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6. TEIL
DER TOD
UND SEINE FLINKEN GESELLEN
Grafik 6.0
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Vera fühlte, dass sie weiterziehen musste. Längst hatte sie den Commander und seine Begleitung ins Alpha-Universum zurückkehren lassen. Aber das Sternentor durfte doch trotzdem nicht unbeaufsichtigt bleiben!
Da kam Konrad, der eines Tages einfach dastand, mitten in dieser Öde, gerade recht. Mit einer Handbewegung machte er den Durchgang unpassierbar, selbst für jene, die unter Umständen Veras aktuelle Frage hätten beantworten können. Zu ihnen zählte jedenfalls der Augustus Maximus Gregorovius, dessen Raumkreuzer mit seinen fünf Begleitschiffen jenseits gegen die Grenze seines Reiches donnerte – sie nahmen keinen Schaden, dazu war der Ort esoterisch genug, aber sie konnten jedenfalls nicht mehr passieren.
Vera ahnte, wer Konrad war. Er selbst redete auch gar nicht darum herum: ich könnte einfach behaupten, meinte er leichthin, wir seien beide von gleicher Art, solche die zweimal sterben müssen, weil sie nach dem ersten Mal noch einen Auftrag zu erfüllen haben. Aber das ist es nicht, setzte er fort. Von jenem Moment an, als er mit Adriana, seiner Freundin aus der Renaissance (das soll nur eine Zeitangabe sein, keine Charakterisierung ihrer Person), den Schergen des Vatikan ins Messer gelaufen war, wusste er, dass ihm plötzlich die Fähigkeit eignete, Sehnsüchte zu erfüllen. Jenes Wesen, das sich hinter allen vorstellbaren und vorgestellten Gottheiten aufhält und das Adriana die wahre Hexeneigenschaft verliehen hatte, mit der sie künftig die Herren Inquisitoren zur Weißglut brachte, bedachte ihn mit dieser weniger spektakulären Gabe: einem leisen Werkzeug des Schöpfungsfortgangs, das seinem Naturell ohnedies sehr entgegenkam.
KONRAD:
So sehr ich Adriana in Leidenschaft verbunden gewesen war, einer Glut, wie sie, glaube ich, nur ein treuloser Mönch zu verströmen imstande ist, so sehr hatten wir uns später (im zweiten uns anvertrauten Leben) entfremdet. Schattenhaft war die Erinnerung der früheren Geliebten an gemeinsame Tage über die Jahrhunderte geworden, einzig mich zog es noch manchmal in die Nähe ihrer Wirkungsstätten, wenn ich vermutete, dass es dort etwas für mich zu tun gäbe. Dabei war es normalerweise sehr schwierig herauszufinden, was das genau sein könnte – wie es ja auch gar nicht naheliegend schien, das ehemalige Anwesen von Lady Prudence oder Cheltenham House aufzusuchen, um dort eine Möglichkeit zu finden, zu Vera zu reisen: denn sie war das eigentliche Ziel meiner aktuellen Mission.
Vera wurde von einer gigantischen Drehbewegung erfasst, in der sich die trostlose Umgebung auflöste (einzig die Sicherheit, dass Konrad ihr nahe war, verließ sie nicht). Sie hatte einerseits das Gefühl, durch einen engen Tunnel zu fahren, dessen Wand in endlos scheinenden Spiralbewegungen an ihr vorüberraste, andererseits aber wähnte sie sich bereits am Ziel ihrer Reise: die wärmenden und belebenden Strahlen einer Südseesonne waren zu spüren, und man konnte hören, wie tropischer Wind durch die Kronen von Palmen strich und Meereswellen leise rauschend am flachen Ufer ausliefen.
Und schon waren sie wirklich dort.
Sie sah in Konrads Person die Mutter, die sie schrecklich vermisste, den Vater, den sie sich sehnlich gewünscht hatte, die frühe Liebe, die niemals in Erfüllung gegangen war, die lebenslange Freundschaft, die es für sie nicht gab, die jugendlich-scheue körperliche Vereinigung, ganz so als ob sie nicht in einer Enttäuschung geendet hätte.
Er nahm ihre Hand und ließ für sie einen neuen Morgen anbrechen. Er führte sie einige Schritte nach Osten, um die Sonne zu begrüßen – jeder Schritt stand für einen Wunsch für die Zeit, die vor ihnen lag. Er führte sie aber auch nach Westen, nahm damit den Lauf der Sonne vorweg, um ihr zu zeigen, dass sie beide nicht zurückkonnten: der gestrige Tag blieb vergangen wie alle vor ihm, und es ergab keinen Sinn, ihm nachzutrauern oder ihn womöglich sogar ganz ungeschehen machen zu wollen.
Er nahm ihre Hand und sie verweilten da und dort, wo vielleicht ein Schmetterling, eine Blume, ein Stein zu bewundern war. Vera nahm die Kraft dieser Symbole in sich auf und auch die Geduld, die sie ihr zum Nachdenken und zum Verstehen schenkten. Den Stein hob Konrad auf, und ihrer beider Finger schlossen sich um ihn, bis sie spürten, wie ihre Herzen in seinem Rhythmus zu schlagen begannen: Sie brauchten ihn nicht wieder wegzulegen – sie waren schon bereit, den Weg, den er ihnen wies, zu gehen.
Konrad nahm Veras Hand, und sie schlenderten weiter den Strand entlang, bis von ihnen nichts mehr zu sehen war – einen schöneren zweiten Tod nach dem gewaltsamen ersten hätten sie sich nicht wünschen können. In einer schillernden Kugel aus Glück verschwanden sie.
Später war in dieser Phase der Raum-Zeit-Anomalie am Berührungspunkt der beiden Welten nichts mehr von dieser Illusion zu sehen – im Gegenteil: es bot sich ein schauriger Anblick, dessen Hergang man aufgrund der vorhandenen Anzeichen einigermaßen zu deuten vermochte. Da waren offenbar zwei Leute geradeaus in die Wüste hinein marschiert, aber bereits nach kurzem Weg in eine Bodensenkung voller Schlangen geraten. Ihre zum Teil vom Sand zugewehten Gerippe beherbergten noch immer die ganze Schar dieser flinken Gesellen des Todes. Die knöchernen Hände Veras und Konrads hielten einander fest, als wären sie ein Liebespaar, das einfach dalag und wartete, dass eine Sternschnuppe fiel.
Und das Tor zur anderen Welt? Es blieb in dieser Form geschlossen, denn niemand wurde jemals wieder dort stationiert, um die Reisenden nach der Parole zu fragen. Es war auch nicht wichtig: Wenn bei den Protagonisten beider Welten weiterhin der dringende Wunsch bestand, aufeinander loszufahren – und als Erzähler weiß ich nur zu gut, dass es so war –, würden sie ohne weiteres andere Mittel oder Wege finden.
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Ray Kravcuk war ein wirklicher Held.
CHARLENE:
Wie er in deiner Bibliothek saß (ich sah ihn mir durch den Türspalt an – als Amerikanerin interessiert man sich selbstverständlich immer für alles Amerikanische), machte er tatsächlich den Eindruck des klassischen Helden im US-Gewand: der einsame Sheriff, der sich einer ganzen Horde von Gesetzlosen entgegenstellt, selbst wenn sie noch so legitimiert erscheinen durch ihre öffentlichen Ämter: Der Bursche hatte seinen Rubikon überschritten – seine Vorgesetzten waren für ihn nicht mehr länger die wahren Patrioten (da mochten sie noch immer mit der Hand am Herzen stehen, der Hymne lauschend, die Fahne anstarrend). Er war es, der allein – wenn auch mit tatkräftiger Unterstützung meiner drei alten Freundinnen Amy (pink), Pussy (neongrün) und Trudy (lichtblau) – die Interessen des Landes verkörperte. Wenn es demnach die Kriegslist erforderte (da seine Kräfte und jene möglicher anderer wahrer Patrioten zu schwach waren), verbündete er sich sogar mit einem gottverdammten Engländer wie dir, Basil, nicht ahnend, dass er dabei von einem gefinkelten Taktiker der Alten Welt selbst nur instrumentalisiert wurde.
Wie immer heiligte auch hier der Zweck die Mittel. In der Interessensabwägung zwischen der Rettung des gesamten Universums und der Rücksichtnahme auf die bekannte politische Beschränktheit unserer Cousins von jenseits des Atlantiks musste ich tun, was zu tun war.
Kravcuk war jedenfalls bereitwillig gekommen. Er litt gewaltig unter dem für Amerikaner seines Bildungsniveaus typischen Dilemma, eingepfercht zwischen dem allgemeinen Optimismus-Wahn seiner Landsleute und der eigenen Illusionslosigkeit. Seine und meine Intentionen deckten sich insofern, als er durch seinen Abgang nach Europa (Teil I meines Plans) in Washington genug Staub aufwirbelte, um seine übergeordneten Dienststellen aufzuscheuchen, während er mir gleichzeitig, willentlich oder nicht, den Gefallen tat, meine eigenen Absichten zu vernebeln. Wer hätte den Yanks erklären sollen, dass es gegen einen mächtigen Feind ging und sie dennoch nicht wie gewohnt an der vordersten Front stünden – und dass sie vor allem trotz ihrer reichhaltigen Arsenale nicht die geeigneten Aggressionsmittel besäßen, um dieser Gefahr wirksam zu begegnen?
CHARLENE:
Alles Übrige lief in Form einer generalstabsmäßigen Aktion ab, woran man nur zu gut erkennen konnte, dass du deine Hände im Spiel hattest.
Plan II-A: Trudy ging neuerlich zu Seiji Sakamoto nach Tokio (diesmal soll es in dem legendären Bad hoch über den Dächern der Stadt sogar zu erotischen Handgreiflichkeiten gekommen sein – die Versuchung, die ungeheuerlichen Tätowierungen des Oyabun zu berühren, war für meine Agentin einfach zu groß, und außerdem: was konnte es schaden, wenn sie ein wenig Evidenz über seine sexuellen Vorlieben mitbrachte?). Diesmal zog sie eine breite, lichtblaue und damit für alle interessierten US-Dienste deutlich sichtbare Spur, sodass – zeitgleich mit ihrem Eintreffen in Japan – daheim hektische Betriebsamkeit ausbrach. Die für die meisten Amerikaner völlig undurchschaubaren Strukturen des wichtigsten asiatischen Verbündeten, der offenbar dazu neigte, die Allianz zugunsten Chinas aufzugeben, machten dem offiziellen Washington gehörig Angst: plötzlich fühlte man sich sehr allein auf der Welt – der normalerweise üblichen Selbstgefälligkeit war ein Dämpfer aufgesetzt worden, was mir angesichts der nach wie vor unbestreitbaren konventionellen Militärkapazität meiner transatlantischen Freunde nur zurecht kam. Mit den querdenkerischen Geheim-Orders von Kravcuk, der für ein (noch?) inoffizielles Amerika sprach, ergänzt durch sinngemäß dazu passende Zusagen des Yakuza-Chefs, steuerte Trudy danach Shanghai an, um der seinerzeitigen Einladung von Miss Dan Mai Zheng zu einer Shopping-Tour im dortigen Luxusviertel zu folgen, in Wahrheit aber, um auf diesem Weg Mr. Hong Wu Zhijian (dem intensiven Benutzer des Spucknapfs) und damit der gesamten chinesischen Führung das schon einmal entwickelte Welt-Teilungsmodell erneut und noch konkreter vorzulegen. Als dies am Potomac bekannt wurde, läuteten sämtliche emotionalen Alarmglocken, obwohl Amerika mit Kravcuks Diversifikation gar nicht schlecht fahren würde.
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Plan II-B: Amy ließ sich in eine Talkshow einladen (wieder einmal war mein alter Freund Leo Di Marconi der Moderator, der bekanntlich zurecht zu der Meinung gelangt war, sich vor mir wesentlich mehr fürchten zu müssen als vor allen Großmächten der Welt). Ziel dieser Veranstaltung war es, den Präsidenten durch den Kakao zu ziehen. Amys pinkfarbige Präsenz hatte im Weißen Haus schon vor Zeiten für einige Unruhe gesorgt – man fragte sich, von wem dieser Hauch von Kleid schon geöffnet worden war und ob nicht womöglich sogar die allerhöchsten Hände im Spiel gewesen sein konnten. Entsprechendes Gewicht hatte Amys Eröffnung, der Präsident sei praktisch illiterat (sie nahm den Begriff analphabetisch bewusst nicht in den Mund), und man müsse ihm alle Entscheidungsgrundlagen in Form von Comics aufbereiten. Zum Beweis hielt sie einen Bildstreifen in die Kamera, aufgrund dessen angeblich ein Kriegsbeschluss gefasst worden war.
Plan II-C: Pussy outete sich als ehemalige Geliebte des Luftwaffen-Staatssekretärs. Er war der Paradeschwarze in der US-Regierung und fiel damit eindeutig in Pussys Kompetenz: ihre Unique Selling Proposition als Mätresse hoher Offizieller ist ja bekanntlich das Bedienen von Afro-Amerikanern oder Afrikanern durch eine neongrün gekleidete Dame hellhäutig-blonden Typs gewesen. Es war nicht so, dass man im engsten Kreis des Oval Office, wo man wie in alten Zeiten offen sprechen konnte, dem „Nigger” allzu viel Bedeutung beimaß, aber die Tatsache, dass es jemand öffentlich wagte, der Regierung ans Bein zu pinkeln, schlug laut Meinung dieses inneren Zirkels dem Fass den Boden aus.
Der Präsident forderte einen Bericht über all diese Vorgänge an!
Ich lasse diesen Satz in all seiner Gravität stehen, obwohl nicht viele wirklich ermessen werden, was er bedeutet: Ein Karussell von Aktivitäten begann sich nämlich zu drehen. Niemand von denen, die normalerweise herumgehen und ihre Befehle angeblich direkt von ganz oben erhalten haben, wagte dies weiter von sich behaupten. Netzwerke zerbarsten, Manipulationsketten lösten sich in Luft auf. Das Machtzentrum als solches geriet ins Wanken und war paralysiert.
Als Draufgabe schob ich noch Plan III nach: Es wurde das Gerücht lanciert (Marconi konnte endlich in einer Sache aktiv werden, die ihm schon lange unter den Nägeln brannte), dass der verstorbene Senator Hawborne der Agent einer ausländischen Macht gewesen sei, womit das amerikanische Präsidentenamt um ein Haar in den Einflussbereich von Kräften des Bösen gekommen wäre. An der Version des natürlichen Todes, der dies gerade noch verhinderte, rührten wir nicht, denn damit hätten wir dich, meine geliebte Charlene, extrem in Gefahr gebracht…
CHARLENE:
… obwohl ihr, wie ich Leo und dich kenne, natürlich einen Moment dabei gezögert habt: zu verlockend war der Gedanke, die eigentliche Wahrheit über das gewaltsame Ende der politischen Ambitionen des guten N.T. auch noch publik zu machen, ganz zu schweigen von der scharfen gutgebauten Waffe, die man dabei eingesetzt hatte!
Ich weiß, ich weiß, aber ich hab’s gutgemacht, wie du zugeben musst. Für einen alten Engländer bin ich im Bett eigentlich ein ganz aufgeweckter Südstaatler.
Sie schmiegte sich an mich, wie ich es gerne mochte. Wir waren rundum zufrieden, denn die irdische Front hatten wir ruhig gestellt.
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TATSACHENFESTSTELLUNG DES ER-ZÄHLERS (LIEBER ZIEHE ICH MICH WIEDER AUF DIESE DISKRETERE POSITION ZURÜCK):
Wir haben nun eine Menge erzählt, Brigitte, aus unserem eigenen Blickwinkel oder aus dem verschiedenster Figuren. Wir haben bei späteren Textstellen Widersprüche zu früheren entdeckt und dort nachträgliche Korrekturen vorgenommen, so als ob man einfach rückwirkend Leben ändern könnte. Oft aber haben wir diese Ungereimtheiten auch als natürliche Dissonanzen der entsprechenden Existenz stehen lassen und uns nicht um mögliche Irritationen der Leserinnen und Leser gekümmert. Und nun ist es wohl an der Zeit zu überlegen, wie diese Geschichte überhaupt zu einem Abschluss kommen kann.
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Du, Johannes, pardon: Erzähler, haben wir es womöglich bisher verabsäumt, jemanden vorzustellen, der in diesen Geschehnissen noch eine Rolle spielen wird?
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ERZÄHLER:
Und wer bitte sollte das sein? Friedrich II.? Dschingis-Khan? Atahualpa? Lazarus, der bereits alles hinter sich hat und nichts mehr vor sich außer einer Menge gestundeter Zeit (und damit eine faszinierende Romanfigur abgäbe)?
Oder ein Repräsentant der Fauna – wie immer wir ihn nennen wollen –, analog zu Lic, der das Pflanzenreich vertritt?
ERZÄHLER:
Oder der Cherub, so mächtig, dass er würdig ist, dem höchstentfalteten Wesen, von dem Chicago gesprochen hat, als Schemel zu dienen. Er gibt allerdings eine spröde Gestalt für Erzählungen ab, da seine hervorragende Eigenschaft in steinernem Schweigen besteht – doch andererseits, wie sollte er sonst die Welt des absolut Ewigen beschreiben, die doch nur ein Zustand der Imagination sein kann: es ist eine Welt jenseits jener des Werdens und Vergehens, an die wir uns so gerne klammern, obwohl wir wissen, dass sich das Permanente, das Absolute darin lediglich als unvollkommene Abbilder wiederfinden.
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Genau hier aber regt sich der Widerstand des Endlichen, das nicht akzeptieren kann, immer nur gering geschätzt zu werden im Angesicht höher- und höchstdimensionierter Entitäten. Der Mensch in seiner Freiheit, fern stehen zu können, wird mit dem stummen und gewaltigen Cherub sogar ein wenig Mitleid empfinden, bezeichnet doch schon dessen Name das bedingungslose Nahesein. Und wenn es einem vergönnt wäre, selbst ebenfalls ein wenig heranzukommen, würde man unter den vier Gesichtern des Cherub neben dem verhüllten eigentlichen Antlitz, dem eines Löwen und dem eines Ölbaums auch das menschliche erkennen. Somit beruht die königliche Art des Cherub durchaus auf sämtlichen anderen Lebensformen.
ERZÄHLER:
Und wenn jener gänzlich Entfaltete die kosmische Struktur beugt, um ein Abbild seiner selbst zu offenbaren, lässt er sich von dem Cherub tragen. Das war übrigens Cheltenhams Anknüpfungspunkt: er, der auch die Kirchenväter gut studiert hatte, vor allem seinen Patron Basil (der den Cherub als Archistrategos beschrieben hat), meinte, als Mensch ebenfalls diesen hohen Stellenwert erreichen zu können. Grundlage war für ihn wie für uns alle, die wir hier zusammenstehen, die mysteriöse Fähigkeit, Kunstwerke zu schaffen – zweckfreie, unberechenbare Artefakte, unveränderbar durch nichts und durch niemanden, nicht einmal durch eine weiß Gott wie hohe Instanz.
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Manche Leserinnen und Leser werden hier genau jene Verknüpfungen gefunden haben, die sie sich erträumten. Andere werden enttäuscht sein, weil das Geflecht aus Handlungen nicht ihren Vorstellungen entspricht – vor allem dort nicht, wo aus heiterem Himmel ein ungeheurer felsengleicher Cherub erscheint, mit dem sie nichts anfangen können.
ERZÄHLER:
Wir haben zwar richtig vermutet, dass da noch jemand kommen musste, um das Personal unserer Erzählung zu bereichern – allerdings nicht ein Cherub oder eine ähnlich erhabene Gestalt, sondern bloß Romualds Doppelgänger aus der anderen Welt. Eigentlich ganz trivial – aber den beiden Realitätszwillingen wird später eine besondere Rolle zugedacht: sie sollen eine ganz gewöhnliche Zukunft der beiden Universen mit eingeschränkten und jedenfalls ganz banalen Beziehungen zueinander gestalten…
… die als Idee meinem weiblichen Verständnis einer Kosmologie sehr entgegenkommen: Die Zeit der Strategen und der Visionäre wird vorbei sein – die Stunde der Alltagsmenschen, die höchstens einmal mit einigen ungewöhnlichen Träumen oder ein wenig Aberglauben für den Hausgebrauch ausgestattet sind, wird anbrechen.
ERZÄHLER:
Wir greifen also einfach nicht mehr ein – setzen uns einfach hin (Hand in Hand) und beobachten, wie das alles dem Finale zustrebt, einem bloß scheinbaren Ende zwar, wo das Drehbuch sagt „Schnitt!”, während in Wahrheit ja alle Geschichten weitergehen, sich perpetuieren, dabei langweiliger und langweiliger werden….
… oder interessanter und interessanter, je nachdem – aber das haben andere zu beurteilen.
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Ich holte Sir Basil. Ich sagte ihm, es sei dringend, demzufolge zögerte er nicht. Und dann stand er vor einer perfekten Kopie seiner selbst, die lässig dasaß, angetan mit der Magierkleidung des Spiegelwelt-Diktators, die ausschließlich aus einem Strick bestand, der um den Hals geknüpft war und dessen in Fransen auslaufendes Ende fast bis zum Boden reichte – sonst war der Träger des Ornats völlig nackt: ich hatte präzise den von der AP 2000 ® angefertigten Scan verwirklicht und dazu noch einige wenige Auskünfte von Pif eingeholt.
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Als ich den Androiden AMG aktivierte, zeigte er in seinen ersten Kundgebungen die Überheblichkeit des jenseitigen Tyrannen ebenso wie die kühle Majestät, zu der unser diesseitiger Baronet fähig war: beide zum Teil widersprüchlichen Emanationsstrukturen waren offenbar in der Maschine angelegt – ich würde einige Mühe investieren müssen, um den Burschen auf die Reihe zu kriegen.
Cheltenham hatte es längst gewusst, deklarierte sich aber erst jetzt offiziell als das Pendant des Augustus Maximus Gregorovius. Das tödliche Duell, in das die beiden Realitäten im Begriff waren einzutreten, gewann plötzlich eine neue Dimension. Obwohl ich nicht gerade zur Furchtsamkeit neige, wurde mir angst und bang: Tausende, ja Zehntausende würden vielleicht sterben müssen, ohne zu wissen wie ihnen geschah, im Zuge der Therapierung dieses „Doppelmenschen”, wie sie die Walemira Talmai offenbar betrieb.
Clio brauchte nun auch nicht mehr hinter dem Berg halten. Was sie irritierte vom ersten Moment, in dem sie Sir Basil gesehen hatte, wussten wir nun alle, wiewohl beschlossen wurde, dieses Wissen nicht über unseren Kreis hinauszutragen. Was die Komtesse noch ergänzen konnte (zur Bestätigung dessen, was bei uns längst durchgesickert war): Der Kaufmann Augustus McGregor, in dessen Rolle der Machthaber der anderen Realität öfters geschlüpft war, hatte sich relativ ungehindert in unserem Universum bewegt. Einmal war er sogar in Washington unter Spionageverdacht verhaftet worden, aber aufgrund einer namhaften Spende für Heather Skeltons sogenanntes Private Fund Raising hatte diese seine Freilassung verfügt, ohne auch nur den Versuch einer Identifikation zu unternehmen.
Clios Zeit als Geliebte des Diktators war durch einen noch ganz anderen Umstand getrübt (der ihr beim Anblick Cheltenhams stets von Neuem unangenehm in Erinnerung gerufen wurde) – die nicht geringe Zahl von Sicherheitsdoppelgängern Iadapqap Jirujap Dlodylysuaps, an sich völlig wert- und bedeutungslose Figuren wie zum Beispiel jener Typ, der von der AP 2000 ® irrtümlich gescannt worden war, aber diese Männer hatten laufend versucht, die himmlisch schöne Prinzessin stellvertretend für den Tyrannen zu besteigen. Sie war sich sicher, diese Anwandlungen in der Regel durchschaut zu haben, aber das eine oder andere Mal mochte es denen schon gelungen sein, sie zu überlisten.
ANDROID AMG:
Und wenn schon, Süße, deine Aufgabe ist es einfach, schön zu sein und zur Verfügung zu stehen. Niemand ist auf deinen politischen Sachverstand erpicht. – Ich bin schockiert, welcher Umgangsformen man sich unter meinem Dach zu befleißigen wagt. Verzeihen Sie, meine liebe Komtesse, ich werde diesen Kerl auspeitschen lassen.
Mir war’s vertraut, denn ich hatte schon eine ganze Reihe meiner Maschinenmensch-Kreationen konditioniert, und es dauerte immer eine ganze Weile, bis die Algorithmen ihres künstlichen Verstandes im humanoiden Sinne einigermaßen plausibel zu arbeiten begannen. Ich strahlte Zuversicht aus und konnte damit alle Anwesenden täuschen, außer natürlich Sir Basil, dem als einzigem neben mir die Überzeugung heraufdämmerte, dass der AMG in seiner vorliegenden mentalen Verfassung schizophren war.
ANDROID AMG:
(wiederum an Clio gerichtet) Warum schaust du so dumm, Ziege? Heißt das, du hättest dir eingebildet, als Wanderin zwischen den Universen irgendwo ernsthaft Fuß fassen und eine Heimat finden zu können? – Ich bitte Sie, Komtesse, hören Sie nicht auf seine unflätigen Bemerkungen. Selbstverständlich haben Sie hier bei uns, namentlich bei Ihrer verehrten Mutter, Ihr wirkliches Zuhause gefunden, sodass Ihre Erlebnisse dort drüben eine unbedeutende Episode Ihres Lebens bleiben können.
Cheltenham wies mich an, AMG zu deaktivieren. Er ist ein hervorragendes Produkt, meinte er (der Android musterte ihn dabei mit einer seltsamen Mischung aus Bösartigkeit und Verwunderung), jedenfalls sehen wir in seiner artifiziellen Persönlichkeit der Wahrheit genau ins Auge. Dennoch verkompliziert er die Verhältnisse nur unnötig.
