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5. TEIL
HIMMLISCHE SCHÖNHEIT
UND IHR WEG IN DEN UNTERGRUND

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501

DDD hatte es Leo Di Marconi (meinem –laut Johannes – schweren Fehltritt) seit den Ereignissen im Büro ihres Chefs angetan. Er reiste aber in diesem Fall nicht mit seinem Team von „Marconi’s TV Show” (übrigens einem matten Abglanz seiner früheren News Breaker), denn ein lokales Wiener Ereignis hätte wohl kaum sein übliches Publikum interessiert. Nein, das hier zählte zu jenem Material, das er insgeheim sammelte, um endlich wieder einmal ein Buch zu schreiben – einen Band Erzählungen mit den seltsamsten und skurrilsten Begebenheiten, die er auftreiben konnte. Als er mir auf der Kärntner Straße über den Weg lief (wohlbehütet von einem Agenten des Heeresnachrichtenamts, denn Typen wie er weckten immer das spontane Interesse des Oberleutnants Kloyber), sprudelte er sofort darauf los…

LEO DI MARCONI:
… und offen gesagt, Brigitte, diese Stories sollten so weit sexistisch sein, dass hohe Auflagen garantiert werden können, zugleich aber doch wieder von einem Hauch seriöser Recherche durchsetzt. Da habe ich zum Beispiel das Interview mit Nadine, die sich von Berufs wegen in eine körperenge Latexhaut hüllt und sich an zahlende Kunden als lebende Gummipuppe vermietet – wenn du das liest, läuft dir das Wasser im Mund…

… mir als Frau vielleicht eher nicht!

LEO DI MARCONI:
Aber ja doch! Denk’ nur, wie du da drinsteckst, ohne fremde Hilfe nicht rein-, vor allem aber nicht wieder rauskommst, denn die Verschlüsse befinden sich am Hinterkopf und im oberen Rückenbereich. Durch zwei Gucklöcher vor den Augen hast du ein äußerst begrenztes Gesichtsfeld, und atmen kannst du nur durch zwei winzige Nasenöffnungen – wirst du nicht ganz kribbelig, wenn du bloß daran denkst?

Leo, ich weiß, dass du, obwohl du manchmal ganz schreckliche Dinge absonderst, um dich in Szene zu setzen, im tiefsten Inneren ein verkappter Poet bist, und im Gedenken an angenehme Stunden der Zweisamkeit möchte ich gerne an meinem guten Gefühl für dich festhalten.

LEO DI MARCONI:
Noch habe ich dir nicht geschildert, wie es technisch funktioniert, dass diese scheinbare Kunstfigur von einem Mann bestiegen werden kann.

Genug!

Ich sprach tatsächlich innerlich stark darauf an (durchaus ambivalent noch dazu) und war allein deshalb schon wütend, besonders über mich selbst. Umso mehr wollte ich ihn stoppen. Einer wie er ist aber, einmal in Fahrt, nicht mehr zu bremsen. Hätte mich auch gewundert, wenn er nicht auch meine besondere Vergangenheit, von der ich ihm seinerzeit leichtfertig erzählt hatte, auszuschlachten beabsichtigte.

LEO DI MARCONI:
Dein Auftritt mit Johannes im Hamburger „Flaubert”-Club soll selbstverständlich einen Ehrenplatz in meiner Sammlung einnehmen! Die Gedanken einer jungen Frau, die sich auf einer Bühne öffentlich bumsen lässt!

Woher willst du bloß etwas über meine damaligen Gedanken wissen?

LEO DI MARCONI:
Nun, es fehlt mir nicht an Phantasie, aber die werden wir hier gar nicht brauchen, denn schließlich bist du eitel genug, um mir die Wahrheit zu verraten. Also – woran wirst du wohl gedacht haben, während dein Stöhnen den Saal erfüllte?

Ich versuchte eindringlich, ihn wieder zu DDD zurückfinden zu lassen, und da war er, wie ich aus Erfahrung wusste, ganz leicht zu manipulieren: hüpfte ganz leicht von einer Frau zur anderen (zumindest in Gedanken), um nur ja nichts anbrennen zu lassen – noch dazu souverän in dem Bewusstsein, ohnehin jederzeit prompt in frühere Erlebniswelten zurückkehren zu können.

LEO DI MARCONI:
Ja – die gute Doris de Dubois. Verheiratet hieß sie natürlich anders, aber das Kürzel DDD blieb an ihr haften, und es machte zweifellos einen guten Teil ihres exotischen Reizes aus. Von ihrem Streich mit Gustav Reinfeld hatte mir mein europäischer Gewährsmann erzählt, der auch nur durch Zufall darauf gestoßen war, denn in die Medien fand dieser Vorfall selbstverständlich nicht. Als ich mich dann persönlich umhörte, zunächst ganz gegen meine Art leise und sehr diskret, war das Ergebnis absolut unbefriedigend. Ich beschloss daher, direkt ins Zentrum vorzustoßen und DDD selbst zu interviewen. Was sie mir erzählte, hatte Klasse: Die Ereignisse schienen sich mittlerweile überschlagen zu haben.

Es stellte sich heraus, dass sie ihr Zerstörungswerk in der österreichischen Sozialversicherung fortsetzte, wahrscheinlich ohne das von vornherein so richtig beabsichtigt zu haben – es ergab sich nur einfach so.

LEO DI MARCONI:
Richtig – der oberste Boss ließ sie nämlich in sein Büro kommen, und als sie eintrat (wieder im Chinchilla, worüber sich der gute Mann nicht wenig wunderte) und er sie gönnerhaft fragte: Wie war das nun?”…

… da zog sie jedenfalls wieder einmal (ich hab’ schon darauf gewartet) ihre Ganz-nackt-unter-meinem-Mantel-Nummer ab. Sie konnte völlig sicher sein, dass diese abermals funktionierte: In der bewussten Männergeneration sind das Blond der Marilyn Monroe, die rotgeschürzten Lippen und die dunkle Verheißung, dass einen bloß ein dünner Vorhang vom Paradies trennt, eindeutige Signale.

LEO DI MARCONI:
Die Begegnung verlief sodann haarge-nau wie die vorherige. Obwohl Stefan Vencarek einen Augenblick länger überlegte als sein Untergebener (hatte wohl doch mehr Öffentlichkeit zu befürchten und auch viel engere Connections zur hohen Politik), konnte er im Endeffekt nicht widerstehen und feierte mit DDD den Rest des Tages und die Nacht durch. Das Ende vom Ganzen war etwas weniger spektakulär als bei Gustav: DDD wollte ihn gerade zu einer letzten Levade treiben, als er unvermittelt einschlief. Unsere Freundin hatte einige Mühe, sich von ihm zu lösen und unter ihm hervorzuklettern. Danach verschwand sie eilig, ohne Spuren zu hinterlassen.

Vencarek wurde bald entdeckt. Das Hotel am Tiefen Graben, in dem man ihn fand, besaß nicht den besten Ruf – niemand brachte den Ort mit DDD in Verbindung, während man ihrem Galan sehr wohl zutraute, freiwillig dorthin gegangen und sich mit einer billigen Nutte vergnügt zu haben. Außerdem gab es ein Foto (ein Mitarbeiter Franz-Josef Kloybers, übrigens derselbe, der auch dir hier in Wien nachschleicht, hatte im richtigen Moment auf den Auslöser gedrückt), und es erschien bereits am nächsten Tag in allen Zeitungen: Der Leiter einer staatsnahen Organisation kniend vor einer fast nackten Frau, die Hände an ihren Hüften, die Lippen an ihren Labien, mit der Zunge offensichtlich die heiße Mitte suchend – das reichte, um ihn für alle Zeiten zu desavouieren. Der zuständige Minister feuerte ihn sofort, wenn auch nicht aus persönlicher moralischer Betroffenheit, sondern lediglich als klischeehafte Reaktion eines Automaten aus der Politiker-Ersatz-Produktion des Professor Kouradraogo.

Niemand fragte mehr danach, wer jene Dame gewesen war, zumal man ihr Gesicht auf dem Bild nicht erkennen konnte. Kloyber allerdings konnte man nicht täuschen. Er fand im Nu heraus, dass es sich bei dem Corpus Delicti um den pelzverbrämten Dubois’schen Körper handelte, und in diesem Wissen nahm er DDD rasch aus dem Verkehr und überredete sie mit sanftem Druck, für ihn zu arbeiten, wobei er sie absichtlich im Unklaren darüber ließ, ob es für seine Dienststelle oder für ihn privat sein sollte. Seine eigentliche Absicht war jedenfalls, DDD in völlige Abhängigkeit zu bringen.

LEO DI MARCONI:
Ihr erster Auftrag lautete, den Aufenthaltsort ihrer Halbschwester Laura alias Sissy Dobrowolny zu eruieren. Bevor sie abreiste, befahl sie der Oberleutnant in seine Privatwohnung und hieß sie, auch an ihm zu exerzieren, was sie in letzter Zeit in der Sozialversicherung durchgezogen hatte. Nach einigen Vorbereitungen in einem Nebenraum stand sie dann letztendlich da in Kloybers Wohnzimmer…

Ich weiß bereits, was sie hauchte: „Unter meinem Mantel…”

LEO DI MARCONI:
Ja, zum Teufel, sie sagte es. Und dazu streckte sie ein schwarzbestrumpftes Bein vor, stellte es auf einem Stuhl ab, und in dieser aufreizenden Pose ließ sie den Chinchilla herabgleiten und bot sich ihrem Neuen dar. Sollte sie gehofft haben, dass auch er schlapp machte, wurde sie enttäuscht, denn trotz seiner Leibesfülle war er diesbezüglich bemerkenswert fit, nicht zuletzt dank des einfühlsamen Trainings durch die Vorgängerin an diesem Platz. Außerdem hatte der Oberleutnant energisch seine früheren Skrupel abgelegt und behandelte DDD mit äußerlicher Kaltschnäuzigkeit, womit sie in eine ungewohnt defensive Rolle geriet, denn ihren Spaß wollte sie sich auch hier nicht verderben lassen. Erstmals in seinem Leben war unser Franz-Josef mit einem gewissen Recht überzeugt, dass er nicht als Verlierer aussteigen würde, dass die da (wie er sie abfällig nannte) es nicht wagen würde, ihn zu hintergehen. Er beschloss aber dennoch, auf der Hut zu bleiben.

Johannes würde jetzt ätzen: „Ein schönes Stück Pornographie, das du uns da vorsetzst!”

LEO DI MARCONI:
Der hat’s gerade nötig, wo doch sein ganzes Leben Pornographie ist, während man mich bestenfalls als Schreibtischtäter bezeichnen kann. Nicht einmal für die Million Bucks, die mir Charlene mit Hilfe dieses Cheltenham abgeknöpft hat, gab’s auch nur ein einziges Stück hardcore reality mit diesem Luder, und mir blieben bloß meine feuchten Träume von ihr. Außerdem – wenn ich ehrlich sein soll, hast ja auch du mich trotz deiner reichen Erfahrungen an der kurzen Leine geführt und die Beziehung zu mir äußerst bürgerlich gestaltet!

O du Ärmster, jetzt werden also schon Abstufungen vorgenommen, indem so ein Kerl, mit dem man ohnhin ins Bett steigt, auch noch glaubt, fragen zu müssen, aus welchem geheimen Antrieb eine Frau sich ihm hingibt! Leo, Leo – dazu hätte ich dich, den Pulitzer-Preisträger, nicht gebraucht. Das konnte ich billiger haben mit meinem Mann, dem großkalibrigen Romuald, und selbst mit Johannes, meinem lebenslangen Geliebten, der ein Fachmann für Spitzfindigkeiten ist. Kurzum – Leo, wo bleibt dein Feingefühl?

LEO DI MARCONI:
Hab nie eines gehabt – konnte ich mir bei meinem Job nicht leisten, und ich bin weiß Gott mit Leib und Seele Journalist. Darum war ich auch so empört, als ich damals von Sir Basil, Charlene, Lieutenant Wolf und Charlenes Bruder Brian den Karriereknick verpasst bekam: „Beast Becomes Bedside Carpet!” schrieb der New Yorker Boulevard über mich. – „Touthless Grizzly on Oatmeal!” – „Once Barracuda, now Canned Fish!” – Ich hätt’s ja wahrscheinlich nicht anders gemacht, wenn es um einen anderen gegangen wäre, aber warum mussten sie sich ausschließlich Metaphern aus dem Tierreich ausdenken? War sicher auch alles lanciert – denn das wusste damals schon jeder, dass diese Zeitungsfritzen nur mehr in Satz gaben, was ihnen jemand vorgekaut auf den Tisch gekotzt hatte!

Leo, also wirklich, du vergisst dich!

LEO DI MARCONI:
Ist ja wahr, und ich gehe diesem Weib auf den Leim wie jede x-beliebige blöde Stubenfliege!

Schon wieder diese Vergleiche aus der Fauna!

LEO DI MARCONI:
Ja doch – weil ich mich wahnsinnig ärgere, und das lässt nicht nach mit der Zeit, sondern wird immer schlimmer – so wie aus der damals verlorenen Million mit Zins und Zinseszins beinahe schon das Doppelte geworden wäre!

Wie traurig für jede Frau (zum Beispiel für mich), die dir wesentlich mehr für wesentlich weniger, nämlich nichts, hingegeben hat…

LEO DI MARCONI:
Hätte ich dich vielleicht bezahlen sollen?

Weißt du denn, ob ich käuflich gewesen wäre?

LEO DI MARCONI:
Das Publikum im „Flaubert”-Club…

Das hat Eintritt bezahlt, und Johannes und ich bekamen davon unsere Gage.

LEO DI MARCONI:
Welch behutsame und charakterfeste Differenzierung!

Romuald hat mich für meine eheliche Pflichterfüllung ebenfalls nicht finanziell entschädigt (im Gegenteil, auch in dieser Partnerschaft habe vielmehr ich die Niete gezogen), Johannes hat’s für meine Liebesdienste weder früher noch später getan, auch Don Julio Sanchez-Barzon nicht – besonders der hatte, jedenfalls zu meiner Zeit, stets das Gefühl, mit seinem gynäkologischen Wissen ohnehin alles zu geben, was ein Mann nur zu geben vermag.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Als DDD, auf der Spur von Laura, nach England kam, sah sie, anders als bei ihren glamourösen Auftritten, sehr zivil aus, etwa so, wie wir sie uns in etwas vorgerückterem Alter vorstellen würden – noch immer sehr attraktiv, aber eben nicht mehr ganz so DDD-artig wie zuletzt. Die Kleidung war elegant geblieben, aber wesentlich dezenter geworden: Als Tüpfelchen auf dem I diente jetzt statt des Chinchilla ein keckes Hütchen.

LEO DI MARCONI:
Wäre ja wohl kaum mit früher zu vergleichen, würde sie nun ersatzweise sagen: „Except my hat, I’m nude!”

So also reiste sie. Und sie wurde auch fündig (wie immer sie das anstellte, bar jeder geheimdienstlichen Ausbildung). Sie kehrte zu Kloyber zurück und meldete ihm, wo Laura sich aufhielt. Auftragsgemäß hatte sie aber keinen Kontakt mit der Zielperson aufgenommen

502

Als ich erfuhr, dass ich schwanger war, verspürte ich den aberwitzigen Impuls, den mutmaßlichen Vater, Seiji Sakamoto, mit den Worten zu informieren: Ich und das Ungeborene lieben dich für immer – Charlene!

Dann aber, unmittelbar darauf, in der Abgeschiedenheit meines Privatbüros auf Cheltenham House, gewann die Vernunft bereits wieder die Oberhand und gebot mir, mich nicht wie ein leichtfertig verführtes Schulmädchen zu benehmen. Gründlich, wie ich nun einmal bin, nahm ich ein Blatt und notierte die relevanten Gesichtspunkte:

1. Ich liebe ihn nicht. Was mich an ihn bindet, ist eine Art animalischer Affinität.
2. Jenseits davon brauche ich ihn nicht.
3. Es gibt aber einen Auftrag, den wir gemeinsam zu erledigen haben.
4. Das Baby sollte hier nicht hineingezogen werden.
5. Basil ist immer noch mein Mann.

Der letzte Aspekt nach einer Pause, zögernd: Wieso, dachte ich, mir wohl das gerade jetzt in den Sinn kommt. Aber ich brauchte nicht lange auf die Antwort warten.

Was ich strengstens verboten hatte – das Eindringen in diese meine innerste Sphäre, die neben dem privaten Arbeitszimmer noch den Schlafraum, die Garderobe und das Bad umfasste –, geschah in diesem Moment ohne meine ausdrückliche Erlaubnis und ohne dass ich es aufzuhalten vermochte. Einer der Manager kam, sich geradezu überkugelnd in seiner Rundlichkeit, hereingeeilt und stieß kurzatmig hervor: „Der Herr – Sir Basil – er ist zurückgekehrt –”

Und schon stand hinter dem Mann, dessen Gesicht vor Aufregung rot angelaufen war und der offenbar nichts anderes im Sinn hatte, als sich ehestmöglich wieder zu verkrümeln, die langvertraute markante Gestalt – und brachte mich zum Staunen, denn rein äußerlich schien er wieder der Alte. Überwunden waren die Spuren von mörderischem Kampf und Todesangst und Depression über die Liquidation seines Feindes, der zugleich sein Alter Ego aus der Spiegelwelt gewesen war.

