Main menu:

R2 5

5. TEIL
ANDROIDEN
UND ANDERE MENSCHEN

Grafik 5.0

501

Als auf Cheltenham House durchsickerte, dass Romuald doch nicht voll verantwortlich für Veras Tod war, sondern quasi als Werkzeug eines höheren Zwecks gehandelt hatte, erwachte mein abtrünniger Mann aus seiner langanhaltenden Lethargie. Sir Basil gab zwar Anweisung, ihn weiterhin strikt unter Kontrolle zu halten (schließlich war er nach Meinung des Baronets subjektiv schuldig), aber so ganz konnte er den Bewegungs- und Beschäftigungdrang seines ungeliebten Gastes nicht mehr einschränken.

Ungnädiger als gewohnt war Cheltenham gerade aus London zurückgekehrt, wo ihn die Bürokraten des Fiscal Consequencies Evaluation of Political Measures Committee genervt hatten. Vor diesem Parlamentsausschuss wurde er über jene Teile seiner Aktivitäten befragt, die offiziell im Namen der Regierung Ihrer Majestät erfolgten. Selbst ein Mann seiner Qualifikation musste (da nun einmal der Verdacht aufgetaucht war, nicht einmal der zuständige Minister wüsste über alles Bescheid, was da vor sich ginge) gehörig aufpassen, sich im Geflecht der Organisationen, die er bewegte, nicht zu verirren. Während sich das Mandat des Ausschusses nur in geringem Maß auf seine Tätigkeit für die Army bezog, über die er bereitwillig alle Fragen beantwortete, konnte er sich danach, als es um geheimdienstliche Themen ging, wie üblich der Aus¬sage entschlagen – mit dem Hinweis, sämtliche Agenden, die bud¬getmäßig aus dem sogenannten Fund for Illegi-time Procedures gespeist wurden, seien vom Parlament global bewilligt worden und daher auch nur kursorisch zu referieren. An dieser seiner Verteidigungslinie ackerte die Handvoll Abgeordneter, mit der er wie gewohnt konfrontiert war, eine Weile herum, ohne weiter vorzudringen. Selbst gewiefte liberale Aufdecker oder brutale, weil ganz linke Labour-Leute konnten Sir Basil nicht knacken – im Gegenteil, wie schon so oft artete es in ein anspruchs¬volles intellektuelles Spiel aus, das in Wahrheit verhinderte, dass Cheltenhams geheimste Projekte jemals tangiert wurden. Im Endeffekt standen ihm seine fast unbegrenzten Geldquellen weiter offen. Dessenungeachtet wurde er von Mal zu Mal ungeduldiger gegenüber dieser Prozedur. Er ertappte sich selbst dabei, wie er über die Vorteile von Allein-herrschaften nachdachte, und sah in dem einen oder anderen Tagtraum sich selbst als Regenten, den eine von ihm abfällig Puppet Queen genannte Monarchin akkreditiert hatte.

JOHANNES:
Meine liebe Brigitte – Sir Basil war ein Leser allen Stoffs, der ihm in irgendeiner Form jemals nützlich werden konnte, unter anderem wusste er mit Martin Buber, dass man Krisen nicht dadurch löst, indem man einfach an einen früheren Punkt der Entwicklung zurückkehrt, sondern indem man beherzt das aktuelle Problem anpackt: Der archimedische Punkt, von dem aus ich die Welt bewegen kann, pflegte er sinngemäß zu zitieren, bin ich selbst.

Wofür man Romuald einsetzen könnte, wurde mit dem Baronet im kleinsten Kreis (dem „Concilium?) diskutiert. Sir Basil hatte wie immer eine Idee: man brauchte ohnehin jemanden, der regelmäßig zwischen den beiden Stützpunkten des Chicago-Chel-tenham’schen Unternehmens pendelte, wann immer eine unverfängliche Kommunikation notwendig war, bei der weder der drahtlose Kontakt noch die Datenleitung angezapft werden konnte.

Die übrigen schienen erstaunt – war Romuald, der bald danach nur noch „Der Kurier? genannt wurde, nicht viel zu unzuverlässig? Sir Basil wischte die Bedenken fort: Er sei in gewisser Weise besser kalkulierbar als jemand, der an sich selbst hehre Ansprüche stellte und dann sein eigenes Ideal verfehlte (Punkt 1), und (Punkt 2) er könne sich keinen Fehler erlauben, denn es gäbe welche, die wären ihm sehr dicht auf den Fersen. Cheltenham hatte Recht: in Washington saßen noch immer einige zähneknirschende Verlierer, denen Trudy auf Band ihre Nationalhymne überbracht und denen sie, wenn Cheltenhams Story einigermaßen hielt, berichtet hatte, dass Romuald der Haupt- wenn nicht Alleinverantwortliche am Verschwinden der vier Professoren sei.

Plötzlich stimmte das gesamte Concilium zu: ja, Romuald war offensichtlich ein schlechter Kerl, mindestens ein Weichling, der Frau und Kinder verlassen, im entscheidenden Moment aber auch seine Geliebte vergessen und verleugnet hatte…

JOHANNES:
… und er war auch damals bei DDD jener andere, was dir möglicherweise mit weiblicher Intuition schon früher dämmerte, als du den Namen Romi hörtest und dir nicht sicher sein konntest, wer von uns beiden DDD ernsthaft und unter Einsatz von Gewalt aufs Kreuz legen wollte.

Die Walemira Talmai war inzwischen schon fort, zusammen mit Brian als drittes Team abgereist, um das gigantische Vorhaben, das Chicagos und Cheltenhams Planung entstammte und Berenices Segen erhalten hatte, verwirklichen zu helfen. Andernfalls wäre Romuald bei ihr für einige Therapiestunden vorgemerkt gewesen – wie schon einmal diese seltsame Koinzidenz: zwei meiner besten Freunde (und wie erinnerlich auch zwei intime Freunde der Porno-Königin Janine Reynaud) auf ein und derselben Couch.

JOHANNES:
Natürlich nur in Form einer Selbstfindung, denn du weißt – Dr. Berenice W. Talmai hat nie gedrängt, nur konzentriert zugehört, bis der Patient sich veranlasst sah, etwas zu tun oder jedenfalls auf etwas draufzukommen.

Du musst zusehen, wäre Romualds Selbsterkenntnis gewesen, dass deine Psyche dein Leben, wie es ist, nicht internalisiert. Dieses Wort fraß sich in ihm fest. Einerseits als praktische Anleitung, in bestimmten Situationen nicht aufzugeben, andererseits natürlich als Philosophie: wäre das nicht erstrebenswert, wenn die Leute das, was sie neurotisch macht, nicht internalisierten? Ein Traum? – Oder eine Welt voll Unsicherheit, in der das Böse, das man so hasst, mit einem Mal lammfromm daherkommt oder in der jener, auf den man sich am meisten verlässt, plötzlich hundsgemein handelt?

JOHANNES:
Woher Sir Basil die Zeit nahm, wissen wir eigentlich nicht, aber er unterhielt sich auch mit dem ihm nicht sonderlich sympathischen Romuald, wenn es darum ging, Dinge ins rechte Licht zu rücken. Neben allem anderen störte ihn – der nicht anstand, jemanden ins Jenseits zu befördern, wenn es ihm notwendig erschien – bei seinem Zwangsgast die bei Deutschen und Österreichern oft beobachtete unsensible Art, mit aktuellen oder zeitgeschichtlichen Themen umzugehen. Solchen Leuten pflegte er an den Kopf zu werfen: Euer Vermächtnis besteht aus Goethe, Mozart und den Henkern von Auschwitz!

Mein Mann ist ja nicht im eigentlichen Sinn ungebildet. Seine Beschäftigung mit sublimen Dingen muss nur quasi eine direkte Verbindung zu seinen Hoden aufweisen, sonst interessiert ihn das nicht. Musik, Malerei, Dichtkunst, Wissenschaft, Politik sind bei ihm nicht nur (wie uns die Theorie lehrt) Überbau-Phänomene ökonomischer Basisprozesse, sondern darüber hinaus auch noch reflexiv zu Regungen seiner Leibesmitte zu interpretieren. Ich glaube, Sir Basil ahnte das zumindest, und hier fanden die beiden offenbar mühsam und unausgesprochen zueinander. An der Oberfläche wurde mit Argumenten geprahlt.

Wissen Sie, Cheltenham, sagte Romuald (und bewirkte damit, dass jener förmlich zusammenzuckte, wie immer wenn ihn jemand so ansprach), wissen Sie, auch Sie diskutieren all das auf einer Metaebene – Goethe haben wir beide gelesen, Mozart beide gehört, aber an jenem furchtbaren Ort waren wir beide nicht dabei. Wann immer wir darüber reden, produzieren wir bloß Sprache, keine Wirklichkeit, oder besser gesagt Wirklichkeit nur im Sinne von in uns und nicht um uns ablaufenden Prozessen und Veränderungen.

Da wollte natürlich Sir Basil mithalten und folgte seinem Gesprächspartner auf das spiegelglatte Terrain: Sie meinen, dass wir in dieser komplexen Welt ohnehin Romanfiguren geworden sind, die sich grundsätzlich in einer bestimmten surrealen Sphäre bewegen und nur noch gelegentlich durch irgendeine Falltüre ins richtige Leben hinuntersteigen, um dort zu essen, zu trinken, zu ficken oder zu töten?

Darauf Romuald: Der Gedanke ist, dass ein Antagonismus existiert – einmal Literatur als Therapie, wobei die Vielschichtigkeit von Handlungen uns bei der Überwindung von Problemen hilft, die wir mit der (von Ihnen zu Recht in den Mittelpunkt gerückten) Komplexität der Welt haben. Es gibt aber noch eine zweite Facette: Literatur als Krankheit – die Vielschichtigkeit der Handlung greift beim Schreiber oder auch beim Leser die Integrität des Bewusstseins an. Hier und vor allem hier muss man darauf achten, dass die Psyche diesen Zustand nicht internalisiert…

JOHANNES:
An dieser Stelle fing sich Sir Basil wieder (wiewohl er ohnehin auch auf diesem Glatteis der Argumente keine schlechte Figur gemacht hatte) und er verwies Romuald wieder auf seinen Platz: Gehen Sie mit Gott, mein Freund, meinte er zynisch, mehr als einen kleinen Kurierjob haben wir für Leute Ihres Schlages nicht zu bieten! Und hinterhältig fügte er hinzu: Haben Sie eigentlich seit damals diese Kristallkugel wieder in der Hand gehabt? Als Romuald nicht antwortete, gab ihm Cheltenham noch einen kleinen Rat mit auf den Weg: Hüten Sie sich vor jenen, die Sie damals schwer verärgert haben, wer immer es nun war.

Da keine unmittelbare Gefahr bestand, steckte mein Mann so etwas ohne weiteres weg, das hätte ich Sir Basil schon vorher sagen können. In unserem Zusammenleben war das ähnlich verlaufen – was immer ich mit fast täglich zunehmender Intensität an ihm auszusetzen hatte und wie lautstark ich dem auch Ausdruck verlieh, er tauchte ab wie ein Boxer, der zwar ständig getroffen wird, aber so stark ihm Nehmen ist, dass er nicht k.o. geht: ich hatte das Gefühl, mit einem Autisten zusammenzuleben.

JOHANNES:
Daher als Kontrastmittel der ober-flächliche, außer bei pulitzerpreis-verdächtigen Themen auch etwas dümmliche, aber extrovertierte Leo di Marconi!

Man kann alles ins Lächerliche ziehen. Komödien leben davon, dass wir über das lachen, was uns selbst höchst peinlich wäre, und vielleicht auch davon, dass andere über das lachen, was wir ganz ernst nehmen: Man erinnere sich an dein Zitat von DDD – unter meinem Mantel bin ich ganz nackt!

Zurück zu Romuald: Unter den ge-strengen Augen Cheltenhams baute er, dem Rhythmus seiner Tätigkeit folgend, im Pendelverfahren zwei Verhältnisse gleichzeitig auf. DDD hatte er im Gegensatz zu dir längst vergessen – höchstens dass sie in sehr langen Zeitabständen manchmal in seinen Träumen auftauchte. Die eine Erwählte war übrigens (man höre und staune) die Gräfin von B., die sich ja genau wie er seit geraumer Zeit auf Sir Basils Anwesen aufhielt: man hatte einige Male miteinander gesprochen (zum Glück nicht über mich) und – wie es so kommt, wenn auch die adeligen Gene einmal rebellieren – eines Tages hatte sie ihn erhört. Cheltenham wusste das natürlich und beschloss, ein Auge auf die beiden zu haben.

Damit beauftragte er in entsprechender Weise auch seine Frau Charlene, die gegenwärtig bei Chicagos Mannschaft in Lady Pru’s Haus lebte, als ihm zu Ohren kam, dass Romuald bei seinen Aufenthalten dort eine junge Koori beglückte. Berenices Dienerin, die für die alltäglichen Handreichungen zuständig war sowie ab und zu als Ersatz-Partnerin für Chicago fungierte (niemals als Lustobjekt, wie die Herrin ihr einschärfte, da sie ja immer nur dem folgte, was die Natur ihr vorschrieb, vom Verhalten ihrer Stammesgenossen daher niemals überrascht werden konnte), hatte während der Abwesenheit der Walemira Talmai nichts zu tun. Sie war schon immer durch außergewöhnliche Wissbegier aufgefallen und hatte sehr viel gelesen, um ihren Verstand in Bewegung zu halten. Das tat sie auch jetzt, aber dann und wann fehlte der früheren Jägerin das physische Moment. Abgesehen davon hatte sie die fixe Idee, dass es für einen weißen Mann nett sein müsste, „wenn er ein Erlebnis mit einer furchtbar schwarzen Naturschönheit wie mir hätte…?. Da kam ihr Romuald, der Triebhafte, gerade recht.

502

Aus den späteren Memoiren des geheimen Leibwächters Pifsixyl (Pif) Xifu, übersetzt von Anastacia Panagou:

Trotz aller Sicherheitsvorkehrungen des Tyrannen der jenseitigen Völker für seine Paläste waren diese Objekte aus den verschiedensten Gründen nicht wirklich zu schützen, so auch das Gebäude, aus dem Anpan (meinen deaktivierten Körper geradezu achtlos über die Schulter geworfen) mit ihrer Schlange geflohen war – in den riesigen Garten, der praktisch nahtlos in die freie Natur überging, und das wollte auf diesem Planeten etwas bedeuten: Jifihikxli wies eine üppige Vegetation auf, hochgewachsen, fleischig, pastellfarben.

Dabei konnte man nicht wirklich unterscheiden, was Pflanze, was Tier und was möglicherweise ein Eingeborener war, denn sie alle waren einander infolge der geringen Schwerkraft irgendwie ähnlich. Man benötigte einige Zeit, um die überdimensionalen Gewächse in der Art von Akeleien, Cannae, Funkien, Malven und Schafgarben als baumhohe Sträucher sowie jene in der Art von gigantischen Broccoli, Chicorées, Mangoldstielen und Selleriestangen als turmhohe Bäume zu identifizieren, zwischen denen sich – erst auf den zweiten Blick erkennbar – mobile Lebewesen bewegten.

Während wir Invasoren uns damit begnügten, die heimische Bevölkerung zu unterdrücken und zu demütigen (für irgendwelche Dienstleistungen waren diese Leute vordergründig nicht zu gebrauchen), aber keine Versuche unternahmen, die hiesige Sprache zu erlernen, hatte Anpan mit ihrem Computer-Gehirn in kürzester Zeit das Idiom entschlüsselt und konnte sich unterhalten. Daraus zog sie (wie ich, in meiner unglücklichen Position immerhin sehend und hörend, erkannte) den Vorteil, frühzeitig über die Bewegungen möglicher Verfolger informiert zu sein und vor allem immer wieder ein Versteck zu finden, in das niemand vorzudringen vermochte. Ich gewann die beunruhigende Erkenntnis, dass die Ureinwohner dieses Planeten viel gewitzter waren, als unsere elitäre Kaste es wahrhaben wollte, indem sie sich zwar niemandem direkt in den Weg stellten, aber in ihrer Geschmeidigkeit möglicherweise noch immer die eigentlichen Herren dieser Welt waren.

In einem jener Verstecke, in dem wir die erste Nacht nach der Flucht verbrachten, musste mich Anpan endlich wieder aus meiner Zwangslage befreien, und ich konnte ihr meinen längst gereiften Wunsch, die Seiten zu wechseln, vortragen. Ich hatte – jedenfalls im Verständnis einer Androidin – denkbar rationale Gründe dafür, meine Loyalität gegenüber Iadapqap Jirujap Dlodylysuap aufzugeben. Erstens musste er die Geschichte mit seinem Doppelgänger bereits wissen (allein meine tatenlose Anwesenheit würde als Grund reichen, um mich beseitigen zu lassen), zweitens war ich ohnehin schon so lange in seinen Diensten, dass in seinen Augen mein Ablaufdatum nahte. Drittens (das behielt ich allerdings zunächst für mich) hatte ich mich in Anpan verliebt, und zwar in jenem Augenblick, als ich ihr, die ich unbekannterweise so lange gejagt hatte, plötzlich gegenüberstand. Ihre damaligen Worte hatten sich mir eingeprägt, und in mir war noch immer das Hochgefühl, das mich erfasst hatte, als sie vom Metallpanzer unter ihrer zarten Haut sprach. Jetzt erinnerte ich sie daran.

Bevor Anpan antworten konnte, läs-terte schon die Schlange (die ich bis dahin noch nicht sprechen gehört hatte, obwohl längst die Vermutung nahelag, auch sie sei ein künstliches Wesen): Der nächste hoffnungslose Romantiker! An den Kampfspitzen, die du aus deinen Fingerkuppen ausfahren kannst, AP, sind der Reihe nach die Herzen aufgespießt, die du gebrochen hast!

Haltet mich alle für verrückt, aber ich fühlte mich in diesem Gemüseversteck, umstanden von einigen fast unmerklichen Eingeborenen, die sich mit ihren dünn klingenden Flötenstimmen mit Anpan unterhielten, vollständig glücklich. Wenn sie in dieser Situation verlangt hätten, dass ich, um umgekehrt auch sie glücklich zu machen, sterben sollte, ich hätte für sie mein Leben hingegeben. Aber davon war keine Rede: sie nahmen mich als einen der Ihren auf, und nur die Schlange konnte es sich nicht verkneifen zu spötteln: Nicht so dramatisch, Agent Pif, der Tod ist nicht schwierig für euch endliche Geschöpfe – das Leben ist es, was euch zur Verzweiflung treibt. Aber um dieses Manko auszugleichen, sind nach dem Willen unserer Erbauerin wir da: Anpan ist Ihnen – wie es in Ihrer Sprache heißt – gefälliger als Sie zu hoffen wagen!

Ich strich ihr über den schuppigen Leib und bewunderte die Echtheit ihrer äußeren Erscheinungsform. Anpan ergriff ihrerseits meine Hand, und es fühlte sich an als sei sie gerade aus einem kühlen Bad entstiegen und wäre nun bereit für mich. Eine der pflanzenähnlichen Gestalten mit rosa Hautfarbe ließ seinen dünnen Arm von weit oben herab, um mich ebenfalls freundschaftlich zu berühren. Ciz Irjic! fistelte das Ding auf der Höhe des viergestrichenen C. Er heißt Lic, erklärte die Androidin, und er begrüßt Sie herzlich.

Dann jedoch wollten sie an meine In-formationen kommen: wo sich meiner Ansicht der Commander und seine Begleiterin Mango Berenga aufhielten, die jedenfalls einen sicheren Ort aufgesucht hatten, um gefahrlos über die vier Professoren verhandeln zu können. Ich für meinen Teil wusste nur so viel, dass der Diktator über die Handlungsweise des Commanders geschäumt hatte, innerlich aber geneigt war, gegen Herausgabe der vier Wissenschaftler das Übrige zu vergessen und freien Abzug zu gewähren.

Plötzlich gab es Unruhe unter den den Lhiks (so nannten sich meine neuen Pflanzenfreunde selbst). Ich erfuhr, dass sie in einiger Entfernung den Tyrannen hoch zu Ross entdeckt hatten, und wenn er auch nicht gerade direkt auf uns zuhielt und auch ohne Gefolge unterwegs war, handelte es sich doch um eine gefährliche Situation. Wirklich kam Iadapqap ziemlich nahe an uns vorbeigeritten: ein eindrucksvolles Bild, da das weiße Pferd (ich erkannte es als eines der wenigen Exemplare seiner Spezies, die von unserer zerstörten Heimatwelt hierher evakuiert worden waren) aufgrund der noch immer ungewohnten Schwerkraftverhältnisse mehr in der Luft zu schweben als zu laufen schien – nach jedem Schritt machte es einen vom Boden abgehobenen Zwischenschritt.

Anpan war sofort entschlossen, sich auf die Fährte ihrer Zielperson zu heften, da sie nur so ihren Auftrag zu Ende bringen konnte und darüber hinaus womöglich noch in die Nähe der Berenga und des Commanders geführt werden würde. Und Sie können mich begleiten, sagte sie zu mir, wenn das was Sie mir vorschlagen, wirklich ernst gemeint ist: Bedauerlicherweise gibt es bei den richtigen Menschen ja oft eine große Diskrepanz zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten.

Ich versuchte sie zu überzeugen, indem ich mich vor Ihr auf die Erde warf und meine lauteren Absichten beteuerte. Anpan glaubte mir entgegen einer ätzenden Bemerkung der Schlange, die der größten Dramatik die größte Unglaubwürdigkeit unterstellte. Es stimmte allerdings, was die Androidin bei sich kalkulieren mochte: dass ich ihr nämlich sehr hilfreich sein konnte, besonders für den Fall, dass sich die Ungnade des Herrschers noch nicht überall herumgesprochen hatte.