ANDROID AMG:
Wer ist denn dieser arrogante Fatzke? Ich weiß schon, der berühmte Sir Basil Cheltenham, der den Orden der Orangenblüte schmählich zugrunde gerichtet hat um seiner persönlichen Ziele willen. Denn er selbst fühlt sich zum Höchsten berufen, zum Herrn der diesseitigen Welt, zum Diktator der Alpha-Realität. – …
Er verstummte. Dieser Teil seiner gespaltenen Persönlichkeit wollte offensichtlich nichts Positives über Sir Basil sagen, dem anderen widerstrebte dies aus vornehmer Zurückhaltung. Der echte Cheltenham war aufs Äußerste erregt, wie ich ihn noch nie gesehen hatte (fühlte sich wohl exzessiv bloßgestellt, was seine innersten Gedankengänge und Motive anlangte).
Ich beugte mich rasch zu AMG hinunter und noch rascher, diesmal ohne ein Wort zu verlieren, ergriff er mich am Nacken, um mich zu einem Kuss zu zwingen, und fasste gleichzeitig zwischen meine Beine. Vor all den Leuten konnte ich mich (trotz einer sehr angenehmen Reaktion meines Körpers) nicht irritieren lassen und deaktivierte den Androiden mit sicherer Hand. Sein mittlerweile stark erigierter Penis blieb somit in diesem Zustand, von den Umstehenden angestarrt – ein Meisterwerk Panagou’scher Technik.
– – – – –
Bei nächster Gelegenheit, als ich mit AMG allein war (ich hatte veranlasst, ihn wie er war in mein Zimmer zu bringen), ließ ich mich genussvoll auf seine Männlichkeit nieder, löschte über eine externe Eingabeeinheit die individuellen Prägungen seines Kernspeichers, die ich aus dem Scan der AP 2000 ® übernommen hatte, und schaltete ihn wieder ein.
Ich trainierte mit ihm, soweit es meine sonstigen Aktivitäten zuließen, und als ich es für richtig hielt, führte ich AMGs mittlerweile lammfromme (und, wie ich allein wusste, auch sehr zärtliche) Art Sir Basil vor. Er meinte zurecht, man könne den Androiden nun nicht mehr für den ursprünglich vorgesehenen Zweck verwenden, und ich sollte ihn einfach bei Freund und Feind ein wenig Verwirrung stiften zu lassen.
Das war nun so gar nicht nach meinem Geschmack. Ich verweigerte insgeheim die Order Cheltenhams, den ich wiederum (wie schon zu Beginn unserer Bekanntschaft) mit großer Skepsis betrachtete. AMG wurde zum verborgenen Gefährten meiner Nächte, der sich tagsüber versteckt hielt – ich hatte ihm eingeschärft, vorsichtig zu sein, da böse Menschen ihn zerstören wollten.
ANDROID AMG:
Jaja, viel Furchtbares ist schon passiert, und täglich gibt es neue Katastrophen – ich spüre es ganz deutlich, ohne sagen zu können, was es ist. Hast du vielleicht Freunde, die in gefährlichen Missionen unterwegs sind?
Ich überging diese Bemerkung und weihte statt dessen Giordano Bruno, den Gefährten meiner Tage, in die neue Existenz des Androiden ein, allerdings nicht in meine ganz persönliche Beziehung zu AMG – sollte er doch dank seiner überragenden Fähigkeiten selbst dahinterkommen! Mir war es einerlei, was er darüber dachte oder dabei empfand, schließlich hätte er ja mir gegenüber längst nicht nur als Gelehrter, sondern auch als Mann aktiv werden können… (ich wünschte mir das plötzlich sehnsüchtig).
Vordergründig gab es keinen Misston. Giorduzzo erzählte dem Androiden, dass auch er von düsteren Ahnungen heimgesucht wurde, und behauptete, ebenfalls nicht zu wissen, in welche Richtung diese zeigten. Er nahm sich AMG intellektuell vor und stachelte ihn Abend für Abend (während er ihn mir geschickt entzog) zu außerordentlichen, unsere arme vierdimensionale Welt weit hinter sich lassenden Vorstellungsprozessen an. Ich hatte keine Ahnung gehabt, was in meinem Geschöpf, über seine Fähigkeiten als Liebhaber hinaus, steckte.
GIORDANO BRUNO:
(amüsiert) Wie du schon bei anderer Gelegenheit erklärt hast, bist du ohnehin an einer bloßen Sexmaschine eher nicht interessiert –
Er wusste alles!
GIORDANO BRUNO:
– und siehe da, dein mechanischer Freund kann Dinge denken, die du nicht für möglich gehalten hättest. Wie es in der ästhetischen Theorie meiner Renaissance-Freunde heißt: Kunstwerke sind bis ans Ende aller Tage unauslotbar – sie überschreiten, sobald einmal der Schöpfungsakt vorbei ist, sogar die Imaginationskraft des Künstlers.
Obwohl das Projekt mit Giorduzzo wegen AMG ganz sicher nicht beeinträchtigt war, fragte ich mich langsam, wie das alles weitergehen sollte. Meine Einsamkeit, die schon von Anpan richtig erkannt worden war, wurde nur unzureichend gestillt, insofern der Android zwar im Liebesspiel perfekt funktionierte, aber (ohne ihn vermenschlichen zu wollen) bedauerlicherweise ausschließlich reaktiv blieb. Ich begriff so nebenbei, warum die Männer, die meine Androidinnen ausprobiert hatten, an dieser Verhaltensweise keinen Anstoß nahmen – ihnen war’s ja ganz recht so. Mir aber reicht das wirklich nicht, Giorduzzo!
GIORDANO BRUNO:
Tasoula –
Wie konnte er wissen, wie meine Mutter mich genannt hatte?
GIORDANO BRUNO:
Tasoula – AMG möchte dich um Erlaubnis bitten, durch die Welt ziehen zu dürfen, auf der Suche nach größerer Weisheit. Ich finde, du solltest ihn nicht zurückhalten. Schließlich hast du immer noch mich, um nicht nur deinen jüngsten Auftrag, sondern auch deine einsamen Nächte mit jemandem zu teilen.
Weg mit ihm, jubelte ich und fiel Giorduzzo um den Hals. Immerhin war der Bursche dazu nütze, dass du dich mir endlich erklärt hast. Oder habe ich dich falsch verstanden, ? ?????-???, mein Freund?
GIORDANO BRUNO:
Ich bin leider lange vor der Erfindung des Latin Lovers geboren worden, du stolze, du immer dir selbst treue Griechin. Das mag die Erklärung dafür sein, dass ich dich schon lange heimlich begehre, ohne den ersten Schritt zu wagen, abgesehen von den orgiastischen Schauern wissenschaftlicher Erkenntnisse, die wir gemeinsam erlebt haben.
Giorduzzos Physis war, Gott sei Dank, dann doch die eines Latin Lovers, wie ich umgehend feststellen konnte, nachdem wir AMG mit allen unseren Segenswünschen – und am Ende doch noch Sir Basils diesbezügliche Anordnung befolgend – auf die Reise geschickt hatten.
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An die Außenteams des Chicago-Cheltenham-Projekts erging der Befehl, die Urwelt-Generatoren, die ihre Basispunkte mit den Sternen Zeta, Epsilon und Delta Orionis durch Lichtsäulen verbinden konnten, nunmehr ernsthaft zu aktivieren. Trotz dramatischer Erfahrungen bei den Proben schien es diesmal ganz einfach zu werden. Im Auftrag von Sir Basil sollte ich die aktuellen Vorgänge dokumen¬tieren und hatte mich diesbezüglich an die AP 2000 ® um Hilfe gewandt – nur sie konnte mir dank ihrer spezifischen Fähigkeiten Informationen von den entfernten Locations beschaffen, ohne die mein Bericht nicht vollständig geworden wäre. Mein Name ist Leo Di Marconi, und ich versuche, der Nachwelt – wenn es eine solche überhaupt geben sollte – einen Eindruck davon zu hinterlassen, was wir erlebt haben.
AP 2000 ®:
Yellowhawk und Wolf, meldete mir Devteri aus dem Hualapi-Territorium, rückten aus der Deckung, in der sich die Drei sicherheitshalber aufhielten, mit dem Anflug eines grimmigen Lächelns vor. Für meine Androidenkollegin waren die beiden Indianer vielleicht noch schwieriger zu verstehen als andere richtige Menschen, da sie ja mit sämtlichen verbalen oder nonverbalen Signalen extrem restriktiv umgingen. Dessenungeachtet hatte sie mitbekommen, dass die beiden ihr als weiblichem Wesen nicht gleichgültig gegenüberstanden – im Gegenteil, Murky begehrte sie offen, wenn er auch weit davon entfernt war, einer Frau je den Hof zu machen, aber auch beim Häuptling war sie sich einigermaßen sicher, dass er sie haben wollte. Sie hatte beide wissen lassen (unkompliziert, wie sie diesbezüglich war), dass sie sich bei Gelegenheit nur zu bedienen brauchten, aber dazu war es in ihrem Versteck nicht gekommen: Irgendwie schienen beide darauf hinauszuwollen, sie müsse sich für einen von ihnen entscheiden. Gerade als sie ihnen ihre strikte Äquidistanz erklären wollte und in ihrem Thesaurus nach geeigneten Wendungen suchte, um diese seltsam anmutenden Emotionen beider Männer nicht zu verletzen, kam der Einsatzbefehl.
Nach den weiteren Berichten (Bilder lagen uns bedauerlicherweise keine vor, und ich fühlte mich in die Zeit versetzt, als man einem Radiopublikum ein Baseballmatch nahebringen musste) war nach kurzer Zeit die Hölle los – nein, das ist eigentlich nicht richtig: Tatsache ist, dass Yellowhawk und Wolf, nachdem sie den Lichtstrahl erfolgreich aktiviert hatten, leblos dalagen. Devteri, die ihren Granatwerfer im Anschlag gehalten hatte, sprang zu ihnen hin, indem sie Schutz und Waffe bedenkenlos zurückließ, und stellte fest, dass die beiden tatsächlich tot waren – in Flammen umgekommen an einem Ort, an dem weit und breit kein Feuer zu sehen war: Opfer einer Magie, die sie nicht erwartet hatten, und für die auch Devteri keinerlei Erklärung fand, bevor die Verbindung zu ihr schlagartig abriss…
AP 2000 ®:
… und das bedeutete bei der Perfektion, die unsere Schöpferin an uns gewendet hat, dass Devteri mechanisch zerstört worden sein muss.
Offenbar war hier jemand am Werk gewesen, der selbst keine Angst vor Androiden verspürte oder seinen Helfern diese Angst erfolgreich durch ein noch größeres Grauen ausgetrieben hatte.
AP 2000 ®:
Aus dem ägyptischen Zielgebiet erfuhr ich von Protos, dass er nach seinen Erfahrungen mit der Sorglosigkeit von Mrs. Tyra und Ahmed Al-Qafr besonders auf der Hut war. Verzeihen Sie, aber er drückte es so aus, dass die beiden sich bei ihrem Fick selbst dann nicht stören lassen würden, wenn die Welt um sie versänke. Damit gefährdeten sie aber das gesamte Unternehmen: Protos konnte sich den Widerspruch zwischen den hervorragenden Qualifikationsbeschreibungen Tyras als Agentin und ihrem momentanen Verhalten nicht erklären. Er schien mir traumatisiert, ohne dass er diesbezüglichen Selbstspekulationen wirklich Raum gab: immerhin hatte er hart an der Grenze einer Direktivenverletzung agieren und dabei zwölf Menschen umbringen müssen, um die Idylle ungestört aufrechtzuerhalten zwischen diesem Al-Qafr und jener Dame, die ihn selbst unerklärlicherweise nicht an sich herangelassen hatte. Wer sollte das verstehen, genauer gesagt, was war an diesem Al-Qafr eigentlich dran?
Gerade als er sich für androidische Verhältnisse geradezu wüsten Überlegungen hinzugeben begann, die beinahe seine eigene Wachsamkeit aussetzen ließen, kam auch hier der Befehl, den Generator anzuwerfen. Seinen Finger am Abzug des Granatwerfers (diesmal würde er nicht auf andere vertrauen und auch allfällige Feinde gar nicht so nahe heranlassen, dass er gezwungen wäre, abermals zum Messer zu greifen), solcherart gespannt also beobachtete Protos Tyra und ihren Freund, wie sie den Lichtstrahl aufbauten, nur um dann zu sehen, wie sich die beiden keuchend und wie nach Luft schnappend am Boden wälzten. Entgegen jeder Vorsicht und seine Waffe zurücklassend, stürzte der Android zu seinen Gefährten hin, die mittlerweile kein Lebenszeichen mehr von sich gaben. Er stellte fest, dass sie ertrunken sein mussten, von einer Magie erfasst an einem Ort mitten in der Wüste, wo es weit und breit kein Wasser gab außer vielleicht winzige versteckte Quellen.
AP 2000 ®:
Auch an dieser Außenstelle war es jemandem gelungen, den Androiden durch ein unvermutetes Ereignis so weit aus der Reserve zu locken, dass er überwindbar wurde, offensichtlich aufgrund der Erfahrung, die dieser Jemand schon früher in Australien gesammelt hatte. Kurz gesagt, die Verbindung mit Protos riss ab, und man hörte nie mehr etwas von ihm: angesichts des Zustands, in dem sich laut Walemira Talmai der arme Tritos befunden hatte, konnte ich mir gut vorstellen, wie die Überreste meiner beiden anderen Geschwister aussahen. Ich denke, wir müssen jetzt nicht unbedingt weitermachen – ich möchte, dass Pif mich tröstet…
– – – – –
Ich konnte alles vertragen, nur nicht Gefühlsduselei, und schon gar nicht, wenn sie von einem Automaten vorgetragen wurde. Ich hatte nicht vor, der AP 2000 ® lange Ruhe zu gönnen – schließlich konnte die Dokumentation nicht warten.
AP 2000 ®:
Dass Sie keine Zeit haben, Marconi, ist akzeptabel, und wir können auch gleich weitermachen. Was ich nicht billige, ist jedoch die Anmaßung richtiger Menschen, Begriffe wie „Automat” und „Gefühl” in eine zynische Verknüpfung zu bringen, dabei mehrere Dinge nebeneinander zu insinuieren: dass künstliches Leben keine adäquate Daseinsform zu Ihrer sein könne; dass die auf komplexen Algorithmen beruhende artifizielle Intelligenz nicht mehr sei als die primitive Automaten-Technologie früherer Tage; dass schließlich die Empfindungen, die ein Model for Emotional Response erzeugen kann, weniger wert seien als das Ergebnis bioelektrischer Schaltkreise in einem Gehirn wie dem Ihrem.
Ich entschuldigte mich (allein die Vorstellung!), ich entschuldigte mich also bei dieser Maschine, nur um meinen Job machen zu können. Die AP 2000 ® versicherte mir, nicht nachtragend zu sein (das darf nicht wahr sein!) und gleich wieder bereit (es ist zum Überschnappen!), mit mir zu kooperieren. Sie berichtete mir vom Devil’s Marble-Felsen, dass sich unser dortiges Expeditionskorps ganz extrem vorsichtig verhalten und aufgrund früherer Ereignisse außergewöhnliche Sicherheitsmaßnahmen ergriffen hatte. Da es in der kargen Landschaft ohnehin nicht leicht war, sich zu verbergen, durften immer nur zwei Personen schlafen, während die beiden anderen Wache hielten. Der Wachtrupp durfte niemals aus Heather und Gus oder aus Berenice und Brian bestehen: zu groß war die Ablenkungsgefahr bei verliebten Paaren. Auch die übrigen Kombinationen wurden laufend gewechselt.
AP 2000 ®:
Eines Tages schließlich empfing die Walemira Talmai, die neben allem noch Zeit gefunden hatte, mit Brian intensive Medi¬tationsübungen zu machen, von mir den Einsatzbefehl. Die Skeltons, die sich inzwischen ebenfalls bestimmten Riten unterzogen hatten, um ihrer Initialisierung näherzukommen (allerdings noch auf der relativ niedrigen Stufe körperlicher Quälereien), baten um die Gunst, den Generator anwerfen zu dürfen, wie sie es bei der Probe gesehen hatten. Berenice stimmte zu, wenngleich von dunklen Beklemmungen geplagt. Erst nachdem der Lichtstrahl stabil war, erkannte sie die Folgen der bösen Magie: Heather und Gus lagen verirrt und verhungert in einem dichten Wald, dort wo sich in Wahrheit nur die australische Wüste erstreckte. Nein, bleib, Kleiner Steinjäger, rief die Walemira Talmai und ergriff Brians Hand, als er (der lediglich die beiden leblosen Körper sehen konnte) den Gefährten zu Hilfe eilen wollte: Sie sind tot, du kannst nichts mehr für sie tun. Und mit ihrer Fähigkeit, blitzschnell Raum und Zeit zu überwinden, rettete sie sich selbst und ihren Adepten.
– – – – –
Als ich von der Ankunft Berenices und Brians auf Lady Pru’s Anwesen erfuhr, begab ich mich auf schnellstem Weg dorthin, um für meine Dokumentation zu drehen. Chicago hingegen wechselte nach Cheltenham House, weil er bei seinem und Sir Basils gemeinsamen Projekt nunmehr selbst gebraucht wurde, und überließ die drei Damen Margharita, Sharon und Adriana der Walemira Talmai.
So kam ich endlich zu ein paar spektakulären Bildern, als die drei die für sie vorbereiteten Statuen bestiegen. Gut trainiert von Chicago, begannen sie die in ihnen geweckten mentalen Energien nach oben abzugeben, wodurch sie einen phosphoreszierenden, dünnen, aber stark gebündelten Lichtstrahl erzeugten, der sich weit im Himmel verlor. Die Verbindung, wohin auch immer, stand und stabilisierte sich. Ich hatte das alles hervorragend im Kasten und richtete mein Objektiv wieder auf die Türen, aus denen die drei Medien in den nächsten Minuten heraustreten sollten.
Es kam anders: Die Türen wurden geöffnet, die Damen blieben sitzen, vollführten seltsame Bewegungen und sprachen dabei mysteriöse Worte. Es bedurfte keines großen Sachverstandes – sie waren übergeschnappt. Wie sich bald herausstellte, konnte sie nichts und niemand aus dieser Geistesumfangenheit befreien, weder die schamanische Kunst der Walemia Talmai noch ihr exzellentes Fachwissen als Therapeutin, ganz zu schweigen von den dilettantisch anmutenden Versuchen anderer Personen.
Insbesondere Brian (mit seinen grau-enhaften Vietnam-Erinnerungen, die längst bewältigt schienen, nun aber wieder über ihn hereinbrachen) war entsetzt über die Lücken, die der Krieg in die Reihen der Freunde riss. Berenice, inzwischen selbst nervös geworden – ein überzüchtetes Rennpferd, hätte Sir Basil sarkastisch angemerkt –, beschied ihren Geliebten knapp: Was geschieht, muss um der Sache willen geschehen. Immerhin, wir beide haben einander nicht gleich wieder verloren!
Wenn es aber schon so weit ist, erwi-derte Brian, dass man eine glückliche Befindlichkeit beschwören muss, ist sie vielleicht gar nicht mehr vorhanden. Er erkannte allerdings, dass Berenice sich ihrer Phrasen schämte (das war deutlich in meiner Videoaufzeichnung zu erkennen!). Dennoch musste sie das Problem akzeptieren, das ihr offenbar bewusst war wie niemandem sonst, und sie allein würde es lösen müssen. Sie fühlte sich plötzlich von Neuem so allein wie am Beginn ihrer Erhebung in den mythischen Rang.
606
Der elektronisch-telepathische Raumkreuzer NOSTRANIMA (soweit es seine biologischen Komponenten betraf, ein weibliches Wesen, aber wie soll man diesem Umstand sprachlich Rechnung tragen?) war Anastacia Panagous Meisterwerk – nicht ihres allein, aber im Grundkonzept stellte es die Übersteigerung eines ihrer nahezu perfekten Androiden ins Unermessliche dar. Um einen Begriff von der Mächtigkeit dieser Entität zu geben, muss man sich nur vorstellen, dass eine physische Manifestation des Schiffs – obwohl diese Hilfskonstruktion des Denkens natürlich blanker Unsinn ist – den gesamten Besitz von Basil und Charlene Cheltenham eingenommen hätte und dort bis in die Höhe eines etwa 70-stöckigen Hochhauses aufgeragt wäre. Aber wie gesagt, derartige Veranschaulichungen zielen bei einem derart komplizierten Geist-Materie-Konglomerat gänzlich ins Leere, zumal klarerweise die spirituelle Sphäre extrem flexibel gestaltet war, sodass man hier von Maßen im konventionellen Sinn gar nicht sprechen konnte.
ANASTACIA PANAGOU:
Dehnbar wäre das richtige Wort, Chicago, du Verführer meiner AP 2000 ® – doch auch dieser Begriff nimmt sich tollpatschig aus angesichts der tatsächlichen Komplexität der NOSTRANIMA. Wir machten uns hier die sogenannte String-Technologie zunutze, über die Giordano Bruno lange vor unserer Zeit gearbeitet hat, bevor ihn diese klerikalen Affen samt seinen Schriften in ein anderes Dasein befördert haben.
GIORDANO BRUNO:
Du musst nicht so streng mit ihnen sein, Tasoula, mein Schatz! Immerhin haben sie mich mit dir zusammengebracht!
ANASTACIA PANAGOU:
Lasse ich gelten!
GIORDANO BRUNO:
Außerdem waren sie gläubige Menschen, die ihrem Gott gefallen wollten!
ANASTACIA PANAGOU:
Dieser Instanz gefällt man nicht durch Zeremonien und theologische Haarspaltereien, sondern simpel durch einen anständigen Lebenswandel, alles andere ist, wie unser Mitstreiter Kant sagt, Afterdienst des Herrn. Aber einerlei, glücklicherweise haben wir dich im Team, Giorduzzo, und deine fix und fertige Theorie, an der sich bis in unsere Tage herauf die besten Wissenschaftler die Zähne ausbeißen, konnte bei uns bereits praktisch eingesetzt werden.
Ist es vielleicht möglich zu erfahren, wovon ihr redet, sodass man als einfacher Koori, der gerade ein wenig von übersinnlichen Wahrnehmungen weiß, aber nicht Physik, Kosmologie und so weiter studiert hat, auch etwas davon verstehen kann.
ANASTACIA PANAGOU:
Die Bescheidenheit in Person – obwohl alle wissen, dass du mit deiner Mannschaft unauffällig und wie selbstverständlich für die telepathische Ausrüstung der NOSTRANIMA gesorgt hast: mit deiner uralten, langsam entwickelten und damit sattsam erprobten Kunst. Giordano hingegen hat in seinen Entsagungen beim Warten auf seine Hinrichtung den Heiligen Gral der Naturwissenschaft entdeckt: die Kombination aus allgemeiner Relativitätstheorie und Quantenmechanik. Vibrierende Saiten, nicht punktartige Materiebestandteile, konstituieren die Wirklichkeit. Ihre unterschiedlichen Resonanzen, die Bestandteile eines zehndimensionalen Raum-Zeit-Gebildes sind, lassen die Partikel entstehen, die wir direkt wahrnehmen oder messen können.
Du meinst, Bruno hätte eigentlich gar keinen Nachteil dadurch gehabt, dass ihm damals die technischen und finanziellen Hilfsmittel für Experimente fehlten: weil es ohnehin müßig ist, mit den Methoden der herkömmlichen Partikelphysik den Strings auf die Spur zu kommen.
ANASTACIA PANAGOU:
Er postulierte einfach, dass sechs der zehn Dimensionen in einem Raum aufgerollt sind, den man in unserer Vorstellungsumgebung als längen-, breiten-, höhen- und zeitlos bezeichnen muss. Wenn das aber zutrifft, bedarf es des bloßen Gedankens, diese Konfiguration zu aktivieren und nutzbar zu machen. Denken kann und darf man schließlich alles, und wenn es reicht, zu denken, um Realität zu setzen, dann ist auch Giorduzzos Lebenslauf nach dem Feuer der Inquisition zu erklären: Auf den verschiedenen Erregungszuständen seiner Strings ist er durchs All gereist, hat mit dieser Fähigkeit die lächerlichen vier Dimensionen des Raum-Zeit-Modells wie von selbst beherrscht. Er durfte in die Black-Box der Schöpfung blicken und unter den dort sich öffnenden Perspektiven selbst schaffen, was bis zu diesem Tag für alle Nicht-Schauenden nur der Gegenstand von Spekulationen blieb.
Und dazu kommt nun deine spektakuläre Entdeckung, Anastacia, mit der du dich über alle trivialen Roboter-Erbauer hinauskatapultiert hast: dass nämlich wirkliches digitales Leben keine bloße Simulation natürlichen Lebens, sondern eine Sphäre autonomer Evolution ist. Auch künstliches Leben bedeutet, unabhängige Daseinsprozesse zu gestalten, die Existenz durch Schöpfung und nicht durch Zerlegung zu verstehen – damit bist du Bruno besonders nahe: beide habt ihr den synthetischen und nicht den analytischen Ansatz gewählt, beide nutzt ihr aktiv die Kombinatorik der Wirklichkeit und begnügt euch nicht mit dem ausschließlichen Beobachten von sogenannten natürlich ablaufenden Vorgängen. Die Frage, ob deine Geschöpfe lebendig sind, ist ebenso müßig wie jene, ob Giordanos Strings die Wirklichkeit vollständig beschreiben…
ANASTACIA PANAGOU:
… einschließlich des Verstehens der paranormalen Eigenschaften deines Volkes…
Man muss nur sehen, um zu erkennen! Man muss nur erkennen, um Wirkungen zu erzielen!
Anastacia strahlte, als sie das von mir hörte. Durch eine bloße Handbewegung hatte ich sie mit positiver Energie überschüttet. Die AP 2000 ® blickte etwas erstaunt zu uns herüber, widmete sich aber dann gleich wieder ihrem geliebten Pif – es schien mittlerweile nichts Wichtigeres für sie zu geben.