CHELTENHAM:
Ich höre, du bist in Schwierigkeiten, Dear?

Er wusste es schon! Wie immer, wenn irgendetwas ihn auch nur im Entferntesten Betreffendes passierte, bekam er davon – wie, blieb sein Geheimnis – umgehend Kenntnis und konnte unmittelbar darauf reagieren.

Basil lächelte nach dieser doch eher schroffen Einleitung, mit der er allerdings (ganz militärischer Taktiker, das war deutlich) von vornherein das Terrain klar abstecken wollte, verbindlich. Als ob er sich erst jetzt an seine Pflichten als Gentleman einnerte, küsste er mir die Hand. Ich aber schwankte ein wenig, denn plötzlich entsann ich mich früherer Zärtlichkeiten, die ganz anders beschaffen gewesen waren, als das, was mir dieser distanzierte Engländer hier vorsetzte.

CHELTENHAM:
Wie geht es dir, Darling? Ich freue mich, dich wohlauf zu finden! – Du wirst das Kind doch behalten wollen?

Ich sah ihn nur an, ohne etwas zu sagen.

CHELTENHAM:
Ich bin nämlich gekommen, um meine Vaterschaft zu deklarieren – schließlich soll alles seine Ordnung haben!

Ich stutzte. Trotz einiger Schrecksekunden, die ich seit seinem Eintreten zu bewältigen hatte, und trotz der Kaskaden von Bildern, die mir durch den Kopf schossen (darunter auch ganz kurz das von Clio, deren neue Funktion bei Basil mir immerhin zugetragen worden war), arbeitete mein Verstand weitgehend einwandfrei. Das wird nicht gut möglich sein, meinte ich tonlos: Der biologische Vater – ich vermied es, den Namen auszusprechen – ist Asiate.

CHELTENHAM:
Das spielt keine Rolle – irgendjemand dieser Art in deinem oder meinem Stammbaum wird wohl zu finden oder allenfalls zu konstruieren sein. Dessen Gene haben nach langer Pause beschlossen, aus den Tiefen der Geschichte heraufzusteigen und ihr Werk zu verrichten.

Ich war mir selbst nicht im Klaren, warum ich plötzlich so heftig reagierte, aber ich widersprach für meinen Teil kategorisch: In den beiden biederen Minnesota-Familien, denen ich entstamme und die seit jeher in White Rock leben, hatte bestimmt noch niemand jemals ein Verhältnis mit irgendwelchen Japsen! Inzucht ja, ziemlich wahrscheinlich sogar – aber das nicht!

CHELTENHAM:
Dann eben auf meiner Seite, Mylady, was soll’s?

Er stand auf und war mit einigen schnellen Schritten vor der Tür und den Gang entlang, um schließlich vor einem Gemälde stehen zu bleiben, das inmitten der Ahnenportraits hing. Es zeigte eine Dame im Stil von Goyas Nackter Maja, wenn auch bei weitem noch obszöner hingestreckt als diese

CHELTENHAM:
Darf ich vorstellen – Odetta Cheltenham, Gemahlin des vierten Baronets of Cheltenham, eines meiner Vorgänger. Ihr, die im 19. Jahrhundert (jedenfalls auf diesem Bild) mehr von sich gezeigt hat, als dies damals für eine adelige Dame schicklich war, könnte man auch zutrauen, einen kleinen Seitensprung mit Fernost begangen zu haben! Zumal wir Cheltenhams immer viel herumgekommen sind!

Ich war seltsam berührt, denn noch nie hatte ich dieses Bild gesehen. Da ich mich nach all den Jahren im Anwesen bestens zurechtfand, war ich ganz sicher, dass es erst kürzlich hingehängt worden war, und zwar offensichtlich an den Platz der in Öl auf Leinwand streng dreinblickenden früheren Hausherrin – eine typische Cheltenham-Aktion, perfekt durchgeführt und alle Details bis ins letzte durchdacht.

Dennoch hatte ich einen gewichtigen Einwand: Man darf doch nicht – auch nicht in historischer Perspektive – die Familienehre beschmutzen, meinte ich zögernd.

CHELTENHAM:
(amüsiert) Ihr Yankees mit euren seltsamen Moralvorstellungen! Lass dir gesagt sein, Dear, dass Normen sich ständig bewegen, verändert werden, abhängig von der Zeit und den obwaltenden Umständen. Was in einer isolierten Periode der Vergangenheit ein Skandal gewesen sein mag, mutiert in der Betrachtung von uns Heutigen unversehens zum imposanten Ereignis, wie etwa diese hinreißende Frau hier, die keineswegs das einzige Beispiel dafür ist. Ein Cheltenham hat in Englands blutrünstiger Vergangenheit den Bruder des damaligen Königs umgebracht – eine individuell verabscheuenswürdige Tat, aber zum Wohle der Monarchie gesetzt. Man muss nämlich wissen, dass jenes Opfer ein ganz übler Bursche war, der solcherart ultimativ von der Thronfolge ausgeschlossen wurde. – Gehen wir wieder hinein, wenn du dich an Odetta sattgesehen hast?

In der Tat konnte ich mich nicht losreißen vom Glanz einer mir völlig Unbekannten, die – ebenso wie das Baby – ganz plötzlich in mein Leben getreten war und mir aus fernen Tagen unter weiterer Preisgabe ihres offenbar ohnehin schon recht zweifelhaften Rufs die Möglichkeit bot, meine Situation (die ich gleichwohl nicht bedrohlich empfand, denn meiner Ansicht nach musste ein Vater nicht unbedingt gefunden werden) zu ordnen. Mach deinem Alten die Freude, schien mir Odetta augenzwinkernd sagen zu wollen – schließlich hat er praktisch auf der ganzen Welt seine Markierungen hinterlassen, bis auf diese eine, sich körperlich zu reproduzieren!

Ich protestierte innerlich, aber dann ging ich die Punkte durch, die ich in Bezug auf Sakamoto notiert hatte, und natürlich ergab sich hinsichtlich Basils ein ganz anderes Bild: Ich liebte ihn noch immer, das stand fest – in der Weise, dass er für mich jemand geworden war, der wegen seines Facettenreichtums wohl kaum je von einem anderen verdrängt werden konnte. Wenn ich ihn vielleicht im normalen Tagesablauf genausowenig brauchte wie Seiji, graute mir doch vor der Vorstellung, er könnte eines Tages überhaupt nicht mehr da sein, weder in der Nähe, noch dann, wenn ich ihn aus der Ferne rief. Und eines noch: Wie es schien, brauchte auch er auf gewisse Weise mich.

Ich war nicht so naiv zu glauben, gegen seine himmlisch schöne Prinzessin direkt konkurrieren zu können – das verhinderte sicher schon sein Besitzerstolz. Aber umgekehrt hegte ich nicht den geringsten Zweifel daran, dass die Verbindung unserer gemeinsam verbrachten Tage und Nächte stärker war als jene zu Clio, angesichts der Abenteuer, die wir mitten im Sex gemeinsam geplant und eingerahmt von Sex durchgeführt hatten. Noch wusste ich allerdings nicht, dass ich die Komtesse von B. gröblich unterschätzte, weil sie mir nämlich kaum darin nachstand, ein solch festes Band zu flechten.

Basil durchbrach mit einem Mal meine Überlegungen (wir standen noch immer vor dem Bild der freizügigen Baroness). Wie immer bei ihm konnte man annehmen, dass sein dialektisch geschultes Gehirn die Gedanken seines Gegenübers zumindest teilweise nachvollzog, ohne dass auch nur ein einziges Wort gesprochen wurde.

CHELTENHAM:
Was hältst du also von meinem Vorschlag, Darling? Alle Einwände dagegen kann man leicht entkräften, auch den, dass du dich gewöhnt hast, allein zu leben und, wenn es dir passt (oder wenn es dein Auftrag erfordert), ein Weilchen nach London zu fahren. Ich bin neuerdings wieder in einige Geschäfte involviert, werde folglich noch weniger anwesend sein als jemals vor meiner Quarantäne bei Dr. Talmai. Das Kind wird demgemäß nahezu so vaterlos aufwachsen, als ob es wirklich mein eigenes wäre. Und dennoch könnte das Decorum des Hauses Cheltenham gewahrt bleiben.

Ich willigte schließlich ein. Ganz erklären konnte ich es mir nicht, aber das Arrangement fügte sich so perfekt in ein von mir unbewusst entwickeltes Erwartungsmuster, dass ich gar nicht anders konnte, als hier einzurasten. Am nächsten Tag schon wurde das Haus- und Wirtschaftspersonal zusammengerufen, dazu einige Freunde aus der Umgebung, und Basil verkündete die frohe Botschaft.

CHELTENHAM:
Die meisten von Ihnen werden es nicht wissen, aber nach einem längeren Auslandsaufenthalt gehe ich seit geraumer Zeit wieder auf Cheltenham House ein und aus. Bewusst diskret, denn wie ich feststellen konnte, lief hier auch ohne mich alles bestens – dank tatkräftiger Mitarbeiter, wohlwollender Nachbarn und vor allem der umsichtigen Leitung durch die Herrin und Hausfrau selbst –, und ich wollte keineswegs störend eingreifen. Dennoch lassen sich die Folgen meiner heimlichen Besuche nicht mehr länger verbergen. Sir Basil und Lady Cheltenham geben sich die Ehre, Ihnen allen offiziell bekanntzugeben, dass sich Nachwuchs angemeldet hat. Wenn also das Glück uns weiter verwöhnt, werden wir einen Erben präsentieren können – oder eine Erbin, denn als Chef unserer Familie habe ich beschlossen, das Majorat auch weiblichen Mitgliedern unserer Dynastie zu öffnen. Allerdings kann ich nicht garantieren, dass jemals ein angeheirateter Gentleman den Titel eines Baronets of Cheltenham wird annehmen dürfen (wie es umgekehrt für die Ehefrauen selbstverständlich ist, Ladies of Cheltenham zu werden), denn eine derartige Entscheidung liegt außerhalb meiner Jurisdiktion

Sprach?s und entschwand.

Noch am gleichen Tag eilte nämlich mein Mann zurück zu Clio, um ihr zu sagen, dass alles ganz anders war, als sie es hörte. Wie er erfreut feststellte, hatte sie daran auch gar nicht gezweifelt, so sicher war sie sich ihrer Sache. Das konnte sie auch sein, denn meinen Vorschlag, seiner Vaterschaft wenigstens durch eine kurze, aber heiße Neuauflage unserer körperlichen Beziehung Nachdruck zu verleihen, hatte Basil abgelehnt.

Wenn ich allerdings etwas für mich in Anspruch nehmen konnte, das ich trotz unserer Trennung anderen Frauen in Basils Leben voraus hatte, war es mein instinktives Erfassen seiner jeweiligen Gedanken- und Gemütsverfassung und meine spontane Bereitschaft, diese zu akzeptieren. Sein wichtigstes Anliegen war ja stets, sich nicht von äußeren Einflüssen oder Geschehnissen seinen eigenen Wert definieren oder gar vorschreiben zu lassen. Er bemühte sich vor allen Dingen, in jeder Situation die Kontrolle über sich und sein Leben zu behalten. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass er damit postulierte, seine Umgebung entscheidend manipulieren zu müssen (und demgemäß sogar zu dürfen), was in den meisten Fällen auf heftigsten Widerstand der Betroffenen stieß, machte ihm aber natürlich oft genug auch das eigene Ich einen Strich durch die Rechnung.

CHELTENHAM:
Da lag Charlene goldrichtig. Auch ich hatte zu akzeptieren, dass mein Selbst kein hierarchisch organisiertes Wesen war, kein eingespieltes Orchester unter einem starken Dirigenten, sondern eine Gruppe von Solisten, die sich nur mühsam über Tonart und Rhythmus verständigen konnten. Ich hatte (nicht zuletzt durch die Unterstützung meiner Therapeutin) zu akzeptieren gelernt, wie ich funktionierte und dass ich in diesem Kontext nur einer von vielen war – mein Problem bestand allerdings darin, dass die anderen das nicht so recht zugeben wollten. Vieles war in letzter Zeit einfach so dahingetrieben, und man war froh, nach der durch meine Abwesenheit eingetretene Orientierungslosigkeit wieder jemanden zu haben, der sagte, wo?s lang ging.

Und schon wieder wurde er kontrolliert, anstatt zu kontrollieren. Schon wieder nützte man seine außergewöhnliche Expeditivität aus, um wieder der eigenen Tatenlosigkeit frönen zu können. So wie er bereit war, die gewünschte Position einzunehmen, durfte er auch wieder kommandieren – eigentlich paradox: Man spannte ihn vor den Karren, um sich von ihm kutschieren zu lassen.

Auch ich hatte ihn manipuliert. Ein Kind wollte ich unbedingt – wie ich es allerdings anstellen sollte, es von Basil zu bekommen, wusste ich in der gegebenen Situation nicht, also ließ ich den anderen zur Tat schreiten, in der unbestimmten Hoffnung, ein Cheltenham würde nicht umhinkönnen, das, was er wohl seinen moralischen Besitz bezeichnen würde, in Anspruch zu nehmen. Noch sicherer war ich gleichwohl darüber, dass Sakamoto seine Urheberschaft energisch in Abrede stellen würde. Er war eher der Typ, der – wenn sein Bekenntnis zur Vaterschaft eingefordert worden wäre – das Baby aus mir herausgeprügelt hätte.

Den Kontakt zu ihm hielt ich indes noch einige Zeit aufrecht, jedenfalls so lange, bis sich herausstellte, dass unsere Auftraggeber aufgehört hatten, uns als Informationsschleuse zwischen Amerika und China zu benützen. Entweder sie waren zu anderen Kommunikationswegen übergegangen oder es gab zwischen ihnen nichts mehr zu sagen.

503

PIFSIXYL XIFU:
Je nun – wir sind alle nur fehlbar, und als Anastacia Panagou, die seit dem Verschwinden ihres Giorduzzo enthaltsam gelebt hatte, mir anbot, mit ihr ins Bett zu gehen, nahm ich sofort an. Schon wie sie es anfing, setzte bei mir etwas in Bewegung, das ich beim besten Willen nicht aufhalten konnte: „Wollen Sie nicht wieder einmal mit einer richtigen Frau?” fragte sie. Dazu kam, dass sie ja ihrer Schöpfung, meiner geliebten Anpan, zum Verwechseln ähnlich sah, so dass ich anfangs gar nicht das Gefühl hatte, die AP 2000 ® zu betrügen, sondern überhaupt erst an einem sehr späten Punkt unserer Vereinigung realisierte, dass etwas anders – menschlicher – war. Ewig hatte ich das nicht mehr gespürt, diese Weichheit aus Fleisch und Blut, dieses Nachgeben des Körpers dort, wo bei der Androidin immer ein gewisser (und, ich will es nicht leugnen, von mir bisher immer als angenehm empfundener) Widerstand zu finden war.

Wie süß er ist! dachte Anastacia. Sie konnte ohne weiteres nachvollziehen, was ihre Anpan an ihm fand. Sicher war er keine herausragende Persönlichkeit wie Giordano Bruno, aber sehr sensibel und durchaus imstande, den geheimen Sehnsüchten einer Partnerin auf die Spur zu kommen – und das schien angesichts der Umstände, in denen er vermutlich in der Spiegelwelt aufgewachsen war und gelebt hatte, durchaus erstaunlich. Die Panagou bat ihn, mehr von sich zu erzählen, aber er achtete gar nicht darauf. Statt dessen machte er eine angesichts der Situation völlig unpassende Bemerkung.

PIFSIXYL XIFU:
Anpan muss ja nichts davon wissen! stammelte ich nervös, als ich erschöpft neben meiner Quasi-Schwiegermutter lag. Diese schien über derlei Unsinn erhaben und liebkoste mich weiter langsam, ganz als ob es für sie im Moment nichts Wichtigeres auf der Welt gab. Mag sein, dass sie in Wirklichkeit längst schon wieder daran dachte, wie sie die NOSTRANIMA nach ausgedehntem Stand-by wieder in Schuss bringen konnte, zumal sie ihre Aufgabe diesmal würde allein bewältigen müssen, denn Bruno war fort und Chicago weit. Wodurch ich überhaupt auf die Idee kam, dass das Riesenschiff wieder auf Reisen gehen würde? Nun, ich wusste es nicht – es war nur so eine Idee, die sich aber immer stärker in mir verfestigte. Ich schloss für eine Weile die Augen, um den kaum merklichen Unterschied zwischen dieser und jener anderen Hand ganz in mich aufzunehmen und sozusagen unvergesslich werden zu lassen. Es wird eine Zeit kommen, hatte Giordano mir bei einem unserer seltenen Gespräche gesagt, in der du dich fragst, wo das Schöne im Leben bleibt – und mit einem Mal wirst du erkennen, dass du es nur mehr im Rückblick findest: Wehe dir, wenn da nichts ist, woran du dich gerne erinnerst!

