Frustration – wenn er nur wollte – ein Ende hatte.
Auch mit Leo war es ja von Anfang an ganz anders gelaufen, als ich mir das gedacht hatte. Ein großes Unternehmen gab mir den Auftrag, etwa alle zwei Monate irgendeinen internationalen Star-Referenten für Prestigeveranstaltungen zu gewinnen, eine Sache, die für mich äußerst lukrativ zu werden versprach. Marconi war der Erste auf meiner Liste, und zu meiner nicht geringen Überraschung bekam ich ihn praktisch sofort, wenn auch um teures Geld, aber das spielte für meine Partner keine Rolle. Der Abend mit der Berühmtheit, groß angekündigt in allen Medien, wurde die Mega-Enttäuschung der Saison, insofern wir nicht den – von Andeutungen und Enthüllungen schillernden – Vortrag eines Pulitzer-Preisträgers zu hören bekamen, sondern das Gewäsch eines Boulevard-journalisten.
Die Angelegenheit wurde äußerst prekär für mich, da im Vertrauen auf Marconis Image keine näheren inhaltlichen Vereinbarungen getroffen worden waren. Nachdem ich selbst meine Prügel bezogen hatte, versuchte ich, die Kritik gleich weiterzugeben – Vertrag hin oder her. Aber da kam ich bei Leo an den absolut Falschen. Sehen Sie, Schätzchen, meinte er lächelnd, da haben Sie eben Pech gehabt: Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, sich nach dem momentanen Stand der Dinge zu erkundigen – da hätten Sie nämlich sofort herausgefunden, dass ich das, was Sie ordern wollten, gar nicht mehr mache.
Mein Zorn war schon fast verraucht, die Neugier gewann die Oberhand. Warum diese Wende in seinem Leben, wollte ich wissen, und warum so plötzlich, dass sich das offensichtlich noch nicht bis Good Old Europe herumgesprochen hatte? Ich sag‘ dir – wenn er da schon die Absicht hatte, mich ins Bett zu kriegen, dann fing er es aber so was von geschickt an, dass man ihn nur bewundern konnte: Gleich „Darling”, was für einen Amerikaner ohnehin nichts bedeutet, aber es verunsicherte mich, insofern er mir ja sehr gefiel. Und dann sagte er: Wissen Sie, Sie fragen Dinge, die nicht einmal meine Frau mich fragen dürfte, wenn es überhaupt eine Mrs. Marconi gäbe.
Da war es um mich geschehen. Ich vergaß urplötzlich Romuald, den Bumser ohne schöne Story, und antwortete: Das vielleicht nicht, aber deiner Geliebten würdest du es vielleicht verraten. Das tat er allerdings nicht wirklich, weder dort im Vortragssaal, der sich inzwischen rasch geleert hatte, noch in seinem feudalen Hotelzimmer, in das er mich mitnahm (ich ging wie auf Wolken, den hämischen Blicken des Hotelpersonals zum Trotz). Immerhin bekam ich auf diese Weise doch noch etwas für das viele Geld, denn als Liebhaber war er okay und vor allem hielt er dabei weitgehend seine berüchtigte große Klappe.
DER MOMENTANE ERZÄHLER:
Wie furchtbar materialistisch ihr Frauen denken könnt!