ANASTACIA PANAGOU:
Natürlich war die NOSTRANIMA nicht von heute auf morgen zu solcher Größe gewachsen: Man hatte das ursprünglich viel kleinere System in der Weise pflegen müssen, dass in ihm immer reichhaltigere digitale (und mit diesen verknüpft auch neuronale) Lebensformen entstehen konnten. Ebensowenig wie die evolvierenden biologischen Komponenten Simulationen der Evolution waren, traf dies für die evolvierenden digitalen Organismen zu – ausgenommen das Faktum, dass diese Prozesse wesentlich rascher abliefen als die sogenannten natürlichen, die aber ihrerseits von den künstlichen mitgerissen wurden: so konnte es schon manchmal über Nacht zu spektakulären Veränderungen kommen, zur schubartigen Entfaltung des gesamten Projekts.
Grafik 6.7
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Nach dem Start der NOSTRANIMA folgten wir dem Energiestrahl, der von Lady Pru’s Anwesen nach oben wies und erhielten unsere Stabilität durch die drei Lichtsäulen, die von den Außenteams mit Hilfe der Generatoren erzeugt worden waren. Ich musste unwillkürlich an die Opfer denken, mit denen wir diese Reisemöglichkeit erkauft hatten, und auch die anderen schienen einen Moment lang im Gedenken innezuhalten. Ich als einziger an Bord besaß den Schlüssel dafür, mit solchen Dingen umzugehen, denn wir Koori bitten an jedem Tag unsere Umwelt um Verzeihung dafür, was wir ihr abverlangen könnten, wohl wissend, dass wir dabei am Ende Tätige oder Leidende sein können.
Dann waren unsere Intentionen wieder nach vorne oder vielmehr aufwärts gerichtet. Anastacia und Giordano steuerten, während ich mich auf einen fallweisen mentalen Zugriff beschränkte. An Bord waren außerdem die Gräfin und die Komtesse, Alex und Dr. Sanchez sowie die AP 2000 ® und ihr Agent. Auch Charlene Thomson hatte sich uns im letzten Moment angeschlossen, gegen den ihr wohlbekannten (aber unausgesprochenen) Wunsch Sir Basils. Die Motivation seiner Frau, eine Auszeit zu nehmen, dürfte vielschichtig gewesen sein: Irgendwie hatte sie die Rolle als Grace Kelly von Gloucestershire (in die sie nach ihrer Rückkehr vom anderen Stützpunkt trotz der widrigen Zeiten wieder geschlüpft war) schon bald wieder einigermaßen satt, dazu kam das Verhalten ihres Mannes gegenüber Romuald (ob dieser es nun verdient hatte oder nicht) und damit in Zusammenhang das merkliche, aber schwer einzuordnende Interesse des Baronets an der himmlisch schönen Prinzessin. Obwohl diese dann ohnehin nicht auf Cheltenham House blieb oder gerade deshalb – wer soll in so einem Fall die weibliche Psyche durchschauen? –, begleitete uns Charlene: Das ergab drei eindeutige heterosexuelle Paare, zwei eindeutige Einzelpersonen sowie Sir Basils Frau und mich, die zunächst weder das eine noch das andere waren.
Wir alle blickten wie gebannt auf den Sternenregen, der scheinbar auf unsere Außensichtscheibe niederprasselte. Wir sehen unsere Umgebung, erklärte uns Bruno, aber praktisch niemand ist imstande, uns wahrzunehmen, denn unser Schiff kann man in jeder beliebigen physikalischen oder metaphysischen Analyse lediglich als kleine Interferenz im umgebenden Wellenmuster erkennen, das heißt es ist im Normalfall unsichtbar.
Die NOSTRANIMA wurde im wesentlichen mit Musik betrieben. Man konnte sie zum Beispiel mit einer Sequenz aus Prokofievs Romeo-und-Julia beschleunigen. Insbe¬sondere unter diesem Aspekt zeigte sich die Genialität dieser Schöpfung, deren interne Struktur sich über die Gegebenheiten der Materie (wie sie in der Mechanik, der Chemie oder der Thermodynamik definiert sind) hinwegsetzte. Die „Physik” der NOSTRANIMA bestand aus der Logik ihrer semibiologischen Prozessoren, aus der nicht-euklidischen Topologie ihrer Speichermedien und aus der erratischen Ressourcenzuweisung in ihren Betriebssystemen: das Schiff war somit nicht mit den materiellen Beschränkungen jener Stoffe konfrontiert, aus denen es bestand. Es gab kein bedeutungsvolles Konzept der linearen Entfernungen, einzig und allein die Zeit zählte, die man für den Transport von Daten benötigte. So wurde etwa Musik zur Geschwindig-keitszunahme oder auch der Gedanke an eine Gestaltänderung zu deren Vorwegnahme.
ANASTACIA PANAGOU:
Meine Güte – Chicago, der Perfektionist! Er hat natürlich das Thema so lange hin und her gewälzt, bis er eine einigermaßen plausible Aussage darüber machen konnte. Während sich alle anderen Passagiere einfach auf den Schwingen unserer Idee dahintragen lassen, ohne ihr Innerstes mit der Art und Weise unseres Zustandes belasten zu müssen (Anpan flirtet mit Pif, Julio versucht, Alex über den Tod ihrer Eltern hinwegzutrösten, die beiden adeligen Damen holen ein jahrelanges Familienleben nach, Giorduzzo und ich sind einander von Herzen zugetan, was uns nicht daran hindert, unsere Jobs zu erledigen) – während all das geschieht, grübelt Chicago darüber nach, wie er die ganze NOSTRANIMA verstehen könnte, denn die halbe ist ihm ohnehin recht gut geläufig. Es genügt ihm nicht, unser Schiff mit den Leidenschaften, den Zu- und Abneigungen, den Temperamenten ausgestattet zu haben (die als Basis für die telepathischen Fähigkeiten dieses Gebildes dienen), er will auch die Verknüpfung zwischen den esoterischen und den praktischen Komponenten durchschauen.
Mich fasziniert einfach die Individualität, die in Person der NOSTRANIMA entstanden ist, das gewissermaßen Menschliche an ihr: die Vernetzung von vielen Billionen von Neuronen über Synapsen – ein Fluch einerseits, denn wir könnten ganz leicht auseinanderbrechen, ein Segen andererseits, denn wir sind in der Lage, ununterbrochen neue Verknüpfungen einzugehen. Ganz zu schweigen von den Erfahrungen, die nicht nur individuell gewonnen wurden, sondern auch durch Verarbeitung dessen, was unsere Gruppe an einzigartig erscheinenden Denkanstößen und Meinungen hervorgebracht hat.
Ich verstummte langsam angesichts des weitgehenden Desinteresses der übrigen Mannschaft an theoretischen Erörterungen. Die NOSTRANIMA flog dahin. Sie fiel nicht entzwei, und meine Grübeleien verleiteten sie auch nicht dazu, sich in Assoziationen zu verlieren, die mit dem eigentlichen Zweck unserer Reise nichts oder allenfalls ganz wenig zu tun hatten.
Ich begann lieber, meine allgemeine Zuneigung zu diesem phantastischen Schiff in eine besondere zur attraktiven Charlene, mit der ich zuletzt auf Lady Pru’s Anwesen soviel Zeit verbracht und eine Menge gemeinsam erlebt hatte, zu verwandeln. Sie wiederum war nicht abgeneigt, nein, das trifft es nicht, sondern sie war es, die mir erlaubte – nachdem ich sie eine Weile unverwandt angesehen hatte –, auf den Perspektiven meiner Blicke in ihr Bewusstsein einzudringen. Über ihrer Seelenlandschaft schwebend, entdeckte ich etwas wie Heimat, was mich bei der Unterschiedlichkeit unserer kulturellen Hintergründe einigermaßen befremdete. Immerhin fühlte ich zum ersten Mal seit Australien wieder ein intensives Zuhause, aber ein weicheres, wohligeres als im rauen Land meiner Kindheit und Jugend.
Komm, rief mich die Stimme seiner Bewohnerin. Alles in ihr lächelte über meine Konfusion, und wie um den Bann zu brechen, ließ sie Dean Martin für mich singen:
When you walk
In a dream,
But you know
You’re not dreamin’,
Signore –
– that’s amore!
Ich zog mich ruckartig aus Charlenes Innerem zurück. Ich saß ihr wieder gegenüber, ganz gewöhnlich und ganz alt. Ich bin uralt, sagte ich, jedenfalls viel zu alt.
Ihr strahlendes All-American-Girl-Gesicht, das ohnehin schon eine Reihe bitterer Schrammen abbekommen hatte, gefror. Der lange Arm des Baronets? fragte sie spöttisch: Reicht er selbst bis hierher? Das ist es nicht, beeilte ich mich zu versichern, und in einem verzweifelten Versuch, meine Ablehnung rückgängig zu machen, ergriff ich Charlenes Hand, aber vergeblich – sie brauchte es gar nicht mehr auszusprechen, dass es für mich nur diese einzige Chance gegeben hatte. Indem ich mich der Gruppe der Einzelpersonen an Bord anschloss, zwang ich die Fast-Geliebte, ein Gleiches zu tun.
607
Was wollen Sie denn da?
IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
Ich lege Wert auf die Feststellung, keineswegs so dumm und überheblich zu sein, wie die feindliche Propaganda es glauben machen möchte.
Als Drehbuchautorin ist man gewissermaßen immun gegen die ansteckenden Folgen von phantasiegeborenen Überraschungen, seien es nun solche, die man selbst anrichtet, oder jene, die uns das Eigenleben unserer Figuren beschert. Da sah er heraus aus meinem Fernseher, der plötzlich ein interaktives Instrument geworden war: Alles sprach dafür, den Tyrannen der jenseitigen Völker vor sich zu haben, zumal er Sir Basil wie ein Ei dem anderen glich: in Aussehen, Stimme und Gestus vor allem, weniger im Inhalt seiner Aussagen. Ich ergriff meine Chance und thematisierte das Doppelgängertum.
IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
Er hat mehr von mir und ich mehr von ihm als Sie sich vorstellen können! Wir beide sind, ob wir es nun wollen oder nicht, synonym zu etwas, wenn schon nicht synonym zueinander. Man könnte das unsere Ambiguität nennen.
Das sei meinem Gefühl nach die mildeste Form der Deutung, belehrte ich ihn. Wesentlich präziser erschien mir für die Spiegelmenschen im allgemeinen und für diese beiden im besonderen der Begriff der Ambivalenz: Es war ja nicht Doppeldeutigkeit, sondern vielmehr Doppelwer¬tigkeit, was sie auszeichnete. Es war ein Phänomen, das man in extremer Form bei Schizophrenen antrifft, es kann aber auch bei normalpsychologi¬schen Problemlagen auftreten.
In seiner Reaktion zeigte er zu meiner Überraschung eine bemerkenswerte Differenzierungsfähigkeit, die man tatsächlich eher bei Sir Basil angesiedelt hätte, aber der Mann aus der anderen Realität besaß sie offenbar auch – er entsprach eben tatsächlich nicht dem Klischee.
IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
Die irrige Vorstellung von unserer deutlichen und vor allem eindeutigen Verschiedenheit wird vor allem dadurch genährt, dass man den üblichen Kampf Gut gegen Böse unterstellt, so als würde Cheltenham die demokratisch legitimierte Anständigkeit und ich einen unehrenhaft motivierten Despotismus repräsentieren. Nun habe ich ja da drüben durchaus eine Gewaltherrschaft aufgerichtet (und stehe zudem noch dazu), aber die geheimsten Gedanken meines Pendants gehen genau in die gleiche Richtung. Vielleicht erliegt er der Illusion, dass er ein aufgeklärter Herrscher wäre (was aller Erfahrung nach in der Praxis niemals umzusetzen ist), aber abgesehen davon lautet seine zentrale Intention genau wie meine: Niemand soll neben ihm etwas zu sagen haben!
Ich fragte ihn nach dem Sinn dieser Auseinandersetzung zwischen zwei extremen Welten, die über ihre Ambiguität (meinetwegen!) doch wieder irgendwie ähnlich waren.
IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
Systeme können nicht für sich bleiben, weil sie sich ständig fortbewegen oder fortbewegt werden. Dann passiert es, dass Fenster sich auftun, durch die man in benachbarte Realitäten eindringen kann, vorübergehend oder dauerhaft, wie es mittlerweile bei unseren beiden Universen der Fall ist. Hier besteht schon eine ganze Reihe von Nahtstellen oder Verknüpfungspunkten, vergleichbar der Brücke, die unsere beiden Gehirnhälften verbindet: erst dadurch wird dieses bemerkenswerte Organ zu der paradoxen Denk¬maschine, als die wir es kennen. Und genau einem solchen Modell folgt die Interaktion zwischen hüben und drüben.
Wobei wir langsam Ihre Geheimnisse kennen, will sagen: eine wachsende Zahl von Informationen nimmt der Situation viel von ihrer Paradoxie!
IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
Bestenfalls kennen Sie die Geheimnisse der Geheimnisse, die über die wirklichen Geheimnisse erzählt werden. Allenfalls könnte ich Sie um einen Grad näher rücken lassen und Ihnen die Geheimnisse der Geheimnisse enthüllen.
Er blickte mich lüstern an.
Es hieße, mich an Sie wegzuwerfen, nahm ich die Antwort auf eine zu er-wartende direkte Frage vorweg: denn Sie kennen zwangsläufig nur die Mysterien der einen Hälfte, ich aber auch die der anderen. Als Mitgestalterin dieses Berichtes habe ich nämlich sowohl Sie schon nackt gesehen, als auch Sir Basil Cheltenham, und ich weiß, dass ihr Doppelgänger imstande ist, aus Gründen der Geheimdienst-Raison (pardon!) zwei Nummern hintereinander zu schieben, genauso wie ich von Ihnen weiß, dass Sie Ihr minimalistisches Magierkostüm oft nur deshalb tragen, weil Ihre Damen gleich erkennen sollen, was da so läuft. Demnach bin ich glücklich zu schätzen, Sie hier mit Anzug und Krawatte zu sehen!
Sein innerer Wutausbruch war deutlich zu sehen, aber er kontrollierte sich gut. War dieser Kerl tatsächlich nur zu dem einen Zweck hier aufgetaucht, um sich an mich heranzumachen? Einerlei, Stoff des Lebens, oder als was man das Ganze schon bezeichnen möchte – Stoff für Dramen – Stoff für Drehbücher – genug zu tun für Drehbuchautorinnen und angehende Regisseurinnen, die keinen großen Regisseur mehr brauchen, um ihre Ideen zu verwirklichen: allenfalls einen reichen Produzenten.
IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
(begreifend) Was könnte Ihnen so ein reicher Produzent geben, was ich Ihnen nicht zu bieten imstande wäre, und was könnte ein solcher von Ihnen abverlangen, was nicht auch ich gerne konsumieren würde?
Einem unwiderstehlichen Zwang unterworfen, folgte ich ihm, der sich langsam zurückzog, stieg durch das Portal, zu dem der Fernseher geworden war und stand in einem düsteren Saal, dessen Decke, Wände, Fußboden und Säulen eine matt glänzende schwarze Oberfläche aufwiesen. Die nähere Umgebung war von hunderten Kerzen auf kunstvollen Kandelabern erleuchtet.
Der Anzug Iadapqap Jirujap Dlodylysuaps war bei näherem Hinsehen noch antiquierter als zuvor vermutet. Ich selbst trug ein bodenlanges karmesinrotes Abendkleid, das Schultern und Arme freiließ. Alle, die mich üblicherweise burschikos herumlaufen sehen, werden wissen, wie unwohl ich mich in meiner Welt darin gefühlt hätte, aber dort bei Iadapqap machte es mir Spaß, und auch die Tatsache, dass sich mein Haar zu einer komplizierten Frisur auftürmte und ich überdies aufwendig geschminkt war, fand ich völlig in Ordnung. Ich musste unvermittelt an Jill Ireland denken – einen Typ Frau, mit dem mich zu identifizieren ich noch nie auf die Idee gekommen war.
Musik setzte ein.
IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
(verneigt sich knapp) Darf ich Sie um diesen Tanz bitten?
Obwohl er nun seine eigene Sprache benützte, verstand ich ihn ohne weiteres. Die Frage, wie ich ihn wohl anreden sollte (immerhin war ich hier zu Gast und an die Regeln der Höflichkeit gebunden), bedrängte mich. Ich entschied mich schnell und stellte mit Verblüffung fest, dass ich sein Idiom auch sprechen konnte: Mit Freude, Resdyafsyiw – Monseigneur!
Ich hatte offenbar das Richtige getroffen. Er trat fast behutsam, wie gegen einen schlechten Ruf ankämpfend, auf mich zu, legte meine Hände an seinen Nacken und umfasste seinerseits mit beiden Armen meine Taille. Schon ging’s dahin in einer Art Walzer, einem merkwürdigen Musikstück der Spiegelrealität, das von irgendwoher zu kommen schien. Ich hatte das Gefühl, mich selbst zu beobachten: Diese Dame, die so weit hergekommen war, sie schien mit dem Diktator dahinzuschweben, bis sie ein leichter und wohlig anmutender Schwindel umfing, in dessen Nebel es sie auch nicht mehr störte, dass sie die Körperkonturen ihres Partners deutlich spüren konnte und ihrerseits auch ihm ihre Formen praktisch hautnah darbot.
IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
Der schönste Tanz, den ich kenne, Jixijo – Madame. Er gaukelt uns vor, uns zu vereinigen, ohne dass tatsächlich noch irgendetwas passiert ist. Er bleibt in jedem Fall Verheißung und manchmal auch einzige Erfüllung eines Traums, der niemals ewig währen kann auf der Grundlage der Urverschiedenheit der Geschlechter. Ich suche und suche und suche, und in jenen langen Phasen vergeblichen Strebens vollziehe ich meine Machtposition, aber diese erzeugt nicht mehr als Ersatzbefriedigung und hinterlässt einen immer schaler werdenden Nachgeschmack.
Ich hörte ihm bewundernd zu. Plötzlich erschien er mir ungeheuer begehrenswert (nicht zuletzt auch wegen seiner frappierenden Ähnlichkeit mit Sir Basil, für den zu schwärmen und dem mich hingeben zu wollen ich mir endlich eingestand). Meine Augen schwammen in Tränen. In ihre Tiefen tauchte Iadapqap ungehindert ein.
IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
Wozu an ihn denken, wenn Sie in meinen Armen liegen, meine Liebe? Aber ich verzeihe Ihnen – ich, der blutrünstige Tyrann der diesseitigen Völker verzeihe Ihnen, denn ich weiß, wie schwierig es für Sie ist mit uns Doppelmenschen. Warum auch immer Sie sich entschließen, Ihre Heiligtümer für mich zu öffnen, es wird mir eine Ehre sein, die Hohepriesterschaft zu übernehmen, als wen auch immer Sie mich akzeptieren wollen.
Auf seine Handbewegung hin passierte Mehreres: die Musik wechselte in eine leise, fast nicht mehr identifizierbare Hintergrunduntermalung, eine Landschaft aus dicken Teppichen und bunten Kissen tat sich auf, kaum erkennbare dienstbare Geister stellten auf kleinen Tischchen leichte Speisen, Obst und Getränke ab. Am schemenhaft erkennbaren Eingangstor bezogen zwei riesige martialische Gestalten ihre Posten. Ich vollführte eine Demutsbezeugung, für die ich mir in meinem anderen Leben wie eine billige Kokotte vorgekommen wäre, aber hier schien’s hinzupassen: Myal Syqlo Mfiupul, Resdyafsyiw – Pour votre plaisir, Monseigneur.
Er wählte nicht den einfachsten Weg. Während ich bei unserem Tanz durchaus schon einen Beweis seiner Standhaftigkeit erhalten hatte, behauptete er nun – während er sich auf einen Stapel Decken hinstreckte und sich gegen einen wahren Berg von Kissen lehnte –, diese sei ihm mittlerweile wieder völlig abhanden gekommen. Man würde sich mit einem geistvollen Plauderstündchen zufrieden geben müssen – bei einigen kulinarischen Leckerbissen und einem Glas Wein (ohnedies sündhaft teure Vergnügungen, vergaß er nicht hinzuzufügen, angesichts des desolaten Zustands seines Reiches).
Einmal darauf eingestellt, mit Iadapqap zu schlafen (Sir Basil war vergessen, anders als bei ihm leuchtete in den Augen des Tyrannen tierische Glut), ließ ich die Misere nicht auf mir sitzen. Ich beugte mich über ihn und wurde erst jetzt gewahr, dass ich zu meinem luxuriösen Outfit auch das passende schwere Parfum abstrahlte, das seine Wirkung nicht verfehlte. Mein Partner ließ sich widerstandslos entkleiden, und ich bat ihn, die Insignie seiner Magie, den Strick, den ich neben uns entdeckt hatte, anzulegen: ein starker zusätzlicher Zug in seine Nähe entstand.
Ich legte nun ebenfalls mein Kleid ab und löste meine Frisur. Wie ein fernes Echo aus längst vergangener Zeit hörte ich die sarkastische Bemerkung der Stimme aus dem Hintergrund des Sets: Ausgerechnet sie, die Kumpelhafte, legt in diesem Film die heißesten Strips hin! – Ja, lieber Sid, antwortete ich ihm lautlos, es ist also doch auch eine Frage des Ambientes und nicht ausschließlich des Geldes oder der Machtverhältnisse der handelnden Personen, ob der Zauber wirken kann. Note in Phantasie: mangelhaft, wenn du bei mir nicht zum Zug gekommen bist und mich normalerweise immer nur in Pullover und Jeans zu Gesicht bekommen hast.
Ich lebte, ich spürte deutlich, wie ich lebte und wie ein äußerst lebendiger Iadapqap sich in mir tummelte. Was sollten mir da irgendwelche Anspielungen? Vielleicht – ja vielleicht, wenn er sich mit mir ebenso wohl fühlte wie ich mit ihm – würde er mir trotz der katastrophalen Situation seiner Realität den Start in eine selbständige Regisseurszukunft ermöglichen…
Das blieben Wunschträume. Ich fand mich über kurz oder lang wieder dort, woher ich gekommen war, auf der anderen Seite des Fernsehers, und dessen Bildschirm war schwarz. Mir ging durch den Kopf, dass ich im Team der Berichterstatter ein Sicherheitsrisiko für Cheltenham geworden war.
608
Auch Romuald entpuppte sich als wirklicher Held.
Es wurde immer schlimmer für ihn, dort wo Basil ihn zurückgelassen hatte – ich tadelte meinen Mann dafür, denn das schien mir nicht angemessen für ein wenig Großmäuligkeit, aber da kam er mir mit dem Argument, der Delinquent habe versucht, sich an die Komtesse von B. heranzumachen, und das dürfe niemals geschehen. Basil liebte die Kleine nach seinem Dafürhalten vom Fleck weg wie eine Tochter, nach meinem aber viel mehr, wenngleich sie sich ihm gegenüber (dessen Identität und dessen Verhältnis zu jenem anderen sie nun kannte) weiter ziemlich reserviert gab.
Dessenungeachtet war Basil offenbar wie ein richtiger Vater imstande, zur Verteidigung seines Schatzes über Leichen zu gehen. Wiewohl er mir äußerlich keinen Grund gab, an seinen physischen Gefühlen mir gegenüber zu zweifeln, ganz zu schweigen von dem, was wir alles gemeinsam ausheckten, war mir doch klar geworden, dass sein Innerstes sich von mir entfernt hatte. Dabei übertrafen wir einander bis zuletzt an Ideenreichtum und Begeisterungsfähigkeit, und niemals wäre die himmlisch schöne Prinzessin in der Lage gewesen, ihm diesen Halt im Praktischen zu vermitteln – das war einer gestandenen Frau aus Minnesota gegeben, der er noch dazu mühelos jede Merkwürdigkeit des britischen gesellschaftlichen Schliffs anerziehen konnte, auf den er so viel Wert legte. Seine wahren Interessen hatten sich indessen verschoben – und ich hatte meine Konsequenzen gezogen.
In den Tiefen des Labyrinths, in die Romuald immer weiter vordrang (weiter als je ein Cheltenham), sah er Kavernen, die von Kaskaden indirekt einfallenden Lichtes beleuchtet waren, dann wieder drückte er sich auf schmalen Pfaden an den Ufern unterirdischer Seen entlang, stolperte mühsam durch nahezu finstere Gänge, immer gewärtig, dass sich ihm etwas in den Weg stellen könnte, ein Wirkliches oder ein Ausbund seiner Phantasie. Sein Unbewusstes, das er auf diesen Erkundungen sozusagen metaphorisch durchstreifte, spielte ihm zwar manchen Streich, führte ihn aber nicht völlig in die Irre, sodass er am Ende – örtlich ganz weit weg vom Eingang und mental ganz weit weg von seiner damaligen Verfassung eine Stelle erreichte, die klar und deutlich Freiheit verhieß.
Etwas ließ ihn innehalten, bevor er wirklich den Schritt hinaus wagte, ganz als wollte er noch einmal sein Gewissen erforschen. Es war die Hellsichtigkeit seines echten Zauberertalents, das er seit langem besaß, ohne allerdings selbst ganz unumstößlich daran zu glauben. Die Einsamkeit der letzten Zeit hatte ihn aber eines Besseren belehrt: Er konnte kraft seines Geistes märchenhafte Dinge tun.
Plötzlich wuchs ihm eine seltsame Rüstung, nicht unähnlich jenen Panzern, die in der Halle von Cheltenham House aufgestellt sind, aber aus fremdartig anmutenden Materialien und daher offenbar zur Abwehr ganz anderer Gefahren, als sie im Mittelalter oder in der frühen Neuzeit bestanden hatten. Auch Waffen hatte er auf einmal in den Händen, ebenfalls unbekannter Natur, aber dennoch vertraut in der Handhabung, und sie vermittelten ihm die Sicherheit, ein ungeheures destruktives Potential zu besitzen.