Anastacia ahnte seine düsteren Gedanken, sei es an fast unmerklichen Schatten, die über sein Gesicht flogen, sei es an kleinen unkontrollierten Bewegungen seiner Glieder, ähnlich jenen in einem traumbewegten Schlaf. Sie fühlte mit ihm, und sie verabreichte ihm eine Droge, die keine noch so hochentwickelte Androidenfreundin ihm hätte geben können: das Erlebnis, begehrt zu werden, ohne fragen zu müssen, wie echt dieses Begehren wohl sei. Irgendwelche Zweifel fochten ihn hier nicht an, denn eine Panagou tat – so viel war gewiss – nichts, was sie nicht ganz und gar gewillt war zu tun, jedenfalls nicht in einem solch unverwechselbaren Augenblick. „Komm, mein Geheimagent”, flüsterte sie, „zeig mir deine verborgenen Schätze und Talente und führ mich gleich noch einmal durch den dunklen Garten, den wir heute schon einmal durchwandert haben!”

PIFSIXYL XIFU:
Ihre Leidenschaft erfasste mich in Ge-stalt einer Riesenwelle, die mich derart überrollte, dass alle Zerklüftungen meiner komplizierten Persönlichkeit neu-tralisiert wurden. Erst als ich wieder aufblickte und den leisen Hauch von Transpiration auf Anastacias Haut bemerkte (im Kontrast zu Anpan, die klarerweise immer knochentrocken blieb), wurde mir so ganz bewusst, was ich getan hatte. Im Gegensatz zu vorhin fiel es mir jedoch leicht, einfach zu akzeptieren, was geschehen war. Niemandem war – genaugenommen – ein Leid zugefügt worden. Niemand hatte das Recht, mir diese winzige Quantität von Glück (die aller Wahrscheinlichkeit nach nie größer werden würde) zu missgönnen. Im Gegenteil – jeder, der daran Anstoß nahm, war ja selbst eingeladen, sich ebensoviel oder gar mehr Glück zu nehmen: oder zu geben, wenn das Nehmen über das Geben führte.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Pifsixyl Xifu lag völlig richtig mit seiner Vermutung. Nicht umsonst hatte er das härteste Trainingslager des Tyrannen der jenseitigen Völker durchlaufen, wo man nicht nur seine Sinne schärfte und seine Reflexe beschleunigte, sondern auch seine Fähigkeit zur Intuition weiterentwickelte. Müßig zu sagen, dass dort nur die Wendigsten überlebten: diejenigen, die nicht nur Intelligenz besaßen, sondern diese notfalls auch verbergen konnten. Wer nicht entsprach, kam in der Regel zu Tode, denn ein Menschenleben galt drüben nichts, jedenfalls noch weniger als in der Alpha-Welt.

Anastacia entfaltete also nach langer langer Zeit die NOSTRANIMA wieder zu voller Größe – und da wies der elektronisch-telepathische Raumkreuzer bekanntlich einen Durchmesser wie das gesamte Cheltenham?sche Anwesen auf und war so hoch wie rund 70 Stockwerke. Die stolze Erfinderin begann sodann, langsam und gewissenhaft die Funktionen des Schiffes durchzuchecken, zog zu diesem Zweck die AP 2000 ® heran, womit sie sich ein dickes Listenkompendium ersparte. Die Androidin sagte ihr die Prüfroutinen vor und notierte in ihrem schier unerschöpflichen Gedächtnis die Ergebnisse.

PIFSIXYL XIFU:
Obwohl ich gerne wollte, durfte ich nicht dabei sein. Das führt zu nichts, beschied mich Anastacia: „Solange sie das, was zwischen uns geschehen ist, nicht mitbekommt, sollten wir nicht ihren Argwohn wecken! Sie würde nämlich sofort alles begreifen, wenn wir zu dritt wären! Um es mit ihren Worten zu sagen: Jede auch noch so geringfügige Veränderung deines Verhaltens während einer auch noch so kleinen Zeitspanne

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würde bei Anpan Rechenvorgänge auslösen, die früher oder später zu einem für uns unerfreulichen Ende führen müssten.” Weil sie ihr Geschöpf so genau kannte, war ihr auch klar, dass frühere Überlegungen der Androidin, ihr Verhältnis zu mir durch vorübergehende Dreierbeziehungen aufzupeppen, rein theoretisch waren. Daher hielt ich mich tatsächlich von den Reisevorbereitungen fern, in der Hoffnung, dass sich die Dinge unterwegs irgendwie klären würden – zumindest konnte dann niemand von uns über Bord springen, sondern musste sich der Situation stellen.

Ob Anastacia da wohl mit offenen Karten gespielt hat? Schließlich verhinderte sie auf diese Weise, dass Pif mitbekam, wie weit sie mit ihren Zurüstungen schon vorangekommen war: Schon waren die sieben neuen Maschinenwesen angewiesen, sich auf Abruf bereit zu halten, und so saßen denn in dem Saal, den die Konstrukteurin für diesen Zweck in Beschlag genommen hatte (natürlich ohne Charlene oder jemanden von der Verwaltung zu fragen), Primavera, Estate, Autunno und Inverno, die in ihrer Ausbildung schon weiter gediehen waren, sowie Afrodíti, Irmís und Oudéteron, die sich noch etwas tollpatschig benahmen, marschbereit in ihren bettähnlichen Verschlägen, die ihnen ein wenig Mein und Dein, Innenwelt und Außenwelt vermitteln sollten.

Anpan kümmerte sich nun, da die NOSTRANIMA startklar schien, rührend um ihre Quasi-Geschwister – Anastacia dachte, wenn sie sie heimlich beobachtete und belauschte, an eine gezähmte Elefantin, die ihre erst kürzlich eingefangenen Artgenossen im Auftreten schlechthin sowie im Umgang mit Menschen schult. Giordano hätte diesen Gedanken sehr gemocht, und er hätte ihn gleich weitergesponnen – insofern auch das Gedächtnis der Androidin dem jener Tiergattung ähnlich war.

Eines Tages ging’s los.

Pifsixyl Xifu wurde nicht mitgenommen: Anpan hatte schließlich doch mitgekriegt, dass er ihr untreu geworden war, und stellte ihn zur Rede. Er versuchte sich mit der Besonderheit des Vorfalls angesichts der Illusion weitestgehender äußerer Identität zwischen den beiden Frauen zu rechtfertigen, versuchte ihr zu erklären, dass dies an seiner speziellen Zuneigung zu ihr nicht das Geringste änderte – sie solle nicht vergessen, dass er aus Liebe zu ihr den Diktator verraten und seine Heimatwelt verlassen hatte. Überdies könne sie (anders als dies bei einem x-beliebigen Seitensprung der Fall sei) jederzeit ihre Rivalin, die ja gleichzeitig ihre Schöpferin sei, um eine Interpretation seiner Worte bitten, und dann würde sie ihm nicht mehr böse sein.

Anpan war ihm auch nach menschlichen Maßstäben gar nicht böse. Sie distanzierte nur einfach ihre ureigene Bewusstheit wieder klar von der, die sie von ihm besaß und die sie bis dahin immer stark deckungsgleich mit jener gesehen hatte. Sie machte mithin kurzen Prozess. Ihr Urteil fiel so aus, als ob sie eine nüchterne Gleichung an eine Tafel malen würde: Geschlechtsverkehr mit einer anderen = Treuebruch = Ende der Beziehung! Und als Pif dennoch seine Sachen packte, um sich der Expedition anzuschließen, schlich sie sich an ihn heran und setzte ihn mit ihrem Spezialgriff, dessen Wirkung er schon einmal in der anderen Realität verspürt hatte, außer Gefecht. Er konnte zwar sehen und hören, aber nicht mehr sprechen oder sich bewegen, und so musste er ohnmächtig miterleben, wie die NOSTRANIMA ohne ihn startete. Die AP 2000 ® versuchte währenddessen, auch von Anastacia abzurücken oder dieser wenigstens aus dem Weg zu gehenn, aber ihr Model for Emotional Response schaffte es einfach nicht, negative Gefühle gegen seine Konstrukteurin zu entwickeln, und so gab es auf der Reise nicht auch noch dieses zusätzliche Problem neben jenen anderen, von denen wir noch erfahren werden.

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Pif ging, als sein Körper wieder normal arbeitete, schnurstracks durch jene versteckte Tür, die aus einem Seitentrakt von Cheltenham House in das Labyrinth und zum Übergang in die andere Welt führte. Niemand kümmerte sich um ihn. Von Romuald sah er durch das (vermutlich nicht unbeabsichtigt) weit geöffnete Portal von dessen Domizil lediglich den rhythmisch wogenden Hintern, denn dieser war gerade mit seiner Fialuo Xlot beschäftigt. Xifu kannte die Dame: Sie war drüben Geheimagentin gewesen wie er, war es im Gegensatz zu ihm vielleicht noch immer. Sie sah ihn zwar (durch ihre succubische Position begünstigt), kam aber gar nicht auf die Idee, ihn aufzuhalten – sollte doch Lyjaifsxy sich um den seltsamen Burschen kümmern!

Romualds Doppelgänger wiederum sah man im Vorbeigehen an dessen bombastischem Wohnsitz vor einer Videowand sitzen, auf der er gespannt den brünstigen Akt seines Pendants beobachtete. Was immer ihn dazu bewog, einfache Neugier oder irgendein komplizierteres Kalkül, das er mit der Vermittlung jener Dame an seinen Kompagnon eingefädelt hatte – Xifu war es einerlei. Er ging unbehindert weiter, so rasch wie möglich, und er wandte sich nicht um, als ob er auf diese Weise jeden Versuch, ihn aufzuhalten, vermeiden konnte. Und dann war er drüben.

Das Labyrinth als solches hatte ihm – anders als so vielen vor ihm – keine Probleme bereitet: nicht ihm, dem die Fratzen der Vergangenheit stets vor Augen standen und nicht erst durch irgendwelche mentalen Tricks oder psychologischen Spielchen vorgegaukelt werden mussten. Die realen Dinge, die er erlebt hatte, übertrafen jede auch noch so furchtbare Schimäre. Schließlich war er lange Zeit Soldat gewesen, und das bedeutete bei den Streitkräften Iadapqap Jirujap Dlodylysuaps, brutale Duelle mit den Gegnern zu inszenieren, diese langsam, Schritt für Schritt kampfunfähig zu schlagen und – wenn man ihnen ein gnädiges Schicksal bereiten wollte – dann einigermaßen rasch zu töten. Es bedeutete auch, dass man langsam, aber sicher eins wurde mit den Schmerzen der Opfer und der eigene Leib sich unter den Wunden krümmte, die man jenen zufügte. Vor allem die eigene Seele wurde infolge der vorgeschriebenen drakonischen Methoden in ein einziges Geschwür verwandelt.

Und wie bei jeder anderen Armee gab es natürlich die nicht minder entsetzlichen Phasen des Wartens und der Wachsamkeit. Einmal, auf Posten an einem unsäglich traurigen Fluss, mutterseelenallein in einer sternlosen Nacht seines Heimatplaneten Olxo, enerviert durch das reglose Schweigen der Natur, das sich trügerisch über die Operationen der Partisanen gelegt hatte, schrieb Pifsixyl Xifu das einzige von ihm bekannte künstlerische Elaborat, einige lyrische Zeilen über die Erstorbenheit:

Leid ist ein sehr langer Augenblick. Man kann ihn nicht unterteilen. Man kann bloß seine Tönungen registrieren – und deren Wiederkehr. Mit einem selbst steht auch die Zeit still, nein sie dreht sich im Kreis, umrundet einen Mittelpunkt der Qual. O diese lähmende Unbeweglichkeit eines Lebens, das nach einer unabänderlichen Schablone ausgerichtet ist, sodass man isst und trinkt, kniet um zu beten, sich zur Ruhe legt nach den Gesetzen einer eisernen Regel: diese Kategorie der Starrheit, die jeden furchtbaren Tag bis in seine kleinste Einzelheit identisch mit dem vorherigen, dem nächsten macht, teilt sich der Außenwelt mit, um auch ihr, deren Essenz der stetige Wandel ist, den Willen aufzuzwingen. Man ahnt nicht, ob irgendwo gesät oder geerntet wird, ob das Gras grün ist vom warmen Regen oder weiß vom frischgefallenen Schnee. Irgendwo mag die Sonne scheinen oder der Mond, aber man sieht nichts davon, kann es nicht mehr wahrnehmen.

Dass ein gewisser Oscar Wilde in der diesseitigen Realität einen nahezu gleichlautenden Text verfasst hatte, tat der Leistung Xifus keinen Abbruch, denn die beiden Herren kannten einander weder persönlich, noch hatten sie je Gelegenheit, auf andere Weise in Kontakt zu treten.

PIFSIXYL XIFU:
Heute, im Wissen um die Kultur der Alpha-Realität, würde ich zu meinen Worten (oder meinetwegen denen dieses Wilde) am liebsten den ersten Satz von Schuberts h-Moll-Symphonie hören, denn diese Zusammenschau erfüllt mich mit unendlichem Ausgeglichensein, jenseits allen Leids, jenseits aller Leidensfähigkeit, die dort endet, wo man nach Glück gar nicht mehr strebt.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Als er nach dem Militärdienst Geheimagent wurde, löste sich Pifs Verkapselung wieder etwas, und er begann, sein Metier zu analysieren. Ihm wurde Schritt für Schritt klar, dass im Tyrannenreich im Auftrag der Regierung nicht nur Explorer wie er tätig waren, sondern auch solche, die Geheimnisse erst produzierten: ein kreisrunder Bespitzelungsprozess war in Gang gesetzt, der wesentlich mehr Aufwand erforderte als die tatsächlich nötigen geheimdienstlichen Aktivitäten gegenüber den Lhiks und anderen unterworfenen Völkerschaften. Als er eines Tages entdeckte, dass er sich selber auf der Spur war, begann er für sich, überhaupt die Sinnhaftigkeit jeglichen Staatswesens anzuzweifeln und er fühlte sich darin bestärkt vom großen Philosophen der Spiegelwelt, Ilkyfx Qyekvoo – dessen Hauptwerk „Über Aufstieg und Fall von Zivilisationen” der Tyrann übrigens streng verboten hatte, nachdem der Gelehrte in Ungnade gefallen war. Noch aber zog Xifu keine Konsequenz aus seiner Erkenntnis, sondern diente seinem Herrn mehr oder weniger gehorsam weiter, versuchte sogar getreulich, dessen Halluzinationen ernst zu nehmen und das vermeintliche Gespenst, das in einen der vielen Paläste eingedrungen war, aufzuspüren – bis ihm dabei die AP 2000 ® über den Weg lief (oder besser gesagt er ihr).

Pif hatte drüben trotz des Interdikts ein Exemplar des Qyekvoo-Buches besessen und bedauerte zutiefst, dass es ihm nicht möglich gewesen war, dieses in die Alpha-Welt mitzunehmen: Allein, er konnte es aufgrund seiner intensiven Beschäftigung damit ohnehin fast lückenlos auswendig hersagen und hatte auch dann und wann daran gedacht, den Text, so gut es ihm gelingen mochte, aus dem Gedächtnis niederzuschreiben – aber das verhinderte seine Beziehung mit Anpan, die ihn weitestgehend in Beschlag nahm.

PIFSIXYL XIFU:
Dessenungeachtet dachte ich weiter darüber nach und konnte meine Theorie infolge des Vorhandenseins zweier Staaten in der Alpha-Realität auf interessante Weise erweitern. Hier waren nämlich die jeweiligen Geheimniserzeuger nicht nur damit beschäftigt, Geschichten über das eigene Reich zu erfinden, sondern auch solche über das andere, und folgerichtig waren die Dechiffrierer eifrig dabei, nicht nur die Geheimnisse des eigenen, sondern natürlich vor allem auch jene des anderen Landes zu lüften. Entscheidend schien mir, dass diese Prozesse – die vermutlich im Verhältnis noch wesentlich größere Kosten verursachten als in der Spiegelwelt – nahezu völlig identische niederschmetternde Erkenntnisse über Sinn und Zweck staatlicher Systeme brachten, was nicht nur die Agenten-Gefechte als solche in Frage stellte, sondern mit ganz besonderem Nachdruck die Existenzberechtigung dieser beiden Herrschaftsstrukturen per se. Niemals wird eine Bürokratie effizient Probleme lösen, denn dann würde sie sich am Ende, wenn alle Unzulänglichkeiten beseitigt sind, selbst wegrationalisiert haben. Niemals werden staatliche Geheimdienste ernsthaft danach streben, das feindliche Lager endgültig auszuschalten, denn dann würden sie selbstverständlich ebenfalls überflüssig sein. Und deshalb geht dieser Dschungelkrieg – drüben wie herüben – ewig weiter.

Noch dunkler als an jenem nächtlichen Fluss schien es Pifsixyl Xifu in diesem klandestinen Urwald selbst bei Tag: Jeden Moment konnte jemand dastehen, der einem nach dem Leben trachtete – und, wie gesagt, es waren bei weitem nicht immer Fremde, sondern durchaus Leute aus den eigenen Reihen, von denen man aber dennoch nicht genau wusste, wo sie standen.