ANMERKUNG DER ÜBERSETZERIN:
Meine AP 2000 ® war schon ganz toll organisiert. Sie wandte in dieser Situation das Quäntchen Gefühl auf, das ihr den Agenten Xifu zuverlässig erscheinen ließ, wo die Schlange mit ihren Bedenken rational ganz Recht hatte. Dennoch stürzte Pif seine Anpan in einen Zwiespalt: obzwar ihr Sensorium sein Begehren nach körperlicher Vereinigung korrekt anzeigte und es für sie durchaus logisch war, diesem Wunsch zu entsprechen, hatte sie doch genügend menschliche Verhaltensmuster gespeichert, um zu wissen, dass man als Frau den potentiellen Sexualpartner ruhig ein wenig zappeln lässt.

Anpan beendete abrupt eine merkwürdige Phase der in sich gekehrten Nachdenklichkeit, die ich nicht zu deuten wusste. Wir müssen hinterher, stellte sie fest, nichts anderes zählt jetzt. Der Diktator flog auf seinem Pferd voran, und ohne dass er es merkte, hatte er plötzlich in uns eine ansehnliche Begleitung: die Lhiks, vor denen sich auf eigenartige Weise die Vegetation teilte, sodass wir ganz leicht vorankamen; als Nächster ich (die Androidin wollte mich vor sich sehen) mit dem federnden Gang dessen, der unter den Gesetzen einer mindestens dreimal so hohen Schwerkraft geboren worden war; schließlich An¬pan, die ihren Bewegungsapparat jeder Gegebenheit anpassen konnte, mit einer Leichtfüßigkeit, die nicht verriet, dass sie bei einer Größe von 1 Meter 80 und den Maßen 90 – 60 – 90 gut 150 Kilogramm auf die Waage brachte; die Schlange gefiel sich wieder einmal als Collier der Androidin. Wir hielten inne, als der Reiter an einem großen See anlangte, dessen Wasser, wie auf diesem Planeten üblich, tintenblau und undurchsichtig dalag, mit Wellen, die bei der kleinsten Brise wuchtig daherkamen, aber sanft verplätscherten. Vom Ufer führte eine reichverzierte steinerne Brücke zu einer Insel, die den Umriss ausschwei-fender Kolonnaden zeigte: Der Tempel des Ruhmes unseres Tyrannen! erklärte ich lakonisch, worauf unter den Lhiks ein piepsendes Gelächter ausbrach. Mein Reflex auf diesen Affront blieb unbemerkt, so gut hatte ich mich in der Hand – lediglich Anpan, die sozusagen Gedanken lesen konnte (sie selbst nannte das allerdings Subliminal Recognition Matrix), warf mir einen erstaunten Blick zu.

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Deutlich sehe ich es durch den Viewfinder, den ich mir als angehende Regisseurin zugelegt habe, vor mir, dieses Set eines großartigen Films: Kamerafahrt auf der Brücke – die dahinhastenden Gestalten der AP 2000 ® und des Agenten Pifsixyl – der Brückenkopf auf der Insel weitet sich zu einem halbkreisförmigen Platz, ausgelegt mit monumentalen Mosaiken – das eine oder andere Ornament wird herausgegriffen, dazwischen die raschen Bewegungen der beiden heimlichen Besucher, die im Schutz der hereinbrechenden Nacht vordringen. Schon haben sie den Platz überquert und den Zugang in der Mitte der Kolonnaden erreicht, da treten hinter den Säulen links und rechts von ihnen zwei Wachen hervor – gleichzeitig flammen Scheinwerfer auf. Zweifellos wären die beiden Eindringlinge sofort liquidiert worden (so streng waren die Befehle des Diktators), hätte Anpan nicht noch immer ihr Showgirl-Kostüm angehabt. Dieser Anblick ließ die martialisch aussehenden Männer zögern, sodass Pif die Zeit blieb, seine noch immer gültige Parole „Yluhaguhra yluhaguna? zu rufen. Nun war den Wachen alles klar: junge Mädchen durften schließlich immer ungehindert ins Heiligtum gebracht werden (was sie nicht wussten, war, dass sie soeben ihr eigenes Leben verlängert hatten, denn die Androin war am Sprung gewesen, ihnen sofort das Licht auszublasen).

Nein, es war ganz anders: ganz anders als in einem Film. Was ich den beiden Männern zurief, war nicht die Parole, mit der ich mir als geheimer Leibwächter jederzeit Zugang zum obersten Herrn verschaffen konnte, sondern die Aufforderung, sich im Zeichen unserer Kaste mit mir zu schlagen: die alte und wahre Bedeutung dieser Worte, die nur die wenigsten noch kennen, ist schließlich „Entseelt die zu Entseelenden?. Widerstandslos übergab mir der eine Wächter sein Schwert, um mir einen fairen Kampf mit dem anderen zu ermöglichen, und er fiel schließlich, nachdem ich jenen besiegt hatte, durch seine eigene Waffe. Ich war gezwungen, so zu handeln, denn ich wusste, dass die beiden keinen Millimeter weichen würden und somit jedenfalls dem Tod geweiht waren.

Lic und seine Gefährten hatten uns mittlerweile auf ihre unauffällige Art eingeholt: niemand außer Anpan und mir würde sie für etwas anderes halten als Gewächse, die sich vom Festland entlang dem Brückengeländer und zwischen den Kolonnaden wuchernd bis zum Zentrum der Insel vorarbeiteten. Mit Rücksicht auf mich enthielten sie sich zwitschernder Kommentare zum Geschehenen, über das Anpan sie kurz informierte – wieder zwei Besatzer weniger, mochten sie sich denken, wenngleich sie selbst nicht sehr gewaltbereit aussahen.

In der Heimatwelt unserer Zivilisation, so erzählte ich Anpan, um sie ins Bild zu setzen, hat es große Tempel mit steinernen oder erzenen Götterstandbildern gegeben. Die Priesterschaft, allen voran der Diktator als Oberpriester der wichtigsten Kulte, pflegte in den Hohlräumen dieser Figuren zu sitzen und mit verstärkter dumpf hallender Stimme zum einfachen Volk zu sprechen. Hier auf Jifihikxli gab es allerdings kein einfaches Volk, bloß Eliten: daher waren nur Tempel geringeren Ausmaßes mit Podesten aus Fels oder Metall errichtet worden, auf die sich der Tyrann oder irgendjemand aus seiner Umgebung setzte, um die jeweilige Gottheit zu versinnbildlichen. So auch hier im wichtigsten dieser kleinen Heiligtümer, das dem Ruhm des Diktators geweiht war – wie gesagt, nicht er als Person wurde hier vergöttert, sondern seine Glorie, wobei auch die Verehrung für seine magischen Fähigkeiten mitschwang, an die viele von uns glaubten.

Wir fanden ihn in hockender Stellung auf dem Altar. Er trug nicht mehr seine Reitkleidung, sondern den Ornat eines Magiers: dieser bestand aus einem dicken Strick, der als Schlinge um den Hals getragen wurde und nach vorne, in Fransen auslaufend, bis zu den Knöcheln reichte (dies sollte die tausendfache Verbindung einer überdurchschnittlich um sich greifenden Macht mit dem Schicksal symbolisieren). Die Cella war durch mehrere Fackeln erleuchtet. Ich schob Anpan aus dem Halbdunkel des Vorraums nach vorn, ohne selbst in Erscheinung zu treten. Die Schlange behielt ich zurück.

Iadapqap Jirujap Dlodylysuap (oder Augustus Maximus Gregorovius, wie er im Paralleluniversum genannt wurde), der bis dahin zu dösen schien, war plötzlich hellwach, winkte die Androidin näher, die er einfach als Nachschub für seine Lust interpretierte, von einem beflissenen Mitarbeiter bereitgestellt: fast unmittelbar machte sich unter den Fransen seines Stricks die Reaktion darauf bemerkbar, doch er blieb dabei gänzlich unbefangen. Willkommen, junge Frau, meine Erhabenheit fühlt sich geehrt durch deinen Besuch, wie du deutlich erkennen kannst. Einen besseren Mann als mich kannst du niemals finden, denn meine ganze Leidenschaft widme ich dir – steig herauf zu mir, damit ich dich zur Herrin meiner Tyrannis, aber auch zur Königin meiner Geisterwelt mache!

Anpan ließ sich nicht lange bitten. Unromantisch wie sie war, hatte sie nicht mit solchen Reden gerechnet und wusste damit auch nicht wirklich etwas anzufangen. Es gab für sie einen Auftrag zu erfüllen, und das möglichst geradlinig und zügig. Kaum dass sie hinhörte, als er sie zu seiner neuen Favoritin erklärte und ihr erneut sein Imperium zu Füßen legen wollte. Ohne Umschweife warf sie das Kostüm von sich, das ihrer Rationalität ohnehin enorm zuwidergelaufen war. Wenngleich es Dlodylysuap ein wenig befremdete, dass sie seine Schmeichelreden, mit denen er sie gefügig machen wollte, einfach überging und gleich zur Sache kam, schien er irgendwie zu denken, dass er sie völlig behext hatte und überließ sich kurzerhand ihrer im wahrsten Sinne technischen Routine.

Dessenungeachtet erglühte ich draußen vor Eifersucht. Mein sensibler Pflanzenkamerad Lic fühlte das und bot Hilfe – so viel hatte ich inzwischen von seiner Flötensprache aufgefasst, um seinen Rat zu verstehen: Zieh einen Kreis aus Gedanken!

Ich begriff plötzlich viel: die Mentalität dieser Wesen schlechthin, mit der sie sich erfolgreich der Aggression der Okkupanten widersetzten – die Möglichkeit, mit blankem Denken Realitäten nach dem eigenen Wunsch zu schaffen – im besonderen die Chance, den widerwärtigen Nebenbuhler von seiner Beute abzubringen. Wie auf mein Kommando schoss die Schlange vor, erklomm den Altar und legte sich als stählerner Ring um den Kopf des Tyrannen, der sofort erschlaffte. Anpan reagierte pragmatisch: scannen konnte sie ihn auch so, und das war schließlich ihr Hauptanliegen. Mir hin¬gegen war für den Moment wichtig, dass sie vom Samen des auf einmal so Verhassten nicht besudelt wurde.

ANMERKUNG DER ÜBERSETZERIN:
Die vorübergehende geistige Abwesenheit des Augustus Maximus eröffnete eine Perspektive, die in ihrer Tragweite bestenfalls von der AP 2000 ® abzuschätzen war. Es gab ja wohlgemerkt bereits eine Favoritin, die der Diktator offenbar ganz leicht-fertig abzuservieren bereit schien, nachdem er Anpan begegnet war. Immerhin handelte es sich bei jener anderen um die mit Sicherheit schönste Frau des Paralleluniversums, Balaf-Ieku Hvuvu, irdisch Clio Alexandrine Andromède Annette Aphrodite von B., die Tochter der Gräfin. Der Vater des Mädchens, so wurde es im Reich des Iadapqap kolportiert, war bei einem gefährlichen Einsatz in der Alpha-Welt ums Leben gekommen. Sie selbst wurde von Tante und Onkel aufgenommen, die einerseits versuchten, den Tyrannen, der ihr nachstellte, wo er nur konnte, von ihr fernzuhalten, andererseits aber geschmeichelt waren über so hohe Gunstbezeigungen. Den Ausschlag gab ein schauriges Erlebnis des Vormundes, als er nämlich eines Nachts in eine Arena, die nor-malerweise für Hetzjagden diente, gebracht wurde. Angestrahlt von gleißenden, auf seine Person fokussierten Lichtkegeln trieben ihn dunkle Gestalten hin und her, ritzten ihn auch mit ihren Dolchen und Lanzen, sodass er seine letzte Stunde gekommen sah. Am Ende erneuerte er erleichtert den Treueschwur auf Iadapqap Jirujap Dlodylysuap, der urplötzlich neben ihn getreten war, und er weigerte nicht mehr, Balaf-Ieku Hvuvu dem höheren Tempeldienst zuzuführen, wo sie der Präsenz des Dik¬tators ständig ausgesetzt und dieser schließlich auch erlegen war.

Hast du Sehnsucht nach deiner Mutter, Prinzessin? fragte ich sie, nachdem ich sie in einem der Nebenräume des Tempels entdeckt hatte. Die verträumt blickende junge Frau schien zunächst nicht zu begreifen, was ich ihr sagen wollte. Erst nach längerer Zeit war es mir, als würde eine vage Erinnerung in ihr hochsteigen, und sie nickte. In der Türe hinter mir war, ohne dass ich es gemerkt hatte, Anpan erschienen: ganz leise verhielt auch sie sich, berührt von der Schönheit des Mädchens – sie hatte schließlich genug Vergleichsmöglichkeiten in ihrem Bildspeicher, aber es war noch mehr, auch ein wenig Emotion schwang hier mit, die Anastacia ihrem Geschöpf mitgegeben hatte, nicht nur hinsichtlich Liebesbeziehungen im alll-gemeinen, sondern auch Zärtlichkeiten zwischen Frauen im Besonderen. Balaf-Ieku Hvuvu erwiderte offenbar durchaus dieses Gefühl. Plötzlich fiel ihr die Nacktheit ihrer neuen Freundin auf, und sie deutete ihr, vor einen großen Schrank zu treten und zu wählen. Ich konnte einige hundert Kleider und alle erdenklichen Accessoires erkennen. Was nun folgte, konnte einige Zeit in Anspruch nehmen, so dass ich mich getrost zurückzog und mich wieder der Szene in der Cella des Tempels widmete. Der Diktator verharrte noch immer reglos, von der Schlange in Schach gehalten.

Macht doch Spaß, bemerkte das künstliche Reptil mit seinem üblichen Sarkasmus, ohne auch nur im geringsten seinen Griff zu lockern. Macht großen Spaß, hörte ich das piepsende Echo von Lic und seinen Freunden und Freundinnen (werden wohl auch weibliche Exemplare darunter gewesen sein, wenngleich ich das nicht erkennen konnte). Wir haben wenig Zeit zum Spaßen! fuhr ich die Bande an, und zur Schlange gerichtet: Weck ihn auf!

Sie gehorchte auf der Stelle. Der Augustus, mein Herr, regte sich, als ob er aus einem Albtraum erwacht wäre. Der Schlange und meinen Pflanzenkameraden schenkte er keinerlei Beachtung – er sah nur mich und blickte mich mit erstaunten Augen an. Ich ließ ihn gar nicht erst lange nachdenken, sondern forderte ihn nach den Gesetzen unserer exklusiven Gemeinschaft zum Duell. Was ist der Anlass? fragte er benommen, aber dennoch perfekt die Form eines solchen Gesprächs wahrend. Jedermann in unserer Kaste konnte auch den Allerhöchsten herausfordern, selbst wenn er nur dachte, dass es soweit sei, diesen von seinem Podest zu stoßen. Dementsprechend meine rituelle Antwort: Ich bin hier, um dich abzulösen!

Mir war wohl bewusst (wie jedem Jüngeren und Rangniedrigeren), dass dies ein tödliches Unterfangen war. Dlodylysuap hielt sich nicht umsonst an der Spitze der Hierarchie: Er war der beste Schwertkämpfer weit und breit, und was ihm mit zunehmendem Alter an Gewandtheit fehlte, machte er durch stetig zunehmende magische Kräfte wett. Ich war zwar meines Wissens nicht der erste, der sich an den Giganten wagte, aber vor mir hatte noch keiner der Herausforderer überlebt. Ich musste feststellen, dass mein Gegner sich auch in dieser seiner ungünstigen Situation äußerst schnell regenerierte, mehr noch: seine Augen und vor allem seine für Eingeweihte wie mich sichtbare Aura zeigten den Aufbau eines massiven parapsychischen Feldes. Die Lhiks zwitscherten nervös und ängstlich.

Dem Herausforderer stand die Wahl der Waffen zu, aber welches physische Instrument ich auch immer nennen würde, ich hatte das Problem der unterschwelligen Wirkungsweisen, die der Diktator voll mobilisieren konnte, ich aber nur in sehr eingeschränktem Maß. Während ich noch überlegte (das Zeremoniell schrieb ohnedies vor, sich bis zum Beginn des Kampfes nur sehr langsam zu äußern und zu bewegen), betrat Commander Keyhi Pujvi Giki Foy Holby den Raum, gefolgt von Anpan und der Prinzessin, beide in exquisiten Roben, die so gar nicht zu diesem Anlass passten. Treten Sie zurück, Agent Pifsixyl Xifu! sagte er im Befehlston: Wenn jemand diesem hier vom Thron stürzen darf, dann ist das ein anderer! Und er verwies mich in den Hintergrund.

ANMERKUNG DER ÜBERSETZERIN:
Der Commander erklärte die Situation: Niemand hier sei wirklich daran inter-essiert, den Augustus auf traditionelle Weise abzulösen und damit dieses System zu prolongieren. Außerdem sei es zu diesem Zeitpunkt keineswegs sicher, dass man den Tyrannen ausschalten könnte – ob nun im Rahmen des Kastenrituals oder außerhalb. Er selbst, Keyhi Pujvi, habe innerlich die Seiten gewechselt, von Pif nehme er das Gleiche an, und so hätten sie sich nach den Regeln des drüberen Universums zu verhalten, dem sie sich ja anschließen wollten. Dort gebe es jemanden, der exklusiv das Recht für sich beanspruche, die Aggression dieser Welt zu stoppen, weil es aus bestimmten Gründen nur ihm zustünde, diesen Schlag zu führen. Clio hörte es teilnahmslos, die AP 2000 ® ungerührt, nur die Lhiks flöteten aufgeregt in den höchsten Tönen und begannen, sich aus dem Staub zu machen. Der Diktator sah grimmig drein – er hatte sich vielleicht ausgerechnet, diese Situation eindeutiger zu seinen Gunsten beenden zu können. Anpan warnte auch bald vor einem Ansteigen paranormaler, gegen die ganze Gruppe gerichteter Aktivitäten, die sie deutlich spüren konnte.

Der Commander schlug Iadapqap Jirujap Dlodylysuap vor, sich ruhig zu verhalten, bis die Gruppe mit dem Raumfahrzeug, das vor dem Tempel mit Mango Berenga am Steuer wartete, das andere Universum erreicht habe. Dafür würde man ihm per Fern¬mitteilung das Versteck bekanntge¬ben, in dem er die vier von ihm heißbegehrten Professoren (reichversorgt mit dem Stoff, der sie immer freundlich und friedlich hielt) vorfinden konnte.

Der Herrscher zögerte, stimmte aber dann zu. Das Quartett der Wissenschaftler mochte ihm in einer entscheidenden Kraftanstrengung jene Ressourcen schaffen, die ihm die Verwirklichung seiner finalen Pläne ermöglichte. Da kam es dann auf diese Randfiguren hier nicht mehr an. Selbst auf die alte und die neue Favoritin konnte er unter diesen Auspizien verzichten.

503

Sehr überraschend, was Romuald, mein Freund von Jugend auf, zuwege brachte. War wohl nach wie vor der Ansicht, wir sollten alles teilen.

BRIGITTE:
Meine liebe Freundin Geneviève Bernadette Margot Veronique Suzanne (nach dem Tod ihres Vaters als Chefin des Adelshauses Gräfin von B., was viele aufgrund ihres jugendlichen Aussehens einfach nicht zur Kenntnis nehmen wollten) war am Ende jene Person, die theoretisch am besten über meine Ehe mit Romuald Bescheid wissen musste – nein, das ist natürlich blanker Hohn, denn warum sollte jemand, der mit zwei Leuten sexuelle Handlungen setzt, etwas über deren Beziehung zueinander aussagen können? Als ich von der Mes¬alliance meiner Geliebten mit meinem Mann erfuhr, stellte ich mir gleich vor, wie die – wie sag‘ ich’s doch gleich? – direkte Art dieses Herrn auf die blaublütige Dame wirkte. Wie sie sich wohl fühlen mochte (als Spross einer uralten Familie und als passionierte Reiterin), wenn er ihr seinen obligaten Klaps auf den Hintern versetzte, mit der aufmunternden Bemerkung: Komm den Frauen stets ritterlich entgegen, aber gegebenenfalls erhöhe den Schenkeldruck! War es für Geneviève die Wiederkehr der rauen Art des falschen Grafen? Vielleicht kamen für sie mehr oder weniger bewusst die Erfahrungen mit dem Alten zurück, zum Beispiel der See mitten im Wald, an dem die beiden absaßen und den Morgenritt durch ihren speziellen Frühsport unterbrachen. Oder die ultimative Gefühlsbombe, als sie glaubte, die Tochter ihres eigenen Vaters zur Welt zu bringen. Einerlei: Romuald jedenfalls konnte einen fürwahr erfüllen: wenn nicht mit Liebe, dann mit dem Anspruch, seine in sich selbst ruhende Beschaulichkeit (manche nannten es auch Faulheit) durch hektische Aktivitäten rund um seine Person zu kompensieren. Für die Gräfin musste es recht ungewöhnlich sein, in einem Moment als Gefäß seiner Leidenschaft zu dienen und kurz darauf als seine Aufwärterin – so wahrscheinlich hieß der entsprechende Bedienstetengrad im Hause derer von B.

Warum bleibt eigentlich jemand wie Romuald im aufgeklärten Europa? Ich habe einige fremde Kulturen kennen-gelernt, in die er wesentlich besser passen würde, mehr noch – in die er sich geradezu nahtlos einfügen könnte.

BRIGITTE:
Endlich der versprochene Bericht über Indien?

Nein, mein altes Mädel, zuerst erzähle ich dir etwas, wodurch du deinen Mann und auch die gute DDD, über die du dir vermutlich ganz falsche Vorstellungen machst, in einem ganz neuen Licht sehen wirst. Nachdem DDD sich mir lange nach unserer ersten Begegnung aus Frustration über ihren angetrauten Gemahl an den Hals geworfen hatte…

BRIGITTE:
… mit den faszinierenden Worten, hingehaucht: unter meinem Mantel bin ich ganz nackt!