Ein weiteres merkwürdiges Phänomen trat auf: die Wände des sich vor ihm ins Freie öffnenden Ganges wuchsen auf einmal aufeinander zu und blieben dann in geringer Distanz stehen. Romuald reagierte damit auf die Tatsache, dass etwas Bedrohliches auf ihn zukam, eine fast übermenschliche Aufgabe, die er aber entschlossen war zu meistern – einerseits in der Verpflichtung, erstmals in seinem Leben für sich selbst etwas verbindlich zuwege zu bringen, andererseits in der Verantwortung, vielen anderen ein grausames Schicksal zu ersparen. Er machte sich kampfbereit.
Und da kamen sie auch schon! Die Truppen des Tyrannen der jenseitigen Völker, die jeden für einen Angriff auf das Alpha-Universum in Frage kommenden Ort identifiziert hatten, versuchten auch an dieser Stelle einzudringen und sich durch das Labyrinth, das bis zur Grenze der Spiegelwelt reichte, mitten in die Cheltenham’sche Kommandozentrale vorzukämpfen!
Aber da war Romuald.
Belesen war er ja immerhin, unser plebejischer Freund (wie Basil ihn manchmal sarkastisch genannt hatte), daher kannte er auch alle jene Gestalten, die allein oder allenfalls mit einer Handvoll Gefährten in aussichtsloser Lage an berühmten Engstellen der Weltliteratur einem übermächtigen Feind getrotzt haben, allen voran Leonidas der Spartaner und Walther von Aquitanien. In diese Gilde ordnete er sich nun ein, wohl wissend, wie es bei den anderen ausgegangen war: schwere Verletzungen, wenn nicht gar der Tod standen ihm bevor.
Einer nach dem anderen drang auf Romuald ein, und er brachte sie vorerst alle zu Fall, bis der schmale Weg mit Körpern verstopft war. Die Angreifer gaben jedoch nicht nach, kletterten auf den Berg ihrer gefallenen Kameraden und sprangen zu unserem Helden hinab. Auch diese Gruppe erwischte er Mann für Mann, während sie noch nach Halt suchten, wobei er selbst keinen Kratzer abbekam. Nun entschied man sich auf der anderen Seite für eine weniger ehrenvolle Strategie und setzte schweres Gerät ein. Romuald, der ein wenig ausruhte, hörte das dumpfe Brüllen der riesigen Maschine, die sich ihren Weg bis zu ihm bahnen und ihn verschlingen sollte. Er griff wahllos in sein Arsenal, richtete sich zu voller Größe auf und brachte die feindliche Apparatur mit einem einzigen Feuerstoß zum Schweigen.
Nun brach drüben Panik aus. Ein Aufschrei machte die Runde: Ein Android! Sie haben einen Androiden auf uns angesetzt!
In der Spiegelwelt kannte man solche Wesen nicht, daher hatte sich bereits infolge erster Gerüchte aus der anderen Realität ein weit überzogener Mythos von den Fähigkeiten künstlicher Menschen gebildet, und dieser Vor¬stellung erlagen die Streitkräfte auch an dieser Front. Die Taktik, den Verteidiger durch immer neue Angriffs¬wellen zu ermüden, konnte man vergessen: Ein Android würde seinen Gegnern kaum den Gefallen tun, schlapp zu machen. Was konnte man daher Besseres tun, als rechtzeitig zu fliehen, bevor er seinerseits aus seiner Deckung hervorkam und alles niedermachte?
Der Augustus Maximus Gregorovius muss getobt haben, als ihm von der Feigheit seiner Truppen Meldung erstattet wurde. Kouradraogo arbeitete viel zu langsam (die anderen drei Professoren übrigens auch): mit dem Erwerb dieser Clique hatte der Tyrann keine erfolgreiche Hand bewiesen. Außer seinen eigenen magischen Tricks würde er uns nichts entgegenzusetzen haben – aber die waren gefährlich genug. Romuald dachte übrigens nicht im Traum daran, aus seinem Unterstand hervorzupreschen: Neuerdings offen für Hinweise aus seinem Inneren, wartete er nicht lange zu – sein Erhaltungstrieb löschte das Tor zur Freiheit, das für ihn eine tödliche Falle hätte werden können, aus. Zwar war er wieder zum einsamen Gefangenen des Labyrinths geworden, aber die Soldaten des Diktators würden (selbst wenn ihre Offiziere sie mit Brachialgewalt herantrieben) die Stelle nicht mehr finden, wo sie durchzubrechen gehofft hatten.
Einer von ihnen war nicht geflohen. Er hatte während des Gemetzels einen Blick Romualds erhascht und sich im Nu selbst wiedererkannt: das war kein Android, wie die anderen befürchteten, sondern sein eigenes Abbild in der anderen Realität.
Romualds Pendant Lyjaifxy suchte die Felswände außerhalb des Labyrinths ab, um ein anderes Schlupfloch zu finden. Nicht mehr die eingedrillte Mordlust trieb ihn, sondern die Neugier, jenen kennenzulernen, in dem er quasi nochmals existierte. Dass dem so war, sagte ihm bloß sein Instinkt: konkrete Informationen darüber, wie die Dinge wirklich lagen, oder über die wahre Identität der Gegner hatten die Kämpfer des Iadapqap Jirujap Dlodylysuap nicht erhalten.
Ähnlich ging es Romuald. Bis zu seiner Verbannung ins Labyrinth hatte niemand von uns ihn über das Spiegeluniversum aufgeklärt, allenfalls hatte es Basils dunkle Andeutungen gegeben. Er saß in der Finsternis, und es überkam ihn ein Gefühl, das ihm angesichts der trostlosen Umgebung, in der er sich befand, höchst unpassend erschien: er hätte, zum ersten Mal in seinem Leben, die ganze Welt liebkosen mögen, Freund und Feind. Ihm wurde unvermittelt bewusst, dass er (wenn er mit sich selbst im Reinen darüber war, ob er sich öffnen oder schließen wollte) auch dem Gestein befehlen konnte. Dazu kam die Ahnung, der da draußen sei sein Doppelgänger – auch er hatte dessen Blick aufgefangen.
Romuald trat auf einen Felsbalkon, der sich vor ihm auftat, und sah tief unter ihm den anderen umhertapsen. Mangels tiefgreifender Erfahrungen (wie er selbst sie im Labyrinth gemacht hatte) konnte sein Pendant offenbar den Weg herein allein nicht finden. Romuald, der einen letzten zweifelnden Gedanken an ein Trojanisches Pferd von sich schob, rief ihn an und zeigte ihm, wie er sich nähern konnte. Beide legten spontan die Waffen ab und umarmten einander.
609
Wir – und wie sich leider herausstellte: auch die anderen – hatten entdeckt, dass Konrad das Sternentor keineswegs verschlossen, sondern dem Ort nur eine andere Gestalt gegeben hatte. Ich, Giordano Bruno (als einer der wie er durch gesegnete Hände umgekommen und danach von einem gerechtigkeitslüsternen höheren Wesen mittels Erkenntnis vieldimensionaler Zusammenhänge in ein zweites und jedenfalls andersgeartetes Leben transponiert worden war) hatte das ohnehin geahnt, denn bei denen von unserer Art geht nichts ganz verloren. Ein wenig zu dramatisch vielleicht war nach meinem Geschmack der Abgang mit den Schlangen, den Konrad für sich und Vera gewählt hatte – ich konnte noch Spurenelemente davon im ver¬änderten Zustand erkennen.
Die Einsamkeit der Wüste war durch jene einer endlos scheinenden Wasserfläche ersetzt worden. Für den Einsatz auf einer völlig von Wasser bedeckten Welt war Gus’ und Heathers Tochter die Richtige. Dank ihrer und Julios Vorliebe, sich in der heißen Phase des Geschlechtsaktes Mund und Nase zuzuhalten (es war mittlerweile der einzige Weg, um seine Erektion etwas länger aufrechtzuerhalten), blieb Alex im Training und konnte daher bei der geplanten Passage dienlich sein.
Sie sollte den Durchgang tauchend öffnen, verlor sich aber, als Folge ihrer durch den absurden Tod der Eltern ausgelösten Depression, umgeben von einer bizarren unterseeischen Landschaft in sauerstoffarmen Träumen. Während sie noch suchend dahintrieb, jagte eine erste Welle von unerwartetem Genuss durch ihren Körper. Als sie ihren Kopf weit zurückbeugte, stieß sie einen unhörbaren Seufzer aus, der sich nur durch eine Wolke silberner Luftblasen manifestierte. Sie bewegte ihre Hüften im Rhythmus der zärtlichen Berührungen, die sie sich jetzt selbst zuteil werden ließ. Sie war vielleicht etwas mehr als eine Minute unter Wasser (gar nicht so lang angesichts früherer Rekorde), als sie gleichermaßen einen heraufdämmernden Orgasmus und das Flirren ihrer Lunge fühlte: ein dringendes Bedürfnis zu atmen spannte ihren Brustkorb, wurde jedoch durch eine tiefe Befriedigung fortgetragen. Der letzte Rest von Luft strömte aus ihrem geöffneten Mund, zusammen mit lautlosem Stöhnen. Ganz willenlos kam sie mit dem Gesicht nach unten auf dem Meeresgrund zu liegen. Ihr Verstand begann, von den Entziehungserscheinungen gezeichnet, ziellos zu wandern, jedenfalls weit fort von allem, was sie gekannt hatte – selbst Julio wurde ihr mit einem Mal ganz gleichgültig. Wäre es nicht wunderbar, für immer hier unten zu bleiben: nicht wirklich zu ertrinken, sondern einfach im Wasser weiterzuleben? Ein neues kurzes Aufflackern von Lust, dann durchbrach ihr gequälter Leib die Illusion und drängte mit aller Gewalt nach oben.
Nur einen kurzen Atemzug gönnte sie sich, dann ließ sie sich wieder apathisch nach unten sinken. Abermals phantasierte sie ihren Untergang herbei und berührte sich dabei nicht – die Situation als solche mochte ausreichen, sie erneut auf das Heftigste zu stimulieren.
Da war Lic. Wie es seinem Team gelungen war, an Bord eines Raumschiffs der ersten Flotte des Tyrannen zu kommen, wussten wir nicht (unsere Hypothese war: die Lhiks hatten die Fähigkeit, mit ihren Gedanken in das Bewusstsein anderer Wesen einzudringen und so – ohne Gewalt anzuwenden – ihre Anwesenheit plausibel zu machen). Jedenfalls fand niemand von der Besatzung etwas dabei, dass während der Reise einige pflanzenähnliche Figuren herumstanden und unmittelbar nach der Ankunft auf der Spiegelweltseite des Übergangs wieder verschwanden.
Lic schob sich, von Ilic und Cli, Zic und Xiqi sowie seiner geliebten Ilci an den langen dünnen Beinen gehalten, durch einen winzigen Spalt unter dem Tor, das man sich wie eine Schleusenabsperrung vorzustellen hat. Auf diese Weise störte er vorerst noch nicht das labile Gleichgewicht an der Grenze der beiden Universen. Seine schmale Hand berührte zärtlich den leblos schwebenden Körper: Wach auf, Alex! (bei ihm klang’s wie „Iinis“). Er flößte ihr Sauerstoff ein und riss sie solchermaßen gewaltsam aus ihrer Entrückung. Du musst einfach nur hinfassen, Iinis! Und bitte halt mich dabei fest und auch die an mir hängende Gruppe – wir würden sonst hinweggefegt werden…
Sie tat’s – und verharrte völlig ruhig auf jenem Fixpunkt, den sie offenbar als einzige in diesem System innehatte, zusammen mit ihrem pflanzlichen Anhang. Das Tor hingegen hob sich mit atemberaubender Schnelligkeit hinweg. Das Wasser stob beiderseits davon und verteilte sich molekular auf ungeheure Räume. Auf der einen Seite wurde die NOSTRANIMA von der Druckwelle geschüttelt, ohne ernsthaft Schaden zu nehmen oder ihre Position zu verlieren. Auf der anderen Seite wurden die Schiffe des Diktators, auf denen die Lhiks als blinde Passagiere gekommen waren, völlig vernichtet: neue Opfer des immer heißer werdenden Krieges.
– – – – –
Nachdem wir Alex (in ihrem unbeschreiblichen Zustand) an Bord genommen und der Lhik-Gruppe eines unserer Beiboote zur Verfügung gestellt hatten – sie wollten keinesfalls in die Spiegelwelt zurückkehren, sondern sich im Alpha-Universum eine neue Heimat suchen (und sie wussten auch schon wo) – nahmen wir Fahrt auf. Anastacia und ich steuerten unser Schiff durch das Sternentor. Die NOSTRANIMA hatte schon so viel von unseren Absichten und Gewohnheiten internalisiert, dass sie sich von selbst ganz lang und dünn machte, um ihre riesige Masse durch die relativ begrenzte Öffnung zu zwängen. Ich dachte daran, wie leicht unsere Gegner mit ihren kleineren Einheiten den Durchgang geschafft hätten (immer vorausgesetzt, sie wären imstande gewesen, ihn zu öffnen), aber dieses Problem erübrigte sich ja nun.
Wir hatten noch gar nicht überlegt, wie wir im Detail vorgehen sollten, selbst wenn man einmal als globales strategisches Ziel den Sieg über den Tyrannen akzeptierte. Weder Anastacia noch ich waren jemals dort drüben gewesen, das Gleiche galt für Charlene, Chicago, Geneviève, Julio und die arme Alex. Wir alle waren also ausschließlich und allein auf die Erfahrungen von Anpan, Clio und Pif angewiesen – ausgerechnet diese drei Wahnsinnigen! dachte ich insgeheim. Ich musste Anastacia gar nicht ansehen, wusste auch so, dass wir uns unausgesprochen darüber einig waren, was das bedeutete: die AP 2000 ® pflegte gerade im Hinblick auf die jenseitige Realität ungebremst ihre neurotische Vorstellung von der Überlegenheit der (namentlich von der Panagou gebauten) Androiden über fleischliche Wesen – dort gab es ja niemanden, dem ihr Emotional Response Model die Ehre erweisen musste; Pif war (noch?) völlig in seine Beziehung zu Anpan verstrickt, und es war aus ihm wenig Zweckdienliches herauszubekommen, es sei denn es hätte mit der Geliebten und deren spezifischen Problemen zu tun gehabt; Clio wiederum – nein, Anastacia, was Clio betrifft, haben wir uns erfreulicherweise getäuscht!
ANASTACIA PANAGOU:
Die Komtesse machte auf der Grundlage ihres jenseitigen Lebens einen sogar sehr praktikablen Vorschlag, wenngleich dieser zuletzt einen etwas anderen Effekt ergab, als sie es angenommen hatte. Der Tyrann, meinte sie (sie pflegte von ihm so unpersönlich zu sprechen, als wäre keinerlei Intimität zwischen ihnen beiden gewesen), ist extrem vorsichtig. Wenn es uns daher gelänge, in seinen Tempel einzudringen und dort unsererseits Magie zu treiben, das würde ihn schon sehr aus dem Gleichgewicht bringen.
Wir waren einverstanden. Niemand von uns kannte aber die besondere Art Magie, der Iadapqap Jirujap Dlo-dy¬lysuap im Heiligtum seines Ruhmes huldigte. Wir mussten der Kleinen – die behauptete, zu wissen wie’s geht – vorübergehend unser Schicksal und das unseres Schiffes anvertrauen, um nur irgendeinen Anfang für unsere Aktion zu finden.
Die NOSTRANIMA flog dahin. Am Ziel – bei Lics Heimatwelt, die seit geraumer Zeit die Elite des Tyrannenreiches ertragen musste – angelangt, bog sich das Fahrzeug zur Planetenoberfläche hinab und ließ uns aussteigen. Diese spektakuläre Ankunft schien viele, die sich dort aufgehalten hatten, zur panischen Flucht zu veranlassen: das Beste, was uns passieren konnte, denn wir mussten niemanden aus dem Weg räumen, um zum Tempel zu gelangen.
Pif ging unaufgefordert voran. Als er die zwei hünenhaften Wachen bemerkte, machte er sich spontan zum Kampf bereit – aber es waren lediglich die nach allen Regeln der Kunst präparierten Körper genau jener beiden Männer, die an dieser Stelle von seiner Hand gefallen waren: der Zorn des Diktators über ihre Niederlage hatte sie zum grausamen Schicksal des Ausgestopft- und Zurschaugestellt-Werdens verdammt.
ANASTACIA PANAGOU:
Dass wir Dlodylysuap selbst hier nicht mehr antreffen würden, war uns allen von vornherein klar. Somit hatten wir freie Bahn bis zum Allerheiligsten, wo er bis vor kurzem im Magierornat zu sitzen und seine Zaubersprüche über die von ihm beherrschten Territorien zu werfen pflegte. Jenen von uns, die dieses Ambiente noch nicht gesehen hatten, blieb vor Staunen der Mund offen.
Clio verschwand in den Tiefen des Gebäudes, dessen düster gehaltene Räume das Tageslicht geradezu abzuhalten schienen. Nach einiger Zeit kehrte sie mit einer Anzahl Mädchen wieder, die sie in diversen Verstecken aufgestöbert hatte. Mit deren Hilfe konnte sie ihre Zeremonie veranstalten: Umringt von Fackelträgerinnen, deren flackernde Lichtquellen den Eindruck erweckten, der ganze Saal würde in Bewegung sein, reproduzierte sie, was sie von den magischen Riten des Tyrannen erfasst hatte: sie bestieg fast nackt den Altar, setzte sich aber nicht hin, sondern begann einen langsamen wiegenden Tanz, zu dem sie leise Sequenzen von Worten murmelte.
Sie war wunderbar anzusehen, und ich verstand, warum man ihr hier drüben den bewussten Namen verliehen hatte. Mir blieb aber keine Zeit, Feuer zu fangen, nicht einmal dafür, die wütenden Blicke der AP 2000 ® zu bemerken, die Schönheit nur bei sich oder allenfalls bei ihrer Schöpferin gelten ließ. Ich wusste, dass Anpan ihrer Herrin in Bezug auf mich lange in den Ohren gelegen war (das ideale Paar, beide von gefälligem Äußeren, Anastacia bei aller Wohlgestalt etwas herb, ich selbst dafür ein androgyner Typ, nicht zu vergessen das wissenschaftliche Interesse, das uns für immer aneinanderschmieden würde), und Tasoula hatte mich ja nun tatsächlich an sich gezogen.
Selbst vor diesem Hintergrund brachte bei Gelegenheiten wie dieser ein solcher Frontalangriff bombastischer Enthüllung alles in mir ins Wanken. Einerlei – es blieb wie gesagt nicht der geringste Spielraum dafür, über irgendetwas zu spekulieren: Die Wände unseres Aufenthalts waren plötzlich von Lichtwirbeln bedeckt, die sich rasch zu einem Bild des Diktators manifestierten.
ANASTACIA PANAGOU:
Sein magisches Abbild war nur gekommen, um zu sehen, wer seinen Tempel missbrauchte. Nahezu unverständliches Gebrüll aus dem Mund des Phantoms ließ eigentlich nur diese eine Interpretation zu. Er würde sich nun mit großer Wut an unsere Fersen heften…
… und Wut macht bekanntlich leichtsinnig.
Wir bestiegen wieder unser Schiff (wir alle waren von diesem Tag verändert worden), und die NOSTRANIMA zog ihre nunmehr absichtlich weithin sichtbare Spur. Wenn wir dachten, etwas zerstören zu müssen, dann war es jeweils etwas, was dem Iadapqap Jirujap Dlodylysuap am Herzen liegen mochte – und zugleich gaben wir uns der Illusion hin, möglichst wenig Unschuldigen Schäden an Leib und Leben zuzufügen.
ANASTACIA PANAGOU:
Allerdings – wer war schon unschuldig in diesem Regime, wer war weit genug entfernt vom Zentrum der Macht, um als unbeteiligt gelten zu können? Ganz abgesehen davon der rein technische Aspekt: Wie konnte man chirurgisch sauber das Zerstörenswerte mitten im Erhaltungswerten eliminieren? Es litten daher als Erste die Lhiks, denen man beileibe keine Sympathie für den Tyrannen unterstellen konnte, durch die Einäscherung des Tempels, die mit der Verwüstung weiter Teile des Lebensraumes dieser zirpenden Wesen einherging. Es litten auf der Fortsetzung unserer Reise die niederen sozialen Schichten auf der Heimatwelt des Diktators, denen es ohnehin schlecht genug ging und die durch die Zerstörung der dortigen Zwingburgen ebenfalls viele Opfer zu beklagen hatten. Auch die anderen Völker im jenseitigen Herrschaftsbereich, die wir auf anderen Planeten vorfanden, mussten – mitgehangen, mitgefangen – den Tribut des Leidens zahlen.
Die Wut Iadapqap Jirujap Dlodylysuaps musste bereits ins Unermessliche gestiegen sein, zumal wir mittlerweile auch noch seine zweite Raumflotte atomisiert hatten. Bestimmt folgte er uns mit weiteren Kriegsschiffen und sah mit eigenen Augen, was wir anrichteten, verfügte aber – jedenfalls bis jetzt – nicht über die Mittel, die NOSTRANIMA erfolgreich zu bekämpfen.
Oder hatte er das Gesetz des Handelns auf ganz andere Weise an sich gerissen?
609-A
EXKURS VON CLAUDETTE WILLIAMS
(ihres Zeichens Drehbuchautorin; gerüchteweise uneheliche Tochter des Filmproduzenten Sid Bogdanych, der wie ein Kater – felis mas – seinen zahlreichen Nach¬wuchs bis zu dessen Geschlechtsreife ignorierte und danach die Jungs als potentielle Konkurrenz körperlich oder seelisch vernichtete, die Mädels hingegen ohne Bedenken als Sexualobjekte betrachtete; weiters dem Vernehmen nach trotz aller öffentlichen Dementis langjährige Nebenfrau des großen Regisseurs, für den sie meistens auch beruflich arbeitete):
Zur Bekräftigung, dass das Leben an Bord der NOSTRANIMA trotz der äußeren Verwicklungen des Schiffs weiterging, in all seiner Vielfalt und teilweise auch unter heftiger Verdrängung der Umstände –
– da war zum Beispiel Alex, von der wir wissen, dass sie an sich für diese Expedition Außerordentliches geleistet hatte – und dass sie unter tiefempfundenem Dank wieder an Bord genommen wurde, ja sogar ein wenig Mitgefühl für ihren Zustand wurde ihr zuteil, aber was Dr. Sanchez als ihr Geliebter und in diesem Fall vor allem als ihr Arzt unternehmen musste, darüber schweigt die Chronik weitgehend.
Don Julio war bekanntlich nicht nur ein bemerkenswerter Vertreter der Hochmedizin, sondern stand auch für jene Sparten seiner Branche, die von vielen als problematisch angesehen werden, ganz zu schweigen von den sozusagen völlig außerwissenschaftlichen operativen Hilfestellungen, wie er sie etwa Sir Basil bei den vier Professoren gegeben hat. Bei Alex war klar, dass er sich etwas mehr einfallen lassen musste als die Verabreichung eines Medikaments, und selbst psychotherapeutische Maßnahmen im engeren Sinn (die zudem nicht sein ureigenstes Fach waren) würden aller Voraussicht nach versagen. Was ihm da mehr zu helfen schien, war der empirische Fundus, den er sich so nebenbei durch die gynäkologische Betreuung hunderter, wenn nicht tausender Frauen zugelegt hatte.
Sein Konzept bestand quasi darin, Alex weit zurückzuführen, vielleicht sogar in eine Vergangenheit, die sich in dieser Form gar nicht zugetragen hatte. Bei aller Unzugänglichkeit, die seine Gefährtin nunmehr an den Tag legte, hatte sie nach wie vor keine Scheu vor ihm: daher badete er sie, salbte sie, und dazu half natürlich die einfühlsame innere Konfiguration der NO¬STRANIMA ungemein. Danach machte Julio seiner Alex, den Vorschlag, sie von Kopf bis Fuß glattzurasieren und ihr ein vom Scheitel über Rücken und Beine bis zu den Fersen reichendes Band von Tätowierungen zu applizieren.
Unser Wunderdoktor war also, wie wir sehen, auch Fachmann für die Niederungen der Körperkultur, ähnlich seinen mittelalterlichen beruflichen Vorfahren. Allerdings enthielt seine Siegelung geheimnisvolle Symbole, die er nur von Chicago oder auf Umwegen sogar von der Walemira Talmai persönlich erhalten haben konnte. Damit ausgestattet, entspannte sich Alex ein wenig – ihre Lieblingsstellung wurde es, an der senkrechten Wand ihres Quartiers regungslos zu verharren und dort als exotischer Schmetterling stundenlang vor sich hinzustarren, unbeeindruckt von jeder Geste Julios, die er in ihre Richtung machte, oder von jeder Information, die er ihr über die Außenwelt gab. Sie ignorierte all das einfach.
– und da war die Gräfin von B. – nicht wiederzuerkennen, nachdem sie das alte Selbstbewusstsein und die Ansprüche einer Hohen Frau ziemlich weit zurückgeschraubt hatte. Was der falsche Vater mit seinen – damals inzestuös erscheinenden – Ausschweifungen nicht zustandege-bracht hatte, was Romuald nicht gelungen war in all seiner maßlosen Erniedrigungslust, das schaffte die eigene Tochter mühelos: Geneviève fühlte sich überhaupt nicht mehr wohl in ihrer Haut.
Seltsamerweise nahm die Gräfin den Wettbewerb mit der Jüngeren nicht dort auf, wo sie sicher und überlegen war. Nicht den gesellschaftlichen Schliff spielte sie aus und nicht die intellektuelle Kapazität und nicht die künstlerischen Ambitionen (von denen übrigens selbst wir hier das erste Mal hören). Nein, sie versuchte auf dem Gebiet der Schönheit zu konkurrieren. Das ergab schon einmal deshalb keinen Sinn, weil Clio Alexandrine An-dromède Annette Aphrodite eben tat-sächlich atemberaubend aussah – eine ganz außergewöhnliche Laune der Natur, an der sich zu messen schon ganz andere Damen kläglich gescheitert waren. Wie leicht hätte es sich da ihre Mutter machen, sich auf eine Position des – wenn auch vielleicht nur gespielten – Stolzes zurückziehen können, und ihre Umgebung wäre auch ihr gegenüber voller Bewunderung gewesen, indem man sich ein ähnlich umwerfendes Bild der Gräfin in ihrer Jugend ausmalte (dass die Kleine es nicht vom Vater hatte, war mittlerweile Standardwissen in zwei Universen).