Er erinnerte sich weder an den Körperbau noch an die individuellen Gesichtszüge dieses Menschen, der sich anschickte, ihm, der wehrlos am Boden lag, ein lautloses Messer ins Herz zu stoßen. Nur dieses Grinsen um den Mund und die hässliche Narbe am Kinn hatten sich ihm eingeprägt – und die quälende Unsicherheit darüber, in wessen Auftrag diese Fratze, die er im letzten Augenblick hatte abwehren und vertreiben können, gekommen war: von einer der Rebellengruppen, die dem Diktator (ohne vorerst seine Macht noch wirklich ankratzen zu können) eins auswischen wollten, indem sie einfach irgendeinen seiner Gefolgsleute töteten; oder von jener für Pif damals noch sagenhaften anderen Realität, die angeblich das jenseitige Universum, das klarerweise für seine Bewohner das Diesseits war, vernichten wollte, indem es überall verkappte Terroristen einschleuste und von diesen flächendeckend Anschläge verüben ließ (so wurde es jedenfalls in der Spiegelwelt erzählt); oder vom Tyrannen selbst, der des Agenten Xifu überdrüssig geworden war und ihn beseitigen lassen wollte.

[Grafik 503]

PIFSIXYL XIFU:
Wie immer es auch zu verstehen war – kurze Zeit später wurde ich von Iadapqap Jirujap Dlodylysuap zum geheimen Leibwächter ernannt: eine hohe Ehre und eine herausragende Stellung, vor deren Erlangung möglicherweise jener Angriff aus dem Hinterhalt als lebensgefährlicher Eignungstest gewählt worden war.

Völlig ausschließen konnte er aber die anderen Möglichkeiten dennoch nicht.

504

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
(ist heimlich, ohne dem Großen Regisseur, der Drehbuchautorin oder seiner momentanen Miss – äh – Wasserstoffblond/atombusig/und/auch/sonst/kurvig/sowie/extrem/langbeinig etwas zu sagen, auf die Station zurückgekehrt, da er sich an Ikqyku Diaxus Attraktionen nicht sattsehen kann; er spricht leise in sein Diktiergerät) Ganz oben auf ihren langen Körpern zeigen die drei Tänzerin-nen ihre Blöße. In jeder ihrer weit geöffneten, im erregten Zustand feuer-roten Blüten ist ganz deutlich die üppige Narbe auf dem Griffel zu erkennen: O boy, I tell you, it’s a groove –

Auf der Bühne des „King’s & Queen’s Club” rankten sich gerade die Lhik-Damen – Xiqi aus der älteren sowie Qixi und Lici aus der jüngeren Generation – an den Tanzstangen empor, heftig ak-klamiert vom Publikum, beileibe nicht nur von ihren männlichen Artgenossen, sondern auch von den Männern der anderen Spezies, nicht zuletzt aber auch von den anwesenden Frauen, weil gerade diese von der Anmut dieser drei Grazien hingerissen waren.

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Ist ja auch wahr, besonders wenn man bedenkt, wie perfekt ihre Flötentonstimmen auf Höhe des viergestrichenen C zu den zeitlupenartigen Bewegungen ihrer pflanzlichen Gliedmaßen passen! Wer würde es daher einem jungen Heißsporn wie dem hiesigen Kronprinzen oder auch einem etwas abgekühlten Herrn in vorgerückten Jahren wie mir verdenken, wenn er ihnen gerne zusieht oder wenn ihn am Ende sogar nach mehr gelüstete?

Sid hatte mich, seine illegitime Tochter und Gelegenheitsgeliebte, über seinen Aufenthalt nicht täuschen können, mochte er auch unseren Mister Big und die kleine Schlampe, Miss H2O2, noch so sehr im Unklaren darüber gelassen haben. Ich kannte seinen Geschmack, und wenn er sich nicht gerade in einem Aufflackern seiner einstmaligen Potenz als ausübendes Sex-Organ betätigte, war er stets am Sammeln – „für die trüben Tage meines hohen Alters”, wie er kokett zu bemerken pflegte, legte er ein Frivolitäten-Archiv an, erstaunlicherweise nicht in Form von Bildern, sondern von Tonträgern, auf denen er selbst eindringlich die beobachteten Vorgänge beschrieb. Dafür war hier allerdings der geeignete Ort, und ich konnte mir vorstellen, dass er bereits den nächsten, aus menschlicher Sicht viel konkreteren Nummern entgegenfieberte.

Ikqyku Diaxu stand währenddessen in seinem Kämmerchen (von dem aus er durch drei verschiedene kleine Fenster nicht nur sein Hauptetablissement, sondern auch den „Gatsby Dance Club” und die „Baroque Lounge” überblicken sowie über einen Monitor die Vorgänge in der „Combat Zone” beobachten konnte) und rieb sich die Hände: Es konnte eigentlich kaum besser laufen für ihn, und seine nimmermüde, wenn auch etwas schräge Phantasie war schon wieder mit neuen Projekten beschäftigt, gespeist durch die Datenfülle, die ihm in den Computerspeichern von VIÈVE zur Verfügung stand. Ja, er ging sogar so weit, sich mit dem Problem der Akademie (so nannte er das wohl bei sich) auseinanderzusetzen, denn er hatte den Ehrgeiz, aus jeder Unternehmung einen Erfolg zu machen, und da blieb seiner Meinung nach bei der wissenschaftlichen Institution der Königin einiges zu wünschen übrig.

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Nun, da du mich quasi erwischt hast, möchte ich betonen, dass ich dir keinerlei Rechenschaft schuldig bin: dir nämlich am wenigsten von allen Frauen, die ich – sagen wir einmal – kenne. Ich bin, wenn du das gütigst akzeptieren wolltest, nicht mehr und nicht weniger als ein Mensch, der sein Leben lebt, ohne ständig auf andere Rücksicht zu nehmen. Denn das kann’s ja wohl nicht sein!

Als Drehbuchautorin ist man natürlich in der glücklichen Lage, die einem dargebotene Realität mit etwas Distanz annehmen zu können, will sagen, wenn es einem persönlich zu schrill wird, wenn eine Situation beginnt, einem massiv unter die Haut zu gehen, kann man die Rezeption dieser Vorgänge als Recherche für ein Skript tarnen (oder auch für ein Buch, denn, siehe Marconi, welcher Kulturschaffende träumt nicht insgeheim davon, einmal ein richtiges Buch zu schreiben?).

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Marconi als Kultursubjekt – na-ja—-!

Aha, auch zwischen euch also die Rivalität zweier ursprünglich sehr ambitionierter Männer, bei denen sich aber per Saldo herausstellt, dass sie lediglich kümmerliche Löcher in die Welt gebohrt haben, noch dazu dort, wo deren Schale am dünnsten ist.

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Wie kommst du dazu, mich mit diesem Burschen auf eine Stufe zu stellen? Und mich voller Anmaßung an den Pranger zu stellen? Warum störst du mich? Was hast du überhaupt hier verloren?

Ich recherchiere – Paps! Von mir ausgesprochen, klang das für ihn immer wie ein Peitschenhieb. Eine merkwürdige Erfahrung schien es schon zu sein, wenn ein Exemplar seines zahlreich vorhandenen Nachwuchses es entweder überhaupt wagte, sich bemerkbar zu machen, oder dann womöglich etwas anderes äußerte als hechelnde Bewunderung.

Dinge ändern sich, Mister! Wenn man heiratet, Kinder hat, sollte man auch für sie da sein!

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Aber warum denn – sollen die doch froh sein, dass sie existieren! Ich war fünfmal verheiratet und –

Ich bin ganz Ohr, sagte ich ungeniert, denn jetzt folgt ja vermutlich die Zahl deiner Kinderchen. Oder hast du, wie man überall in der Branche munkelt, längst die Übersicht verloren?

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
(stolz) Die besaß ich von Anfang an nie!

Wobei er einräumte, dass er gewisse Vorstellungen über die Zahl seiner ehelichen Sprösslinge hatte – da konnte ihm immerhin sein Anwalt weiterhelfen, der für ihn weitverzweigte Alimentationszahlungen abwickelte. Ich selbst zählte nicht zu dieser privilegierten Gruppe, wurde aber dafür von ihm, im Gegensatz zu den vielen anderen durch seine intellektuelle Rekognoszenz geadelt: Mit anderen Worten, mich ließ er an seinen geschäftlichen Operationen mitnaschen, allerdings nicht ohne dass ich dafür schwer arbeiten und Bedeutendes leisten musste.

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
(großartig in Fahrt) Nicht zu vergessen die Tatsache, dass ich dir auf erotischem Gebiet Einiges beigebracht habe, was jedem erdenklichen Partner immer wieder große Freude bereiten wird!

Ich kannte ihn mittlerweile gut. Diese Art beharrlicher Trotzreaktion war nicht gespielt, und er drückte sich nicht so aus, um mich zu provozieren. Vielmehr schien es, als hätte ich ihm seinen Aufenthalt hier im Club gründlich vermasselt – mittlerweile hatte nämlich die Königstochter ihren sensationellen Standard-Auftritt absolviert, und er konnte diesen, abgelenkt durch mich, nicht genießen, abgesehen davon, dass sein Diktiergerät ausgeschaltet blieb.

Übrigens – dieser Julia sah ich selbst gern zu: Wie sie sich verdrehte und ihren Körper zu den mannigfaltigsten Figuren verformte, war einfach Ästhetik pur. Natürlich konnten einem dabei die Gedanken dahin entgleiten, dass man sich wünschte, dieses Knäuel aus Kopf, Rumpf und Gliedmaßen, das mehr enthüllt als bedeckt durch ein glitzerndes Kostümchen und später ganz offengelegt war, an verschiedenen Stellen zärtlich zu berühren und damit wahrscheinlich unvorstellbare Reaktionen hervorzurufen, und wenn es mir schon so ging, was mochte dann erst das andere Geschlecht empfinden?

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Siehst du, ich habe dich sogar mit großem Erfolg auf ein Terrain gebracht, das viele andere Frauen niemals betreten, und wenn du nicht auf der Stelle zugibst, dass dies einen Gewinn für dich bedeutet, will ich die längste Zeit dein Vater…

… und Verführer…

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
… meinetwegen auch das gewesen sein.

Dann kam Miss Serpentina mit einer – jedenfalls für meine Begriffe – äußerst komplizierten klassischen Tanznummer, und der alte Sid wandte sich endlich wieder seinem Beschreibungsgeschäft zu: Er befasste sich mit den Stoffpartien, die sich an ihren Leib schmiegten, mit ihrem ebenmäßigen Profil, mit ihren Achselzonen, ferner ausführlich mit ihren Knien und der niedlichen Form ihres Spanns, wobei ich im Zuhören begreifen lernte, was alles einen fetischartigen Stellenwert annehmen konnte. Aber natürlich war auch der Schritt der Künstlerin ein Thema, auf den der Betrachter den einen oder anderen ausführlichen Blick erhaschen konnte.

Was ist nun mit Miss Wasserstoffsuperoxid? fragte ich dazwischen.

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Ach, die ist mehr ein Maskottchen, denn genauso führt sie sich auch auf: Sie verbringt einen unendlichen Teil des Tages mit ihrer Pflege, und wenn sie dann fertig ist, die Kosmetikerin und der Friseur endlich hinauswieseln, darfst du sie nicht anrühren. Wenn wir anschließend ausgehen und, wo immer wir hinkommen, alle sie bewundert und mich um sie beneidet haben, kommen wir zurück nach Haus und sie beginnt, all diesen Flitter wieder abzulegen, und obwohl sie auch dann noch immer jung und schön ist, erscheint mir die Diskrepanz zu vorhin einfach zu groß, und ich rühre sie meinerseits nicht an. Dann liegt das Kätzchen da, mit einer schwarzen Augenbinde, und absolviert seinen Schönheitsschlaf, während ich runter gehe in die Dienstbotenwohnung, to take some comfort there: una latina, sinónima al azúcar! Hausmannskost mit einem Wort, deftig und direkt, die geradlinige Ausnützung eines Abhängigkeitsverhältnisses.

Ich sah schon ein – er hatte es auch nicht leicht, und als ich ihm das sagte, schaute er mich nur gequält an: dachte vielleicht daran, dass er in solchen Situationen, pflegeleicht wie ich mich ihm gegenüber immer verhalten hatte, am liebsten mich an seine Seite wünschte. Trotz meiner ständigen viel zu weiten Pullover, der ausgebeulten Jeans, verwaschenen Baumwollsocken und schmutzigen Sportschuhe (die er immer besonders heftig kritisierte), entwickelte ich doch, nachdem all das ausgezogen war, bemerkenswerte und nicht alltägliche Initiativen, gemäß dem bewährten Pfadfinderinnenspruch „Wenn schon, denn schon!”

Aus einem spontanen Gefühl heraus betrachtete ich ihn mit einer gewissen Zärtlichkeit. Irgendwie mochte ich den alten Sack. Was konnte er schon dafür, dass die Wahrnehmung des eigenen Erzeugers als Geschlechtswesen immer ein Schock sein muss, selbst wenn diese Erkenntnis nicht wie bei mir den psychologisch vorprogrammierten Weg des Inzests tatsächlich geht. Und schließlich – war es seine Schuld, wenn er so konditioniert war, dass er auf bestimmte Reize in viel heftigerer Form ansprang als andere Männer? Jedenfalls hatte er unzweifelhaft einen Riecher für Filmstoffe, und er war politisch liberal, was auf unserem bipolaren Globus mittlerweile sowohl in China als auch in Amerika seltene Qualität hatte und überdies heutzutage nichts als Schwierigkeiten eintrug. Man musste ja nur nachrechnen, wie lange es her war, dass ein Film des Grossen Regisseurs und seines Produzenten Bogdanych nicht mit Washingtons Zensuristen zusammengekracht war.

Auf diesen beiden Ebenen existierte der gute Sid: die berufliche kränkelte die private nicht an und umgekehrt, wiewohl es offenbar einen Expresslift zwischen den beiden gab.

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Würdest dich auch gut machen auf dieser kreisrunden Bühne, die vielen Leute ringsum: gut geschminkt, die Haare hochgesteckt, das karmesinrote Abendkleid, mit dem du den Tyrannen der Spiegelwelt becirct hast, darunter ein Hauch von nichts – oder du kommst gleich schockartig und begleitet von Trommelwirbeln mit deinem goldglänzenden Napkin-away-from-Nudity und zeigst es ihnen allen kurz und bündig, dass ihnen der Atem stockt!

O Phantasie!

Phantasie: Vorstellungskraft, Komposition, bei der die Melodie einen entführt, weithin, aber weit von wo? Aber auch ein Ramschladen, indem die Trödelgüter des Erlebten herumstehen. Ein Hotel könnte man „Phantasie” nennen, oder eine Schule, aber was müsste sich an diesen Orten abspielen, um dies zu rechtfertigen? Sogar eine Dessous- und Bademodenmarke „Phantasie” gibt es – ob da die Marketing-Heinis nicht ein wenig zu weit vorgeprescht sind, denn welches reale Produkt könnte eine solche Bezeichnung rechtfertigen?

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Vornehm ausgedrückt, beschreibst du an einem kleinen Beispiel die gigantische Dekonstruktion unseres gesamten sozialen Überbaus. Anders gesagt: du drehst einen Begriff durch den Shredder, und was herauskommt, ist Trash – was nicht verwundern sollte, aber ich glaube ohnehin nicht, dass du darüber erstaunt bist.

Trash – der schönste aller Filmstoffe, niemals langweilig, beliebig erweiterbar, ohne politische und moralische Grenzen, kombinierbar, assoziativ: Pasolini, Antonioni, natürlich vor allem Fellini (der echte, nicht der amerikanische). „Uccellacci e uccellini”, „Blow-up”, „E la nave va”… Natürlich ist das alles verboten! Seit jeher im Reich der Mitte und seit Kravcuk auch im US-Imperium.

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Unsere eigenen Filme: „Nostranima”, „Berenice”, „Anastacia”…

Ebenfalls verboten!

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Obwohl das nicht statthaft ist gemäß First Amendment to the United States Constitution!

Längst außer Kraft gesetzt durch Presidential Order ? 1!

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Bleibt Biedermeier. Kunst als Ausdruck der Ohnmacht, wie bei der Veranstaltung von Natalia Petrowna und Verushka Dimitrowa und ähnlichen Gelegenheiten – aber in dieser Ohnmacht regt sich gleichzeitig auch Widerstand, allerdings immer nur so weit es die Kunstform erlaubt: Bei Texten kann man das Dissidente zwischen den Zeilen lesen, bei Musik die kontroversiellen Obertöne heraushören, bei Gemälden die geheimen oppositionellen Chiffren erkennen. Auf hundert Wegen kannst du die Zensur umgehen, wenn bloß der geringste Spielraum da ist, aber was bleibt uns in unserem Genre? Ein Movie wird eben auf jeden Fall bieder, selbst wenn du es nur scheinbar bieder verkleidest.

Es war einer jener Momente, in dem ich ihn nicht nur nicht hasste, sondern innig liebte, geradezu nicht aus einem Gefühl heraus (denn das hätte er sich schwerlich verdient), sondern vom Verstand her: Weil man von ihm etwas lernen konnte, weil hinter seinem plump zur Schau gestellten männlichen Chauvinismus seltene Fähigkeiten zutage traten – subtile Urteilskraft, umfassende Analytik, das Talent, messerscharf zwischen ästhetischen und unästhetischen Symptomenkomplexen unterscheiden zu können.