Damit eines klar ist: sie war nicht der Typ fürs Hauchen, sie war keine ephebische, sondern eine ganz handfeste Person, mit einer Stimme, so dunkel und bestimmend…

BRIGITTE:
Dennoch hast du sie gedemütigt!

Wie man’s nimmt. Ich glaubte es mir schuldig zu sein, da sie als Teenager mein Drängen abgewehrt hatte. Meine absurden Jungmännerträume erlaubten nur ein Ich-kam-sah-und-siegte, und wer dieses Ideal missachtete, dem wünschte ich alles Übel. Später aber, an einem aktuelleren Zugang zu DDD’s Biografie (als sie im Alleingang einiges mehr bewältigt hatte, als ihr früher zuzutrauen war, und sich als verheiratete Frau überdies von keiner gesellschaftlichen Ächtung mehr bedroht fühlte), war sie natürlich nicht mehr ausschließlich das Objekt von Demütigungen, sondern durchaus auch das lüsterne Subjekt neuer Erfahrungen. So denke ich, dass ihr der stöhnende Anruf bei ihrem Mann in Wirklichkeit ganz schön Spaß gemacht hat. Und – auch wenn dich das jetzt schockieren mag – sie hatte ganz und gar nichts dagegen, dass ich deinen Romuald zu einem unserer Treffen hinzubat, denn dadurch begab sie sich in eine Situation, die als Transzendierung des seinerzeitigen Erlebnisses mit Raptor und Redemptor gelten konnte. Ich sah es daran, wie sie sich uns beiden nicht weniger unbefangen näherte als einige Tage zuvor mir allein: als ob wir eine einzige Person gewesen wären.

BRIGITTE:
Da dämmern Vorstellungen herauf von diversen Sandwich-Positionen…

Mein Gott, bist du vielleicht verdorben! Was soll man sich da als Mann, der im Grunde seines Herzens (ganz im Sinne von Kästners Fabian) Moralist geblieben ist, bloß denken? Tatsache ist, dass wir einiges durchprobierten, wenn schon einmal die Gelegenheit da war – aber wie es scheint, kann ich das getrost deiner Phantasie überlassen!

BRIGITTE:
Überlass nur nicht zuviel der Phantasie, mein Liebster! Nimm mich in deine Arme, dräng dich in mich hinein und erzähl mir herrlich schmutzige Geschichten!

Hallo, Romi, rief DDD, das Leben noch frisch? Sie trug ein Business-Kostüm, dazu einen flotten Hut, der aber gleich in eine Ecke flog, gefolgt von der Krawatte, der Jacke, dem Rock. Danach sah sie bereits ganz anders aus als die vorherige Sozialversicherungsbeamtengattin: schwarze Strümpfe, weißes Hemd, Haare offen, die Zähne gebleckt.

Das Hemd wiederum riss sie sich geradezu vom Leib – Romuald und mir blieb der Mund offen, wir saßen einfach da, am Rand des großen Betts. Mit zwei drei schnellen Schritten war DDD bei mir, drehte mir halb den Rücken zu und ließ sich den BH ausziehen, kurz danach von meinem Partner den Slip, und schon wich sie wieder vor uns zurück, nur um gleich wieder auf allen Vieren vorzurücken und an mir hochzuklettern. Ich – jubelte ich – ich zuerst! Und wir machten das, was wir gerade tun, worin du allerdings unübertroffen bist, Königin meines Herzens!

BRIGITTE:
Und ich hatte schon begonnen, auf DDD ein wenig eifersüchtig zu sein.

– – – – –

Kaum war ich mit DDD fertig, wartete schon Romuald auf sie, die an diesem Punkt sogar leichte Anstalten machte zu protestieren, aber ich sagte: Was ist, DDD, habt ihr Frauen nicht viel weniger technische Probleme als wir Männer? Denk an die Prostituierte von Henry Miller, die jeder begehrte, sodass bei fortgeschrittenem Abend ihr Weißes in den Augen aus Sperma zu bestehen schien, doch stolz schritt sie unermüdlich dem nächsten Freier voran die Treppe hinauf, dorthin wo die Zimmer lagen!

BRIGITTE:
Da dürfte sie mit meinem Romuald ohnehin geringere Schwierigkeiten gehabt haben als mit dir, denn der hielt sich vermutlich nicht mit einem langem Vorspiel auf, das ihr nach eben erst vollzogenem Verkehr unangenehm gewesen wäre, sondern kam gleich zur Sache, was für DDD wesentlich leichter zu verkraften war.

Das bedeutete allerdings noch nicht das Finale. Ich bin kein Übermensch, aber von der außergewöhnlichen Situation angestachelt, fühlte ich mich gleich wieder zu einer neuen Runde imstande, und unsere Freundin kam gleich wieder dran, diesmal ohne äußeren Anschein eines Widerstandes – ganz so als ob sie es wenigstens einmal im Leben wissen wollte.

BRIGITTE:
Jetzt sag’ nur, auch Romuald setzte danach noch eins drauf – glauben würde ich es gleich, denn der konnte praktisch immer, wie ich aus eigener mühsamer Erfahrung weiß… Also wirklich, dacht’ ich mir’s doch – das hatte ja geradezu Ralph & Hardy’sche Dimensionen, was ihr da getrieben habt, noch dazu ohne einen Cent zu investieren.

Ein Ralph & Hardy-Projekt für Arme!

BRIGITTE:
Man fragt sich, wie ein solcher Abend ausklingen soll: Geht man zu dritt essen, oder schickt man die Frau einfach in die Küche, wo sie trotz allem hingehört, um einen Imbiss zu bereiten? Oder muss sie dann schon schleunigst nach Hause, damit nicht am Ende ihr Mann misstrauisch wird und ungeahnte Komplikationen heraufbeschwört? Nicht zu vergessen die Verhütungsfrage: war DDD ohnehin geschützt oder dachte sie an so etwas gar nicht, weil sich infolge des ehelichen Schutzschildes (gegen die Folgen einer Besamung durch zwei fremde Bullen) das Thema gar nicht stellte? Schließlich musste man bloß das Produkt dem legitimen Partner unterjubeln – blieb eigentlich nur das Kind selbst, wenn es einmal da war: wie sollte die Mutter die unausweichliche Frage nach der Herkunft und den näheren Umständen des Werdens einigermaßen rational beantworten?

Sag bloß, du seist bei all deinen Affären derart kaltblütig vorgegangen, sozusagen mit dem wichtigsten Teil immer über Wasser geblieben durch die Schwimmhilfe Rationalität? Und du hättest beim Bumsen, so zum Beispiel eben vorhin mit mir, immer vor Augen, was beim Forum feministischer Ökonominnen über die Dekonstruktion des Männlichkeitswahns und seiner Netzwerke gesagt wurde: Beziehungen bei aufrechtem Wunsch nach Selbstverwirklichung ohnehin nein-danke, und wenn schon, dann nicht ernst nehmen, um endlich die große Zahl längst fälliger Nobelpreisträgerinnen auf den Weg zu bringen? Und du könntest ohne weiteres mitten in der gefühlvollen Operation die Krise der Geschlechterordnung diagnostizieren, die zwar als traditionell bezeichnet wird, aber in Wahrheit nur erfunden wurde, um über behauptete kulturelle Differenzen zwischen Mann und Frau die noch immer bestehenden Herrschaftsstrukturen als konstitutiven Bestandteil der Gesellschaft einzuschmuggeln?

BRIGITTE:
Du redest manchmal so viel Quatsch! Das wagst du nur in der Überzeugung, dass ich dir in dieser Situation nicht davonlaufe!

Was immer DDD von diesen Fragen hielt, und wie intensiv sie sich auch damit beschäftigt haben mochte – sie ließ das an jenem Abend draußen. Wir lagen eng aneinandergedrückt, aber eben nicht in der für diese Situationen üblichen Zweisamkeit, sondern in einer Relation, die das intimste Aufgeben der eigenen Grenzen nicht zuließ. Man redete ein wenig, aber eher akademisch, und Romuald sagte gar nichts…

BRIGITTE:
… was nicht heißt, dass er nichts zu sagen hatte, aber er war weiß Gott nicht der Typ für ein postkoitales Plauderstündchen, in dem er Gefahr lief, etwas von sich selbst preisgeben zu müssen, ohne das wirklich zu wollen.

Ich hingegen konnte es nicht lassen (Romi grunzte gequält – welch unnötige Frage in seiner Welt): Wer hat dir mehr Lust bereitet, DDD? Wie damals, mein Junge, antwortete sie: immer der andere! – auch sie hatte offenbar mehr als eine Rechnung offen.

Und sie war es schließlich, die den krönenden Abschluss entrierte, bevor sie uns beide in die finale männliche Ermattung entlassen wollte – und bevor sie aufstand, in die Küche ging und Kaffee kochte; bevor sie ihren Mann anrief und ihm mitteilte, dass es wider Erwarten sehr spät werden würde (ob er denn sein Abendessen im Kühlschrank gefunden habe?); bevor sie schließlich ein nachträglich wirkendes Contraceptivum einnahm. Der Sandwich-Vorschlag kam von ihr, und sie suchte sich, so glaube ich, wohlüberlegt aus, wer sich ihr von hinten und wer vorne näherte – ein wunderschönes exotisches Erlebnis. Die Magie des Augenblicks legte uns nahe, dass da mehr war in unserer Beziehung als wir uns vorstellen konnten: ich fühlte mich schön, ich fand auch Romuald schön (was mir bis dahin als absurd erschienen wäre) und DDD ohnedies. Ich weiß nicht, wie es den beiden anderen ging, aber allenfalls ganz tief in mir regten sich die Ressentiments der Konvention. Später in Indien verlor ich dann – ohne dass es meinem Lehrer ein besonderes An¬liegen gewesenen wäre – die letzten Bedenken gegen diesen außer¬gewöhnlichen Abend.

BRIGITTE:
Man sieht: Offenbarung findet in unseren Köpfen statt!

Der Meister schloss mit dieser Erkenntnis ein bis dahin unbekanntes Tor auf. Er mystifizierte nicht, er war der Ansicht, die Realität bedürfe keiner Zauberei, um zu beeindrucken, und die herausragende Stellung des Menschen an sich sei wesentlich impulsiver als seine Zuordnung in eine ethnische oder auch religiöse Sub-Kategorie. Gleichgültig ob ein Buddhisten- oder Christen- oder sonst ein Gehirn – während der Meditation sinkt die Aktivität im Orientierungsfeld, das für die Wahrnehmung der Grenzen des Selbst zuständig ist. Ruht dieses Feld, verschwimmen diese Grenzen gegenüber dem Rest der Welt: es kommt zur Begegnung mit dem vielbeschworenen ozeanischen Gefühl. Ist das sogenannte Absolute weniger wert, fragte der Meister, weil es zwangsläufig nur einen Weg in uns finden kann, und das sind die Nervenbahnen unseres Denkorgans?

BRIGITTE:
Ein recht glitschiger Realitätsbegriff, würde ich sagen: welchen Selektionsvorteil hätte dann Religiosität?

Das war nie die Intention dessen, der mich in den Buddhismus eingeführt hat: dort braucht es nicht jemanden, der einem Gnade erweisen muss, und insofern ist es auch gar keine Religion. Natürlich gibt es den menschlichen Zwang, immer irgendwelche Organisationen aufbauen zu müssen, aber gerade und vor allem in der Lehre Buddhas handelt es sich dabei um Fehlleitungen. Denn als ich meinen Meister fragte, was der höchste Sinn der heiligen Wahrheit sei, antwortete er: dass sie leer ist, nichts enthält und daher auch nichts Heiliges. Und er schickte mich auf jene Reise durch ein unermessliches geistiges Dickicht mit dem Auftrag, diese Wahrheit in mir selbst zu entdecken, denn nur dort konnte sie für mich persönlich relevante Spuren hinterlassen haben!

BRIGITTE:
Wie Buddha höchstpersönlich wollte er also gar nichts sagen…

… ließ sich nur (wie Siddharta Gautama formulierte) aus Barmherzigkeit herbei, ins trügerische Meer der Worte einzutauchen, obwohl es ihm zutiefst widerstrebte. Wenn er es tat, dann nur unter der Voraussetzung, dass seine Worte als Handlungsanleitung verstanden und nicht als Glaubenssätze missbraucht wurden. Er versah quasi die Realitäten in meinem Inneren mit Aufschriften: das Leid beschriftete er mit „Versteh’ mich!?, die Begehrlichkeit, die das Leid herbeiführt, mit „Lass mich los!?, das Ende des Leides mit „Verwirkliche mich!? und schließlich den Weg zur Verwirklichung mit „Übe mich!?

BRIGITTE:
Weiters keine erschütternde Einsicht in eine metaphysische Wahrheit, keine Erfahrung exklusiven, esoterischen Wissens?

Man muss nichts Besonderes sein, um diesen Weg zu gehen – man kann allerdings sehr weit kommen, wenn man nur will. Man darf auch zwischendurch einmal anhalten, ohne das bis dahin Gewonnene zu verlieren. Was du findest, findest du ausschließlich in dir, welche Intensität oder welches Tempo du auch vorlegst.

BRIGITTE:
Und du lernst offensichtlich, andere einfach zu akzeptieren: mit dem, was wiederum sie bis zum Moment eurer Begegnung in ihrem Inneren zutage gefördert haben.

Amen!

BRIGITTE:
Du lernst, dass eine Frau, die du gut zu kennen glaubst und als ein wenig bieder einschätzt, obwohl sie dir schon lange das Gegenteil signalisiert, einer Ménage à trois nicht abgeneigt ist, und dass dein Freund, den jeder für gefühlskalt hält, weil er wie selbstverständlich nimmt und niemals gibt, auch seinen Punkt hat, an dem man ihn aushebeln kann…

– – – – –

BRIGITTE:
Am Ende dann, nachdem sie sich frisch gemacht hatte, eröffnete DDD den beiden Männern – die ausgepumpt dalagen und wieder sehr genau auf körperliche Distanz zueinander achteten, wiewohl sie zu müde waren, um aufzustehen, zu duschen oder sich gar anzukleiden –, dass sie alle Halbgeschwister seien: nach ihren Recherchen war Romualds Vater auch von DDDs und Johannes’ Mutter erhört worden, und das nicht ohne Folgen. Der Schock durchbrach die physische Erschöpfung ihrer Tandemliebhaber! Konnte man es einfach glauben? Sollte man nicht lieber Beweise fordern? Was mussten die Konsequenzen dieses neuen Wissens sein – insbesondere welche Neuorientierung ergab sich zwingend daraus innerhalb der Dreiergruppe, aber auch außerhalb und vor allem zu den Vätern, die keine waren? Und natürlich die alles überschattende Frage, warum es so gekommen war, diesseits der buddhistischen Gelassenheit, die du später so sehr propagiertest.

Grafik 5.1

Eine kleine Erklärungshilfe konnte DDD anbieten: Romis Vater, der Alte Romuald, gehörte (wie sein Sohn – wer könnte das besser beurteilen als du, Brigitte!) nicht zu den Männern, die im Umkleideraum des Fitnesscenters von den anderen Kerlen ausgelacht werden. Wenn ihr wisst, was ich meine, fügte DDD hinzu.

Wir wussten es, und dennoch blieb dieser Befund nur ganz vage zwischen uns stehen, undeutlich verknüpft mit den Erfahrungen der letzten Stunden. Ich war am besten dran. Aus der Gegenwart war ich in die Vergangenheit zurückgekehrt und hatte sie – entgegen Berenices diesbezüglichen Vorhaltungen – verändert, wenn auch nur um Nuancen, während DDD und Romuald die Situation als dimensionlose Jetztzeit erlebten, in der sie gleich Statisten gefangen waren.

504

In Washington gab es tatsächlich jemanden, der alte Geschichten nicht vergessen konnte. Alex‘ laienhafter erster Assistent etwa, den man schon vor Eintritt der Generalin in das Show-Unternehmen abserviert hatte, war noch von Colonel Kendick für CLONSCO angeworben worden, doch dieser konnte dann bekanntlich nicht mehr viel für den Neuling tun. Nachdem Ray seine Tolpatschigkeit abgelegt hatte, war er in der Organisation rasch aufgestiegen. Es gab in der Ära nach Heather Skelton eine steilere Hierarchie und dafür mehr Delegation nach unten: nur so ist es zu verstehen, dass Major Ray Kravcuk als Department Head in vielerlei Hinsicht das machte, was sich die Generalin selbst vorbehalten hatte – vor allem die Projektion der US-Bedrohungsszenarien für die nächsten 25 Jahre fiel in seine Zuständigkeit.

Seine Devise hinsichtlich der Langfristszenarien war einfach. Back to Earth! im wahrsten Sinne des Wortes. Nichts mehr über angebliche Angriffe aus dem Kosmos aus einem obskuren Paralleluniversum! Diese seltsame Habilitationsschrift einer nichtexistenten Person – Papierkorb! Finanzierung merkwürdiger akademischer Spinner – gehört der Vergangenheit an (wie gut, dass uns jemand die Mühe abgenommen hat, die Kouradraogos, Migschitze, Ivanoviche und Schreiners zu entsorgen)!

Ray Kravcuks Zukunftsperspektiven befassten sich mit realer Geopolitik. Da waren zuerst die USA selbst, die in zwei bis drei Jahrzehnten durch die Aufnahme Kanadas, Großbritanniens, Australiens und Neuseelands als neue Bundesstaaten der Union gewachsen sein würden, um im Kernland das weiße angelsächsische protestantische Element zu stärken. Weiters dann die diversen Hinterhöfe respektive Armenhäuser des amerikanisch dominierten Territoriums: Lateinamerika, Kontinentaleuropa inklusive der russischen Westprovinzen sowie ein Teil von Afrika – sie alle würden die Anmaßung der Machtzentrale am Potomac River und vor allem die wirtschaftliche Ausbeutung von Menschen und Ressourcen durch die US-Konzerne bereitwilligst akzeptieren: voll Angst vor der allgegenwärtigen gelben Gefahr.

Grafik 5.2

China versprach in den nächsten zweieinhalb Dezennien eine Wachstumsstory zu bleiben: eine zwar eingedämmte, aber mit einem Prozent pro Jahr noch immer dramatische Bevölkerungszunahme, dadurch bedingt Engpässe bei Nahrungsmitteln, Rohstoffen und Energie sowie bei Grund und Boden schlechthin. Blickte man so lange in die Zukunft, würde die Politik der USA sich nicht mehr auf ein passiv betriebenes Containment der chinesischen Macht beschränken können, sondern mit dem Riesenreich ein geplantes und geordnetes Arrangement suchen müssen. Ray Kravcuks Brainstorming Sessions mit seiner Gruppe ergaben zuletzt ein Hauptszenario, das ich prompt Sir Basil überbrachte. Ich war eine seiner wesentlichen Informantinnen in Washington, seit er mich bald nach dem Abenteuer mit den vier Wissenschaftlern umgedreht hatte.

SIR BASIL:
Trudy – was sie mir brachte, bedeutete neben dem Informationswert auch immer jede Menge Amusement. Vor allem die Art und Weise, wie Kravcuks komplexe und im Prinzip sehr eindrucksvolle Gedankengebäude zustan¬dekamen, mutete mehr als skurril an. Sein Department war nämlich sehr klein, bestand neben ihm und der lieben Trudy (in Wien lichtblau) nur noch aus der lieben Amy (pink) und der lieben Pussy (neongrün). Besonders die beiden Letztgenannten hatte Ray sich wohl nicht so sehr zur Hebung der intellektuellen Kapazität geholt, sondern um ihre weibliche Intuition zu nutzen und auch all das, was sie (während sie zu ganz anderem dienlich waren) von ihren hochrangigen Bekannten aufgeschnappt hatten. Für mich bedeutete das Engagement der drei jungen Damen durch CLONSCO eine potentielle Gefahr, die ich allerdings durch die Doppelagentenfunktion Trudys neutralisieren konnte. Ein vielleicht unbedeutendes Detail am Rande: Rays Mitarbeiterinnen mussten blond sein – so blond wie nur möglich.

Das sogenannte Hauptszenario hatte es wirklich in sich. Um zu verhindern, dass China sich in Form eines Verzweiflungsaktes all das holte, was es so dringend brauchte, mussten die USA partiell zurückweichen und dem Kontrahenten freiwillig eine bestimmte Quote der Weltressourcen abtreten.

Nehmen wir als Beispiel das Erdöl. Mehr und mehr, so Ray, würden die Schlitzaugen von diesem Rohstoff brauchen und nicht mehr aus den ihnen heute zugänglichen Quellen decken können. Daher die Idee, Amerika aus den Reserven des ostpazifischen und des atlantischen Raums zu versorgen und China à la longue den Mittleren Osten zu überlassen. Es versteht sich jedoch von selbst, dass dies kein Geschenk ohne Hintergedanken sein sollte – im gleichen Moment würde Peking ja plötzlich die Verantwortung dafür haben, in dieser Region Ruhe zu schaffen und zu halten, wozu man aus heutiger Sicht nur gratulieren konnte.

SIR BASIL:
Wie beim Erdöl wurden im Kravcuk-Szenario auch alle anderen Aspekte der finalen Aufteilung der Erde diskutiert: Trinkwasser, industrielle Kapazitäten, Fischereizonen, Bergbaugebiete, landwirtschaftlich nutzbare Flächen – und last but not least natürlich Menschen, Menschen in großen Zahlen, Arbeitskräfte, Konsumenten, Soldaten. Konsequent zu Ende gedacht, bedeutete das nichts anderes, als aus der Oberfläche des Globus ein so großes Stück herauszuschneiden, dass die Chinesen damit mehr als zufrieden sein konnten – eine Idee, die dem Selbstverständnis des Reichs der Mitte sehr entgegenkommen musste. Ray und seine Blondinen zogen entschlossen diese mögliche Grenzlinie zwischen den beiden Kolossen und definierten zugleich an diversen Stellen mögliche Verhandlungspakete, die später noch detailliert zu klären waren.