Aber nein – Geneviève tat so, als ob es den kühlen Marmorkörper ihrer frühen Tage, bestens geformt durch adelige Sportarten und frühzeitig zum Erblühen gebracht durch (stief)-väterliche Übergriffe an morgendlich-frischen Seeufern noch gäbe, mehr noch: anders als damals kleidete sie sich nicht mit dezentem Geschmack, sondern jugendlich-schrill. Hätte sie ihren Charme eingesetzt (sie besaß viel davon, wenn auch von der herberen Art – der Komtesse hingegen mangelte er ganz), gewürzt mit etwas Selbstironie, wäre ihr Körper als zehn Jahre jünger durchgegangen, und sie hätte auch viel davon herzeigen können. Die Anfang-Zwanzig jedoch nahm ihr keiner ab, beziehungsweise keine: denn der Kampf Mutter gegen Tochter musste ausschließlich für ein fiktives weibliches Publikum stattfinden – kein Hahn ist an der Hennen Imponiergesten interessiert. Derer gab es genug, mitten im zivilisierten Gespräch.
Die NOSTRANIMA hatte den beiden Damen den grünen Salon des B.’schen Fa¬milienbesitzes hingezaubert, und da saß nun die Gräfin und extemporierte recht vornehm über ihre Gefühle: wie sehr sie sich gewünscht habe, Klein-Clio großzuziehen (die Kindermädchen hätte sie alle weggeschickt!), wie sie sich danach gesehnt habe, einfach zu tun, was auch jede Frau niedrigeren Standes getan hätte: sie in die Schule zu bringen, ihr bei den Aufgaben zu helfen, mit ihr Kleider kaufen, Hüte, Taschen, Schuhe…
… Unterwäsche, ergänzte die Komtesse zuckersüß, lasziv hingestreckt auf die Chaiselongue, lüftete das hauchzarte bernsteinfarbige Negligé und zeigte ihre formvollendeten Konturen einmal von vorne und, indem sie sich spektakulär umwandte, auch von hinten. Dann äußerte sie – lässig über die Schulter gesprochen: Es gibt kein richtiges Leben im falschen! – ihren bislang größten Gedanken, den sie völlig unabhängig von Adorno geboren hatte.
Ich glaube, man weiß jetzt, was ich meine.
– und da war Chicago, trotz seiner Jahre gut erhalten, denn er hatte bekanntlich das wilde Leben als Koori mit einer zwar auch abenteuerlichen, aber körperlich gesehen behaglicheren Existenz vertauscht. Nach seinem verunglückten Erlebnis mit Charlene versuchte er, so weit es die Verhältnisse an Bord zuließen, eher für sich zu bleiben: die NOSTRANIMA hatte ihm hiefür in seiner Unterkunft eine Szene aus dem Outback eingerichtet, nicht irgendeine, sondern naturgetreu jenen kleinen See an einem steilen Berghang, wo er damals in der Heimat vorwiegend seine geistigen Übungen abgehalten hatte: hier an der Nachbildung nahm er die Meditation wieder regelmäßig auf.
Für ihn war’s eine alltägliche Kultur-technik, bei der man sich auf einen Satz, ein Bild, ein Geräusch aus der Erinnerung konzentrierte und alle anderen Gedanken, die sich dazwischen drängen wollten, mit leichter Hand zur Seite schob – wenn man es beherrscht, hatte er einst Sir Basil erklärt (der es ja auch konnte, wenn auch aus anderen Kulturkreisen als Chicago), die einfachste Sache von der Welt. Diesmal jedoch funktionierte sein lang eingeübtes Verfahren nicht. Das Bild, nein die Augen Charlenes bemächtigten sich seiner bei jedem Versuch – wenn auch nicht so intensiv, wie er es mit ihr gemacht hatte – und ließen ihn nicht an den jeweiligen Gegenstand seiner Betrachtungen herankommen. Vergeblich trachtete er das alte innere Gleichgewicht wiederzuerlangen, in dem er selbst die Hauptrolle und die Walemira Talmai einen äußerst wichtigen Part (aber primär nicht als weibliches Wesen, sondern als Idee) spielten, während die übrigen Frauen aus seiner Umgebung sich mit einem Statistendasein begnügen mussten. Er erinnerte sich, wie er bei ähnlicher Gelegenheit (mit der AP 2000 ®) seine Balance sehr rasch wiedergefunden hatte, doch das war ihm diesmal verwehrt.
Charlene war eben, wie schon viele vor Chicago festgestellt hatten, eine außergewöhnliche Frau, die obendrein jedem – wenn überhaupt – nur eine Chance einräumte. Sie wusste allerdings nicht, was sie selbst dabei verpasste: der Koori hatte im Rahmen seiner ordnungsgemäßen Mannbarmachung gelernt, das zustandezubringen, was man in Charlenes früherer Welt der geilen Senatoren als Permanent Hard-on bezeichnete.
610
Wann immer Iadapqap Jirujap Dlodylysuap, zunächst noch in seiner harmlosen Verkleidung als McGregor der Kaufmann, später unverhohlen als Tyrann der Spiegelrealität, mitten im Krieg Zeit fand, bei den vier Professoren vorbeizuschauen, zog er unverrichteter Dinge wieder ab. Sie schafften es regelmäßig, ihn so lange zu beschwatzen, bis ihn schwindelte: Kouradraogo mit seinen suggestiven Augen, Ivanovich mit seiner eindringlichen Sprache, Schreiner mit seinen verwirrenden Tabellen und Schaubildern und schließlich Migschitz, der überhaupt nur dasaß, die Beine auf der Tischplatte hochgelagert (in einer Welt, in der ausgedehnte Unterwerfungsgesten vor dem Herrscher üblich waren!), dazu noch ein mitleidiges Lächeln um die Mundwinkel, als wollte er fragen: Na, wie läuft’s denn an der Front?
Derlei Szenen lasse ich mir als Regisseur (und Sie wissen mittlerweile, dass ich ein Großer dieser Gattung bin) natürlich auf der Zunge zergehen: akzentuiert, kontrastreich, dabei nicht unwitzig, wodurch man das unvermeidliche Pathos jedes artifiziellen dramatischen Vorgangs einigermaßen in Grenzen halten kann.
DER PRODUZENT:
Bei unserem wissenschaftlichen Kleeblatt zeigte sich der Reiz darin, dass ihr sogenannter Normalzustand gar nicht so weit entfernt war von jenem, den der gute und stets willfährige Dr. Sanchez-Barzon mit seinen Drogen herbeigeführt hatte. Die Vier schwebten unbewusst, aber auch bewusst auf einer Wolke zufriedener und zutiefst irdischer Heiterkeit, die den Ge¬nüssen des Lebens – wie sie sich eben gerade boten – breiten Raum gab. Dementsprechend fühlten sie sich in der (gemessen an den Umständen) äußerst privilegierten Situation, die der Diktator ihnen bieten musste, wohler als jemals zu zuvor.
Gut ein Dutzend Male hatte Iadapqap Jirujap Dlodylysuap innerlich beschlossen, seine im goldenen Käfig Gefangenen einfach zu liquidieren, immer dann nämlich, wenn einer seiner prosaischen Berater, denen das süße Leben der Professoren ohnehin ein Dorn im Auge war, die Sache auf den Punkte brachte: Nichts bekommen Sie auch dann, Hoheit (ausgedehnte Ehrenbezeugung), wenn ich dieses Pack abknalle und irgendwo verscharre!
Die Vier hatten jedoch – und das war bei ihnen nichts Neues – einen untrüglichen Instinkt dafür, wie man das Interesse von Geldgebern am Köcheln halten konnte. Es blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als auf Zeitgewinn zu setzen, denn wie schon in ihrem früheren Leben war ihnen wohl bewusst, dass all das, was sie sich da ausdachten, im Ernstfall nicht funktionieren würde. Der Diktator erwartete demgegenüber von seinen (wie er sie sarkastisch nannte) Gästen noch immer die Wundermittel, derer er so dringend bedurfte, um in diesem Kampf der Universen siegen zu können.
Was er seiner Ansicht nach am meisten benötigte, waren Androiden. Seine Agenten, die er losschickte, um auf Cheltenhams Erde die künstlichen Menschen Protos, Devteri und Tritos zu kapern, entwickelten eine derartige Angst vor diesen Monstern, dass sie sie nach hohen eigenen Verlusten kurzerhand aus sicherer Entfernung zerstörten – dieser Plan also war gründlich gescheitert, abgesehen von der ungelösten Frage, wie man die Drei hätte für die eigenen Zwecke umprogrammieren können.
Blieb in diesem Punkt lediglich die Hoffnung auf Pascal Kouradraogos Fähigkeiten. Dieser ergriff die Gelegenheit und schwadronierte dem Tyrannen mit seinem Lieblingsthema die Ohren voll, und der hörte für seine Verhältnisse sehr friedfertig zu: jeden seiner Untertanen hätte er schon längst brutal gestoppt. Andächtig lauschten auch die anderen Professoren, was sonst nicht ihre Art war, aber diesmal erschien es ihnen höchst opportun.
PK betonte zunächst, etwas auszuholen zu müssen, und er bat um Verständnis für den einen oder anderen fachlichen Exkurs, vor allem aber im Voraus um Vergebung für die eine oder andere Tabuverletzung. Da war einmal die Tatsache, dass die Schaffung synthetischen Lebens als wesentliche Bedingung hätte, die Kontrolle über den künstlichen Evolutionsprozess aufzugeben – nur so würden die Endprodukte jenen Vorbildern aus der organischen Welt nahekommen, die man als hochentwickelte Wesen für äußerst spezialisierte und selbständig durchzuführende Einsätze (zum Beispiel als Krieger) verwenden könnte. Hier waren Konflikte mit der steilen Hierarchie in der gesellschaftspolitischen Wirklichkeit Dlodylysuaps jedenfalls vorhersehbar – das allerdings tat der Diktator mit einer Handbewegung ab: Der Zweck heiligte bei ihm jedenfalls die Mittel.
Lässt man Freiheit zu, entstehen Anpassungen von Organismen (auch von solchen digitaler Natur) allein dadurch, dass ein vorherrschender Charakterzug ihrer Umwelt ihre eigene Anwesenheit ist. Es bleibt ihnen dann anheimgestellt, andere Individuen parasitär auszubeuten, sich ihrerseits gegen derlei Versuche immun zu machen, mit anderen zu kooperieren oder sich womöglich in eine solche Zusammenarbeit in betrügerischer Absicht einzuschleusen. Diese Verfahrensbündel bewirken eine Art Optimierungsprozess. Mutationen finden statt: Teile der Algorithmen-Bäume werden durch fremde Äste oder Zweige ersetzt.
Grafik 6.8
DER PRODUZENT:
Spätestens angesichts der Grafik, die vor ihm ausgebreitet und umständlich erläutert wurde, fragte der Tyrann voll Unrast, wann denn der erste Android fertiggestellt sein könnte. Ob PK es da gewagt hat, noch einmal zu einer theoretischen Tirade auszuholen…
Er tat’s – noch hatte er den Kern seiner Spekulationen nicht erreicht, und seine vielschichtige Motivation (einerseits den Auftraggeber weiter hinzuhalten, was angesichts von dero Launenhaftigkeit höchst notwendig schien, und andererseits die Kollegen zu beeindrucken, was im Grunde unerreichbar war) trieb ihn zu noch abgehobeneren Sentenzen an. Da war von der systemimmanent gemeinsamen Sprache der Biosphäre die Rede…
DER PRODUZENT:
… was Lic und seine Freunde beeindruckt haben würde…
… einer Sprache, die der natürlichen Evolution Grenzen setzt, ebenso wie sich die Grenzen der synthetischen Evolution durch die Repräsentationssprache der verwendeten Computerprogramme ergeben…
DER PRODUZENT:
… was wiederum Anastacia Panagou fasziniert und ihr die Erkenntnis vermittelt hätte, dass Pascal – abgesehen von seinen Qualitäten als Liebhaber – ihr jedenfalls am grünen Tisch der Theorie ebenbürtig war, wenngleich er nicht so tolle Maschinen bauen konnte wie sie.
Der Professor kam zu seiner Conclusio: Wenn es auch in Ihrer Realität einmal Androiden geben wird (er legte seine Betonung auf eine nicht allzu nahe Zukunft), dann werden sie zwar Requisiten in Ihrem Besitz sein, sind aber dennoch als Personen zu behandeln. Man kann ihnen weder den Wunsch nach vollem Menschsein abschlagen noch ihnen die Menschenrechte vorenthalten, wie sie jeder anderen Minderheit gewährt werden.
Nach dieser Vorlesung (die mit der Geduld Dlodylysuaps ein jähes Ende fand, zumal die Berücksichtigung von Menschenrechten in seiner Tyrannei kein wirkliches Thema war) wechselte Kouradraogo abrupt aus der teils echten, teils vorgetäuschten Wissenschaftlichkeit in die tiefe Romantik seiner lebenslangen privaten Lektüre, die fernab von seiner einschlägigen Fachliteratur gelegen war: Warum fordern Sie die Gegenseite nicht ganz einfach zum Duell auf?
DER PRODUZENT:
Die Gefährten Kouradraogos hielten den Atem an: Nun würde es um ihn geschehen sein, denn damit hatte er jede Provokationstoleranz im Reich des Kotaus bei weitem überschritten. Aber nichts passierte. Der Diktator, der infolge der Kriegsereignisse extrem unter Druck stand, verließ gedankenverloren die gemütliche, unversehrt gebliebene Unterkunft der Professoren. Er sandte ihnen sogar ein Festmahl – mit seinen besten Empfehlungen – sowie eine Handvoll ehemaliger Tempelmädchen.
Eine fixe Idee hatte von ihm Besitz ergriffen.
611
Auch Filiberto war ein Held – auf seine Weise.
Eine Agentin des Tyrannen der Spiegelwelt (jünger und schöner als Franca) wurde auf ihn angesetzt, aber er blieb grundsätzlich treu, soviel bereits vorweg. Und er wäre ja überhaupt nicht im geringsten auf die Dame hereingefallen, wenn sie nicht genau das getan hatte, was er selbst für Franca tun musste, um ihr zu gefallen – als Verbrämung „der Sache” eine Story erfinden.
Was allerdings wäre geschehen, hätte Fili von Anfang an um die wahre Identität der Person gewusst, die – wenn man seine Maßstäbe anlegte – exotischer nicht sein konnte (Fialuo Xlot war ihr Name in der anderen Realität)? Selbst das ihm vorgegaukelte diesseitige Dasein faszinierte ihn ja bereits ungemein: Nancy Long…
BRIGITTE:
Na bitte, jetzt haben wir plötzlich noch eine neue Figur in unserer Geschichte – das scheint gar nicht enden zu wollen.
Denk nur nicht, das sei irgendjemandes Willkür. Wenn du einen vollständigen Bericht über die Geschehnisse geben möchtest, musst du eben auch späte Einsichten zulassen, auch wenn sie dir nicht mehr unbedingt in den Kram passen –
Nancy Long – rein künstlerisch könnte man glatt ins Schwärmen kommen, mehr noch als der gute Fili, der von Kunst nicht so toll viel verstand.
BRIGITTE:
Aber das ist doch einfach nicht wahr: Wer, wenn nicht er, war, wie du selbst eben sagtest, ein begnadeter Geschichtenerfinder und –erzähler?
Okay, gepunktet – lass mich also gemeinsam mit Fili nach jenem Wesen schmachten, ohne dass am Ende meine Liebe zu dir oder Filis Liebe zu Franca ernsthaft Schaden nimmt. Es war nur einfach zu erbaulich, was man von Nancy Long erfahren konnte.
Begonnen hatte sie – angeblich – ihre künstlerische Laufbahn mit dem Versand gebrauchter plastikverpackter intimer Kleidungsstücke, die durch beigelegte Passagen eines „Tagebuchs der Wohlgerüche” ergänzt wurden. Aber das war lange vor dem Krieg, als Fialuo Xlot vorsorglich in das Alpha-Universum eingesickert war, für den Fall, dass es nicht bloß bei einem Duell feindlicher Prinzipien blieb.
Als es dann richtig losging, kämpfte die Agentin an einer der lautlosen Fronten. Ihre Biographie als Nancy Long war fraglos gut erfunden. Als Nächstes erzählte sie nämlich unserem heißblütigen und – du hast schon Recht – phantasiebegabten Filiberto Dallabona ihre Episode als Filmstar. Der große Regisseur, der in Dingen der Kunst keinen Widerspruch duldete, und der Produzent, der bei aller ernsthaften politischen Dissidenz in seiner amerikanischen Heimat hinter jeder weiblichen Rundung her war, verlangten von Nancy Long laut ihrer Aussage in dem Streifen „Schatten einer Illusion” einen tiefgründig argumentierten Koitus vor laufender Kamera. Immerhin hatte sie das Skript akzeptiert, aber es war natürlich etwas anderes, von der Szene zu lesen, als sie zu spielen. So bestand sie jedenfalls auf der Verwendung eines Cache-sexe, der ihr zumindest subjektiv das Gefühl gab, sich nicht völlig zur Schau zu stellen.
Diese detaillierte Schilderung ließ Fili seine Franca nahezu vergessen. Deren üppige Formen, die sie bei ihren weiß Gott nicht alltäglichen sexuellen Aktivitäten im Endeffekt niemals hinter irgendetwas versteckt hatte, verschwanden schemenhaft hinter der wesentlich schlankeren Gestalt der Fialuo Xlot, von der unser Held wie erinnerlich nur eine Legende sah. Immerhin täuschte diese gar nicht so viel vor, wie man vielleicht annehmen möchte – eingedenk der Tatsache, dass jede Agentenrolle umso leichter zu spielen ist, je mehr Elemente der Wirklichkeit sie aufweist.
BRIGITTE:
Zum Beispiel der Fotoapparat – welch bessere Tarnung gab es für dieses Spionageutensil als die der Filmkarriere folgenden Performances?
Die Liebes-Kunst-Detektivin Nancy Long gab vor, das eigene Privatleben, insbesondere ihre Dates mit Männern zu virtuellen Denkmälern umarbeiten zu müssen, da sie auf normale Art gar keine Zeit mehr für traute Stunden aufbringen könnte. Ausschließlich für ihre Kunst lebend, waren glückliche Beziehungen nur zu verwirklichen, wenn sie sich als Bestandteile ihrer Projekte ergaben: sie nannte das Manifestationen der Liebe.
BRIGITTE:
Klingt eher nach „Mission Impossible” – um aber den Dallabona hinters Licht zu führen, wird’s wohl gereicht haben.
Mit der Knopflochkamera knipste sie die potentiellen Geschlechtspartner bei der ersten Verabredung (quer über das Weinglas hinweg – man ging zunächst einmal essen), dann bei der Fahrt im Taxi (sie sagte dezidiert „Zu mir!” – schließlich hatte sie nur in ihrer eigenen Wohnung die Ausrüstung parat, um im weiteren Verlauf professionelle Aufnahmen zu schießen). Die gab es dann in Hülle und Fülle: von der Verführung, bei der Nancy Long den aktiven Part spielte, bis zum endgültigen Vollzug, der jedenfalls sein musste, wenn sie komplette Fotoserien erhalten wollte.
Und nun, Filiberto Dallabona, sagte die Agentin eines Tages, nachdem sie ihm das alles erzählt hatte, bist eben du dran, und du besitzt sogar das Privileg, zu wissen, was mit dir geschieht, sodass ich hoffe, du wirst es besonders genießen. Ich werde dich gleich als meinen Geschlechtspartner ausspionieren, um Aufschlüsse über dein Inneres zu gewinnen, egal ob ich dort auf liebliche Landschaften, Schatzinseln, heitere Räume oder Schlachtfelder stoße. Es wird Augenblicke des Gelingens ebenso geben wie Ungeschicklichkeiten, Peinlichkeiten, Verwirrungen – die ganze Palette dessen, was bei Begegnungen passieren kann: und ich schwöre dir, dass ich eine redliche Spionin sein werde, die selbst auch keine uneingeschränkt perfekte Figur abgeben wird.
Da eben hat Fili seine Franca ein einziges Mal kurz, wenn auch ausgiebig betrogen – zu verlockend war es, in der Geschichte mitzuspielen (dabei trat er vorerst gar nicht im gesamten Drama, sondern nur in der Hälfte der Nancy Long auf).
BRIGITTE:
Kann man denn jemanden mal kurz und ausgiebig betrügen und sonst alles beim Alten lassen?
Du solltest am besten wissen, dass deine Fragestellung schlicht falsch ist: Ich darf schließlich mein Leben führen – es gehört mir und sonst niemandem, und wenn Partnerin oder Partner meiner Entwicklung folgen möchten, und wenn auch ich der ihren oder seinen folgen möchte, dann bleibt man auch zusammen.
BRIGITTE:
Franca fürchtete nicht wirklich, dass Fili sie verlassen wollte, wenn er auch seit Neuestem immer sehr lange ausblieb. Sie war sich wohl darüber im Klaren, dass sie ihn nicht ununterbrochen würde festhalten können: Sie kannte zwar nur eine bestimmte Auswahl männlicher Charaktere, aber die kannte sie gut. Indessen rechnete sie sich gute Chancen aus, dass er von irgendwelchen Ausflügen stets zu ihr heimfinden würde.
Plötzlich, als Fili sich noch wohlig in der körperlichen Nähe der Agentin wiegte, fragte die ihn nach Sir Basil – Sir Basil Cheltenham, sagte sie zur Bekräftigung, wo hält der sich gerade auf?
Selbst was den Baronet als solchen anlangte, war Fili nur auf vage Gerüchte angewiesen, geschweige denn wusste er dessen genauen Aufenthalt. Nur weil es ihr Job sei, frage sie ihn das, erklärte ihm seine Liebespartnerin. Und dann eröffnete sie ihm ihre wahre Identität, wobei er aus dem Staunen gar nicht herauskam: mit einem Schlag war er auch Teil der anderen Hälfte der Inszenierung der Fialuo Xlot geworden.
Von der Existenz der Spiegelwelt erfuhr er zum ersten Mal, aber damit nicht genug seiner Verblüffung. Da war der gegen Franca und Filiberto bestehende (und nicht unbegründete) Vorwurf des dortigen Machthabers, die beiden seien involviert gewesen in die Ausschaltung des Geldbeschaffungsnetzwerkes, das der Orden der Orangenblüte (seinerseits wiederum eng mit der anderen Realität verflochten) über Ralph und Hardy betrieben hatte. Da war der mysteriöse Frontwechsel des Ordens-Stabschefs, wodurch das Paar nach Meinung des Tyrannen der jenseitigen Völker direkt mit Sir Basil in Zusammenhang gebracht werden musste – dementsprechend der Auftrag, aus den beiden herauszuquetschen, wo sich der verhasste Gegenspieler befand.
Das war der Moment, in dem der wackere Filiberto (noch mitten in der Umarmung!) überlegte, ob er diese offenbar gefährliche Frau nicht sofort töten sollte, um so gut wie möglich alle Spuren, die zwischen Cheltenham und dem Diktator hin und her führten und seinen eigenen Weg kreuzten, zu beseitigen. Die scharfsinnige Fialuo Xlot fühlte sofort die Veränderung, die in ihm stattfand, und – während sie ihn zu einem neuerlichen Durchgang ihres Liebespiels animierte – flüsterte sie ihm zärtlich ins Ohr: Du brauchst mich nicht auszuschalten, mein kurzzeitiger Schatz, denn ich bin wie mein Agentenkollege Pifsyxil Xifu übergelaufen und werde daher dem Tyrannen die Falschinformation zukommen lassen, Cheltenham befände sich auf dem Weg nach drüben, während er in Wahrheit weiter auf seinem Herrensitz weilt…
Unser Freund Fili, dem das alles langsam zu kompliziert zu werden drohte, war’s zufrieden. Genussvoll versank er in die zweite Runde seines einmaligen Seitensprungs.
BRIGITTE:
Womit er uns im Ungewissen darüber lässt, was die Agentin tatsächlich ausgerechnet von ihm wollte…
Es war genau wie sie als Nancy Long sagte: ihr berufliches Engagement ließ ihr keine Zeit für ein befriedigendes Intimleben, und so versuchte sie, wenn möglich das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden (Fili war bekanntlich ein stattlicher und gut durchtrainierter Bursche). Sie musste ihn allemal aufsuchen, schon für den Fall, dass andere Agenten des Diktators ihr kontrollierend folgten, und sie brauchte dienstlich eigentlich nichts von ihm – warum sich also die Situation nicht privat zunutze machen?
BRIGITTE:
Und inwieweit ist nun dieser Filiberto Dallabona ein Held? Das würde mich wirklich brennend interessieren!
Nun, er erzählte seiner Franca heldenhaft den ganzen Vorfall, ließ weder die Tatsache aus, dass er mit der Agentin geschlafen hatte, noch jene, dass ihm dies ein nicht unbeträchtliches Vergnügen gewesen war. Es fehlte ja nicht viel, und er hätte Fialuo Xlot sogar gebeten, ihn quasi als Corpus Delicti nach Hause zu begleiten, aber sie war schon wieder dahin.
Franca machte keinen Ärger. Für sie schien’s die Überstory, besser als alles, was Fili bis jetzt frei erfunden hatte. Hauptsache, er war unversehrt zurückgekehrt von einem verborgenen Schauplatz dieses ominösen Krieges.
BRIGITTE:
Und du?