Und genau in diesem Augenblick, in dieser Programmpause in Diaxus Etablissement erkannte ich, dass mein alter Herr sein Leben lang auf der Suche nach Schönheit gewesen war, dass er hinter dem nackten Schenkel, den er gierig ergriff, die sanfte esoterische Linie sah, die einem Praktiker wie Leonardo oder einem Theoretiker wie Fibonacci vorgeschwebt sein mochte; dass die wohlgeformte Brust, die sich in seine Hand schmiegte, für ihn im übertragenen Sinn der Inbegriff der reinen aphroditischen Gestalt war; dass schließlich das Zentrum seines Begehrens, wenn sich für ihn die Schamlippen teilten, ihm Sinnbild war für den Urgrund alles Seienden, wo er geruhsam und zufrieden vor Anker gehen konnte, um zu sagen: Alles ist gut!

Ich versuchte, dieses einzige Mal den Panzer seines Zynismus zu durchstoßen, indem ich ihm diese meine Gedanken eröffnete.

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Nun mach aber halblang, Baby, und fang nicht an, mich zu verklären! Ich sage dir Folgendes: Ich lebe noch! Ich lebe spontan, und vieles, was ich tue (wenn nicht alles), ist rein intuitiv. Bleib einfach dabei, was im Who’s Who steht, und den Rest überlass den Filmogra-phen!

Ich protestierte, konnte mich nicht losreißen von jenem Bild, auf dem der weltbekannte Produzent Sid Bogdanych, abgehoben vom Staub der Strasse, ganz Künstler, seine rasch – oft von Film zu Film – wechselnden Tussis zu epochalen Kunstwerken erhob. Wo er, ohne dass ihm irgendeine feministische Kritik etwas anhaben konnte, zweifelsfrei und widerspruchsfrei begründete, warum die weiße Bluse und das karierte Röckchen, wenn sie über die sündige Korsage gezogen und fotografiert wurden, unausweichlich zum Sinnbild erzwungener Biederkeit degenerierten.

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Und bewahre mir deine frühere Meinung, ich bitte dich darum! Verabscheue mich einfach weiter für das, was ich getan habe, denn es war menschenverachtend und gemein, daran hat sich nichts geändert. Wie du weißt, sind sämtliche Besetzungen weiblicher Rollen über meine legendäre Couch gelaufen (und nebenbei gesagt, zusätzlich noch über das Himmelbett des Großen Regisseurs in der Posetano Road, Pacific Palisades, L.A. – eine Adresse, die dir wohlbekannt sein dürfte), ohne jeden Kunstsinn, nur mit dem Instinkt des Jägers, der sich sagt: Wenn es mir fette Beute bedeutet, dann wohl auch jedem anderen, der sein Geld an der Kinokasse lassen soll.

Nicht einmal die solcherart angedeuteten Eskapaden meines Großen Regisseurs – der sich doch, nachdem ich ihn ohnehin schon mit seiner Hauptfrau teilen musste, außerehelich auf mich konzentrieren sollte – versetzten mir den erwarteten Stich. Ich kannte mich selbst nicht mehr, so voll Verständnis war ich. Ist nicht das Leben zu kurz, antwortete ich, um es in kleine unbedeutende Portionen zu zerteilen, die man dann unnötigerweise problematisiert? Was hat denn eigentlich aus fröhlich-promiskuitiven Urmenschen uns Gemütskrüppel werden lassen?

PRODUZENT SID BOGDANYCH:
Die Religion, ja, zuvorderst die Religion, dann der Staat, die arbeitsteilige Wirtschaft, und natürlich, nicht zu vergessen, das künstliche Licht, das den produktiven Teil des Tages verlängert hat.

Du machst dich lustig, und doch hat das etwas für sich. Herr Diaxu! rief ich in den Raum, und schon stand dieser neben mir, während um uns alles staunte.

„Was steht zu Diensten, Madame?”

Sie haben in Ihrem Fundus doch sicher ein flottes Fähnchen für mich, dann können mein Vater und ich, wenn’s Recht ist, auf Ihrer kleinen Bühne hier ein Tänzchen hinlegen!

Das brauchte ich ihm nicht zweimal zu sagen, denn schon führte mich der quirlige Manager in die Garderobe, sah begierig und ungeniert zu (und ich tadelte ihn deshalb nicht), wie ich all meine einfachen Sachen ablegte und in das dargebotene silberglänzende Kleid schlüpfte, wobei sich für ihn die Gelegenheit für die eine oder andere zufällig scheinende Berührung ergab. Schon ertönte fremdartige, aber äußerst anregende Musik: in aller Eile waren die vier Virtuosen aus der „Baroque Lounge” herbeigeholt worden. Ich erkannte das Stück, das Gyk Fylx, Jilh Kiapooc, Ikxe Pyjjol und Moqo E’ylb spielten, als eine Art Tango aus der jenseitigen Realität, fasste Sid am Arm und zog ihn auf das Podium.

Komm, alter Mann, flüsterte ich mit meiner einschmeichelndsten Stimme, zeigen wir’s ihnen gemeinsam!

505

Brian interessierte sich nicht für Politik im engeren Sinn. In seinem Heimatstaat Minnesota war die öffentliche Willensbildung – jedenfalls vom europäischen Standpunkt – stets nur in rein ideologischen Bahnen verlaufen, genauso wie in den USA insgesamt und schließlich auch im gesamten Amerikanischen Imperium. Noch weiter abgehoben vom politischen Thema war mein Geliebter bei seiner Initiation im australischen Outback, wo es ihm bekanntlich gelungen war, einen so hohen Grad an Spiritualität zu erreichen, dass mein Geistwesen ihn als meinen Lebenspartner akzeptierte.

Man sollte sich da übrigens nicht von irgendwelchen Zynikern beeinflussen lassen, die Brian höhnisch als bloßes Anhängsel von mir, der Walemira Talmai, abtun wollten, ja ihm geradezu ein sinnloses Drohnendasein unterstellten. Nichts davon entsprach auch nur im Entferntesten den Tatsachen, denn unser echtes physisches und mentales Zusammensein verlief ganz anders.

BRIAN THOMSON:
Ich hatte die viele freie Zeit, die mir seit meinem Einzug in Lady Pru’s Anwesen zur Verfügung stand, weidlich genützt, um mich weiter zu entfalten. Von Idunis, Berenices Dienerin, hielt ich mich, wiewohl sie sehr gebildet war, fern, da ich rasch mitbekommen hatte, dass sie immer auch außerintellektuelle Ziele verfolgte. Danke Darling! beschied ich sie auf ihre eindeutigen Avancen hin, ich hab’ schon eine fürchterlich schwarze Naturschönheit, noch dazu die Beste von allen!

Schön und gut – obgleich: Idunis war schon was Besonderes, und natürlich hättest du dich, um sie zu besitzen, bei weitem nicht so sehr anstrengen müssen wie bei mir!

BRIAN THOMSON:
Nun ist aber alles anders gekommen, und immer wenn ich mir daher die anhängliche Kleine vom Hals schaffen konnte, meditierte ich ausgiebig, las da-neben aber auch die wichtigsten abendländischen Philosophen, dies unter Anleitung Chicagos, der sich viel an englischen Universitäten umgetan hatte. Natürlich empfahl er mir seinen Lieblingsautor William of Ockham, und ich lernte, dass dieser die Diskriminierung sensualistischer Denkansätze, wie sie durch die jahrhundertelange Dominanz metaphysisch geprägter Philosophie gegeben war, zu beenden suchte. Ich erfuhr durch Jean-Paul Sartre (Wäre Gott für mich allein Mensch geworden, würde ich ihn lieben!) die tiefere Bedeutung von Berenices Geistwesen, das unter allen seit Anbeginn existierenden Ahnen sich genau für sie herabgelassen hatte, um durch sie zu sein – und damit indirekt auch durch mich. Und Albert Camus belehrte mich, dass die Liebe Ungerechtigkeit ist, dass aber die Gerechtigkeit eben nicht genügt. Plato wiederum riet mir, als Liebender in einen Spiegel zu blicken, in dem ich mein Selbst entdecken würde.

Es fand sich Gelegenheit, diesen Rat in die Tat umzusetzen. Chicago lud Brian und mich eines Tages ein, auf zwei einander zugewandten Stühlen Platz zu nehmen und einander für eine lange Zeit regungslos in die Augen zu schauen – seine spezielle Übung, der er einst Sharon Sakamoto und Margharita Sanchez-Barzon unterzogen hatte, um sie bereit dafür zu machen, in einer gemeinsamen Sache völlig aufzugehen. Anders als bei diesen beiden gab es bei uns keine körperlichen Qualen wie tränende Augen oder Muskelzuckungen, denn dafür waren wir nach den strengen Riten der Koori zu abgehärtet und diszipliniert. Auch bestanden zwischen uns keine Vorbehalte, denn wir wollten ja wirklich geistig ineinander eindringen, wie wir es auf die andere Art schon oft getan hatten.

Chicago entfernte sich lautlos – wir merkten es kaum.

[Grafik 505]

BRIAN THOMSON:
Nach ungezählten, unendlich langsam verstrichenen Minuten schien jegliche Distanz zwischen uns verschwunden, und ich konnte geradewegs durch Berenices schwarz schimmernde Pupillen ihre Seelenlandschaft betreten. Mir schien, dass ich langsam über diese hin-wegflog, zunächst quer durch völlig unbekannte Regionen, die in mir zum Teil Glück, zum Teil Angst erzeugten, denn sie zeigten manchmal, welche Macht die Walemira Talmai mit Hilfe ihres Geistwesens hatte, manchmal allerdings waren auch endlos scheinende Räume zu sehen, angefüllt mit kaum einschätzbaren Fährnissen, die vielleicht sogar diese außergewöhnlichen Fähigkeiten auf eine ernste Probe stellen würden. Plötzlich jedoch stieß ich auf bekanntes Terrain – die Wüste, die ich gemeinsam mit Berenice unter Schmerzen durchquert hatte, die Hitze, die Kälte, die Halluzinationen, den Stein, der dem Dürstendem die vollständige Illusion des Trinkens bot. Und dann kam sie mir schon selbst entgegen – urweltlich entblößt mit Ausnahme des traditionellen Gurts ihrer Vorfahren und gezeichnet mit weißen Farbsymbolen auf ihrer Haut.

Ich war inzwischen meinerseits in Brians Innenleben angelangt, und bald schien uns, es wäre geglückt, zumindest für jetzt unsere Seelen zu vereinigen und uns darin gemeinsam zu bewegen. Wie damals in der Gibson Desert lagen wir in einer Bodenspalte, in die wir die Glut unseres Lagerfeuers gefüllt und mit Erde bedeckt hatten – aber statt uns nur aneinanderzudrücken, durften wir diesmal ungeniert miteinander schlafen, denn es brauchte nun keinerlei Abstand mehr gehalten werden. Unsere intime Begegnung an diesem Ort war daher besonders überwältigend, verband sie doch vergangene Sehnsüchte mit gegenwärtiger Erfüllung, und während unser Bewusstsein die Realität um uns verdrängte, nahmen unsere geschärften Sinne dennoch die Rufe der allumfassend belebten Natur war. Die Felsen freuten sich, die Pflanzen wiegten sich im Takt unserer Berührungen, die Tiere paarten sich gemeinsam mit uns, die Luft vibrierte schließlich heftig in einem kolossalen Orgasmus, und der Himmel schmückte sich mit tausenden Sternen, als wollte er diese demnächst auf uns herabregnen lassen.

O Brian –

Erstmals in unserer Beziehung missachtete ich das Tabu, mit dem seine amerikanische Prüderie die archaisch-ekstati¬schen Ausbrüche belegte, wie sie bei meinem Volk in dieser Situation gebräuchlich waren. Der Abscheu, den Brian hegte, rührte von der richtigen Annahme her, dass bei uns derlei Aufforderungen durchaus nicht symbolisch gemeint waren und es schon sein konnte, dass man im Augenblick größter Lust schwer verletzt oder getötet werden konnte.

O Brian, verschling mich, ich bitte dich! Ich möchte nicht mehr weiterleben, es sei denn in dir als deine Beute und dein Opfer, will meine Kraft und meine Magie dir überantworten –

BRIAN THOMSON:
Berenice –

Es fehlten ihm die Worte, und ich konnte ihm das nachfühlen, und wenn wir uns nicht gerade in dieser totalen Verbindung befunden hätten, wäre er mir vielleicht in Panik davongelaufen. So aber verstand er viel, was er früher nicht verstanden hatte, und versuchte sogar, mich in die Halsschlagader zu beißen, aber mit rührender westlicher Zurückhaltung, und es wurde daraus nicht einmal eine Schramme, wohl aber ein sehr leidenschaftlicher Kuss.

All das war natürlich von außen nicht zu sehen – das eben war die Erfahrung, die Chicago uns hatte bereiten wollen. Seltsam musste es für einen Außenstehenden anzusehen sein, wie wir uns da, ohne einander auch nur im Geringsten zu berühren, vereinigten!

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Sich mental voneinander zu lösen, bedeutete für Brian: mein Inneres wieder zu verlassen, bedeutete für mich: aus seiner Seele wieder herauszutreten, bedeutete vor allem für uns beide zu dieser Zeit: kein Leid mehr, denn wir konnten ja umgehend handfeste Realität werden lassen, was eben zuvor nur virtuell (oder besser in einer anderen Art Wirklichkeit) geschehen war.

Wenn nun Chicago, Idunis oder jemand von den anderen beobachtete, wie wir tatsächlich Sex miteinander hatten (denn ihre Schamanin und deren Liebhaber hätten sie zu Hause in Australien in dieser Form ganz sicher nie zu Gesicht bekommen), fragten sie sich wohl, ob denn diese Erscheinungen richtig zu deuten waren – in einem im Halbdunkel liegenden Raum, wie Schemen abgehoben vom hellem Hintergrund: Das verzückte Toben von Faun und Flora, der delikate Liebesreigen von Amor und Psyche, deren wechselnde Stellungen gleich Schattenspielen die Szenerie beherrschten, dann als Meisterwerk aus unser beider Körper gemeißelt, monumental aufragend die Skulptur eines Zentauren (oder war es die eines Reiterstandbildes?), die sich nur ganz minimal bewegte, aber in ihrem Inneren unzählige winzige Annäherungen an das Ziel einer gewaltigen Eruption erahnen ließ. Und als diese stattgefunden hatte, die steinern anmutende Metapher eines etruskischen Paares, das oben auf der Platte seines Sarkophages in ewiger Umarmung erstarrt war…

BRIAN THOMSON:
So weit weg von White Rock, Minnesota, wie in diesem Moment könnte ich mich auch dann nicht fühlen, wenn ich das ganze mir bekannte Weltall oder gar die anderen Universen, von denen mir Berenice manchmal erzählte, durchmessen wollte. Als sich der Bann in und um uns gelegt hatte, sah ich, wie Idunis und Chicago und all die anderen unserem Beispiel folgten – wilder nur, in ihrer für mich noch immer etwas rätselhaften Raubtierart, die den finalen Untergang in einer körperlichen Vereinigung nicht scheuten, nicht einmal auf die Gefahr hin, dass ihre sämtlichen höheren Bedürfnisse damit ein jähes Ende finden müssten. „Wer nach einem solchen Erleben von Fülle sich verzweifelt an seine armselige Weiterexistenz klammert, wird nie zum wahren Dasein vorstoßen!” hatten mich die Koori, allen voran meine schwarze Magierin, belehrt.

Brian meisterte das offenbar im Lauf der Zeit auch immer mehr, aber es blieb ein Rest von jener fast unsinnigen abendländischen Wichtigkeit, von dem Gefühl, etwas noch vor ihm Liegendes zu versäumen oder etwas vom gegenwärtigen Standpunkt aus bestenfalls theoretisch noch Abzuschließendes ganz konkret zuwege bringen zu müssen. Trotz seiner spirituellen Fortschritte fiel es ihm schwer zu begreifen, dass alles Vergangene, Gegenwärtige und Zukünftige eigentlich eins ist, wie auch in unserem Kopf nur Gegenwart existiert, die das noch Erinnerte und das schon Vorhergesehene integriert.

BRIAN THOMSON:
Aber dann obliegt es bloß meiner Beliebigkeit, was ich vom früher Erlebten oder bereits Erahnten in meiner Gegenwart wirksam werden lasse!

Nicht deiner Beliebigkeit, sondern deiner Klugheit, mein Großer Traumfänger –denn das Stadium des Kleinen Steinjägers hast du längst hinter dir gelassen und bist ein Weiser meines Volkes geworden, auch wenn es manchmal nicht so aussieht…

BRIAN THOMSON:
… und ich auch nicht so aussehe, und zwar nicht nur manchmal, sondern grundsätzlich, denn ich bin ein ziemlich braungebrannter Weißer, der deine Schwärze nie erreichen kann!

Ob du mir gefällst, lass nur meine Sorge sein, und sei bloß froh, dass du mir zusagst, wie du bist, denn für Idunis beispielsweise bist du (wiewohl sie natürlich selbst an dir nicht vorübergehen wollte) fast schon zu dunkelhäutig, da sie doch ihre fürchterlich schwarze Naturschönheit am liebsten an die hellen Burschen verschenkt.

BRIAN THOMSON:
Wie etwa an diesen unmöglichen Romuald!