Hör ich da einen Anflug von Eifersucht? Dazu besteht kein Anlass, auch wenn die Gründe hierfür komplexer Natur sind. Einerseits ist klar: Ja, es muss für mich ein Leben geben außerhalb von dir, das bin ich mir einfach schuldig. Ja, ich habe die Zeit mit Leo sehr genossen, weil er – für mich jedenfalls – so gänzlich anders war als ihr anderen. Ja, ich habe ihn für eine bestimmte Zeit sehr geliebt, und auf einer Obertonreihe meiner Gefühle ist das in gemilderter Form bis heute noch so. Andererseits muss aber auch gesagt werden: Ja, es gibt zwischen dir und mir eine Vertrautheit, in die niemand wirklich einzudringen vermag, und würde er mich noch so intensiv besitzen. Aus diesem Grund nächster Nähe zwischen uns (die vielleicht jedes Mal so flüchtig erscheint, dass man fürchten muss, sie würde kein zweites Mal Realität annehmen, obwohl sie dann bis heute doch immer wieder zustandegekommen ist) begehe ich diese gewisse Form von Verrat und lasse dich, meinen Liebling, lesen, was Leo nicht veröffentlicht hat, von dem er aber ein persönliches Exemplar auf Zeitungspapier herstellen ließ. Auf Deutsch klang das etwa so:
Grafik 3.5
DER MOMENTANE ERZÄHLER:
Womit sich wieder zeigt, dass viele der Umwege des Lebens (wahrscheinlich gerade die absurdesten, und zu diesen zählt zweifellos solch ein Text) durchaus lohnend sind, denn wenn wir beide gleich zu Beginn zusammengefunden hätten und immer zusammengeblieben wären, würden wir uns kaum diesem metasprachlichen Genuss hingeben, sondern uns wahrscheinlich nur ganz einfach nicht mehr ausstehen können.
Ja, wir würden hier nicht engumschlungen liegen und in Erinnerungen kramen, die wir getrennt gemacht haben, würden nicht kuriose Episoden mit Leuten erzählen, die einmal wichtig waren und es auf einmal nicht mehr sind, allenfalls als Treibstoff unserer Phantasie taugen, als Vehikel der Vorfreude, die wir jahrelang, unbewusst-bewusst auf eine neuerliche Begegnung gerichtet, mit uns herumgetragen haben. Nebenbei bemerkt, Indien bist du mir noch immer schuldig.
Aber jetzt schildere endlich, wie du in einen Seitensprung verwickelt wurdest (während ich das sagte, beschloss ich, ihm vorerst weiterhin nichts von meiner Beziehung zur Gräfin zu erzählen, und um dem Thema generell vorzubeugen, fragte ich ihn trotz meiner unbändigen Neugier nicht nach seinen einschlägigen Erfahrungen mit Männern).
DER MOMENTANE ERZÄHLER:
Das kam bei mir so: Als ich DDD wieder traf, war es zweifelsfrei kein Zufall mehr. Auf meinem Weg nach Hause kam sie mir entgegen und beim obligaten Wangenkuss von alten Freunden flüsterte sie mir zu: Ich bin unter meinem Mantel ganz nackt! Ich fackelte nicht lange, ergriff ihr Köfferchen, dessen Sinn mir sofort klar gewesen war, und brachte sie zu mir. Im Nu stand sie in genau jenem Raum, in dem sie sich vor langer Zeit im Wach¬zustand geziert hatte, im Stadium der Trunkenheit aber beinahe vergewaltigt worden war. Der Mantel fiel sofort, und ich war fast erschlagen – ihre immer schon barocken Formen hatten sich zu Rubens’scher Fülle überhöht…
… wie du es ohnehin gerne magst!
DER MOMENTANE ERZÄHLER:
Wie auch immer, ich machte mich sofort über sie her, ihr Anblick hatte außer der üblichen eine nie gekannte atavistische Reaktion bewirkt.
Damit ich dich nur recht verstehe – du meinst jenen Rückfall in die Verhaltensweise stammesgeschichtlicher Ahnen, also etwa jener Typen, die eine Frau zwecks späterer Benützung an den Haaren in ihre Höhle schleppten?
DER MOMENTANE ERZÄHLER:
Etwas in der Art, aber eines ist klar, DDD wusste auf keinen Fall, was sie da ausgelöst hatte, sonst hätte sie wahrscheinlich laut schreiend den Ort der Handlung verlassen. So aber blieb sie, und jene Szene aus der fernen Jugend nahm ihren – diesmal nicht unterbrochenen – Lauf.
Womöglich mit demselben Mann, der das, woran er seinerzeit gehindert worden war, endlich in die Tat umzusetzen wusste.