Auch ich bin wieder da, war eigentlich nur für einige Umschweife weg, wie es ein Erzähler manchmal tut, um seiner Geschichte mehr Farbe zu verleihen.
BRIGITTE:
Heißt das, Franca und Filiberto können sich wieder völlig ungestört ihrer Idylle hingeben?
Ich werde sie nicht behelligen, ebenso wie ich Ralph und Hardy aus ihrem Gefängnis hole, in dem die Amis sie ohne weiteres Gerichtsverfahren (und damit wahrscheinlich auf Nimmerwiedersehen) verschwinden ließen.
612
Der Umschwung in Amerika war von langer Hand vorbereitet worden. Was Wunder, hatte doch Cheltenham als junger Offizier einige Zeit dort verbracht und dabei – wie überall sonst auch, wo er dazu Gelegenheit fand – sein Netzwerk geknüpft. Seine damaligen Kameraden waren teilweise in höhere Militärpositionen aufgerückt. Dazu kam das pro forma noch immer aufrechte Geflecht alter Beziehungen aus dem Orden der Orangenblüte. Vor allem aber die jungen Damen und Herren aus dem Ostküsten-Establishment, in deren Elternhäusern Sir Basil seinerzeit ein gern gesehener, wenn auch – als Brite – ein wenig exotischer Gast gewesen war, befanden sich mittlerweile auf dem Höhepunkt ihrer politischen, wirtschaftlichen oder medialen Karrieren.
In dieser Ecke hörte ich es zuerst. Als Filmproduzent lebt man natürlich vorwiegend in Hollywood oder – arrivierter, sprich künstlerischer geworden – auch in Europa. Manchmal muss man sich allerdings doch im guten alten Big Apple blicken lassen, will man nicht eines Tages pressemäßig völlig weg vom Fenster sein (ein Abstecher nach Washington zu den Abgeordneten, die man persönlich kennt, schadet bei dieser Gelegenheit nicht). Und tatsächlich: ich bekam Dinge mit, von denen ich bis dahin nichts geahnt hatte.
RAY KRAVCUK:
Es begann mit Artikeln in den promi-nenten Zeitungen: Warum eigentlich nicht, so der Tenor, sollten sich die USA mit dem einzigen anderen, wenn auch erst langsam heraufkommenden Global Player China hinsichtlich der Aufteilung der Welt arrangieren? Schließlich hatte dieses Konzept im Prinzip schon früher mit der Sowjetunion ganz hervorragend funktioniert – man brauchte eigentlich nur die Mängel, die sich aus dem ständigen Kalten Krieg ergeben hatten, eliminieren. Dieses Problem, so spekulierten die Blätter weiter, könnte ganz leicht dadurch gelöst werden, dass beide Supermächte die auf sie entfallenden Territorien nach dem Muster des Alten Rom vollständig annektierten und provinzialisierten. Für beide würde sich damit (hier griff man schon auf sehr genaue Details aus meinem Plan zurück, ohne mich beim Namen zu nennen) eine sichere ökonomische Basis ergeben, über die man nicht mehr ständig diskutieren brauchte. Ein Leitartikler wagte sich sogar mit dem Argument vor, dass man auf diese Weise einige der heikelsten und am wenigsten lohnenden Krisenherde einfach sang- und klanglos aus Washingtons Verantwortung entlassen konnte (obwohl er es bei diesen kryptischen Andeutungen ließ, schienen alle zu wissen, worauf er anspielte).
Was so harmlos und theoretisch entwickelt wurde, gewann in kürzester Zeit große Sympathien in der Bevölkerung. Die entsprechenden Umfragen begannen die skeptischen oder ablehnenden Politiker, insbesondere die Spitze der Administration, unter Druck zu setzen. Die Bewegung figurierte plötzlich unter den Schlagworten eines Great American Empire oder auch kurz Grand America. Von einem Tag auf den anderen konnte sich der Präsident vorstellen, Grand America ganz oben auf seine Prioritätenliste zu setzen.
RAY KRAVCUK:
Ich musste wieder her. Man hielt sich nicht mit Rehabilitierungsfloskeln auf, und auch ich legte keinen besonderen Wert darauf, die Crème de la crème vordergründig zu demütigen. Meine Rache war subtiler – ich ging wesentlich schneller vor, als die es gewollt hatten, indem ich so rasch wie möglich nach China reiste, von wo mich niemand mehr zurückpfeifen konnte. Miss Dan Mai Zheng schien äußerst erfreut, diesmal den Chef ihrer lieben Freundin Trudy zu sehen, und Mr. Spucknapf-Hong (so hieß er in unserer Dienststelle) schien begriffen zu haben, dass ein junger intellektuell angehauchter US-Major den langen Weg zur Paraphierung eines Abkommens lieber in angenehmer Gesellschaft gehen würde als mit ihm. Macht nur, meine Kinder, sagte der alte Herr bei unserer ersten und vorerst einzigen Begegnung leutselig, macht nur euren Vertrag!
Vorsicht, Junge, dachte ich bei mir: Wie hervorragend ideologisch untermauert musste dieses entzückende mandeläugige Köpfchen auf dem zarten Körper mit dem hochgeschlitzten Cheongsam sein, wenn man ihr ein solches Vertrauen entgegenbrachte. Als sie ihm ihr hintergründiges Lächeln schenkte, erhöhte sich meine Besorgnis nur vom bloßen Zusehen! Was hatte so ein nicht ganz erwachsen gewordener Amerikaner in seiner – nun, Infantilität wäre vielleicht ein zu hartes Wort, sagen wir also Naivität: was hatte er dieser fernöstlichen Versuchung entgegenzusetzen?
RAY KRAVCUK:
Immer mit der Ruhe, Mann! Ich wusste schon, was sie bezweckte, wenn sie zwitscherte: Mein lieber Kau Zhu Lai (so hatte sie meinen Namen lautmalerisch ins Chinesische übertragen – meine oberflächlichen Kenntnisse der Sprache brachten als Bedeutung „Vertrau dem scharlachroten Hügel? hervor), Lai, mein Lieber! Aber ich zerfloss nicht gleich, wie sie es beabsichtigte. Als sie aber meinen skeptischen Blick bemerkte, meinte sie leichthin: Hat man dir also eingeredet, dass sich in einer Zhong-Hua-Muschi zwei scharfe Klingen befinden, die nur darauf warten, dich in Empfang zu nehmen?
An dieser Stelle schreckte der gute Ray-Lai tatsächlich etwas zurück, und die nette Miss Zheng kriegte mit, dass sie von ihrem unverblümten Nationalcharakter zu weit fortgerissen worden war: Kastrationsängste konnte sie beim Objekt ihrer aktuellen Aktivitäten, worin auch immer diese genau bestanden, überhaupt nicht brauchen.
RAY KRAVCUK:
Ich zierte mich, denn ich wähnte mich zumindest leicht im Vorteil. Immerhin hatte ich eine harte Schule durchlaufen – beginnend mit Alex, die für mich alles in allem nur ein simpler Cock-teaser gewesen war. Die gründliche Gehirnwäsche der Political Correctness zeitigte bei mir enorme Erfolge: mit einem Wort, ich konnte mich beherrschen (allerdings erheblich abgefedert durch das Wissen um drei stets bereite Blondinen bei CLONSCO daheim). Was würde Spucknapf-Hong dazu sagen? fragte ich Zheng. Wir nennen ihn hier genauso, konterte sie überraschend, auch uns jungen Mitarbeitern hier graut vor seiner Angewohnheit, mit allem Respekt vor seinem hohen Alter und seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten.
Ray schaltete tief drinnen auf Bereitschaft. Wenn sie eine so hohe Meinung von ihrem Chef hatte, dass sie seine Klasse selbst dort erwähnte, wo es nicht nötig gewesen wäre, musste sie sich selbst mindestens gleich, vielleicht höher als Hong einschätzen. Vertrag hin oder her – wenn das zutraf, würde sie womöglich das, was er von ihr wollte, ohne Gegenleistung liefern!
RAY KRAVCUK:
Sie konnte wohl meine Gedanken nicht erraten, aber fast schien es mir so: Willst du gleich ran, Lai, oder ist vorher noch etwas Romantik gefragt? Ich war ehrlich schockiert, Mann! Das hätte drüben in den Staaten ein kapitales Missverständnis ergeben, an dessen Ende ich vermutlich im Knast gelandet wäre.
Dan Mai Zheng baute Ray Kravcuk eine goldene Brücke – sie hatte richtig erkannt, dass der große amerikanische Junge noch einiges zu lernen hatte, bevor sie tatsächlich, wie sie sich ausdrückte, für ihn erhältlich war. Er fand sie aber bereit, ihm nach Kräften dabei zu helfen, und dies durchaus nicht nur auf privater Basis, sondern durchaus auch im Sinne der zu treffenden Vereinbarungen zwischen zwei Kulturen, die unterschiedlicher nicht sein konnten.
Die Frauen bei uns in China, dozierte sie, haben nach Jahrhunderten der Unterdrückung und Erniedrigung eine ganz neue Sicht der Dinge entwickelt. Nachdem sie im alten Reich nur als Dienstmägde und Dirnen angesehen worden waren und man ihnen schon frühzeitig die Füße verkrüppelte, um ihren Bewegungsradius zu reduzieren, brachten drakonische Gesetze eine zumindest offizielle Gleichstellung der Geschlechter: dass erhebliche Teile dieses Prozesses dem kommunistischen Regime zu verdanken ist, solltest du als Amerikaner jedenfalls bedenken. Und so können sich die heutigen chinesischen Mädchen lange ihre natürliche Neugier erhalten und spielen diese auch ungeniert aus. Wir suchen den Kontakt zu allen Personen, die uns interessant erscheinen, selbst zu euch Langnasen, und wir sind im Kontakt zu euch unbefangen, unkompliziert. Wir zeigen ungeniert unsere Intelligenz.
RAY KRAVCUK:
Das war das allgemeine Drumherum, aber auf dieser Grundlage allein hätte sie ja noch nicht mit mir geschlafen – da musste das Ganze erst noch einige Teilstriche persönlicher werden. Nachdem sie mich in ihre entzückende Wohnung in Shanghai eingeladen hatte, wohin ich ihr gemäß Trudys Rat gerne gefolgt war, um dem öden Beijing zu entgehen – in dieses Appartment, das jeden nur erdenklichen Luxus aufwies (ich nahm an, auch Überwachungskameras) –, nachdem sie für uns ein vielfältiges chinesisches Mahl hatte kommen lassen, passierte es endlich. Ich ging es so behutsam an wie noch nie in meinem Leben, so zierlich war Zhengs Gestalt, so zerbrechlich wirkte sie auf mich.
Und sie zeigte wieder ihr undurchdringliches Lächeln, hinter dem sich so viel verbarg: dass sie in Wahrheit gar nicht so fragil war wie es schien, sondern in ihrer Kindheit in einer ganz anderen Umgebung gelernt hatte, um ihr Leben zu kämpfen, und dass sie die so erlernten Fertigkeiten bei der Volksarmee und danach im Dienst der Partei vervollkommnet hatte, und dass sie vieles wusste, was Ray nicht wusste, und auch vieles, was nicht einmal ihre unmittelbaren Vorgesetzten wussten, und dass es ihr Spaß machte mit dem fremden Teufel, aber wie sehr, das würde sie ihn niemals erkennen lassen.
Der alte Hong Wu Zhijian schien äußerst zufrieden, als er die ersten Fotos von der Vereinigung sah. Fachkundig betrachtete er alle Details und bedauerte innerlich, dass er diese mit niemandem diskutieren konnte. Nicht nur einmal hatten seine Blicke auf der blanken Haut Dan Mai Zhengs geruht, nicht nur einmal hatte er durch das Berühren ihres nackten Körpers seine patriarchalische Macht gezeigt und sich dabei im Rahmen seiner verbliebenen Möglichkeiten Vergnügen verschafft. Das Besteigen seiner Mitarbeiterin durch einen jungen wohlgebauten Mann, den er höchstpersönlich ihr zugeführt hatte, befriedigte ihn zutiefst.
Hong schätzte es auch, das die beiden sich von ihrem Techtelmechtel nicht aufhalten ließen und weiter an ihrem Auftrag arbeiteten: Auf mehreren Bildern war zu sehen, dass die Lösung der strittigen Grenzfragen auf Miss Dans und Rays Rückenansicht projiziert wurde.
RAY KRAVCUK:
Yes, Sir, wir waren in keiner Weise säumig. Der rote Strich quer über den Globus war gezogen und wurde in der Zwischenzeit von Hong und seinen Hinter¬männern gutgeheißen. Wa-shington hatte ich nochmals kontak-tiert und endgültig grünes Licht erhalten (die bedeutenden Ostküstenmedien, allen voran U.S.News, trommelten nach wie vor für meine Idee, daher konnte man die Zustimmung des Kongresses als Formsache betrachten). Seiji Sakamoto wurde nach Shanghai ein-geflogen, als Repräsentant der wahren Herrscher Japans, die nun – da sich das Land anschickte, den amerikanischen Einflussbereich zu verlassen – erstmals seit 1945 wieder offen aus ihrem Kuroi Kiri, dem Schwarzen Nebel, hervortreten und sich des ganzen für uns Yankees veranstalteten Polit-Theaters mit Regierung und Parlament und Parteien entledigen konnten.
So kam es in Dan Mai Zhengs Wohnung zu jener denkwürdigen Szene, in der die drei so verschiedenen Persönlichkeiten einander ihre Pouvoirs aushändigten: Die Chinesin hatte für ihre Kontrahenten zwei gleichlautende Schreiben des Staatsratsvorsitzenden (gegengezeichnet durch den Staatspräsidenten und Generalsekretär der KPCh), durch die sie autorisiert wurde, unseren Vertrag zu besiegeln. Sakamoto zeigte uns das Symbol seiner Stellung als Erster der Oyabuns, der für alle sprechen und Zusagen machen durfte – von mir braucht ihr nichts Schriftliches, meinte er lakonisch: wer sich auf unserer Seite nicht an die Abmachung hält, ist bereits tot. Etwas formeller, wenn auch nicht ganz so bürokratisch wie die chinesischen waren die Briefe des US-Präsidenten, die Ray überbrachte – jedenfalls war er befugt abzuschließen.
RAY KRAVCUK:
Das Papier, das wir dann tatsächlich signierten, enthielt nur die Verpflichtung, sich unter allen Umständen und jenseits aller propagandistischen oder militärischen Drohgebärden an den Limes zu halten, der auf drei identischen, von mir bereitgestellten Weltkarten markiert war. Auch diese versahen wir mit unseren Namenszügen. Die beiden anderen schlossen noch eine bilaterale Abmachung, in der die Yakuzas auf jede offizielle politische Repäsentanz im vergrößerten Reich der Mitte verzichteten, im Gegenzug aber vom Zentralkomite in Beijing freie Hand in allen wirtschaftlichen Belangen des Gesamtstaates erhielten, mit der alleinigen Einschränkung, den Primat der Partei pro forma zu achten.
Die Welt war aufgeteilt. Jeder der drei versorgte seine Dokumente, während die überwiegende Zahl der betroffenen Erdbewohner gerade schliefen.
Apropos schlafen: Kravcuk durfte bleiben, weil noch etwas Privates zu besprechen wäre, wie Miss Dan Mr. Sakamoto mitteilte. Sie fühlte deutlich, dass der Japs sie heftig begehrte, und sie wusste überdies, dass Hong es gerne gesehen hätte, wenn sie es zur Bekräftigung des globalen Abkommens auch mit dem anderen Partner getrieben hätte (nicht zuletzt wegen der zu erwartenden Fotos mit der dramatischen Ganzkörper-Tätowie¬rung), aber da setzte sie einmal ihre ureigensten Interessen durch und nahm das, was sie wollte: Ray…
RAY KRAVCUK:
Lai, mein langnasiger Freund, fragte sie naiv, nachdem Sakamoto endlich gegangen war, wird das eine undurchdringliche Mauer, die wir da errichtet haben, sodass wir uns niemals wiedersehen werden? Well, ich konnte sie trösten – für unsere Branche gibt es keine Grenzen, my little one. Sie würde schon darauf warten müssen, bis sie mich satt hatte. Oder ich sie.
613
Am Ende wurde auch Sir Basil ein Held.
Zuerst jedoch knöpfte er sich mich vor. Ich hatte richtig vermutet, dass er in mir ein Sicherheitsrisiko sah, und ich muss sagen, er ging’s scharf an. Seine O’RAZOR-Truppe – zusammen-gerufen durch ein Inserat, das einen Vortrag zum „weiblichen Element in William von Ockhams Philosophie? ankündigte – holte mich unsanft aus meiner Wohnung und brachte mich mit verbundenen Augen und gefesselten Händen und Füßen im Auto weg: müßig zu sagen, dass von der Nachbarschaft keiner etwas gesehen hat.
Man könnte jetzt einwenden, dass ich es ja nicht anders gewollt hätte – sei es wegen meines Verhaltens oder aufgrund der Tatsache, dass Phantasien manchmal Wirklichkeit werden oder Figuren sich selbständig machen oder alles zusammen. Kurz und gut, ich saß schließlich in einer unbeheizten Halle frierend auf einem Sessel. Die Jungs rund um mich hatten sich gerade mit einigen verbalen Grobheiten in Stimmung gebracht und waren dabei, handgreiflicher zu werden, als Sir Basil eintrat.
CHELTENHAM:
Was ist, redet sie?
Nichts, Sir, antwortete der Anführer. Mit Respekt, Sir Basil, wenn es so ist, dass sie mit dem Feind in Verbindung steht, würde ich sie gleich hier und jetzt bestrafen.
CHELTENHAM:
Jedenfalls kann und darf ich nicht über den Umstand hinwegsehen, dass sie mit meinem Widersacher Intimitäten unterhalten hat! Sie wird sich mir jetzt unterwerfen, ob sie nun will oder nicht!
Er war seinem Pendant tatsächlich unerhört ähnlich, besonders in seiner verhaltenen kalten Wut. Abgesehen davon, dass ich es nicht ausstehen kann, wenn jemand in meiner Gegenwart von mir spricht, als ob ich gar nicht da wäre, war es auf meiner Seite nicht so sehr eine Sache des Nicht-Wollens – jeder weiß, dass ich für ihn schwärme, seit ich ihn kenne, und dass mir sein Spiegelbild sozusagen nur zufällig über den Weg gelaufen war. Ich fühlte mich wirklich nicht abgeneigt und sagte ihm das auch – ein freundlicheres und vor allem wärmeres Ambiente vorausgesetzt. Aber er wollte mich bloß demütigen: auf einen Wink von ihm hielten mich zwei seiner Knechte so, dass er imstande gewesen wäre, mich bequem und ohne möglichen Widerstand meinerseits zu nehmen. Aber er tat es nicht, meinte, er sei im Prinzip nicht darauf angewiesen, von anderen Kerlen abgelegte Partnerinnen zu benützen (die leise und für seine Gorillas nicht verständliche Einschränkung sollte wohl eine Reverenz gegenüber Charlene Thomson sein).
Dann zwangen sie mich, von der Begegnung mit jenem anderen zu erzählen, immer und immer wieder die bewusste Szene, bis in meiner Erinnerung der Zauber dieser Nacht sich in Schalheit und Ekel verwandelt hatte…
CHELTENHAM:
Vergleicht das, was sie uns sagte, mit ihren schriftlichen Aufzeichnungen! Wenn alles übereinstimmt, darf sie sich restaurieren und meldet sich umgehend bei mir! (direkt an Claudette Williams gerichtet) Es bereiten sich große Dinge vor, meine Teuerste, und diese bedürfen der Chronistin. Sie werden mich begleiten, wohin auch immer das Schicksal mich führt, gemeinsam mit Leo di Marconi, der menschgewordenen Videokamera.
– – – – –
Lyjaifxy hatte sich nicht nur aus persönlichem Interesse an seinem Doppelgänger so weit vorgearbeitet. Er brachte auch eine Botschaft Iadapqap Jirujap Dlodylysuaps für Sir Basil mit. Romuald und sein Pendant verließen daher das Labyrinth (dieses machte ihnen mit einem Mal keinerlei Schwierigkeiten mehr) durch den ganz normalen Ausgang auf Cheltenham House, den bis dato nur der Hausherr und seine Vorgänger zu öffnen vermocht hatten. Die Botschaft besagte, dass der Tyrann Sir Basil treffen wollte.
Lyjaifxy deklamierte auswendig, wie es in der Spiegelwelt bei Kurieren üblich war: Während deine monströse Belagerungsmaschine meine Völker dezimiert, mein Territorium verwüstet und meine Streitkräfte wie Marionetten aussehen lässt, fordere ich dich nach altem Brauch meiner Realität zum ritterlichen Turnier. Es sollte mich wundern, wenn du nicht einwilligst, weil auch in deiner Welt die Kriegstugend ein Kriterium der Mannesehre ist. Gleichgültig wie dann das allgemeine Ringen endet, werden wir unsere persönliche Entscheidung herbeigeführt haben.
CHELTENHAM:
Ich hatte es geahnt – in letzter Konsequenz war dies der Grund für meinen Wunsch gewesen, einen Androiden mit unser beider Gestalt zur Hand zu haben, aber die ursprüngliche Idee konnte aufgrund des missglückten AMG nun ja doch nicht mehr verwirklicht werden. Das war auch gut so: aufgrund der zeremonialen Aufforderung meines Gegners kamen irgendwelche Tricks ohnehin nicht in Frage, sondern es war ab sofort die Pflicht eines Cheltenham, sich persönlich zu stellen. Die Versuchung, dennoch meiner menschlichen Schwäche nachzugeben und den mechanischen Doppelgänger zu schicken, war allerdings schon dadurch gebannt, dass der Android – selbst wenn er in der gewünschten Weise funktioniert hätte – trotz seiner körperlichen Überlegenheit ganz sicher gegen Iadapqap verlieren musste: diese Auseinandersetzung würde nicht auf der physischen Ebene geführt werden, und im Wesentlichen ging es darum (auch wenn man es wahrscheinlich niemals voll und ganz begreifen konnte), dass jeder der beiden Kontrahenten auch einen Teil seiner selbst besiegen musste.
Das alles war ein aus Verzweiflung nach außen gekehrter innerer Monolog und keineswegs auf uns gemünzt, die wir da saßen und aus Verlegenheit nicht wussten, wo wir hinschauen oder was wir mit unseren Händen tun sollten: ich selbst, Leo di Marconi und das Zwillingspaar Romuald und Lyjaifxy. Nicht dass jemand von uns Grund hatte, Sir Basil in irgendeiner Form oder für irgendetwas besonders zu schätzen – er flößte uns nur derartigen Respekt ein, dass die Luft hier im Salon bleiern erschien.
CHELTENHAM:
(bricht das Eis, wieder ganz der liebenswürdige Gastgeber) Ich stelle mir eine ganze Reihe von Dingen vor, die Sie mit ihren reizenden Händen tun könnten, meine Liebe, statt sie an sich herunterbaumeln zu lassen – darf ich jemandem etwas zu trinken anbieten, um die Wartezeit zu verkürzen?
Romuald stürzte zur Bar, um zu verhindern, dass der mächtige Sir Basil selbst aktiv werden musste, fragte nach unseren Wünschen und brachte danach jedem das Bestellte.
IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
(steht plötzlich mitten im Raum) Und mir bringen Sie einen kleinen Whiskey mit etwas Wasser, Lakai! (zu Sir Basil gewandt) Beides schätze ich sehr auf dieser Seite, alter Knabe, denn dort drüben (tut, als ob es ihn grusle) gibt es weder das eine noch das andere in angemessener Qualität!
Ich war überzeugt, dass er uns schon eine ganze Weile beobachtet, dementsprechend auch mich längst entdeckt hatte. Dennoch tat er ganz überrascht.
IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
Ah, meine Liebe, ich freue mich, Sie wiederzusehen. Ich hoffe, keine Indiskretion zu begehen, wenn ich hier quasi öffentlich bedaure, dass aus unserer Bekanntschaft nicht mehr geworden ist. Meine Güte (ahmt perfekt Sir Basils Landadelsstil nach) – nun, es ist nicht so leicht, einem alten Fuchs wie mir, der noch in so manchen Hühnerstall kostenlos eindringen kann, Geld herauszulocken für die – Sache… Ist es nicht so, Cheltie?
Sir Basil hatte inzwischen die typisch britische steife Oberlippe bekommen.
CHELTENHAM:
So ist es, Dlody.
IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
Wen haben wir denn da noch?
Aus einem mir nicht einsichtigen Grund, aber offenbar mit Absicht übersah er Marconi, der fleißig filmte, und wandte sich den beiden anderen zu.
IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
Abschaum, der ihr seid, versteht ihr euch auch gut? Wissen Sie, Cheltie, dass Figuren wie diese für beide Universen den Untergang darstellen können – sie sind gnadenlose Opportunisten und sehr effizient in ihrer dummen Dreistigkeit!
Wie sind Sie hierher gekommen, Monseigneur? fragte ich neugierig. Sir Basil reagierte eifersüchtig und indigniert.
CHELTENHAM:
Monseigneur – ?
Das war nach langem wieder einmal etwas, das er nicht schon vorweg wusste. Aber niemand beachtete ihn – ebenso wie er selbst wollten alle Anwesenden tatsächlich erfahren, wie der Tyrann so mirnichtsdirnichts nach Cheltenham House gekommen war.
IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
(barsch zu Romi) Zeig’s vor, Bursche!
Romuald vollführte eine Handbewegung, als ob er etwas zu Boden schmettern wollte. Eine kleine Explosion, ein greller Blitz, der uns für einen Augenblick blendete – er war verschwunden. Kurz darauf die gleiche Erscheinung – er war wieder da.
IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
So machen wir Magier das, aber was Sie hier gesehen haben, stellt nur den Show-Teil dar. Der eigentliche Punkt ist – ich besitze zufälligerweise das Pendant zu jener Kristallkugel, die Cheltie da so dekorativ auf seinem Sideboard stehen hat. Nicht immer, aber dann und wann nehmen die beiden Objekte Kontakt miteinander auf, und eine solche Gelegenheit habe ich benützt, um unbeschadet irgendwelcher katastrophaler Ereignisse hierher zu eilen.