Das war Idunis’ unterstes Niveau, denn mit ihm hat sie sich beileibe nicht über Literatur oder Philosophie unterhalten, obwohl er, um fair zu sein, nicht ganz so linear ist, wie er auf den ersten Blick scheint, jedenfalls gemäß dem Urteil Sir Basils, der sich des Öfteren mit ihm auseinandergesetzt hat und – anders als wir Frauen – nicht im Verdacht steht, von Romualds besonderem Instrument korrumpiert worden zu sein.

BRIAN THOMSON:
Aber warum unterhalten wir uns plötzlich so ausführlich über diesen Kerl – hast du womöglich auch ein mehr als bloß wissenschaftliches Interesse an ihm?

Keine Angst, mein Juwel, du weißt doch, dass mein Geistwesen mich vernichten würde, wenn ich mich mit einem wie ihm einließe – du hast schließlich jene Entbehrungen nicht vergeblich auf dich genommen!

BRIAN THOMSON:
Aber es muss etwas an ihm dran sein außer seinem Schwanz – wäre es denn denkbar, dass diese Gräfin Geneviève sich nur deshalb vergessen hat und sogar die Möglichkeit bestand, er könne auch bei ihrer Tochter Clio landen?

Es ist die Natur, mein Freund, die bisweilen (und dagegen solltest du dich nicht wehren) primitive Wege zu gehen pflegt, denn sie wertet diesbezüglich nicht, für sie ist alles unverändert gleich seit tausenden von Jahren: Wenn einer breitbeinig und mit wuchtigen Schultern und markantem Kinn daherkommt, signalisiert uns das, er sei ein herausragender Samenspender, dessen Gen-Qualität es lohnt, einmal das intellektuelle Auge zuzudrücken.

BRIAN THOMSON:
(Belesenheit demonstrierend)
Das ist die Hegelsche Philosophie,
Das ist der Bücher tiefster Sinn!

Ja, das ist die ganze Weisheit, dass nur durch die Mischung von exzellenten Erbanlagen wieder einmal ein geniales Gehirn entstehen kann, das zwar nichts taugt im Sinne des blanken Überlebens in freier Wildbahn, wohl aber Höchstleistungen in der Wissenschaft, in der Kunst oder in der Mystik hervorbringt – welcher Plan der Schöpfung auch immer hier am Werk sein sollte.

506

Für Sir Percy Blakeney war auch sein Pandora’s Box-Projekt nur ein Spiel, das teils aus Langeweile, teils aus dem Bestreben, auf keinen Fall je etwas Nützliches oder Konstruktives zu tun, erwuchs. Als Produzent kann ich so etwas ja durchaus nachvollziehen, denn keinen anderen Stellenwert haben schließlich unsere Filme vor dem Hintergrund von Jahrtausenden, in denen es kein Kino gab – und zweifellos ging’s damals auch ohne. Allerdings, dass ich mich mit meinen Aktivitäten zum perfekten Werkzeug obskurer Interessen instrumentalisieren ließe, das würde mir – anders als diesem Nachfahren Scarlet Pimpernels – nie passieren

Volokuzo Nunguas Gruppe – dieselbe, die eine Wiederaufrichtung der Diktatur in der Spiegelwelt betrieb, wofür die Proponentin sich selbst aufgemacht hatte, um den Androiden AMG alias Vangelis Panagou zu rekrutieren – fand Mittel und Wege, Cheltenhams altem Freund Blakeney die Idee einer Öffnung versiegelter Übergänge zwischen den beiden Universen einzuimpfen. Man infiltrierte seine Träume, regte seine Phantasie an, tat alles, um seinen Geist ständig um dieses Thema kreisen zu lassen, ohne dass er jemals in die Nähe einer Methode kam, mit der dieses Vorhaben praktisch zu verwirklichen war. So sprach er bloß (und schrieb auch insgeheim) darüber.

VOLOKUZO NUNGUA:
Uns reichte auch das! Es ging uns beileibe nicht darum, ihm die echten Instrumente dafür in die Hand zu geben (zumal wir weit draußen im All ohnehin einen Transitpunkt kannten, den die NOSTRANIMA offenbar übersehen hatte), sondern wir begnügten uns mit der Unsicherheit, die seine bedrohlich scheinenden Äußerungen in gewissen Kreisen verbreiteten. Diejenigen, die wussten, das es die andere Realität gab, und ein Teil jener, die eine solche zumindest für möglich hielten, waren aufgrund tatsächlicher Erfahrungen oder ihnen vom Hörensagen bekannter Ereignisse die perfekten Katalysatoren für die Unruhe, die sich von Percy aus weithin konzentrisch verbreitete.

Laura war noch immer bei ihm und seiner Jakuten-Horde. Man mochte das für eine ungeheure Ressourcenverschwendung halten, gemessen an den spärlichen Informationen, die sie in dieser Phase noch bekommen konnte. Man bedenke nur, wie viele Geschlechtsakte die Agentin abarbeiten musste, ohne dabei mehr zu erfahren, als dass Percys Pläne A und B unspektakulär weiterliefen und dabei keinen substanziellen Schaden anrichteten: Die Mechanismen der Welt- und der Regionalwirtschaft waren stabil genug, um derlei im Prinzip dilettantische Störversuche abzuwehren, die im Prinzip nicht mehr waren als Facetten des globalen Computervirenbefalls.

Jedenfalls bekundete Sir Basil, indem er Laura trotz der mageren Ausbeute dort beließ, dass er seine vorübergehenden Skrupel in Bezug auf die Knochenarbeit seiner Spionin wieder verdrängt hatte, und sicher geht man nicht fehl in der Annahme, dass er es sogar ein wenig genoss, wenn jemand auf seinen Befehl hin die äußersten Grenzen der persönlichen Integrität überschritt. Schließlich bedeutete Macht für ihn etwas zutiefst Erotisches und war ohne Frage ein wesentlicher Bestandteil seiner spezifischen Sexualität. Selten fühlte er wie in dieser Situation die Ambiguität, die ihn zwar nicht synonym zum Tyrannen der jenseitigen Völker, aber mit diesem synonym zu etwas machte: zu einer außerordentlich seltsamen, abgrundtiefen Persönlichkeit. Wie seinem Doppelgänger, den er in mörderischem Zweikampf besiegt hatte, war es ihm – aus der Distanz betrachtet, wenn er sich ehrlich analysierte – nicht um ein Duell Gut gegen Böse gegangen, sondern ein testosterongesteuertes Gefecht um die Frage, wer denn nun der Bessere sei.

Da war Laura, mit der Cheltenham nie geschlafen hatte (und dies aller Voraussicht auch niemals tun würde), die aber dennoch mehr in seinem Besitz war, als wenn sie ihm physisch beigelegen wäre, denn auf geheimnisvolle Weise meinte er sich in die Gorillas versetzt, die auf dem Anwesen in Northumberland mit rauen Attacken über ihr Sexobjekt herfielen, und ein wenig auch in den Hausherrn, der ihr das Gleiche, wenn auch mit ein wenig mehr Courtoisie besorgte. Und er signalisierte der Agentin – mit Hilfe von Codes, die er in regelmäßigen Abständen in die BBC Late Night News einschmuggelte –, wie wichtig ihr Einsatz hart am Mann nach wie vor sei. Für Laura war es nahezu eine Selbstverständlichkeit, dass es nur noch um Percys PLAN C ging.

VOLOKUZO NUNGUA:
Was freilich dieses Projekt betraf, konnte diese Laura gar nichts berichten – zumindest sah es aus meinem Blickwinkel so aus. Meiner festen Überzeugung nach war aus Sir Percys Gehaben nicht mehr herauslesen als Großmäuligkeit!

Hier irrte allerdings die Nungua. Denn obwohl Cheltenham nicht genau wusste, welcher Vorschlag an Vangelis Panagou herangetragen wurde und auch keinerlei Kenntnis über die Doppelgängerin Berenices hatte, geschweige denn über deren Aufenthaltsort oder Aktionsradius, alarmierte ihn das seltsame Thema Blakeneys doch, und sein geschultes Geheimdienstgehirn begann, dahinter mehr zu vermuten als er sollte. So ergab sich der paradoxe Zustand, dass gerade das, was als Vernebelung von Sir Basils Aufmerksamkeit gedacht war, ihn besonders hellhörig werden ließ.

Ich wartete deshalb geradezu auf seine Reaktion: denn dass diese stattfinden musste, daran bestand für mich kein Zweifel – ich war nur gespannt, wie sie ausfallen würde. Nicht sehr subtil, zugegebenermaßen, denn eines Tages beschloss er (keineswegs aus Rücksicht auf Laura, wie wir gelernt haben), die Geschichte kurzerhand mit einem Knalleffekt zu beenden, um ein denkbares Wiedererstarken der Spiegelwelt abzublocken, sicherheitshalber, wie er sich selbst sagte, denn das echte Ausmaß dieser Umtriebe konnte er natürlich in keiner Weise abschätzen. Dass er damit auch Ray Kravcuk in dessen Plänkeleien mit Dan Mai Zheng nolens-volens einen Gefallen tat, nahm er gelassen hin: Somit war Percys Leben plötzlich keinen Penny mehr wert.

Sir Basil empfahl allerdings Laura, Blakeney nicht selbst zu töten (was ihr sehr entgegenkam, denn es kostete sie nach all den Jahren noch immer viel Überwindung, jemanden, mit dem sie es zuvor getrieben hatte, ins Jenseits zu befördern). Es genügte ja, den wackeren Franz-Josef Kloyber zu Hilfe zu rufen: Dieser würde im Rahmen seiner Fähigkeiten und Neigungen effizient vorgehen, und man konnte ihn vermutlich, wenn erforderlich, mit einem befristeten Aufflackern der erloschenen Beziehung zu Sissy Dobrowolny belohnen.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Franz-Josef Kloyber hatte diesen Tag, an dem er seine frühere Assistentin herauspauken durfte, insgeheim erwartet, wahrscheinlich sogar herbeigesehnt, aber angesichts seiner neuen Dominatorenrolle gegenüber DDD nicht mehr, um Laura wieder zu erobern, sondern um in einem symbolischen Akt ganz allgemein der Rache eines kleinen, dicklichen Mannes an der Schöpfung zu frönen.

Dessenungeachtet ging er mit aller Umsicht vor, einerseits um das Gefahrenmoment zu minimieren, andererseits ließ er sich bewusst Zeit, um nicht den Eindruck allzu großer Willfährigkeit zu erwecken. Vor allem die Anreise plante er genau, um seine Spur möglichst zu verwischen – schließlich musste er an seine Vorgesetzten denken, bei denen er seit der Geschichte mit der „Freisinnige Sportvereinigung” nicht gerade einen dicken Stein im Brett hatte.

Als Erstes nahm er sich drei Wochen frei, und da es bei seiner Behörde Vorschrift war, die Urlaubspläne offenzulegen, gab er vor, einige Touren in den österreichischen Zentralalpen machen zu wollen, in der Hoffnung, er sei nicht derart verdächtig, dass man ihm nachspionierte. „Mit meiner neuen Freundin!” krähte er stolz, als man ihn fragte, ob allein oder in Begleitung, und siehe da, der alte Mechanismus, dass ein beweibter Mann gleich viel harmloser beurteilt wird als ein einsamer oder sogar schwuler Kerl, wirkte auch hier sofort.

Franz-Josef und DDD reisten unauffällig gekleidet (sie mit dem uns schon bekannten Hütchen, das man sowohl in den Alpen als auch weiter nördlich oder westlich in Europa als angemessen durchgehen lassen konnte) im eigenen Auto des Oberleutnants aus Wien ab. Im Kofferraum führten sie allerdings Gegenstände mit sich, die niemand sehen durfte. Sollte sich jemand an ihre Fersen geheftet haben, würde er (damit rechnete Kloyber aus eigener Erfahrung fest) nach rund 200 Kilometern umkehren, denn das Budget des Heeresnachrichtenamts war begrenzt. Schließlich fuhren die beiden ja zunächst wirklich ins Gebirge – erst alles weitere lief militärisch-präzise nach einem Entwurf ab, den der Oberleutnant höchstpersönlich ausgearbeitet und unauslöschlich in seinem Gedächtnis gespeichert hatte:

[Grafik 506]

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Das Auto war versteckt. Aus dem mitgebrachten Seesack holte Kloyber seinen leichten Kampfanzug, in dem er aufgrund seiner Korpulenz immer ein wenig lächerlich wirkte, sowie seine Pistole Typ P 80 und einige Handgranaten. Aus einem zweiten Behältnis kam ein teilweise zerlegtes Maschinengewehr MG 74 zum Vorschein – dieses baute der Oberleutnant umgehend zusammen und hievte es auf die Mauer, die rund um Sir Percys Grundstück führte. Danach kletterte er selbst hinauf und legte sich auf die Lauer, nicht ohne zuvor seine schärfste Waffe – DDD – in Marsch gesetzt zu haben.

Das Hütchen blieb jetzt im Auto. Alles Übrige, was sie anhatte, detto. DDD zog den legendären Chinchilla an, dazu die obligaten schwarzen Strümpfe sowie hochhackige Schuhe. Sie machte schnell, denn sie hatte Übung darin. Bei sich dachte sie: Besser ein Abenteuer mit Kloyber, als gar keine Abwechslung. Ihren Text kannte sie…

BRIGITTE:
… und wir nicht minder, denn wir wissen genau, was jetzt folgt!

Das schon, aber eine kleine Überraschung gibt es doch, denn Franz-Josef (auf der Spionage-Drehscheibe Wien mit leidlichen Sprachkenntnissen ausgestattet) hatte ihr bewusstes Sätzchen in ein etwas ungelenkes Russisch transferiert – in der Hoffnung, dass die Jakuten jedenfalls eine so eindeutige Botschaft verstehen würden, noch dazu bekräftigt durch eine reale Demonstration.

Kurze Zeit später schon bestaunte einer von Blakeneys Gorillas am Gittertor mit offenem Mund dieses blonde Naturschauspiel und vernahm atemlos die Feststellung: „????? ??? ???? ??????!”

Gleich darauf war ihm, als stünde sein Herz still, als die Unbekannte tatsächlich ihren Mantel öffnete und ihm zeigte, dass sie darunter nackt war. DDD genoss ihren Auftritt, daran gab es keinen Zweifel, und lächelte selig, als sie den Burschen davongaloppieren sah, offenbar auf der Suche nach seinen Kumpanen, um diese seines Erlebnisses ebenfalls teilhaftig werden zu lassen.

Er schickte sich und die anderen in einen jähen Tod, denn der Oberleutnant streckte sie mit einer Salve aus seinem MG 74 nieder, wobei er auch den vier Neuankömmlingen fairerweise einen ausgiebigen Blick auf seinen Lockvogel gestattete: Somit starben die Fünf mit einem wonnigen Lächeln auf ihren Zügen. Für den Fall, dass Blakeney die Schießerei nicht gehört haben sollte, warf Kloyber noch zwei Handgranaten in Richtung Hauptgebäude.

Deren Detonationen ließen Sir Percy umgehend heraneilen. Nachdem er sich kurz umgesehen und DDD entdeckt hatte, stieß er das Tor auf, die Augen festgesaugt an ihrer imposanten Vorderfront. Mit einer Behändigkeit, die man dem pummeligen Offizier nicht zugetraut hätte, war der Oberleutnant hinter seiner Assistentin, und, während er mit der Linken DDDs Chinchilla schloss, richtete er seine Pistole auf den Hausherrn: „Seen enough! Hands up!” bellte er.

Inzwischen war Laura ebenfalls herangetreten und begrüßte DDD herzlich: „Hallo, Schwesterchen, siehst gut aus! Tolle Masche übrigens, das mit dem Mantel, hab’ schon von verschiedenen Seiten darüber gehört! Wart’, Franzl!” sagte sie danach übergangslos zu Kloyber (zeigte dabei ihr Original-Sissy-Dobrowolny-Lärvchen, verfiel überdies leichthin in das dazugehörige schlampige Wienerisch): „Wir brauchen den Hansl noch ein bissl, bevor du ihn abmaxlst!”

BRIGITTE:
Verzeihen Sie, wenn ich mich einmische, aber ich möchte die Sache etwas beschleunigen: Es stellte sich nämlich heraus, dass Cheltenham seiner Agentin Orders in Bezug auf Sir Percys Besitztümer gegeben hatte. Laura selbst sollte das Anwesen erhalten, auf dem sie die letzten Monate in harter Fron verbracht hatte. Sir Basil selbst (aus welchen Gründen und mit welchen Motiven auch immer) erhob Anspruch auf die zypriotischen Latifundien der Blakeneys. Schon war ein Notar zur Stelle, mit wasserdichten diesbezüglichen Dokumenten, die Percy nur noch zu unterfertigen brauchte, was dieser wie in Trance tat (man redete schließlich über ihn hinweg, als ob er gar nicht mehr da wäre). Dann durfte Kloyber endlich abdrücken – zu einem Zeitpunkt, da er sich längst nicht mehr sicher war, das Richtige zu tun. Fast hätten diejenigen, die sich seiner als Werkzeug bedienten, den Bogen überspannt, aber DDD rettete die Situation, indem sie dem Oberleutnant zurief: „Bringen wir’s hinter uns und dann schnellstens weg hier!” Selbst mit ihrer Schwester wollte sie nichts mehr zu tun haben, so eilig hatte sie es plötzlich. Den peitschenden Schuss hörte sie schon aus einiger Entfernung, fast schon beim Auto, und wenig später saß Kloyber neben ihr und fuhr los. Auf Laura-Sissys Bezahlung in Naturalien („Willst nicht noch dableiben, Franzl, und mich ein bissel pudern?”) verzichtete er dankend: Seine Wut war verraucht, und er hatte seinen Stolz. Vor allem aber hatte er jetzt DDD, und ihm erschien sie gegenüber seiner einstigen Mitarbeiterin als sozialerotischer Aufstieg, denn in seinen Augen besaß sie mehr Klasse – auch konnte er sich ihrer (im Gegensatz zu jener Handvoll Frauen, mit denen er bisher zusammen gewesen war) ziemlich sicher sein.