DER MOMENTANE ERZÄHLER:
Wenn dies zutraf, so geschah es diesmal mit strikter Billigung des seinerzeitigen Opfers, das außerdem nicht ahnte, auf welch langes erotisches Divertimento es sich eingelassen hatte (was ich mit dir an Ausdauer für öffentliche Auftritte gelernt hatte, war mit manchem indischen Tipp und Trick noch vervollständigt worden). Mitten im genüsslichen Ritardando reichte ich ihr, während sie in leises Stöhnen verfiel, den Hörer des neben dem Bett stehenden Telefons: Ruf deinen Mann an! befahl ich heiser, ohne den Rhythmus zu unterbrechen. Eine Teufelei! keuchte sie…
Solche verstiegenen Begriffe hatte sie in ihrem Wortschatz? Respekt!
DER MOMENTANE ERZÄHLER:
Aber halt, ich habe das Gefühl, an einer anderen Stelle unserer Geschichte gebraucht zu werden!
310
Geld schien bei allem, was Basil anfasste, keinerlei Rolle zu spielen, daher war eine ziemlich große Villa am Stadtrand von Wien gemietet worden, abgelegen und gut getarnt, vor allem aber leicht zu verteidigen. Für eine mittlerweile ziemlich große Meute war Quartier zu machen: für die vier stets lächelnden Gelehrten, meine drei alten Freundinnen aus Washington und mich, den Boss, Murky, meinen Bruder Brian und sechs weitere gut durchtrainierte Männer sowie Doña Margharita mit ihrem Don Julio (diese beiden allerdings aus begreiflichen Gründen strikt in getrennten Zimmern).
Trudy war ich nicht böse – jeder sieht zu, wo er bleibt, und das, was wir anderen hier betrieben, war schließlich auch nicht das feinste Gewerbe. Warum es jetzt so glatt lief, wussten nur Basil und ich allein. Und auch wenn es anders gekommen wäre, gegen einen Cheltenham hatte Trudy ohnehin keine Chance…
… ich übrigens auch nicht. Ich schmachtete nach ihm wie ein Teenager nach Elvis, es war wirklich verrückt. Dass ich im Bett gut war, auch für einen so herausragenden Typen, darüber war ich mir sicher, daher schmeichelte mir am meisten die Tatsache, dass er begonnen hatte, mich voll in seine Unternehmungen zu integrieren und mich in jedes Detail einzuweihen. Dass er meinen Rat suchte und immer mehr auch befolgte, berauschte mich geradezu, die ich Männer bis jetzt mehr oder weniger als lineare Hurenböcke kennengelernt hatte. Ja, sicher, mir hat’s zum größten Teil auch Spaß gemacht, sonst hätte ich’s nicht geschehen lassen müssen. Manchmal, wie mit Murky, war sogar so etwas wie vorübergehende Zuneigung dabei.
SIR BASIL:
Sind denn das Gedanken für eine frischverliebte junge Frau? Ich rede nicht von deinen Affären, die gehen mich nicht wirklich etwas an, weil vor meiner Zeit passiert. Aber dass dir der Senator ein mieses Gefühl gegeben hat, indem er dich offiziell als Assistentin und inoffiziell nur für seine sexuelle Merkwürdigkeit verwendet hat, solltest du nicht verallgemeinern. Allerdings geht es mir umgekehrt ein wenig ebenso wie dir – wann hätte jemals eine Frau vor dir es zugelassen, dass ich ernsthaft über meine meta-erotischen Absichten, Worte und Taten sprechen konnte: das wurde von jeder als mangelndes Interesse an ihrer ureigensten Persönlichkeit interpretiert. – Übrigens, Hool hat Migschitz eine Extradosis verpasst, der braucht dich heute Abend nicht mehr. Murky sitzt bei ihm und liest ihm Red Riding Hood vor, das ist das Lieblingsmärchen von Migschitz geworden.
Und wenn irgendetwas passiert, wofür sie dich brauchen? fragte ich besorgt.