Der Limes (in Anlehnung an das altrömische Vorbild, aber diesen Begriff würde man dem offiziellen Washington, allen voran dem Präsidenten, erst erläutern müssen), dieser Limes also begann am Nordpol, verlief von dort genau auf dem 75. Meridian und sodann entlang des Ural-Gebirges (Sibirien hatten wir ohne Umschweife als neues Siedlungsgebiet für die chinesischen Massen reserviert). Danach markierte Kravcuks Rotstift den Ural-Fluss und weiter – unbeeinsprucht – die Nordküste des Kaspischen Meeres bis zur Wolgamündung. Dann allerdings brach die erste Diskussion los (über den Wert der Brückenkopffunktion der Türkei versus die Probleme, die man sich damit aufhalsen würde), wobei wir uns darauf einigten, das Land ebenso wie Georgien und Armenien vorerst bei Amerika zu belassen, aber verhandlungsbereit zu bleiben.

Leicht verunsichert zeichneten wir einfach eine Gerade von Zypern zum Golf von Guinea: es würde noch eine Menge Recherche bedeuten, hier Klarheit zu schaffen, aber wir hatten dafür – angesichts unseres 25-Jahres-Horizonts auch noch genügend Zeit (Israel zum Beispiel war letztlich in strategischer Hinsicht viel zu teuer, hatte aber eine hervorragende Lobby in der politischen Kaste der USA). Ohne Probleme umrundeten wir das Kap der Guten Hoffnung und Madagaskar (wäre nett, wenn man die Insel haben könnte!) und landeten auf Diego Garcia mitten im Indischen Ozean. Von diesem Punkt weg eröffneten sich drei sehr divergente Ansätze, nämlich 1. die Grenze unter Inanspruchnahme der südostasiatischen Inselstaaten und Japans geradewegs in Richtung Nordosten bis zu den Alëuten zu ziehen und dann der Datumsgrenze zurück zum Nordpol zu folgen; 2. sie genau nach Osten zwischen Australien und Neuguinea hindurch bis in den Raum Samoa und von dort wieder direkt zum Pol verlaufen zu lassen; 3. einen sehr schwer argumentierbaren Mittelweg zu gehen.

Ray neigte dazu (und so beschlossen wir das auch), den Chinesen das ersehnte Taiwan auf dem Tablett zu servieren, aber auch die Japse loszuwerden, die früher oder später doch Schwierigkeiten machen und sich zur asiatischen Sache hingezogen fühlen würden – auf die übrigen Territorien kam es uns dann gar nicht mehr so genau an. Bloße Verhandlungstaktik würde das am Ende sein: einige der großen Sunda-Inseln oder die Philippinen zu nehmen, wenn China sich nicht darauf versteifte – warum nicht?

SIR BASIL:
Der nächste Schritt war ein großer und überstieg an und für sich die Kompetenz eines Majors bei weitem. Meine Vermutung war (und so hätte ich es anstelle von Kravcuks Vorgesetzten auch gemacht), sie schickten ihn ohne Deckung los, und für den Fall eines Scheiterns seiner Mission oder auch nur der leisesten Indiskretion würde es ihn allein den Kopf kosten – niemand sonst hätte etwas davon gewusst, am allerwenigsten die politische Führung: sorry, Freunde, der Alleingang einer niedrigen Charge.

Ray war nicht naiv genug, um das als Fait accompli zu schlucken. Obwohl ihm klar war, dass er sich als Department Head der Verantwortung nicht ganz würde entziehen können, versuchte er doch, seinen Kopf irgendwie aus der Schlinge zu halten, und so ging vorerst ich nach Peking. Mein Gesprächspartner dort war Hong Wu Zhijian, der Leiter des zentralen Planungsstabes der chinesischen Regierung, so zumindest übersetzte Miss Dan Mai Zheng den Namen der Organisation, der im Original sicher so ähnlich wie „Das Fischen in den Strömen der Zukunft? lautete.

Ich kam mit den beiden gut weiter – ihre Sicht der Dinge war auf dieser unserer Ebene bemerkenswert ähnlich, und ich nahm ohne Ressentiments zur Kenntnis, dass es natürlich im Detail abweichende Vorstellungen der anderen Seite über die Grenzziehung gab. Diesbezüglich legten wir unsere Karten nicht auf den Tisch, zumal wir uns darüber einig waren, dass man den politischen Instanzen beider Länder noch genügend Verhandlungsspielraum lassen müsste. Leise Zweifel hegten wir allerdings übereinstimmend hinsichtlich des Willens unserer jeweiligen obersten Führer, diesen wirklich großen Wurf zu kontrahieren und dann konsequent umzusetzen.

SIR BASIL:
Als mich Trudy, abweichend von unserem sonstigen Informations-Geber-Nehmer-Schema um meine Meinung dazu fragte (und mich ausnahmsweise in einer bereitwilligen Stimmung vorfand, um darüber zu reden), musste ich etwas weiter ausholen. Ich kannte natürlich das Gremium hinter dem US-Präsidenten, das entsprechend der momentanen Lobbying-Konstellation die wahren Entscheidungen fällte, und ich hatte auch gewisse Vorstellungen von den entsprechenden Verhältnissen in Peking, die man sich durchaus nicht so einfach ausmalen sollte, wie dies üblicherweise geschieht. Die beiden in Wahrheit vertragsschließenden Grup-pierungen mussten vom Charme des Kravcuk-Entwurfs äußerst beeindruckt sein – waren sie aber bereit, ihn wirklich in der erforderlichen Großzügigkeit durchzuziehen? Konnten sie (und hier waren die presbyterianischen Fundamentalisten in Washington wesentlich anfälliger als die agnostischen Pragmatiker in China) der Versuchung widerstehen, unsinnige Propagandaschlachten zu führen, die ein derart diskretes Vorhaben gründlich zum Scheitern verurteilen würden? Und als letzte, ganz entscheidende Frage: Würde man je in der Lage sein, nüchtern und ohne innere Emotionen für den jeweils anderen den Verbündeten-Schreck zu spielen, um die beiden Blöcke endgültig und unwiderruflich zu amalgamieren? Wer sonst als ein neuerlich atombombendrohendes Amerika konnte Japan dauerhaft in die Arme Chinas treiben, wer außer die realistische Drohung von wahren Menschenfluten konnte die europäischen Verbündeten der USA disziplinieren?

In dieser Plauderstunde habe ich sehr viel von Sir Basil gelernt, und ich bereute es weniger denn je, zu ihm übergelaufen zu sein. Sollte es irgendwann zu einer Neuauflage des Gesprächs mit Mr. Hong und der reizenden Miss Dan (die mich anlässlich meines nächsten China-Besuchs auf einen Einkaufsbummel durch die luxuriösen Läden von Uptown Shanghai einlud) kommen, hätte ich nunmehr einiges an Themen aufzuwarten. Vielleicht irritiert mich dann auch die Tatsache weniger, dass „Nennen-Sie-mich-Zhijian? ununterbrochen knapp an an mir vorbei in den Spucknapf zielte.

Und wer weiß, gestattete ich mir einen weiteren Gedanken, der für viele nicht in einen attraktiven Blondkopf passte, vielleicht konnte ich Major Kravcuk eines Tages mit bemerkenswerten Ergebnissen ausbooten. Cheltenham würde es gefallen, und ich konnte sicher damit rechnen, dass er mir jede Unterstützung dabei gab.

SIR BASIL:
Mir kam das alles äußerst gelegen: Die angestrebte Weltordnung fand meinen Geschmack. Sie machte Sinn. Sie behinderte meine sonstigen Pläne nicht – im Gegenteil, ich würde insgeheim dabei mitmischen und dort, wo es mir nötig schien, einige Parameter fixieren können: Trudy hatte sich ausgezeichnet profiliert und versprach eine ganz außerordentliche Investition zu werden, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich auch in diesen subtilen Sphären der Diplomatie nicht zu gut dafür war, ihre weiblichen Attribute gezielt einzusetzen. So etwa anlässlich einer Vorfühlmission bei Seiji Sakamoto, der zu jenem Dutzend Männer zählte, die hinter verschlossenen Türen die Geschicke Japans lenkten: Ich hatte Trudy zu dieser Reise geraten und ihr empfohlen, gegenüber ihrem Chef nicht viel Aufhebens zu machen. Für die Verwirklichung des Großen Plans ebenso wie ihrer persönlichen Interessen würde es entscheidend sein, Sakamoto und seine Runde von Anfang an positiv zu stimmen. Charlene und ich gaben Trudy Deckung – offiziell besuchte sie für eine knappe Woche ihre alte Freundin in Europa (Kravcuk war hellauf begeistert und bat sie, mich bei der Gelegenheit ein wenig auszuhorchen), in Wahrheit reiste sie schon wieder nach Fernost: 12½ Stunden hin, 12½ Stunden zurück und dazwischen etwas mehr als 24 Stunden Aufenthalt mussten eigentlich reichen.

Seiji Sakamoto empfing mich in seinem Penthouse im 30. Stock eines firmeneigenen Hochhauses. Der Raum, in den ich von zwei schwarzgekleideten Yakuza-Kriegern geführt wurde, entpuppte sich als riesiges Badezimmer mit einer monströsen Wanne aus Marmor, direkt an die Fensterfront grenzend, sodass man das Gefühl haben musste, über der Bucht von Tokio zu schweben.

Baden Sie mit mir, meine Liebe, lud mich mein Gastgeber ein, entspannen Sie sich etwas von der anstrengenden Reise. Als ich etwas zögerte (obwohl mir sein Angebot in diesem Moment tatsächlich als sehr verlockend erschien), bezog er dies auf die martialischen Tätowierungen, die seinen gesamten Körper, ausgenommen Gesicht und Hände, bedeckten und die mir, wie er vermutete, etwas Angst einjagten. Das ist weiter nichts, nur die Insignien, die mich als Oyabun meines Klans ausweisen, im Prinzip ist es ein Bilderbuch meiner sogenannten Heldentaten.

Ich schreckte mich in Wirklichkeit gar nicht (was hätte mich nach meinen Erfahrungen mit den Absonderlichkeiten neurotischer amerikanischer Politiker noch abstoßen sollen?), sondern legte ungeniert ab, wie wir Pfadfinderinnen es tun, wenn es ans Schwimmen geht: die erste Runde hatte ich für mich entschieden. Allerdings hatte Seiji-San noch mehr auf Lager. Die beiden Yakuzas, die mir interessiert zugesehen hatten, ohne mich deswegen in Verlegenheit bringen zu können, traten, als ich in der Wanne saß, mit einigen raschen Schritten heran, packten mich von hinten und drehten mir die Arme auf den Rücken. Für wen arbeiten Sie? fragte mich ein weiter gut aufgelegter Sakamoto lächelnd.

SIR BASIL:
Trudy hätte nicht besser reagieren können, wenn sie von Anfang an in meine Schule gegangen wäre und nicht erst seit relativ kurzer Zeit unter meinen Fittichen stand. Sie verbiss ihren Schmerz und lächelte zurück: Ihre Gorillas lassen mich auf der Stelle los und ich verrate Ihnen, wie Sie vom Objekt zum Subjekt eines gewaltigen Deals werden können, Big Sak! Und – nachdem er die beiden wütenden Männer mit einer Handbewegung aus dem Raum gewiesen hatte – entwickelte sie ihm das auf unser aller restliche Lebenszeit ausgelegte Weltaufteilungsmodell.

So wie ich es Sakamoto gegenüber tat, hatte Sir Basil die Sache nicht präzisiert, aber ich glaubte ihn genau verstanden zu haben. Noch gab es zur Zeit dieses Gesprächs jenseits der ideologischen Bindungen ein Wettrennen zwischen Japan und China um die Vorherrschaft in Asien. Noch wäre jeder japanische Premier gestürzt worden, hätte er diese Fiktion nicht aufrechterhalten, obwohl man genau wusste, dass die Sache für Tokio längst verloren war. Zu stark war der Konkurrent bereits auf politisch-militärischen Gebiet geworden, und dass er auch wirtschaftlich überholen würde, war eine Frage der Zeit. Ich stellte Sakamoto für sein Land die Alternativen vor Augen, entweder ein schäbiger Außenposten des amerikanischen Imperiums zu werden oder als intellektueller und finanzpolitischer Fokus des chinesischen Teils der Erde zu reüssieren. Ich kehrte körperlich unversehrt (nur gebadet) und mit einem positiven Bescheid nach England zurück.

Weiter in Washington behielt ich die Causa Japan selbstverständlich für mich. Das fiel insofern nicht weiter auf, als Rays Truppe (plötzlich ihrerseits mit einem Back-to-Earth-Befehl konfrontiert) den Auftrag bekommen hatte, eine aktuelle Analyse der allgemeinen Wirtschaftslage durchzuführen und auf deren Basis die finanziellen Möglichkeiten der USA für eine ganze Reihe politisch-militärischer Eingriffe im Mittleren Osten zu evaluieren. Bei meiner Ankunft war Kravcuk noch immer außer sich über so viel Unsinn, sah er doch jede Beeinträchtigung seines Lieblingsprojekts als persönliche Beleidigung an. Amy und Pussy hatten alle Hände voll zu tun, um seine Laune wieder zu heben – die beiden erzählten mir, dass er sogar, wenn sie gerade auf der Couch im persönlichen Bereich seiner Büroräume besonders nett zu ihm waren, mittendrin aufsprang und brüllte: Diese Idioten, jeder Dollar, den sie dort hineinstecken, ist verschwendet! Und: Längst könnten chinesische Truppen und Kader beginnen, sich mit den Verhältnissen am Persischen Golf auseinanderzusetzen – es würde uns keinen müden Cent mehr kosten, im Gegenteil, wenn sie sich das nötige Geld am westlichen Kapitalmarkt besorgen müssten, könnten wir noch daran verdienen!

Er ist schon ein großer Stratege, sagte Pussy leise zu mir – aber ein lausiger Liebhaber, flüsterte Amy ergänzend, während ich Ray schreien hörte: Das ist die Antwort, die man ihnen geben müsste, und dazu ist keinerlei Research notwendig, nur ein einziges Blatt gottverdammtes Papier, auf dem ein einziges gottverdammtes Wort steht.

Nichtsdestoweniger war er gezwungen, weit mehr als ein Blatt abzuliefern und dafür jede Menge Research-Arbeit aufzuwenden, und das alles rasch. Dessenungeachtet half uns, als wir uns darüber machten, unsere Routine. Wären unsere Auftraggeber belesener gewesen, hätten wir einen denkbar schlechten Stand gehabt. So aber konnte man ihnen eine Menge Allgemeinplätze, verpackt in einige griffige Phrasen, hinwerfen. Ich schrieb gleich mit:

Wir leben in einer Zeit, in der die paralysierten Investoren dem Markt so lange Liquidität entziehen, bis sie in diesem gigantischen Roulette die neuen Spielbedingungen zu kennen glauben und ihre Chips wieder zu setzen beginnen. Was spricht im Moment dagegen, dass dies bald der Fall sein wird?
1. Massive Überbewertung der Aktien – eine Phase ähnlich starker Unterbewertung sollte folgen.
2. Ungeheure Verschuldung sämtlicher wichtiger Volkswirtschaften – wenig Spielraum für Ausgaben, die einen Aufschwung alimentieren könnten.
3. Dies gilt für die Verbraucher… – die disponiblen Einkommen stagnieren vorerst.
4. … und für die Unternehmen – ehrgeizige Investitionsprojekte haben vorerst keine Perspektive.
5. Spürbare Eingriffe des Staates sind kaum zu erwarten – man ist höherenorts mit seiner Weisheit am Ende.

Fazit: Es ist das Szenario einer umfassenden Deflation!

SIR BASIL:
Und womit bekämpft man diese Situation (die den Machthabern in Washington ohnehin wohlbekannt war) am wirkungsvollsten? Natürlich mit einem Krieg! Kein Wunder, dass plötzlich niemand etwas vom Kravcuk-Projekt hören wollte, das mehr oder weniger eine unaufgeregte Begradigung von Grenzlinien und damit die automatische Selbstauflösung von Konfliktherden zum Ziel hatte. Was man im Moment von Rays Braintrust brauchte, war wissenschaftlich er¬zeugtes Grünes Licht für ein oder zwei heiße Auseinandersetzungen, um die Wirtschaft selbst anzukurbeln oder jedenfalls die Inflation wiederzuleben und damit wenigstens eine Scheinkonjunktur zu produzieren. Arme Trudy – in was war sie da hineingeraten? Wann konnte sie (und wann konnte ich durch sie) wieder damit rechnen, Hong und Dan sowie vielleicht auch Sakamoto mit neuen Vorschlägen zu besuchen?

Sir Basil gab mir einen Rat, mit dem wir jedwede Anfrage vorerst zumindest verbal zufriedenstellen konnten. Antworten Sie, sagte er mir am Telefon (selbst bei unverschlüsselter Leitung würde niemand den Sinn seiner Worte deuten können): Wer sich als Erster diesem neuen Szenario stellt und konsequent handelt, hat schon gewonnen!

505

Dr. Julio Sanchez-Barzon, der schon lange nichts mehr von Cheltenham gehört hatte und auch nichts über den genauen Aufenthalt seiner Frau wusste, war in sein ganz normales Leben als Gynäkologe in Sevilla zurückgekehrt. Die Söhne standen auf eigenen Füßen, sodass es für ihn nun endgültig hieß: Bahn frei! Dazu gehörte unter anderem auch der Besuch eines Ärztekongresses in Perth. Stets auf Abenteuer aus, wollte er anschließend noch einige Tage bleiben, und so stieß er auf ALEX SKELTON’S MOST ADULT UNDERWATER EXCAPE SHOW. In Riesenlettern wurde auf eine Station der Australien-Tournee, organisiert von Gus und assistiert von Heather Skelton, hingewiesen. Allein die Ankündigung versetzte Don Julio in ein höchst angenehmes Kribbeln, das er in dieser Intensität mit fortschreitendem Alter nicht mehr so oft verspürte, wie er es sich gewünscht hätte.

Er kaufte sich ein Ticket für einen Tisch direkt an der Bühne in der Hoffnung auf beste Sicht und sollte nicht enttäuscht werden, zumal es sich ja hier um die schärfste Variante von Alex‘ Show-Palette handelte. Wie erinnerlich, wurde dabei nach einer ohnehin schon langen atemlosen Unterwasserzeit der Artistin durch die Mutter als Auktionarin (mittlerweile eingedenk des Rates der Tochter – je älter desto schamloser – in einem ganz winzigen Kostüm) noch eine Verlängerung versteigert, die das Ganze an die Grenze der Lebensgefahr führte.

Diesmal wäre es beinahe schief gelaufen. Der Doktor, der höchstpersönlich um 1000 Australische Dollar eine zusätzliche Minute gekauft hatte, musste Alex, als man sie bewusstlos an den Bühnenrand legte, eigenhändig ins Leben zurückholen, wobei das Glück der Artistin darin bestand, dass er nicht nur der einzige Arzt im Publikum war, sondern aufgrund seiner oftmaligen Gratwanderungen an der Grenze zur Scharlatanerie auch bestens prädestiniert war, ein kleines medizinisches Wunder zu tun.

Für Alex – die etwas später auf der Chaiselongue ihrer Garderobe, noch immer nass und noch immer fast unbekleidet, die Augen öffnete und Don Julio neben sich sitzen sah, flankiert von ihren Eltern – war es Liebe auf den ersten Blick. Dieser elegante, etwas geschniegelte Bursche repräsentierte für sie den Vater, den sie seit jeher entbehrt hatte, wohl wissend, dass es so einen für sie nur geben konnte, wenn sie seine hingebungsvolle Geliebte wurde. Sanchez wiederum fand in ihr ganz unerwartet sein ideales Spielzeug, für das er alles andere vergaß.

Bei so viel Stimmigkeit auf Anhieb legten Alex‘ Eltern ihr nichts in den Weg: mehr noch, sie waren glücklich, dass sie von heute auf morgen ihren riskanten Beruf aufgab, und nicht zuletzt auch darüber, dass sie am Ende doch noch den Richtigen gefunden hatte. Selbst der bedeutende Altersunterschied der Frischverliebten störte da nicht. Die ausständigen Engagements der Artistin wurden einvernehmlich gelöst, und auch Julio beschloss ziemlich abrupt, seine Karriere zu beenden sowie die Scheidung von seiner verschwundenen Doña einzuleiten. Dazu waren noch zwei oder drei Reisen erforderlich, die man bereits gemeinsam unternahm, doch dann schien alles geregelt, und die beiden zogen sich kurz entschlossen auf eine idyllische Insel namens Niue, östlich von Tonga gelegen, zurück.

In dem schönen großen Haus, das sie gemietet hatten, blieb kein Wunsch offen, und wenn Alex Lust hatte, schwimmen zu gehen, brauchte sie nur hinunter an den Strand zu laufen. Sogar wenn sie wieder einmal eine Anwandlung zum Tauchen überfiel, bestand die Möglichkeit, durch eine unter Wasser gelegene Öffnung im Riff das offene Meer zu gewinnen, obwohl sie wusste, dass Julio solche Aktivitäten mit Sorge beobachtete. Weniger störte es ihn, wenn sie (den Geliebten mit seinem geübten Werkzeug in sich fühlend) den Atem eine Weile anhielt und dann einen verstärkten Orgasmus erlebte, der auch ihm das Gefühl gab, der Wundermann für sie zu sein.