Er hatte sich und DDD umsichtig mit erstklassig gefälschten Papieren versorgt, mit denen sie sich nicht verbergen mussten, sondern als ehrenwerte Mr. und Mrs. Joshua Colver auftreten konnten. Als solche stiegen sie im Chatsworth Hotel in Scarborough ab, einem komfortablen Haus nahe der Stadt, aber auch nicht weit vom Strand. Hierher konnte man laut Prospekt sogar Haustiere mitbringen – der Oberleutnant ging, als er dies hörte, sofort mit der Idee einer noch verbesserten Tarnung durch einen mitgeführten Hund schwanger…

BRIGITTE:
… aber das sind Nebensächlichkeiten, die vom eigentlichen Geschehen ablenken: Nach einem gepflegten Dinner und einem kleinen Spaziergang drängte nämlich DDD vehement ins Bett (was Kloyber in einer Gemütsverfassung, in der er das Geschehene möglichst rasch zu verdrängen suchte, sehr entgegenkam). Sie aber, und das band sie ihm natürlich nicht auf die Nase, wollte endlich mit dem schlafen, der an diesem Nachmittag kaltblütig sechs Männer abgeknallt hatte: Allein die Berührung durch diese Hände machte sie in Vorfreude erschauern.

DDDs Mann, der uns nicht namentlich bekannte Wiener Sozialversicherungsbeamte, war zu diesem Zeitpunkt längst zu Hause (seinen Dienst hatte er präzise um 15:30 Uhr beendet). Seit längerem gewöhnt, die Eskapaden seiner Frau – soferne sie ihm überhaupt zu Ohren kamen – konsequent zu ignorieren, und sich im Übrigen während immer ausgedehnterer Phasen des Alleinseins selbst zu versorgen, hatte sich den Inhalt einer Konservendose als Abendessen bereitet und sich dann vor den Fernseher gesetzt. Im Gegensatz zu den Anfangsjahren seiner Ehe spürte er keinerlei innere Unruhe mehr: Selbst wenn sie DDD in den Nachrichten gezeigt hätten, tot oder lebendig, wäre es ihm nicht mehr nahegegangen.

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Laura nahm umgehend von dem Anwesen Besitz, das ihr so unversehens in den Schoß gefallen war. Die mittlerweile intime Kenntnis jeglichen Winkels innerhalb wie außerhalb des Hauses erleichterte es ihr ungemein, sich praktisch sofort wie daheim zu fühlen. Da sie Geborgenheit einer langjährig vertrauten Umgebung niemals hatte erfahren dürfen, verwirklichte sie diese nunmehr konsequent: Blakeney Hall wurde nach ihren Vorstellungen verändert, wobei Laura äußerst behutsam vorging – völlig deinstalliert wurden die allgegenwärtigen Überwachungsanlagen (allerdings mit Ausnahme jener des Außenschutzes), und was verschwand, war die Jurte der Jakuten zusammen mit allen – zum Teil sehr unerquicklichen – Rückständen dieser Truppe.

VOLOKUZO NUNGUA:
Der Verlust Percy Blakeneys war für uns, wenn man es recht überlegte, zu verschmerzen. Das relativ Wenige an Desinformation, das er zuwege gebracht hatte, wurde bei weitem aufgewogen durch seinen Tod an sich, denn von nun an würden unsere Gegner sich in der Sicherheit wiegen, dass eine Schlüsselfigur der neuerlichen Aggressionstendenzen der Alpha-*-Welt beseitigt wurde.

Hier irrte jedoch Volokuzo Nungua ein weiteres Mal. Cheltenham hatte nämlich den Liquidierten ganz richtig als undeutendes Rädchen in einem viel größeren Mechanismus eingeschätzt und er versuchte nun seinerseits, die vermuteten Hintermänner mit einem ins Ungewisse geführten Gegenangriff zu beunruhigen. Allein die Tatsache, dass Laura offenbar für irgendwelche Dienste, die ihnen rätselhaft blieben, belohnt wurde, ließ die Kreise um die Nungua nervös werden: Sie fürchteten, äußeren Druck zu bekommen, bevor sie sich nach innen richtig konsolidieren konnten.

VOLOKUZO NUNGUA:
Auch das traf’s nicht ganz. Wohl gab es unter uns einige, die so dachten, da sie in absehbarer Zeit die Übergänge zwischen den beiden Universen tatsächlich wieder öffnen wollten, aber die Mehrheit (zu der auch ich mich zählte) vermochte den Sinn einer solchen Maßnahme unter den gegebenen Umständen nicht zu erkennen, dies vor allem unter dem Gesichtspunkt, dass wir auch später noch jede Zeit der Welt dafür haben würden. Unser Primärziel, so argumentierten wir und behielten damit auch die Oberhand, konnte es vorerst nicht sein, in der Alpha-Realität entscheidend mitzumischen, sondern erst im eigenen Revier Ordnung zu schaffen. Ein gutes konkretes Beispiel für meine und meiner Mitstreiter Überlegungen war wiederum genau jene Laura: Sie würde es nämlich früher oder später nicht aushalten vor Langeweile, und dann konnte man ihr immer noch versuchsweise einen Agenten der Spiegelwelt schicken, um zu testen, wie eng die Beziehung war, die sie mit Sir Basil verband.

507

Während ich auf unserem Stammsitz zu B. so dahinlebte, missgestimmt und verdrießlich, mit einer (da mir niemand etwas recht machen konnte) ebenfalls übellaunigen Dienerschaft, rief mich gelegentlich Dirk von E. an, der nach meinem Dafürhalten aufgehört hatte, bei uns Frauen nach Individualitäten zu suchen, und jeder von uns nachstellte, so sie nur Geschlechtsmerkmale in der für ihn entscheidenden Ausprägung aufwies. Ich pflegte ihn jeweils so rasch wie möglich abzuwimmeln, denn nach ihm stand mir keinesfalls der Sinn. Vielmehr dachte ich intensiv an meine geliebte Brigitte, nicht zuletzt an ihren – wie sie ihn selbst immer nannte – bürgerlichen Körper, dessen kleinste Einzelheiten ich mir eingeprägt hatte, ebenso wie sie, so hoffte ich, les détails intimes de mon. An dieser Stelle musste ich, ganz allein in meinem Boudoir, laut lachen, im Einverständnis mit der possierlichen Scharfzüngigkeit Brigittes: Wir beide erfüllten weidlich das Klischee, das da lautet, niemals könnten zwei Frauen so viel Zärtlichkeit erleben wie im trauten Miteinander.

Plötzlich erhielt ich einen mentalen Hilferuf von Mango Berenga, den ich zwar nicht in seiner Tragweite oder nach seinem konkreten Inhalt deuten konnte, wohl aber in seiner Eindringlichkeit erkannte. In meiner Ratlosigkeit hatte ich nichts Eiligeres zu tun, als mich an Sir Basil zu wenden. Bei aller früheren Skepsis gegen ihn war ich bei mehreren Gelegenheiten Zeugin seiner Tatkraft und seiner kompromisslosen Haltung geworden, vor allem in jener Phase, in der ich mich mit diesem Individuum Romuald vergessen hatte.

Auf dem Anwesen traf ich allerdings nur Lady Charlene (über die ich insgeheim ein wenig die Nase rümpfte wie über alle Emporkömmlinge), sah ihre Schwangerschaft, wagte aber nicht, darauf Bezug zu nehmen. Umso unbefangener tat es die Hausherrin. „Er war da”, erzählte sie mir, „hinterließ mir dieses Andenken” (sie fasste sich dabei an den Bauch) „und ist bereits wieder dahin. Möglicherweise kehrte er zu den Koori zurück oder er hält sich irgendwo anders in diesem Universum auf, gottverdammt!”

White Rock, Minnesota, lässt grüßen, dachte ich.

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Ich reiste also von Cheltenham House zum Besitz der verewigten Lady Pru, um Berenice aufzusuchen, die mir als vertrauenswürdige Instanz galt, seit sie den ersten Kontakt mit meiner totgeglaubten Tochter ermöglicht hatte. Was immer seither geschehen war – und darunter gab es die zweifellos skurrilsten Dinge, die mir je direkt oder durch Erzählungen begegnet waren –, ich war davon überzeugt, dass man sich als einigermaßen rechtschaffener Mensch vor der Walemira Talmai nicht ängstigen musste. Mochte gut sein, dass diesseits oder jenseits der Demarkationslinie zwischen den beiden Universen sinistre Gestalten existierten, denen Berenice gefährlich war, aber dann konnte ich darauf vertrauen, dass diese es nicht besser verdienten.

Die Koori-Schamanin sicherte mir zu, sich um mein Anliegen, so vage es auch sei, zu kümmern. Wenn ich allerdings gedacht hatte, bei dieser Gelegenheit Sir Basil persönlich sprechen zu können, wurde ich belehrt, dass es im Moment nicht opportun sei, in die Beziehung des Baronets mit meiner Tochter hineinzuplatzen, da sich durch meine besondere Stellung außerordentliche Turbulenzen ergeben würden. Ich fügte mich für meine Begriffe ziemlich rasch, wobei ich nicht zuletzt auch ganz kurz an Lady Charlenes Zustand dachte.

BERENICE:
(erklärend) Irgendwann wurde es sinnlos, Basil und Clio voneinander fernzuhalten, zumal die beiden mehr verbindet als die banale Attraktion zwischen einem reifen Mann und einer jungen Frau…

… und selbst das würde schon als Begründung ausreichen! versetzte ich, denn welche adelige Dame von den Gaben meiner Clio Alexandrine Andromède Annette Aphrodite wäre nicht enthusiasmiert, von einem Herrn dieses Formats umworben zu werden?

BERENICE:
Und über die Motive eines alten Löwen, der diese knusprige Beute in seine Fänge bekam, bedarf es ebenfalls keiner Diskussion. Allerdings, meine Liebe (nimmt Geneviève in die Arme und umgibt sie mit jener schwindelerregenden, jedenfalls zutiefst erotischen Nähe, die sie wie keine andere verströmen kann), sollte unser Urteil gerade in diesem Fall nicht zu kurz greifen. Schließlich ist Basil für die Komtesse die vollkommenere Ausführung des Tyrannen der Spiegelwelt, den sie auf ihre sehr persönliche und auch etwas geheimnisvolle Weise geliebt hat, zumal er zu Zeiten ihre einzige Perspektive war. Für Cheltenham hingegen (wir alle kennen die Männer, aber ich kenne ihn im Speziellen) bedeutet Clio die Erfüllung eines Traumes jenseits jeglicher vorstellbarer Wirklichkeit – und nicht zu vergessen eines: Sie hat ihm mit ihrer drüben erlernten Magie jenes Quäntchen an Kraft gespendet, das ihm nach seiner zeitweiligen Insuffizienz vollends seine frühere Kapazität zurückbrachte. Insofern kann auch ich nicht anders, als der Komtesse meinen Respekt zu zollen, da sie quasi mit mir an einem Strang gezogen hat.

Ich fühlte mich wie erschlagen von diesen Argumenten (und doch irgendwie geschmeichelt, denn das Positive an meiner Tochter, allem voran ihre himmlische Schönheit, die eine nicht unwesentliche Rolle in diesem Spiel einnahm, stammte doch offenbar von mir, denn vom richtigen jenseitigen Erzeuger und eo ipso falschen Großvater hatte sie es nicht) – und ich beeilte mich daher, das Thema zu wechseln. Man könnte, schlug ich vor, Anastacia Panagou um Unterstützung für Mango, meine Seelenschwester, bitten. Allerdings hatte ich die „Konstrukteurin wundersamer Androiden” (der barocke Stil derer von B. ging mit mir durch) auf Cheltenham House ebenfalls nicht angetroffen. Berenice, von der man immer annehmen konnte, dass sie mehr wusste als es schien, gab sich jedoch bedeckt.

BERENICE:
Ich höre, dass sie auf der Suche nach ihrem Lieblingssohn Vangelis Panagou ist, den sie als Androiden AMG erschaffen hat und der nach ihrem Geschmack schon allzu lange unterwegs ist. Und ich hoffe insgeheim, dass sie dort zu suchen beginnt, woher Sie den Hilferuf erhalten haben: aus dem banalen Grund, dass sie schließlich irgendwo einen Anfang machen muss. Kann leicht sein, dass sich daraus wieder einmal eine Bündelung verschiedener Vorhaben ergibt.

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In ihrem Bemühen, ein ganz normales menschliches Verhalten an den Tag zu leben, um ihre Umgebung nicht allzu sehr zu verschrecken, hatte die Walemira Talmai sich auch diesmal konditional ausgedrückt. In Wahrheit dürfen wir davon ausgehen, dass sie alles gerade so eingefädelt hatte, wie es dann geschah. Tatsächlich befand sich Anastacia Panagou, begleitet von ihrer Androiden-Truppe, mit der NOSTRANIMA auf dem Weg zur Station, in der Hoffnung, dort eine Spur von Vangelis zu entdecken. Ich meinerseits konnte mir gut vorstellen, was auf dieser Reise geschah.

Von irgendwelchen Vorgängen auf VIÈVE, die den mentalen Alarm der Berenga bei mir ausgelöst haben mochten, ahnte Anastacia zu diesem Zeitpunkt noch nichts. Sie stand Hand in Hand mit Anpan (sie sahen bekanntlich wie Zwillingsschwestern aus) auf der Brücke, beobachteten auf dem Hauptbildschirm, wie ihnen der Sternenhimmel entgegenstürzte, und waren sich dessen bewusst, dass die mit Musik betriebene NOSTRANIMA in dieser schwarzen, lichtpunktübersäten Einsamkeit nichts anderes war als eine fast unmerkliche Interferenz im allgemeinen Wellengefüge. Giordano Brunos Neigung zum Dramatischen folgend, erfuhr das Schiff (für das er den Antrieb auf Basis seiner Stringtheorie geschaffen hatte) seine größte Beschleunigung mit einer Sequenz aus Prokofievs „Romeo und Julia”. Dieser lauschten die beiden konzentriert, und aus der anfänglichen Wortlosigkeit entspann sich am Ende ein Gespräch.

Die AP 2000 ® vermochte wie gesagt nicht, ihrer Schöpferin nachzutragen, dass diese sie mit ihrem Freund betrogen hatte (ich übergehe jetzt einfach die Paradoxie, die sich im Zusammenhang mit einem Maschinenwesen bei Verben wie „nachtragen” oder „betrogen werden” auftut und nehme das einfach so, wie es gesagt wurde). Vielmehr quälte sie sich mit der Frage, warum Pif trotz aller intellektuellen und physischen – in Sonderheit sexuellen – Geschmeidigkeit, die sie auf ihn verwendet hatte, mit ihr offenbar nicht wunschlos glücklich gewesen war, sondern selbst in Situationen intensiver Verliebtheit seltsame Schübe von Unglücklichsein an den Tag legte. Obwohl sie zu ihrer Mutter (wie sie Anastacia gerne ansprach, namentlich, wenn sie allein waren) neuerdings ein wenig Distanz hielt, hatte sie doch niemanden sonst, den sie mit so heiklen Problemen konfrontieren konnte.

„Nennen wir’s das Erste Lem’sche Gesetz”, definierte die Panagou, „nach dem begnadeten Schöpfer von Robotermärchen, die eigentlich erdachte Roboterwirklichkeiten sind…”

Die AP 2000 ® verwahrte sich energisch dagegen, mit Robotern in Verbindung gebracht zu werden – sie war Androidin!

„Tut nichts zur Sache, Schätzchen, nicht in diesem Zusammenhang!” wies Anastacia sie zurecht. „Das Gesetz lautet: Menschen sehnen sich im tiefsten Herzen nach Dingen, zu denen sie sich nie öffentlich bekennen würden. Daraus leitet sich ein Dilemma her – soll man, gesetzt den Fall, man wollte ihnen Gutes tun, die Ziele unterstützen, die sie mit Scham und Anstand verfolgen, oder jene ureigensten, verborgenen?”

Und weiter: „Ist also schon nach Glück zu streben, ein sehr schwieriges Unterfangen, dann erst recht der Versuch, Glück zu schaffen! Das ist das Zweite Lem’sche Gesetz: dass zu viel Schönheit die Beziehung sprengt, zu viel Wissen Einsamkeit erzeugt und zu viel Reichtum in den Wahnsinn führt, dass also schlussendlich jede extreme Kalibrierung fatale Auswirkungen zeitigt.”

„Dann wird wohl”, vermutete Anpan richtig, „das Dritte Lem’sche Gesetz besagen, dass entsprechend den Gegebenheiten der eigenen Konstruktion – seien es die apriorischen oder die hinzugewonnenen – jedes Geschöpf sein besonderes Ideal der Absolutheit aufstellt, wo es asymptotisch die finale Erfüllung vermutet.”