SIR BASIL:
Dann sagen sie es Brian, und der macht sich dann diskret an unserer Tür bemerkbar. Keine Angst, es ist für alles gesorgt!
Ich war dennoch beunruhigt. Wir waren die ganze Zeit so vorsichtig gewesen – so sehr ich mich nach Basil sehnte, ich durfte ihn nicht in meinen Armen halten, und jetzt auf einmal…
SIR BASIL:
Ganz einfache Erklärung, Honey: ich halte es nicht mehr aus – Lady, ich brauche eine Frau!
Egal welche?
SIR BASIL:
Egal welche, und da im Moment nur du für mich greifbar bist, musst du eben herhalten!
Unter uns gesagt, er brauchte wirklich schon dringend eine Frau: da war zunächst eine lange Zeit, in der außer Zärtlichkeiten nichts gesprochen wurde, nur unsere Körper unterhielten sich in trauter Zweisamkeit. Basil erwies sich auch dabei immer wieder als nahezu perfekt, wenn man das in diesem Zusammenhang überhaupt sagen darf, aber Gott steh mir bei, ich empfand’s wirklich so. Er beherrschte mich – ein Virtuose mit seinem Lieblingsinstrument.
Selbst als er drängender wurde, war er kein Matrose, der sich nach sechsmonatiger Fahrt über seine Frau hermacht, sondern ein Parzival, der seine Irrfahrt als Weg zum Ziel seiner angebeteten Königin begriffen hatte und zuletzt von ihr Besitz nahm, auf allen Ebenen des Seins, aber durchaus auch wacker auf die Leibesmitte seiner Herzdame hinschreitend. Ich flüsterte ihm das ins Ohr, mitten in unserer innigsten Umarmung (ich konnte ihm einfach alles sagen, in jeder Lebenslage, besonders in intimer Nähe, ich hatte keinerlei Hemmungen vor ihm).
Er entschärfte das Pathos, hinein in seine abklingende Phase, während der ich bemüht war, auch das Letzte aus ihm herauszupressen, durch britische Gelassenheit. Mit nur wenig beschleunigtem Atem meinte er leichthin: Das erinnert mich an meinen Jugendfreund Percy, den späteren Herrn auf Blakeney, der sich während unserer Zeit in Eton angewöhnt hatte, jeweils zwei Wochen zu fasten und am fünfzehnten Tag (den hatte er sich aus irgendwelchen urkeltischen Ritualen ausgerechnet) eine Fress-, Sauf- und Sexorgie zu veranstalten. Er faszinierte uns damit so, dass wir uns schließlich wie eine Jüngerschaft um ihn scharten und ihm nachzueifern versuchten, aber wohlgemerkt: niemals ordinär, stets mit Stil.
Stil, das war es. Basil hatte einfach Stil, wenn er zu unserer Vereinigung Mascagnis Intermezzo Sinfonico aus Cavalleria Rusticana auflegte oder wonach ihm eben gerade war, und es passte immer genau zu der Stimmung, in der wir uns bewegten. Nicht zu vergessen, dass er auch daran dachte, einige Appetithäppchen bereitstellen zu lassen und eine Flasche Champagner einzukühlen.
Und er liebte mich, liebte mich wirklich. Das sah ich auch an dem Bild, das er mir schenkte, sehr erotisch fotografiert, aber (in Form eines linkisch aufgemalten Heiligenscheins) mit einem zarten Hinweis, dass durch unsere Beziehung eine Transzendenz der Vergangenheit eingetreten war.
SIR BASIL:
Weißt du was wir morgen machen? Da gehen wir alle zusammen in den Wiener Prater, in den Teil, den du aus dem „Dritten Mann? kennst, wo diese Spiel- und Schaubuden stehen. Wir besuchen einen Zauberer, beenden dort diesen Job, und danach löst sich unsere illustre Gesellschaft auf. Wir beide fahren nach England, und ich zeige dir das Anwesen meiner Familie.