– – – – –

Der Sorge um ihren Nachwuchs enthoben, holten nun die Skeltons nach vielen Jahren ihre Flitterwochen nach, und sie taten es an Ort und Stelle, indem sie eine Reise ins Outback unternahmen, ganz stilvoll mit Jeep und Campingausrüstung – wollen doch sehen, brummte Gus vergnügt, was eine gediegene amerikanische Army- oder Navy-Ausbildung wert ist. Was er nicht wusste, war, dass Frau und Tochter ursprünglich nach Australien gedrängt hatten, weil sie die Nähe Berenices suchten (sie bekamen irgendwie davon Wind, dass sich die Walemira Talmai in ihre ursprünglichen Heimat begeben wollte). Alex hatte diesen Wunsch aufgrund der Ereignisse ad acta gelegt, Heather hingegen verfolgte ihn weiter. Dies war nicht zuletzt der Grund dafür, dass meine Meisterin und ich den Skeltons in der tiefsten Wildnis begegneten, durch die wir unserem Ziel zustrebten.

Begonnen hatte es damit, dass Berenice die schwierigste von den drei Missionen übernommen hatte (ohnehin besaß ich nur eine vage Vorstellung über die beiden anderen Expeditionen: dass Tyra verschwand, war mir zunächst gar nicht aufgefallen, und die Abwesenheit Murkys konnte schließlich ganz andere Ursachen haben). Dass die von mir Verehrte ausgerechnet nach Australien ging, wo sie noch immer als Staatsfeindin gesucht wurde, hatte mit ihrer mittlerweile immensen Sehnsucht zu tun, den Heimatboden wieder unter ihren Füßen zu spüren, denn wenn sie auch dazu in der Lage schien, vieles zu tun, was anderen verwehrt blieb – hier mochte sie jemand wie du und ich sein. Aber es steckte mehr dahinter, als ich mir zu erträumen gewagt hatte. Auf meinen vor Ewigkeiten geäußerten kühnen Wunsch, ihr näher zu sein als jeder andere, hatte sie als Voraussetzung für die Zustimmung ihres Geistwesens meine spirituelle Weiterentwicklung auf etwa ihr Niveau genannt – nur jemandem, der ihr ebenbürtig war, durfte sie sich hingeben, ohne ihre eigenen wundersamen Fähigkeiten zu verlieren. Die offensichtliche Unerfüllbarkeit dieser Forderung war bei mir zu schweigender Resignation geworden.

Nun aber lernte ich plötzlich, dass Berenices Sehnsucht meiner gleichkam und dass sie hoffte, mich bei einem brutalen Walkabout (bei dem sozusagen als Nebenbedingung außerdem die Pläne Chicagos und Cheltenhams verwirklicht wurden) so weit zu bringen, dass die Ahnen den Segen zu unserer Verbindung gaben. Deshalb konnten wir auch nicht die Mittel transzendentaler Raum- und Zeitreise nutzen, um zum ominösen Punkt 127° Ost / 24° Süd zu gelangen, sondern waren auf die konventionelle Fortbewegung der Ureinwohner angewiesen: zu einem Ziel, das geradewegs zwischen Gibson-Wüste und Great Sandy Desert lag.

In der Nähe von Port Hedland, wo Cheltenhams militärische Freunde uns abgesetzt hatten, wartete bereits ein Jeep, der uns in die etwa 100 km entfernte Yandeerra Aboriginal Reserve brachte. Es war fast Nacht, als wir dort ankamen. Auf einer kleinen staubigen Fläche standen einige Unterstände (jeweils drei Wände und ein Dach), dazwischen brannte ein kleines Feuer. Berenice ließ mich einfach stehen und betrat eine etwas abgelegene Hütte, und gerade als ich noch nachsehen, ihr etwas zurufen wollte, war meine volle Aufmerksamkeit darauf gerichtet, was mit mir selbst geschah. Ein älteres Paar, beide extrem dunkelhäutig, graues Haar, nur mit einer Art Schurz bekleidet, nahm mich mit ans Feuer und forderte mich in gebrochenem Englisch auf, alles Zivilisatorische, das ich auf mir trug, abzulegen.

Ein wenig sträubte sich mein Schamgefühl, aber der alte Mann meinte ruhig: Was willst du? Dein Hilfeschrei wurde erhört, wir haben dich gemeinsam gerufen, und nun ist es eine große Ehre für dich, hier zu sein und mit der Walemira Talmai zu gehen! Mach schnell, denn sie ist fast fertig!

Als ich selbst auch nur noch diesen Schurz anhatte, wurde grünes Buschwerk auf das Feuer gelegt, sodass dichte schwarze Schwaden aufstiegen. Ich wurde hinten und vorne mit dem Rauch befächelt und musste schließlich noch über das Feuer springen, um mich gründlich zu reinigen, wie mir erklärt wurde. Ehe ich mich’s versah, landeten Hose, Hemd, Unterwäsche, Schuhe, aber auch Schmuck, Ausweispapiere, Kreditkarten und Geldtasche im Feuer. Gerade wollt ich loslegen und meinem Unmut freien Lauf lassen – da kam sie!

Berenice wirkte viel schlanker als in England mit all dem Kleiderkram. Hier war es nichts als ein reich verzierter Gurt, der unterhalb des Nabels geknotet war, sodass seine breiten Zipfel zwischen ihren Schenkeln herabfielen. Auf ihrer schwarzen Haut spiegelte sich das Licht des aufgehenden Mondes, soweit die weißen Bemalungen das zuließen: Gesicht und Arme zeigten Punkte, Streifen und ganze Ornamente, auf dem Rücken und den Beinen waren Tierbilder zu erkennen. Dazu trug die Walemira Talmai einen phantastischen Kopfschmuck aus Papageienfedern in den buntesten Farben – sie war tatsächlich eine Königin ihres Volkes.

Als sie meinen Gesichtsausdruck sah, der zwischen Entrückung über ihre Erscheinung und Entsetzen (über die Tatsache, dass soeben mein Führerschein, die darin versteckte 100-$-Note sowie meine Armbanduhr verbrannten) schwankte, lächelte sie durch die Maske ihrer Würde und sagte schlicht: Ich bin’s doch nur, Brian, und wir haben soeben den ersten Schritt in unsere gemeinsame Zukunft gemacht. Du musst jetzt vieles neu beginnen, aber du bist nicht allein, denn auch ich muss lernen, zweigestaltig zu agieren und doch ein Wesen zu bilden, und das fällt einer Persönlichkeit wie mir schwerer als du es dir überhaupt vorstellen kannst. Einen weiten Weg, so erklärte sie mir, sei sie schon gegangen, von der erleuchteten Schamanin bis zur außergewöhnlich erfolgreichen Therapeutin westlichen Zuschnitts, und sei das eine geworden ohne das andere zu verlieren.

In diesem Augenblick reichte man ihr einen Teller mit Steinen, den sie mir hinhielt: Wähle gut, empfahl sie mir, einer ist nämlich darunter, der die Kraft hat, dein Leben zu retten. Ich griff zu. Offensichtlich hatte ich den richtigen erwischt, denn die beiden alten Leute und Berenice selbst lachten und klatschten in die Hände, und sie gaben mir den Namen Kleiner Steinjäger, denn in ihrem Volk wechselt man die Namen mehrmals im Leben nach den jeweiligen Zuständen und Befindlichkeiten. Ich musste viel später an diese Szene denken, als ich – fast am Verdursten – den Stein in den Mund nahm und er mich erfrischte, als ob ich aus einer frischen Quelle getrunken hätte.

Am frühen Morgen brachen wir auf, mit ganz einfacher Ausrüstung, und zunächst war’s wie ein Spaziergang – kein Problem, schon gar nicht für einen Ex-Ledernacken des US Marine Corps. Berenice (jetzt ohne Kopfschmuck und mit verblassenden Körperbemalungen) schritt zügig voraus, ich hinterdrein, die Temperatur war erträglich, sogar eine kühle Brise machte sich dann und wann bemerkbar.

Der Schmerz in den Füßen drang nur langsam ins Bewusstsein. Wie weit es sein mochte, ich konnte es mir ohnehin ausrechnen, war ja imstande, Landkarten im Gedächtnis zu behalten. Die Stacheln des Spinifex bohrten sich unbarmherzig in meine nackten Sohlen: wer immer dieses Zeug mit seinen messerscharfen Halmen zu den Gräsern gezählt hat, muss komplett verrückt gewesen sein. Einen Mondzyklus lang werden wir sicher unterwegs sein, antwortete Berenice auf die unausgesprochene Frage und verfiel dann wieder in tiefes Schweigen.

Die abgebrochenen Spitzen des Spinifex blieben in meiner Haut stecken, überall war Blut, aber wir gingen weiter, immer weiter, bis die Füße taub wurden. Nach langer Zeit unterbrach die Walemira Talmai die Stille: Lerne es zu ertragen, richte deine Aufmerksamkeit auf etwas anderes! Leichter gesagt als getan: es musste mittlerweile an die 50 Grad haben. Es gab keine deutliche Linie mehr zwischen Himmel und Erde. Mein Interesse wandte sich vorübergehend tatsächlich dem undefinierbaren Horizont zu, auch der Tatsache, dass Berenice manchmal ohne erkennbare Landmarken die Richtung wechselte (jeweils viel später erkannte ich, dass wir irgendeiner schwierigen Bodenformation ausgewichen waren). Mittlerweile konzentrierte ich mich jedoch wieder voll auf meine Füße, die sich rot und mit Blasen übersät zeigten: die kantigen Steine des Wüstenbodens hatten ein Übriges getan. Hin und wieder bekam ich einen Schluck Wasser.

Urplötzlich war es wieder Nacht geworden: Ich brauchte nur Platz nehmen wie ein Pascha und wurde von dieser Göttin in Menschengestalt bedient. Mit einem Stock, den sie in einer Holzkerbe drehte, machte sie Feuer, erwärmte Steine und legte diese in ein Gefäß mit Wasser – gewürzt wurde dieser Steintee, wie ich ihn insgeheim nannte, mit verschiedenen Kräutern, und er schmeckte köstlich. Zu essen gab es ein Päckchen aus Blättern, das über dem Feuer geröstet worden war, mit einem Inhalt, den ich so genau gar nicht wissen wollte. Das Wichtigste für mich war aber die Behandlung meiner Wunden: ich wurde mit einer Creme aus Blattölen eingerieben, dazu sang Berenice eine beruhigende Melodie (ich entschuldige mich bei deinen Füßen, erklärte sie mir, sage ihnen, wie sehr wir sie beide zu schätzen wissen, und bitte sie, stark und widerstandsfähig zu werden).

Am Ende setzte sich die Walemira Talmai ganz eng neben mich, und mir wurde ganz schwindlig, obwohl ich begriffen hatte, dass ich noch nicht zugreifen durfte. Sie zeigte gegen den Himmel, der sich wie ein kobaltblauer, silbern gesprenkelter Baldachin über uns erstreckte. Erstmals in meinem Leben stellte ich mir die dringende Frage, was wohl dahinter wäre – Berenice bemerkte es und lächelte glücklich.

Es begann bitter kalt zu werden. Ich musste einen länglichen Graben ausheben, in den die Glut und die heiße Asche der Feuerstelle geschüttet und wieder mit Sand bedeckt wurden. Darauf legten wir uns eng zusammengekauert und versuchten einander warm zu halten, so gut es ging.

In aller Frühe wurden die wenigen Gegenstände, die wir mitführten, ein-gesammelt, und ohne Frühstück sowie auch ohne Proviant (die Koori verlas-sen sich darauf, etwas zu finden) ging es weiter. Wofür allerdings an diesem Morgen wie auch an allen folgenden Zeit blieb, war eine kleine Zeremonie, in der wir uns auf den bevorstehenden Tag konzentrierten und auch an alle Pflanzen und Tiere die Botschaft aussandten, dass wir vielleicht ihren Weg kreuzen und uns ihrer nach Bedarf bedienen würden.

Ohne dass ich imstande war, richtig die Tage zu zählen (so sehr glich einer dem anderen) erreichten wir endlich den Lake Disappointment, womit wir allerdings erst knapp mehr als die Hälfte unseres Weges zurückgelegt hatten. Inzwischen waren mir dicke Hornschichten an den Sohlen gewachsen, etwa im Aussehen von Hufen. Meine Haut war so dunkel geworden, dass ich nicht mehr richtig als Weißer gelten konnte, wenn ich auch hinter der Schwärze der Walemira Talmai zurückstand.

Die Enttäuschung, die der See jedem weither Kommenden seit jeher bereitet, besteht darin, dass er nur eine riesige Fläche getrockneten Salzes ist – frisches Wasser wird man hier vergeblich suchen. Diesbezüglich war ich aber bis dahin mit meiner erfahrenen Begleiterin ohnehin viel besser daran gewesen als die ersten Einwanderer, die diesen trostlosen Ort zu Gesicht bekommen hatten. Sie fand an allen erdenklichen Stellen Wasser, außerdem erlegte sie Kängurus, Vögel, Eidechsen, fand auch Samen, Nüsse und wildes Obst, sodass es nicht immer bei den gebackenen Maden des ersten Abends blieb.

– – – – –

Am Salzsee standen also plötzlich die Skeltons: Dass wir sie und sie uns nicht kannten, stimmte nur bedingt. Die Walemira Talmai wusste sehr wohl, mit wem sie es zu tun hatte, Heather Skelton wiederum äußerte zumindest die Vermutung, dass sie der Berühmtheit gegenüberstand, die durch die Vorstellungswelt ihrer Tochter gegeistert war. Ich selbst verhielt mich ruhig (die beiden sahen mir natürlich an, dass ich kein Eingeborener war, aber den Amerikaner wollte ich auch nicht gleich hervorkehren, und so sagte ich gar nichts, beschränkte mich auf Gesten). Berenice reagierte auf die Begegnung ebenfalls zurückhaltend – was sie sagte, konnte einerseits konkret, andererseits aber auch ganz allgemein interpretiert werden: dass sie mit vielen Menschen enge spirituelle Beziehungen pflegte, ohne ihnen je von Angesicht zu Angesicht gegenübergetreten zu sein.

BERENICE:
Am nächsten Tag trabten Heather und Gus im Eingeborenen-Outfit hinter uns drein. Ich hatte ihre demütige Bitte, uns folgen zu dürfen, nicht abschlagen können, da meine Stellung es mir gebot, jedem Suchenden das Tor zu öffnen, ihm zumindest die Chance zu geben, dem, wonach er sich sehnte, nahezukommen. Heather wünschte sich, ihrem Leben nach der nun sinnlos erscheinenden Karriere eine grundsätzliche Wende zu geben, und Gus stand neuerdings ohnehin immer kritiklos hinter seiner Frau. Die beiden hatten ohne Widerspruch alles hingenommen, sich derselben Prozedur unter¬worfen wie Brian und auch akzeptiert, dass sie auf dieser Expedition ihre Existenz in die Waagschale werfen mussten. Mochten sie auch später, wie vielleicht wir alle, in die Zivilisation zurückkehren, dann jedenfalls nur zu dem Preis, wirklich und wahrhaftig alles riskiert zu haben, und mit dem Siegel neuer Namen, die sie sich dabei würden verdienen müssen. Die richtigen Steine jedenfalls wählten sie aus dem Sortiment, das ich Brian hatte suchen lassen.

Nachdem Gus die gesamte Ausrüstung vernichtet hatte, darunter ein Funkgerät, Reservereifen, sonstige Ersatzteile, Werkzeug, Nahrung für acht Tage sowie ganz zu schweigen von dem, was seine Frau und er am Leib trugen – alles war mit Benzin übergossen und angezündet worden –, wollte er auch noch den Jeep in die Luft jagen, der die Skeltons sieben Tage lang über mehr als 1000 Kilometer von Perth bis hierher gebracht hatte (über Nallan Station, Bibingana Pool, Talawana Track und Well 26). Gerade als er Feuer an die Lunte legen wollte, die zum Tank führte, hörte man am Kamm der nächsten Düne eine helle Stimme: Den lasst mir – ich versündige mich nämlich nicht, wenn ich für den Rest der Reise einen fahrbaren Untersatz verwende!

Es war Tritos, einer von Anastacia Pa-nagous Androiden-Drillingen. Wie sich herausstellte, hatte die umsichtige Planung Cheltenhams ihn in der Nähe mit dem Fallschirm abspringen lassen, und nun war er zu Fuß unterwegs, seinen schweren Granatwerfer auf der Schulter.

BERENICE:
Mir war schon klar, dass er zur Unterstützung unserer vordergründigen Mission geschickt worden war, aber noch hatten wir etwas ganz anderes zu erledigen, und dazu konnte ich ihn keinesfalls brauchen. Unsere geistige Reise musste nämlich scheitern, wenn jeder meiner nunmehr drei Anempfohlenen und ich selbst stets ein bequemes Fahrzeug in der Nähe wussten. Ich befahl ihm daher, vorauszufahren und uns in der Nähe des Punktes X zu erwarten, sodass wir wieder losgelöst von allem marschieren konnten. Entlang der Nahtstelle der beiden tödlichen Wüsten führte unser Weg, und meinen Schützlingen schien langsam Hören und Sehen zu vergehen. Mit Gus und Heather mussten wir erneut die Anfangsschwierigkeiten bewältigen, doch auch Brian ging es nicht allzu viel besser. Am Himmel und in den Felsen begannen die Drei bemerkenswerte Bilder zu entdecken, was zumindest den Kleinen Steinjäger (endlich!) in den ekstatischen Zustand versetzte, der ihn mir näherbrachte. Vor heiligen Stätten erschauerten sie: Hügel, Schluchten, ausgetrocknete Wasserlöcher, vieles war gesegnet durch die geisterhaften Ahnen, aber auch durch das, was Menschen in der Nähe dieser Orte getan oder gesprochen hatten. Wie es seit tausenden von Jahren der Brauch ist, sang ich die Reise in hundertstrophigen Liedern, die uns die richtigen Maße lehrten und uns den präzisen Rhythmus von Gehen und Rasten erzählten. Über uns wölbte sich bei Tag pastellblau und wolkenlos die ungeheure Hitzeglocke, und der Sand spiegelte grell das Mittagslicht. Tiefste Kälte in den Nächten: Wir lagen zu viert eng aneinander gepresst in einer Doppel-69-Stellung. Trotz der enormen Ermüdung kamen dabei in unseren Körpern intensive erotische Gefühle auf, die wir jedoch nicht auslebten, sondern als anhaltende Spannung bis zum Morgen trugen, sodass wir relativ erfrischt erwachten. Am schlimmsten Tag, an dem ich kein Wasser fand und wir gezwungen waren, die magischen Steine in den Mund zu stecken und uns der Illusion des Trinkens hinzugeben, erreichten wir abends unser Ziel.

Weder von Tritos noch vom Jeep war irgendetwas zu sehen. Gus und ich gingen die Suche militärisch an: wir waren zu viert, daher konnten wir jeder in einer Himmelsrichtung beginnen und jeweils einen Quadranten des Geländes absuchen, indem wir über die Radien von einem zum nächsten konzentrischen Kreis gingen.

Grafik 5.3

Mir war es vorbehalten, die Katastrophe zu entdecken: das Wrack des Jeeps, den leergeschossenen Granatwerfer und Tritos selbst, von dem nicht viel mehr übrig geblieben war als ein Haufen Metall- und Kunststoffschrott. In seinem verbeulten Zentralspeicher war nicht einmal so viel Leben, dass er uns eine Botschaft übermitteln konnte.

Wir waren nicht imstande, aus den Spuren des Fundortes den Verlauf des Kampfes zu rekonstruieren. Der Android musste sich an dieser Stelle verschanzt und auf irgendjemanden schwer gefeuert haben. Hatte er die Angreifer vertrieben und geglaubt, sie losgeworden zu sein, während sie aber wiederkamen und ihn auslöschten? Wer waren diese Angreifer (immerhin musste hier auch mit dem Eingreifen der australischen Bundesbehörden auf der Jagd nach Berenice gerechnet werden, nicht nur mit der Sabotage des Chicago-Cheltenham-Projekts)? Wir fanden keine Antwort.

Statt dessen versammelten wir uns um einen Felsen, den die Walemira Talmai Devil’s Marble nannte. Laut unserer Anführerin war es höchste Zeit für die Erprobung dieser urzeitlichen Energiequelle. Gus und Heather Skelton fanden neben dem Jeep glücklicherweise noch ein ganzes Magazin für den Granatwerfer und stellten sich zur Verteidigung gegen allfällige neue Attacken auf. Berenice und ich knieten neben dem Stein und legten unsere Handflächen darauf. Ein ohrenbetäubendes Heulen – der Felsen schien sich zu öffnen. Eine phosphoreszierende Lichtsäule schoss gegen den Himmel und blieb ohne erkennbares Ende stehen. Wenn man bedenkt, hörte ich die innere Stimme der Walemira Talmai, dass auf der anderen Seite der Stern Delta Orionis steht!

Mir persönlich war nur wichtig, dass ich nun die Gewissheit hatte, meiner Geliebten würdig zu sein. Berenices Augen waren Bestätigung und Verheißung. Ich war glücklich – aber wofür wurden so viele Menschen getötet, und wofür waren schon so viele getötet worden?

506

Professor Pascal Kouradraogo (oder das, was von ihm übrig war: ein stets gut gelauntes, auf die Befriedigung seiner Alltagstriebe gerichtetes Geschöpf) wurde eines Morgens aus dem Halbdunkel des Behandlungsraumes im Bunker tief unter dem Hauptpalast des Tyrannen der Völker der Spiegelwelt ohne die gewohnte Dosis weggebracht, worauf er sich einige Zeit später – nun allein in seiner Zelle – in einer entzugsbedingten Katzenjammerstimmung wiederfand: Wo war er bloß, wie war er hierher gekommen, warum fühlte er sich so entsetzlich?