Auf ziemlich schlaue Art führte Iadapqap das Ende des Small Talks herbei und brachte das Gespräch auf den eigentlichen Zweck seines Besuchs. Zynisch forderte er Romualds Doppelgänger auf, ihm zu sekundieren – obwohl dieser offenkundig die Seiten gewechselt hatte, sollte er soviel Verantwortung fühlen, seinem ehemaligen Herrn diesen vielleicht letzten Dienst zu erweisen. Cheltenham, der noch blasser als sonst erschien, wählte Romuald zum Sekundanten, und so kam es, dass die Duellanten von Männern begleitet wurden, die sie im Innersten hassten: aber man wusste damit wenigstens auf beiden Seiten, woran man war.
IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
Wo wollen Sie kämpfen, Cheltie – in den Staubwüsten des Planeten Nr. 4 in meinem Reich? Oder auf meiner nahezu unbewohnbar gewordenen Heimatwelt? Auf dem Mars Ihrer Realität?
CHELTENHAM:
Wir kämpfen hier, wo wir gerade sind, versetzen uns lediglich gemeinsam in die uralte Befestigungsanlage, die vor tausenden Jahren dort stand, wo man heute Cheltenham House findet. Wir schreiten gemeinsam die Ränder eines tiefen sternförmigen Kraters entlang, der vor den Toren dieses Komplexes lag und erst später durch die Naturgewalten aufgefüllt, begrünt und in ein liebliches Tal verwandelt wurde. An diesem vergangenen Ort in einer vergangenen Zeit werden wir unsere Disputationen abhalten.
Grafik 6.9
Er gab im schillernden Feld am Sockel der Kugel kraft seiner Gedanken die entsprechenden Koordinaten ein. Damit nicht irrtümlich jemand zurückbliebe, rückten wir eng zusammen (Iadapqap verfehlte nicht, mich dabei heimlich sein Relief spüren zu lassen) – und dann waren wir auch schon da. Der Tyrann schien es im Gegensatz zu uns anderen hier richtig gemütlich zu finden.
IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
Ich sage Ihnen was, Cheltie – wir gliedern unser Turnier in sechs Abschnitte, von denen jeder mit einer Frage beginnt! Möge der Schnellere gewinnen!
Möge der Schnellere beginnen! paraphrasierten die beiden Sekundanten feierlich. Fast unmerklich hatten sie damit zu verstehen gegeben, dass es am Ende nicht die Geschwindigkeit sein würde, auf die es ankam. Sir Basil jedenfalls war wie immer schnell.
CHELTENHAM:
Erster Sinnspruch für Paranoiker: D?r Meister mag dir verborgen bleiben, doch seine Kreaturen nicht.
IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
Genetisch manipuliertes Leben kann auch als Kunstwerk verwendet werden – dann ist es duftiger als die brutal empfundene pränatale Diagnostik und Therapie, die das Ziel durchwegs einwandfrei funktio¬nierender Individuen verfolgt. Anhänger dieser Schaffensform arbeiten zwar auch mit Enzymen, Pipetten und lebenden Organismen, aber ihr Tun wird als nicht ernstzunehmend erlebt, eher als Flirt mit der Schöpfung. Zum Beispiel der Hase, der im Embryonalstadium mit dem Gen für das grünfluoreszierende Pro¬tein ausgestattet wurde. Er hoppelt durchs Gras, unter normalen Umständen mit einem Fell weiß wie Schnee, aber leuchtend grün bei entsprechender Verdunklung: die Synthese von Natur und Technik zu einem artifiziellen Hybrid.
CHELTENHAM:
Zweiter Sinnspruch für Paranoiker: I? der Arglosigkeit der Substanz spiegelt sich die Amoral ihres Gestalters.
IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
Was könnte naiver sein als ein Bakterium, und doch: wenn man ihm ein künstliches Gen einsetzt, wird es zum Hauptakteur einer künstlichen Entwicklungsgeschichte, basierend vielleicht auf einem erhabenen Text, transkribiert in DNA-Basenfolgen. Dieses Etwas vermehrt sich unter UV-Licht in einer Petrischale, und durch Betätigung eines Dimmers können die Zuschauer Evolution spielen – je nach Wellenlänge und Intensität der Bestrahlung erhöht oder verringert sich die Mutationsrate.
CHELTENHAM:
Dritter Sinnspruch für Paranoiker: M?t Ästheten über Grenzen zu diskutieren, ist noch weniger sinnvoll als mit Wissenschaftlern.
IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
Die Künstler hoffen, das Publikum mit ihren Werken leichter zum Nachdenken anregen zu können als durch methodische Experimente. Was aber so harmlos aussieht, wird womöglich das Heraufdämmern eines neuen barbarischen Zeitalters durch die Hintertüren der Schönheit. Wo ist der Unterschied zwischen genmanipulierten Laborwesen, geklonten Mammuts oder Menschen in Serienerzeugung? Sind sie nicht alle den Phantasien eines ganz dunklen Jahrhunderts entsprungen?
Er verstellt sich gut! flüsterte Lyjaifxy hastig seinem Romuald zu. Dabei ist das nicht das Kriterium! erwiderte dieser gepresst. Keineswegs wollten die beiden Sekundanten irgendwie auffallen – sie konnten ahnen, dass es für sie schlimm wäre, den Missmut der Kämpfer heraufzubeschwören: Iadapqaps Magie oder Sir Basils Finesse oder womöglich beides.
Währenddessen setzten die beiden Kontrahenten ihre Umkreisung des Themenwürfels weiter fort, färbten da und dort ein wenig um, manches dunkler und manches heller, ohne genau zu wissen, was sie damit für ihre persönliche Sache bewirkten.
CHELTENHAM:
Vierter Sinnspruch für Paranoiker: E?al wie man persönlich dazu steht – jede erdenkliche Schwelle der Manipulation des Lebens ist seit langem überschritten.
IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
Immer mehr Leute sind bereits jetzt daran gewöhnt, ihren eigenen Körper als ultimatives Artefakt anzusehen, im Sinne eines sich ständig verändernden Projekts. Mit einer derartigen Wahrnehmungsprothese ausgestattet, wundert es dann auch nicht weiter, wenn sie die Gefahr nicht erkennen, selbst wenn sie an ihrer Haustür steht. Menschen leben, die längst gestorben sein müssten, oder sie ändern zumindest ihr gesamtes Erscheinungsbild so rasch wie Chamäleons.
CHELTENHAM:
Fünfter Sinnspruch für Paranoiker: I? Angesicht von Einzelfällen werden gerne hochvariable Zusammenhänge als feste Kausalketten interpretiert.
IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
Man stolpert allerdings ganz leicht in diese Falle, weil es wohl tut, das eigene Denken in plausibel scheinenden Kombinationen zu verankern: wie herrlich eindeutig ist anscheinend der Zusammenhang zwischen Gewalt in den Medien und im Alltag – welche Kraft gehört aber in Wahrheit dazu, echte Brutalität auszuüben! Vergleichbar lose ist der Konnex zwischen genverändernder Kunst und harter, die Fakten neuer Existenzformen schaffender Gentechnologie.
So ganz Unrecht hatte Dlodylysuap da nicht. Apokalyptische Gemälde als Vehikel für relativ leicht verständliche Anliegen sind tatsächlich kontraproduktiv. Wer im Interesse eines überzogenen Bedrohungsszenarios Kausalketten konstruiert, wo keine sind, der verringert nur das Bedürfnis, Fragen zu diskutieren, die in Wirklichkeit darüber entscheiden, wie diese Gesellschaft in einigen Jahrzehnten funktionieren wird.
Das war ja nun eine ganz andere Art Duell, als sie dem romantiklesenden Pascal Kouradraogo vorgeschwebt war: rein akademisch hätte ihm das Genre vielleicht gefallen, aber vordergründig würde es ihm als Verrat an Athos, Porthos, Aramis und d’Artagnan erscheinen, die ein ehrliches Degengefecht bei der Porte St. Denis hingelegt haben – zur Freude des kindlichen professoralen Herzens. Vorsicht! dröhnte Berenices Stimme in Sir Basils Kopf: Der Würfel ist ein Abbild des Kraters. Wenn scheinbar alle Fragen geklärt sind, erscheint auf einer der sechs Flächen eine Einstülpung, die zum Austragungsort des finalen Showdowns wird – ein Malstrom der Gedanken, ein gewaltiger Trichter, der alles, was er zu fassen bekommt, erbarmungslos nach unten reißt, einer Dekonstruktion des aktuellen Ich, einer frühkindlichen Phase entgegen.
Wenn Berenice ihm nicht beigestanden wäre! Sir Basil war auf der Hut.
CHELTENHAM:
Sechster Sinnspruch für Paranoiker: F?lsche Fragen vorausgesetzt, braucht man vor den Antworten nicht zu bangen.
IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
Unter diesem Blickwinkel ist die freudige Zustimmung vieler zu erwarten, wenn gefragt wird, ob künftig menschliche Handfertigkeit und nicht mehr die statistischen biologischen Prozesse das Leben vorantreiben sollen. Wollt ihr Kunst statt Evolution? wird einmal ein berühmt-be¬rüchtigtes Zitat lauten, in die johlende Menge geworfen und dort geifernd aufgenommen und tausendfach repetiert. Die Hybris ist das Zepter der Tyrannen! Ich werde dafür sorgen, dass eines Tages jede Frau und jeder Mann stigmatisiert werden, wenn sie nicht völlig gesund sind! Ich –
Jetzt hatte ihn Sir Basil. e-n-i-g-m-a war das geheimnisvolle Wort, das er in seine Sinnsprüche eingebaut hatte, und die Lösung des Rätsels bestand darin, dass jener der beiden Ritter verloren sei, dem zuerst das „Ich” über die Lippen käme! Die Sekundanten erklärten den Baronet zum Sieger von von Oilell Guinevere, das war der Name des mystischen Ursprungs von Cheltenham House.
Der Krater hatte sich während unseres streitbaren Rundgangs mit trübem Wasser gefüllt, aber derart langsam, dass die Oberfläche spiegelglatt dalag. Iadapqap Jirujap Dlodylysuap machte Anstalten, sich in ungezügelter Raserei in die Fluten zu stürzen. Als Sir Basil sich ein beiläufiges „Tut mir leid, alter Junge!” nicht verkneifen konnte, wurde er von seinem Widersacher am Arm gepackt und mitgerissen – ein kurz anhaltender Strudel, und die beiden waren verschwunden. Nach allem was er wusste, erklärte uns Romuald (der im Labyrinth viel gesehen hatte, was anderen verborgen blieb), kehrt von dort niemand wieder, es ist der See des Vergessens!
Plötzlich sahen wir drei düster gekleidete, seltsam undeutlich-ver-schwommene Gestalten am Ufer sitzen und in das nebelige Wasser starren. Kurzerhand griffen sie zu und zogen Sir Basil an beiden Armen heraus, nicht ahnend, ob sie rechtzeitig gekommen waren, um seinen Geist vor dem Erlöschen zu bewahren. Cheltenham schien um viele Jahre gealtert, und sein Haar war mit einem Mal grau geworden. Was er dort unten tatsächlich erlebt hatte (vielleicht einen echten Kampf mit rasiermesserscharfen Waffen), konnten wir uns nur vage ausmalen. Ich fragte mich, wie er wohl seinen Gegner zugerichtet haben musste, der jetzt jedenfalls tot war, da er selbst lebte!
CHELTENHAM:
(hat die Augen geöffnet) Ich bin todmüde – gehen wir nach Hause –
Die Walemira Talmai war unbemerkt hinter uns getreten – gekommen, um das Ärgste zu verhüten, und das bedeutete für sie: den Untergang beider Männer. Ich begriff mit einem Mal, dass sie nicht nur den einen, sondern auch den anderen davor gewarnt haben musste, die Grenzen des universellen Menschseins nicht zu überschreiten. Dennoch musste sie mitansehen, dass ihre Therapie mindestens in dem einen Fall versagt hatte.
Sie hielt Sir Basil die Kristallkugel hin (woher auch immer sie diese herzauberte), und er gab mit zitternden Händen die Koordinaten ein. Wir anderen drückten uns ganz eng an ihn. Die imposante Erscheinung Berenices verblasste – sie brauchte das Vehikel der Kugel nicht, um zurückzukehren.
DER GROSSE REGISSEUR UND DER NOCH GRÖSSERE PRODUZENT:
Damit hätten wir ja wohl das ganze Melodram überstanden! Wie wär’s jetzt mit einer kleinen Gunstbezeugung deinerseits, wenn du dich schon nicht einmal gescheut hast, mit zweien vom Personal – wenn nicht den Protagonisten – der Geschichte zu liebäugeln?
Die Story soll noch einen eleganten Abschluss finden, und was das andere betrifft, das holt euch gefälligst bei euren Jungschauspielerinnen-Flitt¬chen! Nein – ich weiß noch etwas Besseres –
DER GROSSE REGISSEUR UND DER NOCH GRÖSSERE PRODUZENT:
Jaaaaa –?
Macht es euch selbst!
614
Die Nachricht von der Reduktion des Krieges auf einen Zweikampf sowie von dessen Ausgang beendete unsere jenseitige Mission, und wie von selbst steuerte die NOSTRANIMA ihr Ziel an. Die Rückkehr zum heimatlichen Stützpunkt Cheltenham House verlief unspektakulär: Lyjaifxy, der auf der Spiegelweltseite des unterirdischen Labyrinths einen befestigten Eingang in der Form eines herrschaftlichen Gebäudes (nicht unähnlich Sir Basils Landsitz) hatte anlegen lassen, geleitete Schiff und Besatzung in jenem Irrgarten bis an einen vorher vereinbarten Punkt, an dem Romuald mit minimalstem diplomatischen Gepränge die Gesellschaft übernahm und durch den Ausgang im Alpha-Universum wieder hinausführte. Bei niemandem gab es dabei auch nur den Schatten des Gedankens, die NOSTRANIMA zu kidnappen, obwohl sie sich hierfür in geradezu idealer Form präsentierte: als Koffer, den mein geliebter Giorduzzo und ich mit vereinten Kräften trugen – irgendwie war’s ja unser gemeinsames Kind.
STARREPORTER LEO DI MARCONI
(Berichterstatter, Kameramann und Kom¬mentator in einer Person):
Eins – zwei, cheese! – Keine Sorge, Miss Panagou, ach was – Anastacia, das dumme Gequatsche, das ich absondere, um meine Nervosität zu verbergen (denn wohin man hier auch blickt, alles erscheint einem lebensgefährlich), das kön¬nen wir später wieder rausschneiden! Also denn, meine Damen und Herren, da die Chancen inzwischen wieder recht gut stehen, dass die Welt nicht untergehen wird und jemand diesen Bericht wird sehen können, beobachten Sie mit mir die Wiederkunft der NOSTRANIMA, dieses gewaltigen elektronisch-telepathi-schen Raumkreuzers, und wenn sie sich vielleicht darüber wundern, wieso die ganze Herrlichkeit auf einmal in eine handliche Aktentasche passt, dann haben Sie einfach nichts begriffen von der hier angewandten Technologie, bei der jede Vorstellung einer herkömmlichen physikalischen Topologie versagen muss. Sie sehen die Konstrukteurin sowie zwei Personen, die ebenfalls zur Einzigartigkeit dieses Werkes mit ihrem spezifischen Wissen beigetragen haben, nämlich Mr. Giordano Bruno und Mr. Chicago. Weiters kann ich im Zug der Ankömmlinge die Androidin Anpan mit ihrem Verlobten Pifsixyl Xifu erkennen sowie Don Julio Sanchez-Barzon mit seiner zweiten Frau Alex (wie man hört, haben die beiden auf der NOSTRANIMA geheiratet). Den Abschluss bilden drei hoch¬stehende Damen, die Gemahlin des sehr ehrenwerten Sir Basil Cheltenham (hast es zu etwas gebracht, Chuck!), flankiert von der Gräfin und der Komtesse von B.
Romi und Ly, wie sie einander nannten, hatten sich über das Schicksal des Expeditionsschiffs längst verständigt, in der ihnen eigenen Trivialität: sie wollten von all dem Hokuspokus nichts mehr wissen – und immerhin hatten sie ja die Verantwortung für das weitere Geschehen übernommen. Ihre Order war allerdings weder genau definiert, noch ausreichend legitimiert, abgesehen davon, dass sich überhaupt in den beiden Realitäten ein unterschiedliches Bild zeigte.
STARREPORTER LEO DI MARCONI:
(beiseite) Achtung, off-records – zur späteren Verwendung, falls man irgendwann wieder ein unzensuriertes Wort publizieren darf! – In Wirklichkeit waren die beiden Buddies lediglich eine Art Wildhüter, die vom Jagdherrn, Sir Basil Cheltenham, dem Sieger von Oilell Guinevere, eingesetzt wurden, um in seinen nunmehr zwei Revieren nach dem Rechten zu sehen!
In Romualds Sphäre liefen die Dinge, wie der Baronet sie mit Hilfe Rays und seiner drei Damen eingefädelt hatte. Die beiden irdischen Supermächte arbeiteten an der Arrondierung ihres Besitzes, und wenngleich manche betroffenen Staaten zum Teil erbitterten Widerstand leisteten, nützte es ihnen nichts, gegen die normative Kraft des Faktischen anzutreten. Die politisch-wirtschaftlich-militärische Kaste in Washington war mittlerweile rundherum zufrieden: die ersten saftigen Profite, die man unzweifelhaft den neuen Rahmenbedingungen zuordnen konnte, flossen bereits, und vielleicht, in nicht allzu ferner Zukunft, würde es heißen: Kravcuk for President! Ähnlich im neuen Reich der Mitte: auch hier begann man nach anfänglichem Zögern die Früchte des globalen Arrangements zu lukrieren. Miss Dan Mai Zheng, wohlwollend beäugt und manchmal auch ein wenig betatscht vom greisen Hong (der mit seinen unschlagbaren Geheimdossiers alle hinwegfegte, die sich seinem Schützling in den Weg stellten), stieg in der bis dato männerdominierten chinesischen Hierarchie unaufhaltsam hoch, nicht zuletzt mit tatkräftiger Unterstützung Seiji Sakamotos, der beträchtliche finanzielle Zuwendungen machte oder auch, wenn nötig, ein Yakuza-Kommando schickte.
In der anderen Realität erwies sich die Situation als wesentlich komplizierter: Dort hatte man ja den einzigen Stabilitätsfaktor – in Person des Tyrannen – beseitigt. Wenn sich auch die in seinem Imperium zusammengefasste Völkerfamilie nicht wirklich sicher war, ob man ihn endgültig abschreiben konnte (dafür hatten sie letztlich nur das Wort Sir Basils, also eines für sie völlig Fremden), begann doch der frühere Herrschaftsbereich des Diktators langsam zu zerfallen. Es gab Revolutionen auf Olxo selbst und auf den Kolonialwelten, für deren Eroberung die rund 100 Jahre Vorsprung gegenüber dem Alpha-Universum gereicht hatten. Durchführung und Auswirkungen dieser Umstürze zeigten äußerst unterschiedliche Profile: Am blutigsten verliefen die Ereignisse auf der ehemaligen Heimatwelt des Iadapqap Jirujap Dlodylysuap, wo inmitten schwerster sozialer und ökologischer Defekte endgültig die Anarchie ausbrach. Demgegenüber gab es auf Jifihikxli das friedliche Überwuchern der Invasoren und ihrer wenigen vom Krieg verschonten Artefakte durch die Lhiks, wobei niemand getötet, sondern allenfalls mit sanftem Druck zur Verträglichkeit gezwungen wurde. Daneben fand man, auf den anderen Planeten, alle möglichen Facetten zwischen diesen Extremen. Insgesamt besserte sich die Situation gegenüber früher eigentlich nicht, es sei denn, man wollte die Fraktionierung des Tyrannenreiches per se als Fortschritt auffassen.
Das Bedrohungsszenario für das diesseitige Universum hatte immerhin aufgehört zu existieren. Lyjaifxys Hauptaufgabe bestand daher in den Augen Romualds darin, dafür zu sorgen, dass die Ereignisse der Spiegelwelt nicht auf unsere Realität durchschlugen. Eine gute Voraussetzung hierfür war, dass die NOSTRANIMA sämtliche von ihr aufgespürte Durchgänge versiegelt hatte, beginnend mit jenem (astronomisch gesehen nächst der Station von Keyhi Pujvi Giki Foy Holby und Mango Berenga gelegenen), durch den der Raumkreuzer selbst hinübergewechselt und die Lhiks in die Gegenrichtung verabschiedet hatte. Offen blieb somit nur noch die Passage, durch die unsere NOSTRANIMA zurückkehrte und die von beiden Aufsehern höchstpersönlich kontrolliert wurde.
STARREPORTER LEO DI MARCONI:
Von allem, was ich rund um dieses letzte offene Sternentor filmisch einfangen durfte – es gab, nebenbei gesagt, noch immer einen gewissen Transitverkehr, da manche Leute sich durchaus nicht scheuten, die peinlichen Befragungen und Überprüfungen durch das Administratoren-Duo sowie die Strapazen des Labyrinths auf sich zu nehmen, wenn sie auf die andere Seite wollten –, ist mir eine Szene besonders in Erinnerung: Die vier Professoren hatten sich bis hierher durchgeschlagen und erwarteten nun, dass man ihre Odyssee durch Einsetzung in ihre alten Ämter schleunigst beendete. Lyjaifxy, der sie schnurstracks in Haft genommen hatte, ließ Romuald zwecks gemeinsamer Beurteilung holen, und die beiden konnten sich über das Ansinnen der Wissenschafter gar nicht genug amüsieren. Romi schlug sich ungeniert auf die Schenkel (so war er nun mal, und man muss leider sagen, dass es selbst jemandem wie mir, der die Vornehmheit nicht vor sich her trägt, unangenehm auffiel). Ja, leben Sie denn auf dem Mond, meine Herren? polterte er: Da steht die ganze Welt Kopf, und Sie wollen das Rad der Zeit einfach zurückdrehen? Selbstverständlich sitzen längst andere auf ihren Lehrstühlen, und dabei bleibt es auch! Ly (der zusehends die Verhaltensweisen seines Pendants bis zur völligen Identität kopierte) konnte sich ebenfalls kaum halten vor Lachen, wurde aber dann plötzlich ernst: Einsperren, okay? Etwas Richtiges arbeiten lassen, weit abseits ihrer bisherigen Orchideenjobs, okay? Romi stimmte wortlos zu, und die Vier wurden unter heftigen Protesten abgeführt. Wer allerdings gut aufpasste (was ich von Berufs wegen tue), der konnte in dem allgemeinen Gezeter hören, wie der schlaue Pascal Kouradraogo den anderen zuflüsterte: Keine Angst, ich habe da so eine Idee…
– – – – –
Die zu einem vergleichsweise winzigen Format eingefaltete NOSTRANIMA wollte ich unbedingt am Leben und funktionstüchtig erhalten, gleichgültig was irgendwelche Schnösel darüber dachten. Wesentlich war ausschließlich, dass sie nicht daran dachten, mir mein Meisterwerk wegzunehmen. Nicht oder jedenfalls für den Moment nicht mehr gebraucht zu werden und keine Geheimnisträger mehr zu sein – denn wer kümmerte sich im neu angebrochenen Zeitalter noch um das, was wir wussten? –, genossen Giorduzzo und ich sehr. Wir konnten sozusagen ein ganz normales entspanntes Leben führen, waren als Gäste auf Sir Basils Anwesen offenbar weiter willkommen, obwohl niemand diesbezüglich eine formelle Einladung ausgesprochen hatte – und unsere wissenschaftlichen Überlegungen und Theorien gerieten immer mehr zur angenehmen Freizeitbeschäftigung.
STARREPORTER LEO DI MARCONI:
Gern hatten es die beiden nicht, wenn ich ihnen mit meiner Kamera nachstellte, aber ich filmte sie gar nicht bei irgendwelchen intimen Gelegenheiten, sondern nur bei den Ausflügen, die sie mit der NOSTRANIMA machten. Es war ja wirklich zu seltsam, wie aus dem Koffer, der seinerseits (wie man wusste) eine Transposition des gewaltigen Schiffs war, plötzlich eine vierspännige Kutsche wurde, die Giordano Bruno mit sicherer Hand kreuz und quer durch die Cheltenham’schen Besitzungen lenkte.
Ich saß neben ihm und bewunderte ihn – er hatte wahrlich goldene Hände, für die Pferde ebenso wie für seine Geliebte, denn eines ist klar: die Zufriedenheit der NOSTRANIMA (die sich mental zweifellos noch immer permanent weiterentwickelte) war mindestens ebenso schwer herzustellen wie jene einer in Gefühlssachen erdverbundenen Griechin, deren Stimmungen so rasch umschlagen können wie der Meltemi, dessen Name so sanft klingt: aber dieser Schein trügt.
STARREPORTER LEO DI MARCONI:
Lassen wir unsere Turteltauben für diesmal. Sollen sie doch ihre romantische Fahrt ungestört beenden und danach in ihrem Appartement auf Cheltenham House absolvieren, wonach ihnen der Sinn steht: entweder ein gepflegtes Liebesabenteuer – das hätte ich gewiss präferiert nach dem Quasi-Vorspiel auf dem Kutschbock – oder eine akademische Diskussion – wofür ich persönlich weniger Verständnis aufbrächte. Das eine oder das andere jedenfalls unter dem Augenpaar, das vom Bildschirm im Inneren des NOSTRANIMA-Behältnisses aufmerksam und interessiert die beiden beobachtet.
Gerne verwandelten wir unseren Raumkreuzer auch in ein altes Kleinflugzeug, um eine Shopping-Tour nach London zu machen. Da war ich natürlich die Pilotin und steuerte den kleinen London City Airport an, von wo wir mit dem Bus in 25 Minuten die Underground Station Liverpool Street erreichen konnten.