In diesem Moment klopfte es, Brian machte sich bemerkbar – Sir Basil, es gibt ein Problem, können Sie mal kommen! Ich war voll aus dem Häuschen, nicht so Cheltenham: Ähnlich Ludwig XIV. beim Lever trat er in seinem prächtigen japanischen Morgenmantel (eine Erinnerung an seine Zeit als NATO-Verbindungsoffizier in Tokio, wo er sich in kürzester Zeit hervorragend akklimatisiert hatte) auf den Gang.
Migschitz machte natürlich keine Schwierigkeiten, er ließ sich weiter vorlesen, aber die drei anderen: Sie hatten sich (ganz laut und blödsinnig lachend) etwas ausgedacht, was sie Russisches Roulette nannten, aber – so Brian – man könnte es eher als Bäumchen-wechsle-dich-Spiel bezeichnen. Schreiner, wer sonst, hatte sogar eine Skizze zum Spielverlauf angefertigt, die Basil schmunzelnd entgegennahm.
SIR BASIL:
Da siehst du’s wieder einmal, Charlene. Du kannst einen wachen Geist nicht so leicht auf Eis legen. Zwangsläufig sucht er sich ein neues wissenschaftliches Betätigungsfeld, wenn ihm sein angestammtes Fach verbaut ist.
Grafik 3.6
Mein Bruder gab sich damit aber nicht zufrieden, sondern stieß auf den Kern des Problems vor: Die Damen sind grundsätzlich einverstanden, nur den Schwarzen wollen die anderen nicht!
SIR BASIL:
Kein Problem, Junge – Trudy sagst du, sie wird wohl müssen, Amy kriegt eine Sonderprämie, soll aber den anderen gegenüber nichts davon erwähnen. Nun denn, Freunde, lasst die Nacht weitergehen!
Und wie die Nacht weiterging. Der Vollmond, nachdem es ihm lange angenehm gewesen war, über den Ausläufern der Pannonischen Tiefebene östlich von Wien zu hängen, stand nun über dem Haus (es ist nur der Mond, sagte Basil, als ich noch einmal besorgt meinte, die drei experimentierfreudigen Herren könnten außer Kontrolle geraten – lass ihnen das Vergnügen). Dem Einfluss des Mondes entzog sich niemand. Wie vom geheimnisvollen Algorithmus eines ihrer Modelle getrieben, begannen sie ihr Spiel: allen voran wechselte der schlanke Schreiner zur fülligen Pussy, der knochige Ivanovich wohnte der zierlichen Amy bei und der elegante (aber schwarze) Kouradraogo bestieg die etwas widerspenstige Trudy. Danach fielen sie in einen unruhigen Schlaf, und bevor es noch von irgendwoher zwei Uhr früh schlug, war Ivanovich bei Pussy gelandet, Schreiner bei Trudy und Kouradraogo bei Amy, die vor lauter Gedanken an das viele Geld gar nicht recht merkte, dass sie ihren ersten dunkelhäutigen Freier hatte. Danach erhielten sie vom Vollmond wieder eine kurze Atempause zugemessen, um schließlich im Morgengrauen bei der Ausgangspaarung anzulangen.
Basil ging insgesamt dreimal, begleitet von Brian, zur Kontrolle den Gang entlang, öffnete dreimal je drei Türen und zog sie befriedigt wieder zu. Nun waren sie in seinen Augen reif. Migschitz übrigens schlummerte selig nach dreimaligem Vorlesen seines Lieblingsmärchens. Murky, der böse Wolf, der bei der Geschichte stets Magendrücken bekam, saß nach der ungewohnten Anstrengung im Gemeinschaftsraum der Jungs bei einem dreifachen Bourbon. Dort versuchte er auch, seine Mannschaft zu beruhigen, die wieder einmal hochgradig nervös war, durch den Mond und die von ihm ausgelösten Vorgänge.