Das Letzte, woran er sich erinnern konnte, war ein Abendessen im Londoner Royal Grenadiers Hotel (dass er sich diesen Namen gemerkt hatte, erschien ihm nachgerade wie ein Wunder), verschönt durch ein tiefes Dekolleté und endlos lange Beine, einen äußerst höflichen und zuvorkommenden Gastgeber aus der britischen Oberschicht und – ja richtig, das Ganze war dann hemmungslos in Alkohol ertränkt worden: von dort an volle Gedächtnis-Funkstille. Allenfalls Erinnerungsfetzen an einen heiter-beschwingten Zustand, aber ohne jeden personellen, örtlichen oder zeitlichen Anhaltspunkt.

LIC:
(in der Stimmlage c““) Ich hatte mich zu diesem Zeitpunkt durch das Belüftungssystem der unterirdischen Festungsanlage vorgearbeitet, blickte gespannt auf den Wissenschaftler und versuchte, mir alles genau einzuprägen, um es später einerseits meinen Kameradinnen und Kameraden von der Gewaltlosen Lhik-Befreiungsfront, andererseits unseren Freunden vom anderen Universum berichten zu können, wie immer Letzteres auch vonstatten gehen mochte: technisch gesehen konnte ich es mir schon vorstellen, da ich die transzendentale Metaphorik des Pflanzenreiches beherrsche, die jener der paranormal veranlagten Vertreter anderer Lebensformen nicht unähnlich ist. Allerdings können Leute meines Schlages mit zu vielen Kontakten sehr leicht aus dem Gleichgewicht kommen, und ich wäre nicht begeistert, mich außer mit Anpan und der Schlange sowie mit dem Commander, Pif und der Prinzessin noch mit anderen fremden Existenzen auseinandersetzen zu müssen.

PK wurde plötzlich von heftigen Sehnsüchten überfallen – sie waren typisch für seinen Zustand und leiteten das krampflösende Ende einer langen Amnesie ein: er wollte wieder in Ouagadougou sein, an seiner ersten Universität; dann vermisste er seine Bücher, vor allem jene, die er selbst geschrieben hatte; dann seine Forschungsobjekte (die körperlosen Agenten seiner Advanced Artificial Intelligence-Projekte und den merkwürdigen Hausgenossen namens „Weißer Mann?); dann dachte er besonders schmerzhaft an die intimen Stunden mit Anastacia Panagou und ihrer automatischen Zwillingsschwester; erst ganz zuletzt fielen ihm seine Kollegen Schreiner, Ivanovich und Migschitz ein – nebulose Vorstellungen von deren Forschungsarbeiten stiegen in ihm auf, jedoch keinerlei Erinnerung an das Glücksrad, das drei von ihnen mit Amy, Pussy und Trudy betrieben hatten. Wo die anderen Professoren sich wohl aufhalten mochten? Er ging davon aus, dass sie nicht weit entfernt und in einer vergleichbaren Situation waren, denn warum wäre nur er allein aus dem Hotel weggebracht worden? Dass er sich außerhalb des eigenen Universums befand, realisierte Kouradraogo allerdings nicht.

LIC:
(in der Stimmlage c““) Der Augustus Maximus Gregorovius (in meinen Kreisen nannten wir ihn übrigens Icip Jitiji Cniciniri) stürmte in seiner raumfüllenden Art in die Zelle und fragte den Professor, ob er seinen Normalzustand bereits wieder erreicht habe. Iadapqap Jirujap Dlodylysuap kam allerdings nicht mit den Insignien seiner Macht, sondern als McGregor, der Kaufmann. Er verheimlichte PK glatt, dass er auf geradezu abenteuerliche Weise in die Spiegelwelt gelangt war, sondern ließ ihn zunächst in dem Glauben, dass er mit einem Raumfahrzeug in ein anderes Sonnensystem seines eigenen Universums gebracht worden sei – und der Diktator machte das (was niemanden, der ihn kennt, wundern dürfte) sehr überzeugend. Es gibt gültige Verträge mit Ihnen und den anderen drei Wissenschaftlern, hörte ich ihn mit seiner durchdringenden Quengelstimme (die für uns Lhiks einer Art Folter gleichkommt) sagen: Ich hoffe, Sie haben nicht vergessen, wie stolz Sie auf mein Angebot reagiert haben! Erinnern Sie sich doch – all die Leute, die zu Ihrer Verabschiedung gekommen sind – Migschitz, Ivanovich, Schreiner und Sie haben noch gewinkt – alle waren äußerst gerührt! Man konnte die Szene direkt vor sich sehen, und dennoch: kein Wort davon war offenbar wahr.

Kouradraogo ergab sich schließlich, vor allem da er die brutale Ungeduld seines Gesprächspartners empfand, in sein Schicksal – er war zu müde, um Widerstand zu leisten: Ja, sein Normzustand sei wieder erreicht. Ja, er sei bereit, seinen Vertrag zu erfüllen. Ja, er sei ganz begierig, seine Aufgabenstellung kennenzulernen. Ja, und auch die der anderen Professoren.

Kaum hatte er das ausgesprochen, als der Tyrann auch schon von innen gegen die Tür schlug, worauf diese sich öffnete und die drei anderen Wissenschaftler hereingestoßen wurden. Wiedersehensfreude? Nun denn, ein wenig – schließlich hatte man das Gefühl, einander länger nicht gesehen zu haben. Auch wenn sich das Quartett normalerweise immer eifersüchtig beäugt hatte, auch wenn in früheren Zeiten jeder den anderen ihre Honorare neidete – hier jedenfalls, fern der Heimat, empfanden sie eine Art Solidarität. Diese steigerte sich ungemein, als ihnen der Diktator, noch immer in der schmucklosen Gestalt des Kaufmanns, plötzlich eröffnete, wo sie sich wirklich befanden: viel viel weiter weg von zu Hause als sie dachten!

Es blieb ihnen jedoch keine Zeit für Betroffenheit.

LIC:
(in der Stimmlage c““) Kouradraogo sollte Roboter produzieren – ich sah ihn insgeheim lächeln über die unpräzise Ausdrucksweise McGregors: was wollte dieser denn genau? Systeme oder richtige körperliche Einheiten? Dlodylysuap hatte da etwas aufgeschnappt im jenseitigen Universum, und ohne es genau definieren zu können, begehrte er es auch. Ich musste lächeln und an unsere Anpan denken: wenn er wüsste, wie nahe er einem solchen Wunderwerk gewesen war! Er aber sah bloß nebulose künstliche Arbeiter und Soldaten, die ihm all das ermöglichen sollten, wozu seine lebenden Völker entweder nicht willens oder nicht in der Lage waren. Kouradraogo quittierte das Ansinnen mit einem zackigen Jawohl!, wohl wissend, dass er das Gewünschte nicht würde liefern können, nicht so sehr deshalb, weil er in Wahrheit nicht der Beste seiner Branche war, sondern weil in dieser noch androidenlosen Welt vermutlich jegliche Hilfsmittel fehlten. Ich machte einen ersten Versuch, mit ihm Kontakt aufzunehmen: Zeit gewonnen – alles gewonnen, piepste ich. PK verstand zwar meine Sprache nicht, aber den Sinn meines Zurufs aus dem Schacht der Klimaanlage schien er zu begreifen, anders als sein Auftraggeber, dessen polternder Art niemals einige leise hohe Flötentöne aufgefallen wären.

Migschitz sollte verbesserte ökonomische Voraussetzungen für das Spiegeluniversum schaffen. Nachdem er einmal akzeptiert hatte, dass er hier war, faszinierte ihn die Aufgabe, die vorerst wenig Arbeit, sondern gemütliches Herumreisen und Datensammeln bedeutete. Zwar versuchte McGregor auch bei ihm verbal Druck zu machen, erhöhte aber damit bei dem erfahrenen Wissenschaftler nur umso mehr die Gewissheit über die Ratlosigkeit seines Auftraggebers, die es routiniert auszunützen galt. Dem Tyrannen – der vor Nervosität geradezu vibrierte – blieb nichts anderes übrig, als sich eine kleine Vorlesung anzuhören: dass man ein mathematisches Modell bauen müsste, mit dessen Hilfe erst eine Politikfolgenabschätzung vorgenommen werden könnte; dass für dieses Modell eine möglichst brauchbare Abstraktion der Realität gefordert wäre, was wieder bedeutete, in eben dieser Welt zuerst Zeitreihen zu gewinnen, mit diesen wiederum Schätzgleichungen aufzustellen und damit die Funktionsweise der Spiegelweltwirtschaft zu simulieren. Migschitz lächelte königlich in sich hinein bei dem Kauderwelsch, den er dem Diktator zumutete – wie die anderen Professoren ahnte er zumindest langsam, wen er da vor sich hatte.

Ivanovich wurde die Transformation des sogenannten Planeten Nr. 4 in einen bewohnbaren Ort anheimgestellt, analog zu seinen phantastischen Ideen zum Terraforming des Mars. Planet Nr. 4, der von Staubwüsten bedeckt war und lediglich eine hauchdünne Atmosphäre besaß, kreiste zwischen Lics Heimat und der nahezu unbewohnbar gewordenen Ursprungswelt des Tyrannen, die man in seiner Sprache Olxo nannte.

LIC:
(in der Stimmlage c““) Ivanovich sagte nicht direkt nein – das hätte er auch auf der Erde im Alpha-Universum niemals gegenüber einem potentiellen Geldgeber getan. Im Gegenteil, die sich bietenden Optionen wurde von ihm technisch sehr optimistisch bewertet, abgesehen von der selbstverständlichen Tatsache, dass das Projekt lange dauern und Unsummen verschlingen würde. Jedenfalls musste es viel schneller gehen, befahl McGregor – dann könnte es laut Ivanovich auch wesentlich mehr kosten (man würde sich neue Verfahren einfallen lassen müssen) – wie aber, warf Migschitz vorsichtig ein, sollte die marode Wirtschaft in kurzer Zeit ausreichende Profite für derlei ehrgeizige Pläne abwerfen (diesen leisen Zweifel glaubte er sich auch ohne Primärerhebungen und Modellberechnungen leisten zu dürfen). Das ist Ihr Problem, Mann! bellte der Diktator, indem er seine Maske praktisch fallen ließ. Überdies, so fügte er etwas leiser hinzu, haben wir ja in der Person von Professor Schreiner einen hervorragenden Logistiker, der alles, was sonst mangeln sollte, durch hervorragende organisatorische Arbeit wettmachen wird. Ich fühlte selbst aus einiger Entfernung, wie auch Schreiner von heimlichen Lachkrämpfen heimgesucht wurde, nur Icip Jitiji Cniciniri merkte natürlich nichts und lauschte wie alle Großen, die sich nur zu bereitwillig von ihren Dienern blenden lassen, was der vierte Wissenschaftler sich im Rahmen seiner Obliegenheiten vorstellen konnte: eine Erhebung darüber, wie viele Einwohner Olxo weiterhin tragen könnte, eine schrittweise Verbesserung der Lebensbedingungen vorausgesetzt; wie viele Menschen in welcher Zeit auf Nr. 4 zu evakuieren waren; wie viele allenfalls auf künstliche Ausweichstationen zwischen den Planeten.

Hier mischte sich Ivanovich erneut ein und brachte seinen Lieblingsentwurf vor – die Suche nach weiter entfernt gelegenen besiedelbaren Himmelsobjekten, ein Betätigungsfeld und eine Geldquelle sondergleichen. Da war jedoch die Geduld des Tyrannen zu Ende: Starten Sie sofort, meine Herren! Erste Vollzugsmeldungen in vierzehn Tagen direkt an mich!

Er hörte nicht das mehr oder weniger unterdrückte Gekicher der vier Professoren, das überlagert war von Lics zierlichem Fiepen. Vielmehr trug er ihnen zum Abschied noch auf, nicht am Status des Planeten Jifihikxli, auf dem sie sich befanden, zu rühren: dieses Paradies der Eliten solle erhalten bleiben!

LIC:
(in der Stimmlage c““) Diese Anweisung des Diktators gab ich scherzhaft an meine Freundinnen und Freunde weiter, als ich mich wieder aus meinen vorgeschobenen Posten entfernt hatte und ihnen von den Ereignissen im Inneren des Palastes berichtete. Sein Wunsch wird uns Befehl sein, flöteten wir im Chor: Hauptsache, die Invasoren würden nicht mehr werden. Mit einer wesentlich größeren Zahl von ihnen, das war uns völlig klar, hätten wir unser Ziel, die Heimat auf friedliche Weise zurückzuerobern, begraben müssen. Unsere Mittel waren, obwohl im Einzelfall mehr als wirksam, eher qualitativer Natur – Massenvernichtungswaffen standen uns nicht zur Verfügung, ebenso wenig die Neigung, solche zu benützen.

Dementsprechend ging es auf Jifihikxli weiter: Die Professoren forschten, vermaßen, analysierten, planten, studierten, experimentierten, beobachteten, berechneten, machten die eine oder andere Expedition auf die anderen Himmelskörper, nahmen sich Zeit für ausgiebige Methodendiskussionen, ließen es sich dabei an Leib und Seele nicht schlecht gehen und Iadapqap Jirujap Dlodylysuap einen guten Mann sein, denn so sehr er sie auch immer wieder anzutreiben versuchte – sie machten ihm klar, dass Kreativität nicht portionierbar und damit nicht gleichmäßig über die Zeiteinheiten verteilbar sei. Selbst wenn er sie bei den Mädchen im Tempel seines Ruhmes vorfand und wütend zur Rede stellte, wiesen sie ihn in aller Ruhe darauf hin, dass hart arbeitende Gehirne auch einmal eine Entspannungsphase benötigten, und er war am Ende froh, wenn sie sich nicht an seiner neuen Favoritin vergriffen (die im übrigen der Prinzessin nicht das Wasser reichen und gegen die ungestillte Gier nach der Kurzzeitbekannschaft Anpan nicht konkurrieren konnte).

LIC:
(in der Stimmlage c““) Wir hingegen woben beharrlich an unserem Netzwerk, das die Invasoren vertreiben oder jedenfalls neutralisieren sollte. Wir Lhiks sind bekanntlich extreme Individualisten – allenfalls bilden wir kleine Freundeskreise wie wir drei Paare es sind: Ilic und seine Frau Cli, Zic und Xiqi sowie meine geliebte Ilci und ich. Es ist selten, dass wir uns zu größeren Verbänden zusammenschließen wie in der Gewaltlosen Befreiungsfront. Das kommt daher, dass wir gleichermaßen arglos und selbstbewusst sind aufgrund der Tatsache, dass nur wir imstande sind, tote Materie in Biomasse umzuwandeln. Deshalb können wir uns schwer vorstellen, dass irgendein anderes Wesen, dem diese Fähigkeit fehlt und das daher als Konsument pflanzlicher Basisarbeit auf uns angewiesen ist, Feindseligkeiten gegen uns begehen könnte. Ilci, die in unserem Volk für ihre große Weisheit berühmt ist, predigt immer wieder die Vielfalt und die Opulenz, und wenn ich sie mir so ansehe – ihre üppige Narbe auf dem Griffel – und sich die Pollen auf meinen Staubblättern mächtig zu regen beginnen, weiß ich genau, wovon sie spricht.

Grafik 5.4

507

Den Berechnungen des Commanders zufolge musste der Diktator die vier Professoren bereits entdeckt haben. Er kalkulierte einen weiteren Tag ein, an dem Iadapqap Jirujap Dlodylysuap die Wissenschaftler darüber informierte, was er eigentlich von ihnen erwartete – mehr Zeit um zu kapieren, gestand er ihnen in seiner aufbrausenden Art sicher nicht zu, und dann wollte er sie schon an der Arbeit sehen.

Das bedeutete, dass der Tyrann in Kürze im diesseitigen Universum aufkreuzen würde, um seine Strafaktion gegen uns zu starten – aufgeschoben war für ihn nicht aufgehoben. Keyhi Pujvi Giki Foy Holby, der mittlerweile keine – oder zumindest keine wesentlichen – Geheimnisse mehr vor mir hatte, diskutierte mit mir die Optionen. Auch seiner Geliebten gegenüber war er in einer sozusagen dienstlichen Hinsicht sehr steif und korrekt (ich assoziierte in diesem Zusammenhang immer seine militärische Frisur, bei der kein Härchen irgendeine Extratour zu machen schien). Ich dachte zwischendurch wieder einmal daran, wie ich mich entschlossen hatte, bei ihm zu bleiben, denn wo sollte ich schließlich hin: auf meine, Mango Berengas Erde, die jedoch längst nicht mehr meine war? Auf Genevièves Erde, um dort als zeitlich versetzte Doppelgängerin herumzulaufen, mit allen Risken einer solcherart verkomplizierten Existenz? Ich war froh, dort zu sein, wo ich mich im Grunde immer wohl gefühlt hatte, auch wenn ich die genauen Umstände dieses Daseins zunächst gar nicht kannte.

COMMANDER:
Es ist sicher nicht sehr originell, sich auf der alten Station vor ihm zu verstecken, denn da wird er zuerst suchen – aber vielleicht denkt er sich sogar, dass wir nicht so dumm sein würden, hierher zurückzukehren. Wenn er kommt, sind wir hier ganz gut vorbereitet: das Personal habe ich soweit in der Hand (wie es scheint, ist den Leuten gar nicht aufgefallen, dass wir fort waren). Ich weiß, wer wer ist und wie jeder denkt, das ist ein kalkulierbares Risiko.

Tag für Tag erwartete der Commander das Eintreffen des Tyrannen. Irgendwann, das kam ihm erst später zu Bewusstsein, hatte er dann aufgehört zu warten: in der selbstverständlichen Annahme, dass Iadapqap Jirujap Dlodylysuap nur dann ausblieb, wenn er am Kommen ernsthaft gehindert wurde. Keyhi Pujvi war voll Bewunderung für die strategische Brillanz Cheltenhams, der ihm zwar nur von Ferne ein Begriff war, seiner Einschätzung nach aber ein wahrer Teufelskerl sein musste – den Diktator einfach in seinem Universum einzu¬sperren (und nur so konnte es sein), das war ganz bestimmt Sir Basils Werk, wie immer das geglückt sein mochte.

COMMANDER:
Wenn ich zurückdenke an die Zeit, als wir vom Spiegeluniversum her den Orden der Orangenblüte unterwanderten (die Älteren unter uns behaupteten sogar, der Orden sei von uns gegründet worden; aber das war nie restlos zu klären) – da betrachtete man den jungen Stabschef Cheltenham als willfähriges Werkzeug, der in seinem Eifer niemals Verdacht schöpfen würde hinsichtlich der wahren Natur seines obersten Chefs. Eines Tages war nämlich sowohl in Lady Prudences trautem Heim ein anderer gestanden (die Dame merkte offenbar nichts, was angesichts der Distanziertheit normaler englischer Oberklassen-Paare nicht weiter verwunderte), als auch an der Spitze des Geheimbundes: sogar dort glaubte man, allen voran Sir Basil, weiterhin denselben schrulligen Ex-Offizier der Britisch-Indischen Armee vor sich zu haben. Plötzlich verstarb nach Lady Pru’s richtigem Mann, den unsere Leute beseitigt hatten, auch der falsche, und unsere Gewährsmänner, die den Senator Hawborne sowie den Grafen von B. verkörperten, folgten ebenfalls ihren Originalen und machten den endgültigen Abgang. Damit gab es weit und breit keinen Nachfolger für den Ordensoberen. Ich begann zu vermuten, Cheltenham könnte vielleicht durchaus nicht der harmlose Typ sein, für den wir ihn hielten, aber bei unseren Beratungen unter Führung des Tyrannen plädierte ich dafür, ihn bis auf weiteres mit den Orangenblütengeschäften zu betrauen: immerhin konnte man noch immer annehmen, dass unter seiner provisorischen Leitung keine Beeinträchtigung unserer Aktivitäten in eurer Welt zu erwarten war. Und wenn, dachte ich insgeheim, der begabte Stabschef unserem Spiegeluniversum gefährlich werden sollte, hatten wir es nicht anders verdient, nachzulesen bei unserem großen Philosophen Ilkyfx Qyekvoo, „Über Aufstieg und Fall von Zivilisationen”. Au¬ßerdem wusste ich über Cheltenham (seine Erscheinung betreffend) etwas, was anscheinend dort drüben in der gesamten Führungscrew niemandem bekannt war – ich behielt aber gerade das für mich, denn es auszusprechen wäre mein sicheres Todesurteil gewesen, ohne dass sich auch nur irgendjemand die Mühe gemacht hätte, meine Information zu verifizieren.

Natürlich war früher oder später damit zu rechnen, dass sich die Streitkräfte des Tyrannen der jenseitigen Völker einen neuen Weg in unsere Welt bahnen würden. Mir war es allemal Recht – ich hatte keine Angst, meine allgemeine Beunruhigung über meine quasi in einem Zwischenreich schwebende Existenz überlagerte jegliches unmittelbare Bedrohungsgefühl.

COMMANDER:
Mir fehlt die Gabe der Poesie fast vollständig, und so manches Sprachkunstwerk ist für mich nicht mehr als ein Wald voll Affen. Dennoch drängt es mich, in schwärmerischem Ton von jener Zeit zu sprechen, als Mango und mir bewusst wurde, dass der Tyrann vorläufig ausblieb. Mitten im Weltenlauf durchlebten wir eine Idylle, die – jedenfalls in meinem Leben, vermutlich aber auch in Mangos trockenem Dasein als Wissenschaftlerin – ihresgleichen suchte.

Das lag wohl daran, dass wir in der neuen Situation an diesem künstlichen Ort wie ein Königspaar herrschten. Iadapqap Jirujap Dlodylysuap, wie gesagt, konnte vorerst nicht herüber, von meiner Welt in meiner Zeit wurde der Stützpunkt, der so weit in den Tiefen des Alls lag, traditionell vernachlässigt (darum war auch weder die Identität des Kommandanten noch der Grund meiner immer wiederkehrenden Aufenthalte bei ihm jemals überprüft worden), und mit der zeitversetzten Welt meiner Geneviève gab es lediglich telepathischen, wenn auch in dieser Form intensiven Kontakt – abgesehen davon, dass man allenfalls eine Fahrt mit einem geeigneten magischen Vehikel unternehmen konnte.