Die Stadt war nach wie vor ein Erlebnis. Einerseits erfüllte sie noch immer die früheren Klischees (auf die ich Giordano besonders hinwies), andererseits war es inzwischen offensichtlich zu gewaltigen Abstrichen bei den königlich-britischen Traditionen gekommen: Die Amerikaner hatten London pro forma zum europäischen Befehlsstand ihres Machtbereichs erhoben – obwohl die modernen Kommunikationswege einen solchen weitgehend entbehrlich machten –, und die Engländer schienen darauf mächtig stolz zu sein, so tief waren sie bereits gesunken. Umgekehrt konnte man nach wie vor an der Themse stehen und den jahrhunderte-, wenn nicht jahrtausendealten Geschichten des Flusses lauschen. Auch Big Ben schlug noch die Stunden, und sein Klang machte mich wie früher erschauern, obwohl er keine ernstzunehmende politische Körperschaft mehr repräsentierte.
Danach wieder zurück auf den Landsitz, unsere momentane Heimat. Bei der Landung unseres Doppeldeckers auf einem flachen Heidestück nahe Cheltenham House stand schon wieder dieser Marconi und filmte.
STARREPORTER LEO DI MARCONI:
Jawohl, meine Damen und Herren, es ist eine merkwürdige Zeit, in der wir leben, mit merkwürdigen Zeitgenossen. Aber es ist eine Zeit, in der man es sich auch ein wenig gemütlich machen kann. Und das ist mein letztes Wort.
614-A
Spanien ist kein schlechter Ort, um zu vergessen, erklärte Don Julio seiner Alex: meine Heimatstadt Sevilla zumal, die so viele Vergangenheiten aufweist und doch in keiner richtig zu Hause ist. Dass Alex eingewilligt hatte, von ihrer Wand herunterzuklettern und ihn zu heiraten (vor Anastacia Panagou als Kommandantin der NO¬STRANIMA – so viel Zeit nahm man sich einfach auch im Kampfeinsatz), durfte er als beachtlichen therapeutischen Erfolg verbuchen. Jetzt ging es darum, einen Ort zu finden, wo alles, was seiner Frau jemals widerfahren war, langfristig ausklingen konnte.
Die Villa im andalusischen Stil lag definitiv nicht am Meer, nicht einmal in der Nähe eines Gewässers und besaß auch keinen Pool. In der Mitte des Gebäudekomplexes befand sich ein Springbrunnen, in dessen Becken man beim besten Willen weder schwimmen noch tauchen konnte. Selbst nur die Rede auf diesen Themenkreis zu bringen, hatte der ärztliche Gemahl sich und Alex verboten, und besonders verpönt war es ab sofort, die Luft anzuhalten – zu seinem Leidwesen (wir erinnern uns, warum er es bedauerte) hatte der Doktor auch das anordnen müssen. Immerhin ließen die positiven Auswirkungen nicht auf sich waren: Hool, schmeichelte Alex zärtlich in ihrem legeren amerikanischen Slang – Hool, ich mag dich auch so, selbst wenn’s im Moment nicht richtig klappt.
Man kann es ja verstehen: Sie hatte so viel erlebt, dass ihr Bedarf einigermaßen gedeckt war und sie ganz gerne einer behaglichen Beschaulichkeit frönte. Zum Trost überredete sie ihren Mann ab und zu, nach Sevilla hineinzufahren. Wenn sie dann an seinem Arm durch die Avenida de la Constitución ging – ganz in weiß, atemberaubende Einsichten gewährend (ihr Körper war nach wie vor in „High Definition?) – und erkannte, dass ihnen ein und derselbe junge Mann zum wiederholten Mal entgegenkam und Alex mit seinen Blicken verschlang, war sie nicht wenig stolz. Don Julio fühlte sich davon sogar äußerst geschmeichelt, führte sie in ein Café und flüsterte: Sieh mal, Conchita, er macht sich wieder einmal bemerkbar! Alex, die Augen versonnen auf die Giralda gerichtet, zögerte nicht, unter dem Tisch ihre Hand auf die sensible Stelle zu legen.
ERZÄHLER:
Aber Brigitte, wir hatten uns doch vorgenommen, nicht mehr einzugreifen, wo immer einzelne Fäden der Geschichte auch hinverliefen!
Sei nicht so hart, mein Guter, lass nicht einige unserer Charaktere einfach versanden! Mir zuliebe noch einen zweiten und diesmal endgültigen Exkurs!
– – – – –
In einer traurigen Verfassung haben wir Sanchez-Barzons Ex-Frau Margharita und die beiden anderen Damen zurückgelassen, die das Chicago-Cheltenham’sche Projekt um den Verstand gebracht hatte und die nichts und niemand aus ihrer Geistesumfangenheit… – aber das hatten wir schon, und vielleicht war ja auch alles ganz anders. Vielleicht konnte weder die schamanische Kunst der Walemira Talmai noch ihr exzellentes Fachwissen als Therapeutin etwas ausrichten, weil die Hexe Adriana – nicht bereit, sich die Behandlung auf Lady Pru’s Anwesen und die Instrumentalisierung für eine Sache, die sie nicht als ihre empfand, weiter bieten zu lassen – sich und die beiden anderen kurzerhand entführt hat.
Möglicherweise landeten sie in einer Art Zwischenreich – im Sinne eines Purgatorio wird Adriana das mit dem Vokabular ihres ersten Lebens den Gefährtinnen erläutert haben: ein Zustand allerdings sui generis. Ihr war es längst vertraut, am See des Vergessens zu sitzen und in das trübe Wasser zu starren. Die beiden anderen brachte sie ebenfalls dazu, was dazu führte, dass alle drei auf ihre undeutlich-verschwommenen Spiegelbilder schauten.
ERZÄHLER:
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute – nachträglich betrachtet, erscheint nämlich der ganze Aufwand, der dem Start der NOSTRANIMA vorangegangen ist, sowie die große Zahl von Toten, die es im Vorfeld ihrer Mission gegeben hat, ziemlich sinnlos, insbesondere das spezifische Schicksal Adrianas, Margharitas und Sharons.
Nicht so ganz, mein Freund – sie sind es nämlich gewesen, die Sir Basil über die letzte Hürde in seinem Zweikampf mit dem großen Widersacher hinweghalfen. Wenn wir daher wünschten, dass er am Ende des Tages siegte, musste also genau an jener Stelle jemand sein, der ihn rettete, wobei er selbst seine Schutzengel lediglich schemenhaft wahrnahm – wenn der gewusst hätte, dass er sein Leben genau jenen drei Frauen verdankte, die nicht im geringsten in seiner Schuld standen, sondern umgekehrt: deren vorherige Existenz er mitgeholfen hatte zu zerstören!
– – – – –
ERZÄHLER:
(macht jetzt plötzlich begeistert beim Exkurs mit) Der Empfang der sechs Lhiks auf der Station durch König Keyhi Pujvi und Königin Mango sowie durch Kronprinz XY (seine Mutter war Biologin, wie unschwer zu erkennen ist) und Kronprinzessin XX (die gab’s zu diesem Zeitpunkt auch schon) verlief äußerst herzlich. Als Antwort pries Lic in der Stimmlage c’’’’ die freundliche Aufnahme, während sich hinter ihm seine geliebte Ilci sowie Ilic, Cli, Zic und Xiqi sanft im Luftzug des Klimasystems wiegten.
Die Gäste wurden vom zahlreich erschienenen Volk enthusiastisch akklamiert, ohne dass jemand, ob er nun diesseitiger und jenseitiger Realitäts-Provenienz war, da¬zu gezwungen worden wäre. Lediglich die auto-matische Schlange der Panagou, die sich in der hiesigen Umgebung als eine Art Kassandra gefiel und damit längst jedem auf die Nerven ging, warnte vor einer bösen Magie, die den Lhiks – möglicherweise ohne dass es ihnen bewusst war – anhaftete.
Miss Serpentina, wie sie sich etwas affektiert nannte, arbeitete übrigens daran, sich anders kalibrieren zu können (was für sie nicht die gleiche Selbstver¬ständlichkeit aufwies wie für Anastacia Panagous Maschinenwesen mit humanoider Gestalt). Mit ihrer im Vergleich zur AP 2000 ®, zu Protos, Devteri und Tritos oder gar zur NOSTRANIMA bescheidenen Ausstattung gelang ihr das nur unvollkommen.
Ihr Traum, als verführerische Kopie einer Menschenfrau einen vom männlichen Teil der Besatzung – womöglich sogar den König selbst – manipulieren zu können, um (zu welchem Zweck auch immer) Einfluss zu gewinnen, scheiterte. Ihre Kalibrierungs¬versuche brachten durchwegs monströse Ergebnisse, und selbst als sie einen fand, der Interesse am Verkehr mit einer Missgeburt äußerte, scheiterte dies an der physischen Insuffizienz ihrer Geschlechtsorgane.
ERZÄHLER:
Dies vor Augen, hielten sie die Leute schlechthin für verrückt, und schon deshalb schenkte niemand ihrer Behauptung irgendeine Beachtung. Gleichwohl lag sie damit völlig richtig: Sie hatte nämlich während ihres Aufenthaltes in der Spiegelwelt etwas vom Projekt „Achter Schöpfungstag? aufgeschnappt, mit dem der Tyrann bestimmte Pflanzen auf seinem Exilplaneten in Mördermaschinen umfunktionieren wollte: dies sollte sich eigentlich gegen das Volk der Lhiks richten, wurde aber dann – im Zuge seiner Auseinandersetzung mit dem Alpha-Universum und nachdem er sich eingestehen musste, dass von den vier Professoren nichts zu erwarten war – die mit seinen Mitteln zuwege gebrachte Antwort auf die Androiden! Aufgrund dieser Information erinnerte sich auch der frühere Commander, vor langer Zeit den Gedanken des als Kaufmann Augustus McGregor getarnten Diktators wahrgenommen zu haben: Er würde jemanden schicken müssen, um seinen Untergebenen zu disziplinieren. Verstärkt wurde diese Absicht ins Unermessliche, als Keyhi und Mango bei ihrem Besuch in der drüberen Welt deren Herrscher auf der Nase herumtanzten.
Mit Magie wollte Iadapqap Jirujap Dlodylysuap sich an Keyhi Pujvi und allen, die zu ihm gehörten, rächen. Demgemäß waren Lic und seine Freunde nicht von ungefähr unbehelligt emigriert, hatten sie doch einen Zauber mit sich getragen, der zum richtigen Zeitpunkt ein derartiges Wuchern bewirken sollte, dass sämtliches Leben auf der Station erstickt worden wäre. Die Schlange war immerhin so talentiert, dass sie mit Hilfe subliminaler Kennung den Beweis für ihre Befürchtung erbringen konnte: die Lhiks wurden rechtzeitig geheilt. Sie zwitscherten überschwänglich Dank mit ihren Flötenstimmen. Lic erklärte, wieder gesundet, im Sinne aller hofften sie, ihrer neuen Heimat viel frische Luft, aber darüberhinaus auch viel Vergnügen bescheren zu können.
ERZÄHLER:
Miss Serpentina (der König sprach sie zum ersten Mal mit dem gewünschten Titel an), wir haben Ihnen unser Leben zu verdanken! Nun hatte sie ihre einzig¬artige Stellung, und sie gedachte sie bei gegebenem Anlass weidlich auszunützen.
– – – – –
Eins noch – von DDD haben wir schon sehr lange nichts mehr gehört…
ERZÄHLER:
… und dabei wollte ich es auch belassen. Erstens war sie in unseren seinerzeitigen Gesprächen nur als Beispiel gut und zweitens hat sie aus der Dreier-Begebenheit mit Romuald etwas gemacht, was ich als ehrenrührig empfinde!
Plötzliche und unerwartete Skrupel?
ERZÄHLER:
Ihr war derart langweilig (selbst die dramatischen Weltläufe vermochten nichts zu ihrer Unterhaltung beizutragen), dass sie ihren Job und ihren Mann links liegen ließ und sich voller Energie einer privaten Theatergruppe anschloss. Die waren hinter einem Marilyn-Monroe-Klischee her gewesen – DDD hatte perfekt gepasst, aber mehr noch: sie kam mit einem interessanten Sujet, das sie gemeinsam mit dem Hausdichter des Ensembles zu einer Farce verarbeitete.
Unschwer zu erraten, was in diesem Stück passierte, als sich der Vorhang das erste Mal hob: Unter meinem Mantel bin ich ganz nackt!
ERZÄHLER:
Das lässt dir keine Ruhe, wie? Aber es kam noch schlimmer – unmittelbar darauf gab DDD dem Publikum die Probe aufs Exempel, streng künstlerisch natürlich, und in dem Typ, der mit offenem Mund das Wunder betrachtete, erkannten alle Zuschauer, wen er vorzustellen hatte: mich.
In weiterer Folge wurden vermutlich Romi und du als Tölpel gezeigt, die sexgierig, aber ahnungslos in die Falle einer späten Rache DDDs hineintapsten.
ERZÄHLER:
Aber Rache wofür? Für einen ohnehin steckengebliebenen Dummen-Jungen-Streich?
Dafür, dass DDD damals als junges Mädchen zugleich wollte und nicht wollte, euch sowohl für jedes Vorpreschen als auch für jedes Zögern hasste; dafür, dass sie schließlich diesen Langweiler heiratete, der ihr von vornherein unsympathisch war und als dessen einzige hervorstechende Eigenschaft seine Harmlosigkeit zu nennen ist; dafür und für eine ganze Reihe weiterer Ungereimtheiten der vom Patriarchat deformierten weiblichen Psyche: dass unsere maßgebliche Fähigkeit zur Kreativität durch die zahllosen Tabus, die eine Frau einzuhalten hat, unterdrückt wird; dass wir nach Meinung der Männer nicht die körperbetonten Erfahrungen unserer Sehnsüchte und Leidenschaften machen dürfen, mit denen wir zu einer ebenso stark sexuell verwurzelten Selbstbestätigung gelangen würden wie ihr.
– – – – –
Jetzt noch Brian und Berenice.
Besonders Berenice…
ERZÄHLER:
Berenice hatte all die Pobleme nicht, von denen gerade die Rede war. Durch ihre direkte Verbindung mit den geisterhaften Ahnen – und das heißt mit dem Heute ebenso wie mit der gesellschaftlichen Befindlichkeit ihres Stammes vor tausenden von Jahren – war sie einfach eine jener Matriarchinnen, wie es sie in der (im wahrsten Sinne des Wortes) vorsintflutlichen Zeit gegeben hat. Sie brauchte nicht erst kämpfen, um ihre Vorstellungen von weiblichen Kulturformen verwirklichen und damit bestehende soziale Grundregeln herausfordern zu dürfen.
Aber in der Wirklichkeit ihres Lebens, wie wir normalen Menschen es sehen, ist sie doch von Männern initiiert worden, durch Peinigung des Geistes und nicht zuletzt des Körpers – wenn ich es richtig verstanden habe, sogar durch eine Serie von Vergewaltigungen…
ERZÄHLER:
… oder die Erweckung erfolgte tatsächich durch ihr ganz persönliches Geistwesen, und jene Männer waren, ohne selbst bestimmen zu können, bloßes Mittel zum Zweck: sie hat ihnen vielleicht die uralte Melodie der Provokation durch die immer schon vorhandene Muttergottheit gesungen – hier bin ich, hier liege ich, im Wasser, im Schlamm des noch ungeborenen Seins! Komm und befruchte mich, damit ich die Welt gebären kann! Den Instinkten von Berenice Initiatoren blieb wahrscheinlich gar keine andere Wahl, als mit sexueller Aggression zu reagieren!
Auch Brian ist ja auf diesen Ruf hin gekommen – er, der von Haus aus der Meinung gewesen war, Männer müssten Frauen sozialisieren, sie reinigen, würdig machen, sie analysieren, katalogisieren, terrorisieren, marginalisieren, hatte plötzlich begriffen, dass er es war, der sich für seine ersehnte Geliebte erheben müsse, um ihr ebenbürtig zu sein; dass er gezwungen war, seine eigene qualvolle Initiation zu durchlaufen, um in ihre Nähe zu gelangen.
Am Ende stand eine viel zärtlichere Verlockung, die Verheißung innigerer Freuden als sie die ehrwürdigen Schamanen und Stammesältesten mit der künftigen Walemira Talmai genießen konnten: der Wunsch einer selbstsicheren Frau, Brian bei sich und vor allem auch in sich zu haben:
Vertäue dein schlankes Boot
an meinem Halbmondufer:
Die Hügel der Küste
Begehren die kommende Flut.
ERZÄHLER:
Wir haben es längst erörtert – wo bleiben hinter diesen Höhenflügen die Banalitäten? Jemand fährt beispielsweise mit dem Bus zur Arbeit, und es passiert nichts – er hat nicht das Glück, dass jemand sich ihm gegenübersetzt und seine Phantasie beflügelt.
Ganz einfach: Es lohnt nicht, darüber zu reden, geschweige denn zu schreiben. Dass Hamlets Körper im alltäglichen Modus so funktioniert wie meiner, musste Shakespeare nicht berichten!
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ERZÄHLER:
(jetzt voll in Fahrt gekommen) Ganz zuletzt noch Anpan und Pif!
Hast du es plötzlich so eilig, mit unserer Geschichte zu Ende zu kommen?
ERZÄHLER:
Time is money, wie unser verehrter Produzent zu sagen pflegt! Kolportage eben: Kolportage – irgendwo setzt sie ein, irgendwo setzt sie aus. Die uns zugemessene Spanne von Erzählzeit neigt sich dem Ende zu, dann fällt die Klappe, ob wir nun alles, was wir wollten, gesagt haben oder nicht!
Na schön – Anpan und Pif wurden zuletzt dabei beobachtet, wie sie an ihrem Nachwuchs bastelten… nicht dort, wo man Liebende zu diesem Zweck üblicherweise vermutet, sondern in der gut eingerichteten Werkstatt in einem der Wirtschaftsgebäude von Cheltenham House.
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CHELTENHAM:
Als alles vorbei war, besuchte ich demütig, wie es mir die Walemira Talmai empfohlen hatte, Veras und Konrads letzten Aufenthalt. Ich betrachtete es als Privileg, diesen Ort noch einmal in seiner früheren Anschauungsweise sehen zu dürfen, nur um mir bewusst zu machen, wie relativ all meine Siege, auch der größte, einzuschätzen waren. Ich hatte den Magier-Habit angelegt, um die dazugehörigen Fähigkeiten zu nutzen und den auf mich übergegangen Willen mit meinem zu vereinen. Ohne diese Vorkehrungen wäre es mir unmöglich geworden, mich hier aufzuhalten, in diesem Nichts von Zeit und Nichts von Raum. Die Schlangen, die sich während meiner Betrachtung geduldig hin und her gewiegt hatten, schnellten vor, aber nicht rasch genug.
Ich weinte. Schon als jungem Offizier in Indien waren mir seltsamerweise die Tränen gekommen, wenn ich Schlangen gesehen hatte, und da dies nicht zu meinem militärischen Status passte, tat ich immer – mehr oder weniger mühsam – so, als ob mir etwas ins Auge geraten wäre.
Ausgelaugt, wie ich mich nunmehr nach all den Ereignissen fühlte – und mit einem Mal grau, aber auch wirklich hinfällig geworden –, schien mir das Fehlen jeglicher neuen Aufgabe den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Ich taumelte, konnte mit knapper Not vermeiden, doch noch in die Schlangengrube zu stürzen. Am dünnen Faden der mentalen Verbindung zwischen Berenice und mir, mehr durch Zauberei als durch physische Kräfte zusammengehalten, trat ich den Rückzug an. Hast du die Wahrheit erkannt? fragte mich die Walemira Talmai rundheraus und schonungslos. Ich vermied eine direkte Antwort: Es musste doch irgendeinen Weg geben (namentlich für mich, der so viel von den inneren Zusammenhängen der Welt hatte sehen dürfen und der somit herausgehoben war aus der großen Masse der Sterblichen), den drohenden Verfall aufzuhalten!
Stolz – wie? Der alte Stolz? Die alte Unbeugsamkeit? Die alte Durchschlagskraft, für die es kein Hindernis gab? Berenices Bemerkung war keineswegs bösartig, tat aber dennoch weh. Ich zermarterte meinen Kopf, wie ich ihre Achtung wiedergewinnen konnte, obwohl ich meinen Doppelgänger getötet hatte, statt bei seiner Heilung zu helfen, aber als ich nichts dergleichen fand, wurde ich sehr sehr müde und legte mich ein Weilchen hin.
Phantastische Bilder durchstreiften mich. Ganz am Rande meines Wahrnehmungsfeldes erkannte ich die betörende Komtesse Clio, die sich an mein Bett setzte und meine Hand hielt. Ihre Anwesenheit, die auch auf eine kleine Distanz spürbare Spannkraft ihres jugendlichen Körpers und vor allem ihr Duft beflügelten mich. Neue Bedrohungen standen auf, wert eines Cheltenham, sie zu bekämpfen. Aus einem neuentdeckten Gamma-Universum wurde ein Angriff gegen uns vorgetragen: die kleinwüchsigen Bewohner jener fernen Realität überschwemmten unsere Welt, und es schien mir, als würden sie in kürzester Zeit die Macht übernehmen. Aber es gab doch Kräfte, die sich dieser Invasion entgegenstemmen konnten!
Ich sah Chicago in der Tür stehen, traurigen Blickes, ebenfalls ganz grau – und das bedeutete bei seiner Hautfarbe eine Frisur wie aus Silberdrähten geflochten. Chicago, alter Freund, rief ich, so laut ich nur konnte, zu den Waffen! Er setzte sich ganz langsam in Bewegung. Die Augen der himmlisch schönen Prinzessin leuchteten vor Abenteuerlust, und ihre Finger gruben sich in meine alte Haut. Ich konnte plötzlich jegliche Erschöpfung von mir abschütteln und machte mich bereit – bereit, mit meinem alten Gefährten den Sieg zu erringen, um dann heimzukehren und als stolzen Preis dieses edle Geschöpf in meinen Besitz zu nehmen. Längst wusste ich ja, dass sie drüben in der Spiegelwelt meinem Widersacher gehört hatte und damit nach altem Recht mir zugefallen war!
Hinter Chicago betraten Dr. Berenice W. Talmai und Charlene den Raum und überblickten mit einem Schlag die Situation. Es ist Zeit, Charlene, dass du die Verwaltung von Cheltenham House in die Hand nimmst, während Sir Basil besser mit mir kommt auf Lady Pru’s Anwesen, wo wir ihm die ehrenvolle Pflege angedeihen lassen, die einem so verdienten Veteranen zukommt. Chicago begleitet uns, und Sie, Kindchen (sie wandte sich an Clio), vertrauen sich am besten gründlich Ihrer Maman an, damit Sie Ihnen den rechten Weg weise – gehen sie am besten mit ihr zurück auf den Stammsitz Ihrer Familie!
So ist es also gekommen, mit mir und meinem lieben Chicago (dessen wirklichen Namen ich bis heute nicht weiß). Wir sitzen herum, es geht uns gut, wir führen gelehrte Gespräche, wie man sie nur im alten England führen kann. Ich frage ihn, wie ein alter Koori gewöhnlich seinen Lebensabend verbringt, und er er-widert: Früher, als wir im nackten Überlebenskampf standen, stellte man den Jungen sein Wissen und seine Weisheit zur Verfügung, solange dies nötig war, und dann ging so ein Alter wie ich hinaus in den Busch, um zu sterben.
Er fragt mich, ob ich wieder zu beten begonnen habe, und ich antworte: Mein anglikanischer Gott interessiert sich nicht wirklich für mich, genau wie ich mich nicht allzu sehr für ihn interessiert habe. Das über ihm stehende Wesen in seiner höchsten Entfaltung, von dem du als eifriger Jünger Giordano Brunos immer gesprochen hast, gibt wiederum nichts auf nutzlose Gebete.
Manche sagen sogar, da oben sei nichts anderes als eine überirdische alte Dame, die sich nicht genug wundern kann über uns Männer, unsere Gedanken, Worte und Werke – mehr noch als sie sich ohnehin schon gewundert hat in ihren Mädchenjahren.
Manchmal rührt sich noch etwas, wenn eine der Frauen von Chicagos Volk an uns vorübergeht. Ich möchte ihr gerne auf den prallen Hintern klopfen, aber ich tue es nicht – Noblesse oblige. Und das war’s dann auch schon. Sorry, Charlene, dear, muss ich zu Lady Cheltenham sagen, wenn sie mich von Zeit zu Zeit besucht: Das ist eben der Nachteil dabei, einen älteren Mann zu heiraten. Und dann frage ich sie mit meinem unnachahmlichen sardonischen Lächeln: Amüsierst du dich gut, meine Liebe? Und ich erinnere mich dabei frohen Herzens an alle Gelegenheiten, die ich selbst nicht müßig vorbeigehen ließ.
Manchmal dürfen wir ausreiten, aber dieser edle Sport, den ich mein Leben lang gepflegt habe, nicht zuletzt als Symbol meiner Klassenzugehörigkeit, macht mir keinen rechten Spaß mehr. Einerseits ähneln Chicago auf seinem Maultier (er hat nie gelernt, mit einem Pferd umzugehen) und ich auf meinem zahmen Klepper fatal einem berühmten Romanheldenpaar aus dem alten Spanien, andererseits habe ich bemerkt, dass wir auf allen unseren Wegen heimlich begleitet und genau kontrolliert werden…
Grafik 6.10
Unsere Dulcinea haben sie uns ohnehin genommen.
Entschuldigung – was wolltest du sagen, Chicago? Dass wir nicht als einzige alt geworden sind? Ein schwacher Trost!
Den Ausschaltknopf der Fernbedienung – Ende! All das Geschehen sinkt plötzlich wieder auf einen dimensionslosen Punkt zusammen, all die Personen kehren in mich zurück. Da sitzt man, verschlossen, wenig mitteilsam – autistisch, wie es Brigitte genannt hat.
Guten Abend und auf Wiedersehen!