Cheltenham, als letzte Instanz angerufen, wies dem einen oder anderen von ihnen den Weg zu Señora Margharita. Aus diesem Grund erlaubte er auch dem langsam ziemlich aus dem Gleichgewicht geratenden Hool in dieser Nacht, entgegen dem strikten Ausgangsverbot einen Spaziergang zu machen und, wenn es ihm beliebe, das magische Gestirn anzuheulen.
Als Basil das dritte Mal zu mir zurückkehrte (imposant in japanischer Seide, instinktiv breitbeinig wie ein Samurai), schmiegte ich mich an ihn, und er erzählte mir weiter, was er vorhatte. Den Zauberer schilderte er als von schlanker Gestalt, mit schmalem Gesicht, das zum Kinn spitz zulief, sowie einer fliehenden Stirn – ich stellte ihn mir als eine Art von missglücktem Mephisto vor.
SIR BASIL:
Kein schlechter Vergleich, aber man sollte es nicht übertreiben. Jedenfalls werden in seinem kleinen Theater alle zusammen mitten im Publikum sitzen und dem Programm zusehen. Als Erkennungszeichen, dass wir es sind, wird er gegen Ende der Vorstellung eine Dame auf die Bühne bitten (das wirst du sein, sieh zu, dass dir nicht eine Fremde zuvorkommt). Er wird dich fragen, ob du heute ein Strumpfband trägst und du wirst bejahen. Er wird dich um die Farbe fragen und du wirst antworten: orange. Er wird dich bitten nachzusehen, ob es noch da ist, und du wirst den Rock heben und überrascht tun, weil es angeblich fehlt. Nun wird der Zauberer das orange Strumpfband aus der Jackentasche holen und weithin sichtbar zeigen. Du wirst rufen: Da ist es ja! und es anlegen. Jetzt wird er wissen, dass alles ablaufen kann wie geplant, und die vier freundlich lächelnden Herren rechts von mir auf die Bühne bitten.
Genauso lief es dann wirklich ab. Die Vier standen angeregt vor dem Zauberer, als er sagte: Meine Herren, mit einem sehr bedeutenden magischen Spruch werde ich Sie jetzt in diese Kristallkugel hineinzaubern, mit der Sie dann eine wunderschöne Reise durchs All machen werden. Er deutete auf die Sternkarte, die hinter ihm an der Wand hing.
Während alles wie gebannt auf die Szene blickte, hob er seinen Stab und sprach dazu:
VIVITIS
OBLIVITIS
TUAS ANIMAS
NOSTRAS INSIDIAS
NOLAM !
VOLAM !
Auf das letzte Wort hin leuchtete die Spur auf der Sternkarte kurz auf und das Licht im Saal erlosch. Alle warteten gespannt darauf, dass es wieder hell werden würde, aber lediglich der Kartenabreißer erschien mit einer Taschenlampe, mit der er dem Publikum, dauernd zur Ruhe mahnend, den Weg nach draußen wies. Ein einziges Mal traf der schwache Lichtschein die Kristallkugel, sodass eine Projektion der vier kleinen Männchen groß am Vorhang erschien. Jeder (außer Basil und mir) dachte, die Herren würden gerade wieder von der Bühne herabsteigen. Wir beide wussten, dass tatsächlich eine weite Reise begonnen hatte: Mango Berenga und der Commander warteten.
Der überraschten Crew teilte Cheltenham mit, dass uns unsere Schützlinge nun verlassen hätten. Jeder solle zu dem Haus zurückkehren, in Ruhe seine Sachen packen und ohne Aufsehen abreisen. Lieutenant Wolf gab er den Auftrag, die Kassette in Trudys kleinem Tonbandgerät, das sie während der Vorstellung heimlich hatte mitlaufen lassen, unmerklich gegen eine andere zu tauschen. So kam es, dass jemand in Washington (einer aus der ehemaligen Truppe der Generalin, der es trotz aller Rückschläge nicht lassen wollte) statt der erhofften Geheimnisse laut und vernehmlich die US-Hymne erklingen hörte.