Auf diese Weise waren Anpan, Agent Pifsixyl und Balaf-Ieku Hvuvu zur alten Erde weitergereist. Ich hatte die Drei meinem Alter Ego, der Gräfin von B. avisiert und diese musste dann für einen entsprechenden Einsatz der ominösen Kristallkugel sorgen. Die Schlange blieb bei mir zurück. Die AP 2000 ® empfahl sie mir wärmstens als Waffe gegen wen auch immer: sie lag einfach faul herum, ohne besonders aufzufallen, konnte aber bei einem Angriff auf mich blitzartig aktiviert werden. Wer weiß, meinte Anpan, als was der Commander sich am Ende entpuppt (sie nährte damit meine trotz aller Zuneigung seit jeher bestehende Skepsis gegen ihn), und wer weiß, was sonst noch alles passiert (da kam der Hang ihres mathematisch denkenden Gehirns zum Ausdruck, alle Möglichkeiten auch mit Wahrscheinlichkeiten zu versehen).

Ich selbst betrachtete die Schlange eigentlich nur als ein exquisites Souvenir, mit dem man sogar gepflegte Unterhaltungen führen konnte. Zwar hatte sie nicht die Datenverarbeitungskapazität der AP 2000 ®, doch mit dem Standardwissen unserer Kultur war sie ausgestattet. Seit ihrem Aufenthalt in der Spiegelwelt betrieb sie sogar Sprachstudien in den dortigen Idiomen, wobei ihr der Commander dann und wann amüsiert zur Verfügung stand. Es stellte sich heraus, dass Keyhi Pujvi einen kleinen Buchbestand aus seiner Heimat bei sich hatte – eine ziemliche Unvorsichtigkeit übrigens, wenn man sich ausmalt, dass der Schnüffler Augustus McGregor dahintergekommen wäre: jedenfalls begann die Schlange damit, Ilkyfx Qyekvoo im Original zu lesen.

COMMANDER:
Dazu hatte sie auch genug Zeit, wenn Mango und ich miteinander beschäftigt waren und die vorlauten Kommentare des Reptils entbehren konnten. Wenn dann meine Geliebte auch noch die Gedankenverbindung zur Gräfin von B. unterbrach (mit der schüchternen Botschaft „Bitte, Geneviève, ab hier ist es privat!”), war mein bescheidenes Glück perfekt. Wenn Mango so dastand in ihrer sandfarbenen schmucklosen Uniform, eigentlich sehr androgyn und irgendwie zerbrechlich, wenn sie dann die Knöpfe ihrer Jacke öffnete, diese ordentlich beiseite legte, den Rock folgen ließ und ihre militärische olivgrüne Standardunterwäsche zeigte, rührte sie mich mächtig an. Sie erregte mich seltsamerweise immer erst über die Mobilisierung meiner Beschüt¬zerinstinkte, wobei aus der die Außenwelt abwehrenden Umarmung nur langsam die leidenschaftliche Besitzergreifung wurde. Niemand, der sie so sehen konnte und der hörte, wie sie mich bat, das kalte Licht der Station (das von den noch kälter wirkenden Metallwänden reflektiert wurde) zu dimmen, hätte es für möglich gehalten, hier eine der bedeutendsten Biologinnen beider Universen vorzufinden sowie eine exzellente Kosmologin, die nebenbei auch gelernt hatte, ein Raumschiff zu steuern und verschiedenste Arten von planetengebundenen Fahrzeugen zu manövrieren…

… nicht zu vergessen das Nahkampftraining, das ich absolviert habe – mit Griffen und Tricks, die in früheren Jahrhunderten nur wenigen Auserwählten bekannt waren, aber in meiner Zeit zur Grundausbildung zählten. Dabei wusste ich gar nicht, ob ich je tatsächlich dazu imstande sein würde, einen Gegner mit der bloßen Hand zu töten, denn ich hatte es kein einziges Mal ausprobiert.

COMMANDER:
Ob du das Wollen aufbrächtest, ist gar nicht das Thema – erinnere dich, wie ich dich vor unserem Wechsel in die Spiegelwelt blitzschnell ins Traumland befördert habe: du wärst viel zu langsam gewesen, um es zu verhindern!

Dafür hat dich die AP 2000 ® ganz schön an der Nase herumgeführt – und das war gut so, denn in einer handgreiflichen Konfrontation mit ihr hättest du erfahren, dass ihre Reflexe wesentlich rascher sind als deine, und wer weiß, wo wir dann gelandet wären, denn nur du wusstest, wie man in das andere Universum wechseln konnte. Jedenfalls finde ich es toll, dass wir zwei Liebenden die Kapazität haben, einander kurz und bündig umzubringen! Keyhi Pujvi Giki Foy Holby, du Schlangen – Löwe – gestern – heute – morgen, Juju Kihamokxi Toto – ich liebe dich, auch wenn du spröde bist wie Glas. Ich liebe dich, auch wenn ich hier sitze wie eine dumme Gans, die nichts von Verführung weiß, anders als Geneviève und ihre Freundin Brigitte, ganz zu schweigen von all den anderen Damen am anderen Ort zur anderen Zeit, von denen wir durch die Gräfin Kunde haben – selbst Anpan, die Maschinenfrau, ist besser geeignet, einen Mann glücklich zu machen, und ich habe ja durch sie erfahren, dass du sie ohnehin getestet hast, mein Held!

COMMANDER:
Ich schäme mich dessen nicht, denn in den Reglements beider Universen für längere Raumreisen steht nahezu übereinstimmend, dass unter diesen extremen Bedingungen Promiskuität gilt und die traditionellen Treuebeziehungen vorübergehend aufgehoben sind, damit die Besatzungen nicht wahnsinnig werden. Du weißt ja selbst, wie man sich fühlt, denn sogar hier auf der Station leidet man unter den entsprechenden Symptomen, und man muss schon sehr routiniert sein oder sich ziemlich unter Kontrolle haben, um nicht überzuschnappen.

Er hatte so Recht: ich insbesondere fühlte mich unter dem Einfluss künstlicher Lufterneuerung sowie simulierter Schwerkraft ständig wie im Fieber, ein Zustand, der nur hintangehalten wurde, wenn mich meine wissenschaftliche Beschäftigung zwischenzeitlich völlig gefangen nahm. Sonst aber beherrschten mich immer mehr oder weniger von ihrer gewohnten Ausrichtung abgelenkte Sinneseindrücke: eine Spur zuwenig Sauerstoff als man glaubte bekommen zu müssen oder die geheime Unsicherheit darüber, wo nun wirklich in diesen technisierten Räumen oben und unten war.

Das Empfinden gegenüber der Annäherung meines Geliebten glich einem Prozess der Spektralverschiebung: zuerst flüchtete ich vor diesen physikalischen Unzukömmlichkeiten in seine Nähe, dann ließ ich mich streicheln, wie es jenes Reglement zur Zeitüberbrückung vorsah (aber da hätte es an seiner Stelle jeder sein können) und erst ganz zuletzt war ich wieder ganz bei ihm persönlich und nahm wahr, dass er und kein anderer in mich eindrang – und das Merkwürdige dabei war, dass auch seine Position mir gegenüber jedes Mal, wenn wir zueinander fanden, diesen seltsamen Bogen durchlief. Als Naturwissenschaftlerin verwirrten mich diese Beobachtungen ungemein, da sie zwar subjektiv feststellbar, aber in keiner Weise messbar oder katalogisierbar waren.

COMMANDER:
Tatsache ist, Jdoku Jzbumahuwu – fremde schöne junge Frau, dass wir, die aus den Eliten beider Welten stammen, in rein virtuelle Gegebenheiten hineingeboren und weiterhin in durch und durch virtuellen Umgebungen großgezogen wurden. Was bleibt uns also übrig, als womöglich unser ganzes Leben in einem Reagenzgefäß der Virtualität zu verbringen? Wäre ich nicht immer wieder einmal zu Fuß durch die Wüste zu jenem Sternentor gezogen, weil sich das mich umgebende Transportmittel vorübergehend in nichts aufgelöst hatte, wüsste ich bis zum heutigen Tag nicht, wer ich wirklich bin.

Und auf wen bist du dabei gestoßen?

COMMANDER:
Biti-Jwakda – meine leidenschaftlich geliebte Königin, ich hege große Sympathie für Lic, meinen neugewonnenen Pflanzenfreund, der sich mit seinem Team in den Kopf gesetzt hat, seinen Heimatplaneten, den wir Jifihikxli nennen, von den Eindringlingen zu befreien. Er meint, der Diktator habe ohnedies ausgedient, wisse es nur noch nicht. Und dazu kichert er auf seine unnachahmliche Art in seiner Flötenstimme: Fififififi! Ich denke langsam, er hat den besseren Überblick als ich, aber vielleicht ist das nur Zweckoptimismus, und ich überschätze Lic. Jedenfalls hat er mir klar gemacht, dass ich der derjenige bin, der das Wohl und Wehe der Spiegelwelt in Händen hält. Ich bin der Einzige, der dem Tyrannen auch heute noch die Augen öffnen könnte, welcher Bedrohung er sich wirklich gegenübersieht und durch wen! Was meinst du – soll ich es tun oder den Dingen ihren Lauf lassen?

Wenn du Iadapqap Jirujap Dlodylysuap zu warnen beabsichtigst – nein, Geneviève, ich weiß allein, was ich zu sagen habe, halt dich daher raus und raube mir nicht auch noch meinen Rest von Intimität –, werden sie mir befehlen, dich zu töten!

COMMANDER:
(lächelnd) Was du ja auch könntest: mit drei Fingern deiner rechten Hand, ohne dass du dir die Mühe machen müsstest, eine Waffe zu suchen – immer vorausgesetzt, du wärst schnell genug!

Mir wurde ganz feierlich zumute – das machen Staaten aus dir, dass sie dir einreden, es gäbe etwas, das wert sei, dafür zu morden oder selbst zu sterben –, aber bevor sich meine Nackenhaare vor Pathos sträubten und ich verkündete, dass ich frohen Herzens bereits sei, im Kampf für die Interessen des Alpha-Univerums zu fallen, umfasste mich Keyhi Pujvi mit seinen starken Armen.

COMMANDER:
Wissenschaftsoffizier Mango Berenga, wir werden nichts dergleichen tun. Ich werde mich vielmehr auf meiner Seite und du wirst dich auf deiner Seite heraushalten: möge der Bessere siegen! Wir hingegen besorgen dir elegante Unterwäsche und schicke Kleider, richten uns hier im Innersten der Station, wo die Schwerkarft am angenehmsten ist, ganz zivil und gemütlich ein…

… und töten höchstens jene, die uns unser gemeinsames Leben rauben wollen!

Erst jetzt zeigte er mir, dass er sich diese Enklave im militärischen Alltag längst geschaffen hatte. Eine Zimmerflucht, eingerichtet im Stil französischer Landsitze des Zweiten Kaiserreichs, das komplette Outfit eines Gentilhomme jener Zeit – er hatte kein Problem mit der Auswahl, denn für ihn war jede Periode der irdischen Kulturgeschichte gleich fremdartig gegenüber dem Ort, wo er her kam. Ob er dort wohl Frau und Kinder zurückgelassen hatte?

Meine diesbezügliche Frage wies er als irrelevant zurück, als irreal für jeden, der alle Brücken hinter sich abgebrochen hatte. So gab ich mich also ebenfalls endgültig diesem Zustand der Losgelöstheit hin – zu unserem Glück schienen sich ja die großen Auseinandersetzungen, wenn sie denn stattfanden, weitab von der Station zu er¬eignen.

Meine Physis fragte nicht lang, ob das fremdartige Samenzellen waren, die in mir ihr Ziel suchten, und so begann ganz simpel (respektive, wie ich als Biologin wusste, mittels äußerst komplizierter Mechanismen) wie seit Jahrhunderttausenden das Wunder des Lebens. Das Baby wurde der eigenartigen, aus Personen beider Realitäten gebildeten Mannschaft als Kronprinz unseres neuen kleinen Reiches vorgestellt. Die Leute freuten sich über die Abwechslung, denn sie hatten eigentlich außer trivialen Wartungsarbeiten seit geraumer Zeit nichts mehr zu tun – selbst wo wer herkam, hatten sie einander inzwischen eröffnet, so langweilig war ihnen gewesen, und sie fanden keinen Grund mehr für irgendwelche abstammungsbedingten Ressentiments gegeneinander. Der Commander und ich gaben unserer Hoffnung Ausdruck, dass auch andere Bewohner dieses Kunststerns neben ihrer dienstlichen Tätigkeit die Muße finden mochten, für weiteren Bevölkerungsnachwuchs zu sorgen.

508

Ich hatte Cheltenham im Rahmen meiner TV-Serie „Heads of Good Old England? (ein matter Ersatz für Leo di Marconis Info-Knüller, für die ich dereinst bekannt gewesen war) zu Gast. Ehrlich gesagt, hatte er sich selbst eingeladen, um – wie er unverhohlen zu verstehen gab – ein Monument der Harmlosigkeit aufzurichten. Er wollte eine Nebelwand zwischen sich und seine amerikanischen Konkurrenten (und wer weiß noch alle am großen Spiel Beteiligten) legen, um in Ruhe seine bevorstehenden Unternehmungen durchziehen zu können. Ich dürfe alles fragen, lautete die Abmachung, aber nicht nachstoßen, wenn zurückhaltend geantwortet wurde. Die Fragen sollten das Interessante sein, die Antworten hingegen eher im Unklaren bleiben. Dazu hatte der Bursche, den man so antik ansprechen musste, ausgerechnet mich auserwählt. Wir drehten auf Cheltenham House.

Sir Basil, ich darf vielleicht einmal sehr persönlich beginnen. Sie wirken sehr gut durchtrainiert – ist das normal für einen englischen Baronet?

CHELTENHAM:
Sehen Sie, wir Landadeligen verbringen ein gesundes Leben, bewegen uns viel in frischer Luft, reiten, schwimmen. Vor allem aber gehen wir zu Fuß viele Male pro Woche unsere landwirtschaftlichen Besitzungen ab, um nach dem Rechten zu sehen.

So sind Sie also ein größerer Farmer?

CHELTENHAM:
Nun ja, Sie wissen natürlich, dass ich eine Militärkarriere durchlaufen habe…

… in deren Verlauf Sie einige Zeit im Fernen Osten zugebracht haben…

CHELTENHAM:
Wie es den noch immer weltumspannenden Interessen der britischen Krone entspricht – ich betone das nur, falls in Ihrer Frage etwas von einer naiven River-Kwai-Romantik mitschwingt.

Man sagt, dass Sie in Japan Kontakte mit den Yakuza hatten?

CHELTENHAM:
Auch das muss man im richtigen Licht sehen: Ich habe tatsächlich, wie sich später herausstellte, gemeinsam mit Leuten dieser Provenienz fernöstliche Kampftechniken trainiert. Mein Interesse war aber rein sportlicher Natur – mit den inhaltlichen Vorstellungen dieser Leute hatte ich nichts zu tun.

Wie ich aus einer guten Quelle weiß, tragen Sie das Zeichen eines Ehren-Oyabun der Yakuza als Tätowierung auf dem rechten Schulterblatt? fragte ich überfallsartig (das war der alte Marconi!). Sir Basil kam tatsächlich ein wenig aus der Fassung (schien sich blitzartig zu vergegenwärtigen, welcher Mann oder vor allem welche Frau mir das verraten haben konnte), aber seine Antwort ließ mich wie einen unglaubwürdigen Dummkopf dastehen.

CHELTENHAM:
Lieber verehrter Mr. Di Marconi – britische Baronets pflegen sich nicht tätowieren zu lassen, und würden sie sich noch so lange in Asien aufhalten!

Es heißt, Sie hätten dort gelernt, wie man mit einem gezielten Hieb der bloßen Hand ein Leben auslöschen kann?

CHELTENHAM:
Abermals – Sie dürfen nicht jedes Märchen glauben, mein Freund.

In Indien sollen Sie sich einer mythischen Organisation unter Offizieren angeschlossen haben?

CHELTENHAM:
Jetzt gehen Sie mir ein wenig zu weit – was sollen denn in Ihrer Sendung Geschichten von irgendwelchen Geheimbünden?

Fangfrage: Ist es nicht vielleicht so, dass Sie mir hier ein naives Bild von sich selbst zeichnen, in Wahrheit aber in sehr bedeutende und riskante Operationen verwickelt sind?

CHELTENHAM:
Sie meinen, wie in der Geschichte von Scarlet Pimpernel? Die kennen Sie nicht? Wie auch, Sie sind ja Amerikaner! Kurz gesagt: es geht um Sir Percy Blakeney, einen typischen englischen Dandy, der sich anscheinend nur für modische Kleidung und Kartenspiele und nichtssagende Konversation interessiert, in Wahrheit aber ist er – unter jenem Decknamen – der Mastermind einer Geheimorganisation, die französische Adelige vor der Guillotine rettet und die Revolutionäre von Robespierre abwärts zur Weißglut treibt… Wollen Sie noch mehr hören?

Äußerst geschickt hatte er ein Thema gewählt, mit dessen Hilfe im Plauderton ein großer Teil der verfügbaren 70 Minuten unserer Sendung vertan werden konnte. Ich ging darauf ein: Erzählen Sie weiter, Mr. Cheltenham, ich meine Sir Basil!

CHELTENHAM:
Percy in seiner Rolle als Dandy verspottet auf einer Soirée des Prinzregenten den französischen Botschafter mit einem selbst geschmiedeten Vers:

„They seek him here,
they seek him there,
those Frenchies seek him everywhere.
Is he in heaven, or is he in hell?
That damned elusive Pimpernel!“

Jetzt konnte ich mich nicht mehr halten: Aber das sind Sie, genau das sind Sie, Sir Basil!

CHELTENHAM:
Als Brite steht man natürlich in manch einer Tradition, und es gibt hier bei uns – nicht ganz einsichtig für Fremde – eine ungeheuer lange Vergangenheit, die für viele von uns allgegenwärtig ist. Das bedeutet aber nicht, dass meine Landsleute und ich uns kollektiv von der Wirklichkeit verabschiedet haben: nichts wäre falscher! Ich behaupte sogar, dass Sie wenige Nationen finden werden, die so sehr mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen stehen wie wir. Denken Sie zum Beispiel an unsere anglikanische Religion – es gibt nichts Irdischeres… Gott kommt hier eigentlich nur vor als einer, der seinen Job nicht ganz ordentlich gemacht hat und den wir höflich ersuchen, sich wenigstens in Zukunft keine Fehler mehr zu leisten…

So philosophierte er munter dahin, er unterhielt sich wahrscheinlich sogar ausgezeichnet. Wäre die Sendung für BBC angefertigt worden, hätte man ihren Erfolg schon vorhersagen können, während sie umgekehrt in den Staaten ein Megaflop zu werden versprach: so lange sieht bei uns auch der größten Kuriositätenshow keiner zu.

Ich wagte daher (obwohl ich geörige Angst vor Cheltenham hatte) eine wirklich brisante Frage: Was sagen Sie zum Gerücht, dass die Aufteilung der Welt zwischen Washington und Peking längst beschlossen ist und nun in die Tat umgesetzt wird? Was würde das für Europa bedeuten?

CHELTENHAM:
Denken Sie an den Kalten Krieg. Nur im Schatten dieser Konfrontation konnte sich in Westeuropa (sowie in Spurenelementen auch in ein oder zwei osteuropäischen Ländern) eine Gesellschaftsform herausbilden, die relativ frei war: nicht so sehr liberal, wie Sie das in den USA etwas abfällig nennen würden, sondern pluralistisch – das bedeutet, Andersdenkende nicht nur zu tolerieren, sondern wirklich zu akzeptieren.

Gibt es für Sie jemanden in der Geschichte, mit dem Sie sich gerne unterhalten würden?

CHELTENHAM:
Sehen Sie, von Militär zu Militär besteht eine quasi automatische Verständigungsbasis, auch über Zeiten hinweg: da ist jemand, mit dem unterhalte ich mich sogar oft und regelmäßig – der römische General Publius Cornelius Scipio, der Sieger von Zama. Er pflegt mich „Britannicus“ zu nennen (und will hoffentlich damit nicht sagen, dass ich dem gleiche, den man von der Thronfolge nach Claudius ausschloss, auf Grund von Intrigen der Aggrippina wegen angeblicher Geistesschwäche, so dass schließlich Nero Kaiser wurde) und ich nenne ihn natürlich „Africanus“.

Und was vermittelt Ihnen dieser Scipio Africanus?

CHELTENHAM:
Er selbst war es, der mir gegenüber mit dem Mythos aufräumte, er habe Hannibal bei Zama mit dessen eigener, bei Cannae entwickelter Taktik geschlagen. Hannibal war und blieb für Scipio der überlegene Feldherr, gegen den man keine noch so überraschende Finte nutzen konnte. Scipios Waffen waren schlicht und einfach Ausdauer, Disziplin und Nervenstärke, auch gegen hochentwickelte und überzüchtete gegnerische Armeen. Er hatte das römische Heer, insbesondere die Infanterie, in eine gerade in ihrer Simplizität unüberwindliche Kampfmaschine verwandelt, die selbst überlegene Strategen wie Hannibal unterkriegen konnte.

Jetzt hatte ich ihn! Diese Überlegungen, Sir Basil, sind kaum noch als die eines treuherzigen Landadeligen zu bezeichnen!

CHELTENHAM:
Aber ja, mein Freund, lassen Sie doch Ihre Kamera über das Modell des Zama-Schlachtfeldes hier in meinem Herrenzimmer schwenken, um zu zeigen, dass hier ein verspielter alternder Baronet seine Figuren hin und her schiebt, und weiter nichts.

Ich gab dem Kameramann den entsprechenden Wink, und während die kleinen Karthager, Römer und Numidier auf dem Monitor fast wie lebendig an uns vorbeiglitten, schoss ich meine Behauptung ab: Als ich mich auf unser Gespräch vorbereitete, Sir Basil, habe ich mich selbstverständlich auch mit diesem Ihrem Hobby beschäftigt. War Scipio nicht in Wahrheit wesentlich genialer als Sie ihn hier darstellen? War es nicht strategisch herausragend, wie er die aggressiven Positionen des Feindes als sinnlos überzogen entlarvte, als an einem seidenen Faden hängend – und wie er damit wirklich Hannibal konterkarierte?

Keine Antwort, Kunstpause meinerseits, dann die blitzschnelle Frage: Sir Basil (mit dunklem Tremolo), worauf bereiten Sie sich vor?

CHELTENHAM:
Wir sind gerade dabei, auf den Chel-tenham’schen Familienbesitzungen die Ernte einzubringen – diverse Getreidesorten, wobei wir uns auf die Produktion von Saatgut konzentriert haben, und nicht zu vergessen die Freilanderzeugung von Obst und Gemüse, mit der wir großstädtische Märkte beliefern.

Wen sollte das interessieren? Unser Publikum in den USA wird sicher begierig sein, mehr über Ihre amerikanische Frau zu erfahren – das ist nämlich ein weiterer Punkt, der Sie ungewöhnlich macht, Sir Basil: ein englischer Adeliger inkliniert nicht unbedingt zu solchen ehelichen Experimenten!

CHELTENHAM:
Diese Frage kann ich betont schlicht beantworten: Ich liebe Lady Charlene Cheltenham, und da ich komplizierte Verhältnisse nicht mag…

… im Gegensatz zu ihren sonstigen Aktivitäten…

CHELTENHAM:
Sie laufen einem Phantom nach, mein Guter! Da ich also regellose Affären nicht mag, habe ich sie sobald wie möglich geheiratet. Ich darf sagen, dass meine Frau hierzulande äußerst akzeptiert und in weiten Kreisen sogar sehr beliebt ist.

Man sah deutlich, wie sehr er sich nach ihr sehnte. Ich hatte im Vorgespräch erfahren, dass die alte Chuck derzeit nicht auf Cheltenham House weilte. Aber Sir Basil überspielte seine Gefühle professionell.

CHELTENHAM:
Unsere transatlantische Heirat zeigt Ihnen ja nur zu deutlich, dass ich beste Beziehungen zu den USA pflege. Und so erlaube ich mir denn einen ganz kleinen Rat: Ein wenig europäische Weitsicht, und das kolossale Land würde sich genau in die richtige Richtung bewegen!

Ich wollte nur noch zum Ende kommen. Sir Basil, trotz Ihrer Farmleidenschaft sind Sie vor allem Berufsoffizier. Wenn man als solcher auf eine bestimmte Lebensspanne zurückblickt (damit servierte ich ihm auf elegante Weise, was ich davon halte, wenn ein alter Knacker eine junge Frau heimführt), wenn man dieses Soldatenleben Revue passieren lässt, welches Resümee kann man dann ziehen?

CHELTENHAM:
Dass man die Stabilität der Welt gewährleistet hat!

Seine Antwort ging fast unter in dem Lärm, von dem das ganze Gebäude plötzlich erfüllt war. Aus dem gemütlichen Landadeligen wurde tatsächlich mit einem Mal der knallharte Befehlshaber.

CHELTENHAM:
Die Show ist vorbei, Marconi! Ich lade Sie aber ein, eine vorerst streng geheime Dokumentation über die bevorstehenden Ereignisse zu drehen. Das wird die Reportage Ihres Lebens, wenn Sie bereit sind, sich an die Spielregeln zu halten. Oberstes Gebot: ein wenig Geduld! Darüberhinaus gibt es für Sie keine Tabus.

Ich kapierte wie immer schnell. Dem Kameramann musste ich gegen das Schienbein treten – der stand einfach nur mit offenem Mund da, statt den Finger am Auslöser zu haben.

Was sich uns bot, war aber auch zu einzigartig: Wir traten aus dem Herrenzimmer auf die Galerie, als uns über die Freitreppe drei Personen entgegenkamen, die von Cheltenham als unsere Heimkehrer beziehungsweise Gäste aus dem Spiegeluniversum begrüßt wurden. Als dieser Begriff fiel, wusste ich zwar nicht genau, was er bedeutete, aber ich spürte, dass dies meine journalistische Sternstunde zu werden versprach. Ich riss meinem Kollegen die Kamera weg und filmte selbst – das war eine Situation, der man mit höchster Authentizität beikommen musste, jedes etwaige Hintergrundgerede konnte man später dazukopieren…

CHELTENHAM:
Ich heiße willkommen die Androidin AP 2000 ®, auch genannt Anpan, die Assistentin und beste Freundin von Anastacia Pangou; weiters und besonders herzlich, weil sie zwar bei uns geboren wurde, aber drüben ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hat: Clio Alexandrine Andromède Annette Aphrodite Komtesse von B., die Tochter unserer innigst geliebten Gräfin; und last but not least Herrn Pifsixyl Xifu, der sich entschlossen hat, aus der anderen Realität zu uns zu wechseln, aus Gründen, die außer ihm und mir vielleicht noch zwei oder drei Personen bekannt sind, wobei wir es belassen sollten.

Die drei Ankömmlinge zeigten keine besondere innere Bewegtheit oder ließen sich eine solche jedenfalls nicht anmerken. Lediglich die Komtesse (eine himmlisch schöne Prinzessin, dachte ich bei mir) schien merkwürdigerweise sehr verblüfft, als sie Sir Basil nähertreten sah – jedoch wurde sie danach sofort von Ihrer Mutter in Beschlag genommen. Ich erfuhr, dass man sie in der Spiegelwelt (über deren Vorhandensein und Beschaffenheit ich mir mittlerweile einiges zusammenreimte) Balaf-Ieku Hvuvu nannte und damit tatsächlich genau mit jenem Titel belegte, der mir spontan in den Sinn gekommen war, und dass sie zum ersten Mal seit ihrer Geburt die Gräfin wiedersah (nicht gerechnet jenes eine Mal, als die Walemira Talmai für kurze Zeit die beiden Universen synchronisieren konnte – davon erfuhr ich jedoch erst später).

Ich drehte und drehte. Niemand nahm von mir Notiz, allenfalls Sir Basil, der immer alles bemerkte. Er schien befriedigt – Bewegung in der Szene war ganz nach seinem Geschmack. Ich stellte ihm, als er mir das Zeichen gab, fürs Erste Schluss zu machen, eine allerletzte Frage („off-records? wohlgemerkt): Wäre es nicht besser gewesen, jemand vom Orden der Orangenblüte hätte das amerikanische Präsidentenamt ergattert?

CHELTENHAM:
Eine klare Antwort auf eine klare Frage (ebenfalls „off-records? selbstverständlich): Lassen Sie mich erst die kosmischen Dinge erledigen, dann können wir uns getrost wieder den irdischen widmen!

Ich konnte nicht wissen, dass Ray Kravcuk in Sir Basils Bibliothek wartete, und dass die beiden unmittelbar danach darangingen, genau das Gegenteil davon zu tun.

509

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Wenn ich daran denke, wie dieser Agent Pif mich korrigiert hat, ärgere ich mich immer noch. Es ist doch bemerkenswert, wenn eine Figur unserer – zugegebenermaßen generös vorgetragenen – Geschichte das Drehbuch (eine Fiktion!) als nicht mit der Realität übereinstimmend bezeichnet, nur weil es von ihren eigenen Vorstellungen (doppelt fiktiv, weil von einer fiktiven Person ersonnen) abweicht.

DER GROSSE REGISSEUR:
Zum Trost etwas aus der schönen neuen Realität Amerikas: Unser Büro in London wurde kürzlich verwüstet – es erschien eine Gruppe besorgter US-Bürger (so nannten sie sich, wenngleich sie dunkle Kampfanzüge trugen, ihre Gesichter schwarz gefärbt hatten und mit Gewehren vom Typ UT-15 Urban Tactical ausgerüstet waren), und niemand von den lokalen Autoritäten hielt sie auf, denn sie kamen von einem Flugzeugträger, der zu einem Freundschaftsbesuch in britischen Gewässern ankerte.

Ein akuter Anfall von McCarthyismus, den die Regierung in Washington da hatte, allerdings von einer quasi elaborierten Form der Krankheit: Man war nicht mehr ausschließlich gegen den früheren Kommunismus und seine damaligen Randerscheinungen in der westlichen Welt (wie etwa Sozialutopie und freie Meinungsäußerung) – man war jetzt gegen alles Nicht-Amerikanische, und das in High Defi¬nition.

Ein transatlantisches Filmprojekt – igittigitt! Geld aus Hollywood für eine europäisch beeinflusste Story – niemals. Mir, einem heimatlos gewordenen Produzenten, tut es Leid, aber worauf soll ich warten: dass die besorgten Bürger statt in die Nasenwurzel meines Porträts (es hing überlebensgroß im Empfangsraum des Büros) auf mich selbst feuern? Erzählt mir eure Geschichte, Freunde, aber verlangt von mir nicht, dass ich mich mit dem Gebilde anlege, das die größte Bananenrepublik der Welt zu werden verspricht!

DER GROSSE REGISSEUR:
Ein wenig mehr Courage, mein Lieber, denken Sie an Sir Basil Cheltenham – der hat keine Angst!

Er braucht auch keine Angst zu haben, und Sie wissen genau, warum: Sein Schicksal ist ihm vorgezeichnet, während ich mich durchaus noch entscheiden kann, ob ich als lebender Hund oder als toter Löwe ende. Warum entwickeln Sie nicht Ihre einfach ihr Ideen weiter? Wir sammeln sie ein und bewahren sie auf für bessere Zeiten – wenn es wieder möglich sein wird, in Amerika unpatriotisch zu sein oder in Europa gute Filme zu machen!

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Also schön: lassen wir wie geplant Romuald an der Seite der Gräfin von B. erwachen.

Welch eine Enttäuschung, die frühere marmorne Kühle so tief gesunken zu sehen!

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Und der Bursche spürte, wie ihm nach etwas Bestimmtem zumute war. Anders als es ihm die Moralapostel seiner Kindheit gepredigt hatten (beim Einschlafen an etwas Heiliges zu denken, um mit e¬bensolchen Empfindungen zu erwachen) wiegte er sich mit Sexualphantasien in den Schlaf und erlebte den Morgen entsprechend intensiv. Er versetzte der Gräfin, die entspannt und mit leisen Atemzügen ruhte, einen Stoß: Wach auf, Buhle, rief er, du bist nicht zum Vergnügen mit mir zusammen.

DER GROSSE REGISSEUR:
Es dürfte nicht zum ersten Mal passiert sein. Während nämlich bei früheren Gelegenheiten dieser Art der dringende Wunsch, den Frevler auszupeitschen oder zu vierteilen, durchs gräfliche Gehirn gehuscht war, geschah nichts mehr dergleichen. Die Marmorschicht war tatsächlich ganz brüchig geworden, der falsche Vater hatte sich am Ende gegen alle Versuche, ihre Männerbeziehungen auf eine edlere Basis zu stellen, durchgesetzt – für wirkliche Zärtlichkeiten blieben Geneviève nur die Frauen.

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Und schon war Romuald wieder unterwegs, von Cheltenham House zur Koori-Station, wo ihn zwei schwarze Arme umschlangen, ohne dass er auch nur einen Deut zu machen brauchte. Mit seiner Naturschönheit machte er einen Abstecher nach London: Sie animierte ihn dazu, bewog ihn auch, niemanden zu informieren, entgegen seinem Gefühl, jemanden um Erlaubnis fragen zu müssen (Charlene registrierte es immerhin und meldete es ihrem Mann). Als sie ankamen, war der Überfall besorgter Bürger in aller Munde, nur Downing Street schwieg beredt: inoffiziell äußerte ein Sprecher des Premierministers etwas Gequältes über die alte Waffenbrüderschaft und über die einzige Chance, die dem britischen Empire verblieben war – auf dem amerikanischen Surfbrett die Wogen zu pflügen.

Was ich als Amerikaner – der nicht nur reich ist (das billigt man mir natürlich zu), sondern auch intellektuell – an meinem Land auszusetzen habe, war schon immer diese entsetzliche Konformität, unter der kulturelle Unterschiede meist als Zeichen mangelnder Anpassung oder gar als wunderlich galten.

DER GROSSE REGISSEUR:
In diesem Klima fühlte man sich ohne weiteres berufen, fremdes Eigentum zu demolieren, aber auch eine Reihe von Nationen in die Steinzeit zu bombardieren – gewissenhaft eine nach der anderen (in einer Art Umkehrung der legendären Dominotheorie, nunmehr mit den USA als Aggressor): all diese Schurkenstaaten, erst die kleineren, dann die mittleren, am Ende selbst die größten. Auch das Problem China, meinten die Vorgesetzten von CLONSCO, könnte man mit einem Teppich von H-Bomben-Explosionen eliminieren: das endgültige Aus für das, was man die Kravcuk-Doktrin nennen durfte.

Aber diese Beschreibung ist noch immer zu kurz gegriffen – so und nicht anders hat in der Geschichte jeder imperialistische Staat gehandelt. Hier jedoch haben wir es zusätzlich mit einem religiösen Sendungsbewusstsein zu tun, das die Taufe der Ungläubigen mit Feuer und Schwert betreiben will. Dieses Land ist ebenso neurotisch wie jeder beliebige islamische Gottesstaat und pflegt ein Kastenwesen, das einer durch und durch hinduistischen Gesellschaft als Vorbild dienen könnte.

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Dr. Berenice W. Talmai hätte mit ihren speziellen Forschungen über die Psychopathologie des Kollektivs mittlerweile jenseits des Atlantiks ein reiches Betätigungsfeld gefunden, aber sie bewegte sich ja derzeit in ganz anderen Dimensionen. Demzufolge hatte auch Romuald niemanden, zu dem er mit seinem jüngsten Traum gehen konnte, der seinem Macho-Image zunächst sehr entgegen gekommen zu sein schien: wie es in Träumen schon so passiert – er trat nackt vor die Tür auf eine belebte Straße, und da gab es natürlich nicht nur Leute, die das Erbteil von Romi senior bewunderten, sondern auch solche, die ihn verspotteten, und sogar einen von der Sorte: na, mein Süßer, kann man sich den auch kaufen? Wer weiß warum, aber seit diesem Traum ging ihm sein El-ternhaus nicht mehr aus dem Sinn, für dessen Interpretation er professioneller Hilfe bedurft hätte: Die Versuche der Mutter, den Vater zu domestizieren, waren vergeblich geblieben – mit einem Werkzeug seiner Art brauchte es bei den Damen keine Courtoisie, und was der Alte daheim entbehrte, fand sich in reichem Maß auf freier Wildbahn, mit dem Ergebnis bemerkenswerter Fruchtbarkeit, wie wir in¬zwischen wissen. Die Bemühungen seiner Frau wurden somit ehestmöglich dem Jungen appliziert, der sich das so lange gefallen ließ, bis er alt genug war, sich zu wehren. Ein iterativer Prozess setzte ein: während die alte Dame einen immer feineren Menschen aus ihm machen wollte, wurde er immer ordinärer.

DER GROSSE REGISSEUR:
Das Ergebnis ist sattsam bekannt – die Mutter muss glatt der Schlag ge-troffen haben, wenn sie ihm später begegnete, aber das gehört letztendlich nicht hierher. Leicht tat sich Romuald jedenfalls mit Typen wie Berenices Dienerin, die von selbst wusste, wo es lang ging. Bei ihr musste er nicht jenen Druck ausüben, den er sonst ohne weiteres einsetzte, wo es ihm notwendig schien.

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Dazu hatte der Kurier Romuald erneut Gelegenheit, als er nach Cheltenham House und zu seiner Gräfin zurückkehrte. Vorsorglich demütigte er diese gleich einmal vor aller Augen, indem er ihr Hut und Mantel reichte. Erst dann fiel sein Blick auf die junge Dame neben seinem Opfer: Clio, die nunmehrige Komtesse von B. stand engelsgleich da. Maman, flüsterte sie (die Gräfin lauschte ergriffen dieser formvollendeten Anrede), Maman, wer ist dieser schreckliche Kerl? – Eine Verirrung der Natur, mein Kind! antwortete Geneviève: Leider auch eine Verirrung deiner Mutter! – Schick ihn weg, Maman, ich möchte ihn nicht sehen!

DER GROSSE REGISSEUR:
Nun war es natürlich Zeit für Romis große Szene: Warum denn das, wo wir doch zu dritt eine so herrliche Beziehung aufbauen könnten! grölte er, nicht wirklich betrunken, sondern bewusst provokant, im Vollgefühl der satten Nummern, die er in London mit seiner schwarzen Naturschönheit geschoben hatte. Viel fehlte nicht, und er hätte öffentlich jede Stellung ihrer beiden Körper geschildert und von der Beweglichkeit der dunkelhäutigen Dame geschwärmt, nicht zu vergessen von der Freude, die er ihr mit dem legen¬dären Instrument bereitet habe, das von seinem Vater auf ihn übergegangen sei. Anders als wir dachten, ging ihm (kaum dass die dem Geschlechtsakt unmittelbar folgende Schweigephase vorbei war) der Mund über, und das so lange und ausführlich, bis es endlich eine Gelegenheit für neue Erfahrungen gab. Wenn er sich’s einmal verkniff, wie eben jetzt in der Hall von Cheltenham House, dann angesichts vieler böser Blicke, aber es fiel ihm sehr schwer. Komtesse Clio bemerkte schockiert etwas über die Demimonde-Sphäre, in die sich die Mutter da herabgelassen hatte, und die Gräfin musste die Tochter erst darüber aufklären, dass ein ehrlicher Angehöriger der Halb- oder sogar Unterwelt (wenn er nur diese Kulturen in reiner Form repräsentiere) gesellschaftlich akzeptabler sei als dieser Romuald. In gewisser Weise genoss sie es trotz aller offiziellen Scham, der Tochter vorzuführen, dass sie auch in etwas fortgeschrittenem Alter ein sexuelles Wesen geblieben war. Leichte Eifersuchtsstiche löste sie bei Clio dadurch schon aus, vor allem was den Mut zur aktiven Gestaltung von Liaisons betraf – ich kann nur hoffen, dass nicht gerade dadurch in der Komtesse der Wunsch reifte, Romuald einmal auszuprobieren.

O, ich kann ihn mir so gut vorstellen, wie er diese Gedankenfetzen, die hinter den eigentlichen Worten der beiden Frauen unausgesprochen hin- und herflogen, blitzschnell begriff (da war er einsame Spitze) und entgegen dem Gesagten den Trend genau in seine schon anfangs grölend vorgeschlagene Richtung einschwenken sah.

Allerdings sollte es anders kommen – aber als er so dastand und wie immer versuchte, die ganze Szene zu überwuchern und für sich mindestens als Publikum zu vereinnahmen, konnte er das noch nicht ahnen. Wie gut, dachte die jenseits aufgewachsene Prinzessin, dass er nicht die Personifikation jenes Lhik-Gottes ist, von dem man munkelte, er lege sich schlafen und alles, was er träumt, wird zur Realität (weil er ja ein Gott ist, und als solcher nur imaginieren kann, was er gleichzeitig erschafft). Man stelle sich vor, Romualds unnütze Träume würden zu unnützer Realität.

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Man stelle sich vor, er träumte von Franca und Filiberto, und aus deren holder Zweisamkeit, die wir vor längerer Zeit verlassen haben, weil sie uns zu langweilig schien, würde mit einem Schlag ein Pandämonion physischer Gewalttätigkeiten und pornographischer Ausschreitungen. Franca würde von Neuem das Opfer unfassbarer Übertretungen ihrer kleinen Integrität, und ob es Romuald mit seiner – schon früh geprägten – schmutzigen Phantasie nicht gelänge, das bisher Dagewesene zu überbieten, bleibe dahingestellt. Und er würde Fili dessen bisher selbst in den mörderischsten Schlachten, in die ihn die Marines geschickt hatten, nie verlorene Unschuld rauben: selbst wenn der Übeltäter wieder verschwunden wäre, würde Fili für Franca keine kleinen Geschichten mehr erfinden und in diese dann den Koitus einbetten, sondern sie einfach nur ohne Worte aufs Kreuz legen. Zum Glück für die beiden wird ihnen die Bekanntschaft mit Romuald und seinen Träumen bis zum Ende unseres Berichts aller Voraussicht nach erspart bleiben.

DER GROSSE REGISSEUR:
Haben wir bei der Analyse von Romualds Charakter etwas vergessen?

Ja (wenn ich mich vorübergehend zu seinem Advokaten machen darf), dass nämlich seine Eltern ihm die Liebe vorenthalten haben, er daher selbst niemals lieben konnte, es nicht für möglich hielt, wenn jemand ihn liebte: vorstellbar war für ihn ausschließlich, dass man ihn fürchtete oder hasste oder beides zugleich.

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Demnach wäre er eigentlich Opfer und nicht Täter, und auch die geschwärzten Männer, die unser Büro in London zerstörten, wären lediglich Opfer, genauso wie ihre Auftraggeber von jenseits des Atlantiks, deren Ziel es ist, im eigenen Land die Bürgerrechte und auf diesem Weg die Demokratie zu demontieren – vorsorglich für den Tag, der da kommen muss, wenn freie Wahlen dem weißen angelsächsisch-protestantischen Establishment den Verlust seiner Macht brächten.

So sehr man im Psychogramm unseres Romi erlaubterweise die komplexen individuellen Zusammenhänge zwischen früherer Ursache und späterer W