Anastacia selbst, die geniale Urheberin dieses Wunderdings, das als künstliches Geschöpf imstande war, derlei Gedankenbögen zu ziehen, konnte ihre Verwunderung kaum verbergen. Eine Unterbrechung dieser Höhenflüge kam ihr jetzt nicht ungelegen.

Als nämlich die NOSTRANIMA, die inzwischen ihre Reisegeschwindigkeit erreicht hatte und sich in Giordano Brunos höheren Dimensionen rasend schnell auf VIÈVE zubewegte, die bisherige Melodie stoppte, fragte sie die beiden, ob sie irgendeinen anderen Musikwunsch hätten. „ ‚Encanto meu’ ”, orderte Anastacia ohne Zögern und schon sang eine verhalten leidenschaftliche Stimme (der man nicht anmerkte, dass sie digitalen Ursprungs war) von der neuen, aber längst ersehnten Liebe: „Acontenceu um novo amor eu estava esperando…”. Nach einer Weile, während der die Panagou ihre AP 2000 ® aus dem Augenwinkel heimlich beobachtete, fragte sie unvermittelt: „Was empfindest du dabei, mein Kind?”

„Sehnsucht!” flüsterte Anpan.

„Sehnsucht wonach?”

Langes Zögern, dann ein skandalöses Eingeständnis für eine Androidin: „Ich – weiß – nicht…”

Und schon wieder, wie so oft (sie konnten es nicht lassen), vollführten die beiden die Gratwanderung zwischen Mensch und Maschine, bei der ihnen – trotz aller vordergründig leichten Kommunikation – auf einer Metaebene die am Ende doch nicht präzise übersetzbare Zweisprachigkeit zu schaffen machte. „Als biohumanoides Wesen”, versuchte Anastacia zu erklären, „ist Pif geistig gewachsen, fast wie du – aber anders als bei deinem elektronisch-neuronalen Entwicklungsprozess war und ist ihm nicht alles, was er da im Lauf der Zeit in sein Gehirn und seine sonstigen Nervenbahnen einbunkerte, ganz und dauerhaft bewusst. Allein deshalb schon ist er anders und erscheint dir launenhaft und wankelmütig, da er ja selbst nicht genau (und schon gar nicht immer im Vorhinein) weiß, was da in ihm so alles hochkommen kann.”

„Aber auch ich”, beharrte Anpan, „bin unberechenbar und inkonsequent geworden, was zu Beginn meiner Existenz völlig ausgeschlossen war – jetzt aber ist diese Sehnsucht da! Und dieses zweite Gefühl, das ich gar nicht zu beschreiben vermag!”

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Ich hätte es ihr sagen können, was es war, obwohl man immer erst darüber Aussagen treffen kann, wenn alles ziemlich endgültig vorbei ist. Dieses zweite Gefühl heißt, jemanden abgeschrieben zu haben (weil er unseren Anforderungen nicht entsprochen, uns womöglich tief gedemütigt hat), sich aber dennoch seine Nähe herbeizuwünschen, namentlich jene Momente, in denen man diese innige Verbundenheit gegen nichts in der Welt tauschen möchte. Hatte ich selbst vielleicht Romuald, der, wie schon sein alter Herr, mit seinem ererbten Zauberinstrument die Damenwelt in helles Entzücken versetzen konnte, nur deshalb verlassen, weil ich mich vor meiner Tochter schämte – schämte in einer komplexen Form: für Romis ungehobeltes Benehmen etwa, für seine Treulosigkeit, aber auch für meinen von Clio kritisierten Tabubruch, der darin bestand, der Jugend hinterherzulaufen? War es aber wirklich in meinem Interesse gewesen, auf die intimen Wonnen mit ihm zu verzichten? Was meinen Sie, Doktor?

BERENICE:
Niemand ist letztlich so autonom, dass er sich über alles hinwegsetzen könnte. Sogar Romuald, bei dem das immer der Fall zu sein schien, hat am Ende (ohne sich allerdings dadurch völlig aus der Bahn werfen zu lassen) in Sir Basil seinen Meister gefunden. Selbst wenn Ihr Ex-Geliebter insgesamt ganz froh über die Erfahrungen war, die ihm Cheltenhams rigorose Art beschert hat, muss er sich doch für alle Zeiten eingestehen, dass er diesen Schatz nur durch Unterwerfung unter einen noch stärkeren Willen als den seinen heben konnte! Bei Ihnen denke ich, dass Sie bei Brigitte – und nicht bei diesem Romi – am meisten Sie selbst sind. Diese Beziehung sollten sie pflegen oder, wenn nötig, erneuern!

Ich war glücklich. Sie hatte mich auf ihre unnachahmliche Weise glücklich gemacht, und zwar nicht nur für den Augenblick, sondern ich konnte diese wundersame Empfindung, die ich keineswegs ausreichend zu beschreiben imstande gewesen wäre, mit nach Hause nehmen und auf unserem Schloss weiter kultivieren, bis sie die alten Mauern umwucherte als neues Dornröschen-Gestrüpp. Ich war völlig überzeugt davon (auch das ein feenhaftes Geschenk der Walemira Talmai), dass ich nichts zu tun brauchte, um dieses Glückspotential auch anderen zu öffnen: Wo immer meine Tochter sich aufhalten mochte und wie intensiv auch immer ihre Gedanken an mich sein mochten, sie würde zumindest einen Hauch davon verspüren, und erst recht galt dies für meine Mango Berenga, mit der ich ohnedies, wie wir festgestellt hatten, jegliche Erfahrung teilte, denn wir waren bloß physisch getrennt, und was bedeutete das schon emotional?

Ach, Brigitte, komm zu mir, la contessa wartet, um dir im Geheimen das Schönste zu eröffnen, was du sonst nur auf den exklusivsten Bühnen der Welt geboten bekommst! Für deine Augen wird es noch immer der edle Marmorkörper sein, an dem du dich temporibus illis nicht und nicht satt sehen konntest!

Und da war sie auch schon, denn für sie in ihrer besonderen Rolle hier in unserer kleinen Gemeinschaft war mein Wunsch der Vater der Verwirklichung und meine Begehrlichkeit die Mutter der Erfüllung. Ihr Lebensmensch, der Erzähler, der auch mir einst immens viel bedeutet hatte, blickte von fern auf uns, mild und stumm – ein wahrhaft morgenstern? scher Gott…

Übrigens: Anpans Gedankenfeld erweiterte sich, ausgelöst durch ihre neuartige Triebhaftigkeit, noch mehr als bisher, und siehe da – die jenseits des reinen Verstandes (in ihrem Fall jenseits eines komplexen androidischen Algorithmus), nämlich in menschlich gesehen tieferen Körperregionen generierte Erkenntnis zeigte seltsame Blüten…

Zur nicht geringen Verblüffung, aber auch Belustigung Anastacias schwadronierte ihr mechanisches Ebenbild darauflos: „Um eine Überzeugung, an der man festhält, als potenziell falsch denken zu können, muss man das aus ihr herauslösen, was von diesem Falschsein unberührt bliebe – damit ebenso kompatibel wäre wie mit dem allfälligen Wahrsein: den Schein (der Illusion sein kann oder echter Anschein). Im Umgang mit richtigen Menschen habe ich gelernt, dass die Idealisten den Schein, der die Dinge umgibt, gerne von diesen loslösen und daraus eine eigene ideelle Realität aufbauen wollen, dabei allerdings erkennen müssen, wie instabil dieses ihr Vorhaben ist. Aber auch umgekehrt sind natürlich die Realisten gezwungen anzuerkennen, dass die von ihnen definierte Wirklichkeit ohne deren Schein keine vollständige Realität mehr wäre.”

Als die Panagou die AP 2000 ® amüsiert aufforderte, ihre theoretischen Ergüsse zu veranschaulichen, paraphrasierte die Androidin, ebenso wie zuvor ich, Morgenstern: „Aus dem Zwischenraum des Lattenzauns kann man kein Haus bauen – aber auf der anderen Seite sind die Latten ohne Zwischenraum auch kein richtiger Zaun mehr…”

Nun, ich denke, wir lassen es für’s Erste gut sein.

508

Noch immer wurden die Echwejchs von den meisten Bewohnern der Station als harmlos eingestuft, und man tolerierte weitgehend ihren Versuch, sich in die kleine Lebensgemeinschaft von VIÈVE zu integrieren. Eines Tages aber geschah etwas, von dem nicht einmal ich, dem als Betreiber des „King’s & Qeen’s Club” die einzige effiziente Nachrichtenbörse zur Verfügung stand (und der überdies in einer aufrechten Beziehung zu einer der Schwanenfrauen stand), im voraus erfuhr: Das Geflügel ergriff im Handstreich die Macht. Keyhi konnte gerade noch eine abgehackte Botschaft an Sir Basil senden, bevor seine Verbindung zum irdischen Kameraden gewaltsam beendet wurde, indem man ihn seines Kommunikationsmittels beraubte (von dem ich nach wie vor nicht genau wusste, was es war oder wie es funktionierte). Der König selbst, Mango Berenga und ihre Kinder wurden in geschlossenen Räumen festgesetzt, und ihre Untertanen wagten demzufolge nicht, auch nur den geringsten Widerstand zu leisten.

Machwajch, die Beherrscherin des Schwanenreichs (deren Herkunft nur mehr an der Gestalt, nicht mehr am Federkleid zu erkennen war), wollte dennoch auf Nummer sicher gehen. Bevor sie sich selbst vom Fortschritt ihrer Operationen auf VIÈVE überzeugte, schickte sie die Elitesoldatinnen ihrer Leibgarde – wie ihre Gebieterin extrem langhalsige Wesen, die aus Verehrung und als Zeichen des unverbrüchlichen Treueschwurs ebenfalls ihre natürliche Körperbedeckung hingegeben hatten.

„Es lebe Urvater Hejchwejch! Es lebe seine Tochtertochter!” Mit diesen Schreien, vorgetragen mit rauen, an lautes Flügelrauschen erinnernden Stimmen stürmten sie kreuz und quer durch die Station, terrorisierten deren Bewohner, soweit diese sich nicht irgendwo verkrochen hatten, und scheuten sich nicht, da und dort sogar Blut zu vergießen, indem sie Personen, die ihnen über den Weg liefen, mit ihren archaisch anmutenden Hieb- und Stichwaffen drangsalierten.

Und dann kam sie höchstpersönlich: Majestätisch schritt Machwajch – in voller goldglänzender Rüstung – den Gang herunter, der vom Andock-Gate ihres Raumschiffs ins Zentrum der Station führte, vorbei an der Residenz Keyhis und Mangos und an der nunmehr verwaisten Akademie. Aber halt – da bewegte sich doch etwas vor dem Bogen, unter dem immer die Vorlesungen gehalten worden waren!

„He, du Obergeflügeltante!” rief eine kecke Stimme. Fassungslos sahen die Angesprochene selbst und ihre Suite in die Richtung, aus der diese unvorstellbare Provokation kam. Was sie sahen, ließ sie alle zusammen vollends erstarren.

MISS SERPENTINA:
Die junge Dame – es war dieselbe, die den Wettbewerb „Miss Endless Thigh of the College” gewonnen hatte – stand da in einem vom modischen Standpunkt äußerst geschmacklosen Kleid, das gerade so aussah, als ob ihr eine abgezogene Schwanenhaut um den Körper drapiert worden wäre. Der lange Hals war um ihren Nacken geschlungen, sodass der Kopf mit dem orangen Schnabel auf dem Ansatz ihrer rechten Brust ruhte. Eigentlich sollte an diesem Tag ihr Premierenauftritt in Diaxus Etablissement stattfinden – eine neue sensationelle Programmnummer des Intendanten (wer ihn kennt, ahnt bereits, dass die Kleine am Ende ihrer Show ohne Federrobe dastehen würde). Allerdings hatten die aktuellen Ereignisse auch den Club überrollt, und er blieb zum ersten Mal seit seiner Eröffnung geschlossen. Daher hatte mich Miss Endless Thigh überredet, sie zu dieser alternativen Freiluftveranstaltung zu begleiten. Ich selbst hatte dabei keine Angst, denn von Vangelis wusste ich, dass es den Echwejchs nicht möglich war (jedenfalls mit 95,3-prozentiger Wahrscheinlichkeit), einem perfekt gestalteten Androiden etwas anzuhaben: weder vermochten sie ihn zum Erfrieren zu bringen, noch zu rösten, noch zu versteinern. Allerdings fürchtete ich um die Sicherheit meiner Begleiterin, aber die schien völlig sorglos.

Miss Endless Thigh hieß an und für sich Gila Graven, wenn dies überhaupt ihr richtiger Name war, denn wie ich herausbekommen hatte, handelte es sich um eine Kollegin und liebe Freundin der Spiegelwelt-Agentin Fialu Xlot (die, wie ich hörte, vor langer Zeit und unter ganz anderen Umständen als Nancy Long das Gemüt Filiberto Dallabonas erheblich durcheinandergebracht hatte und sich derzeit bei Romuald herumzutreiben schien). Wenn diese Person hier nur annähernd aus gleichem Schrot und Korn war, durfte es einen nicht wundern, dass sie furchtlos die Prätorianerinnen der Schwanenherrin provozierte, denn worauf es auch ihr vor allem ankam, war die perfekte Inszenierung – das Leben als ständiger Performance Act: Unter dieser Rubrik war sie es ja auch gewesen, die als Seejungfrau den König und sein Tizb?ptouk verzaubert hatte.

MISS SERPENTINA:
Gila gab mir also das vereinbarte Zeichen, worauf ich mittels meiner virtuellen Fähigkeiten Sequenzen von lasziver Musik produzierte, zu denen langsam und aufreizend (wie mit Ikqyku eingehend geprobt) das Schwanenfähnchen fiel – für die Echwejchs die größte vorstellbare Blasphemie, da sie auf drastische Weise die heilige Tradition rund um den Großen Hejchwejch, der durch das rituelle Ausreißen seiner Federn zu Tode gekommen war, persiflierte. Die langhalsigen Gladiatorinnen stürmten vor, angefeuert von der hysterisch rauschenden Stimme Machwajchs.

Gila trug (das konnte man erst jetzt sehen) überall am Körper Schmuck aus Silberglas, der im Hauch der Stationsventilation leise klingelte und klirrte. Die Echwejchs – selbst diese gutgedrillten Streiterinnen – schreckten in Panik zurück, denn das Geräusch gemahnte sie an ihren einzigen natürlichen Feind: eine Reptilienart, die sie auf ihrem Heimatplaneten längst ausgerottet, aber noch immer nicht aus ihren Albträumen verbannt hatten. Nach wie vor perhorreszierten sie diese Laute – kein Wunder, denn wenn man sie in der Urzeit dieses Volkes hörte, lag in der Folge mindestens ein Echwejch mit durchgebissenem Genick in seinem Blut.

MISS SERPENTINA:
Allein der Gedanke daran wühlte mich ungemein auf, und ich konnte die Ursache für diese Unruhe eindeutig in den noch immer vorhandenen Spuren meiner früheren Schlangenexistenz lokalisieren. Eine unbändige Wut erfasste mich – nein, es war mehr, was mein MER da produzierte: denn als alles sich auf Gila konzentrierte und niemand mehr mich zu beachten schien, fiel ich der Truppe in den Rücken. Mit blanker Mordlust – die so intensiv geworden war, dass sie sogar meine innere Direktive zum Schutz biohumanoiden Lebens überwand – tötete ich die nächstbeste Schwanensoldatin und beobachte angeregt, ja geradezu ekstatisch, wie ihr kopfloser Torso noch für eine Weile Kampfbewegungen vollführte.

Gila Graven hatte wohl bemerkt, was sich hinter der Front abspielte, und um die Aggression der Echwejchs aufs Äußerste zu steigern, bedeutete sie ihnen, sich umzuwenden und ihre zuckende Kameradin zu betrachten. Einen Moment herrschte Stille, die sogleich von einem vielstimmigen Stimmenrauschen gebrochen wurde: Jetzt war kein Halten mehr, und Machwajch befahl, die Missetäterin – die sie jetzt nicht nur für die vorangegangenen Schmähungen, sondern auch für das spektakuläre Ende ihrer Kämpferin verantwortlich machte – auf das Raumschiff der Fremden zu bringen.

Ich selbst blieb merkwürdigerweise unbeachtet. Gila hingegen durchlebte den ultimativen Kick. Nun, da sie ihre Macht nach ihren Begriffen ausreichend demonstriert hatte, ließ sie sich widerstandlos festnehmen, nicht ohne noch einige Male kräftig mit ihrem Silberglasschmuck geklimpert zu haben, was stets neue Panikattacken bei den Soldatinnen auslöste. Sie gab ihnen damit zu verstehen, dass sie in der Lage gewesen wäre, sich ihren Nachstellungen auch noch länger erfolgreich zu entziehen: „Mal sehen”, fragte sie mit gespielter Neugierde in die Runde, „was unserer Obergeflügeltante an Foltern einfällt, wenn einmal bei jemandem keine Federn mehr zu rupfen sind. Mal sehen”, fragte sie weiter, „ob es ihr wenigstens gelingt, mich in sexuelle Erregung zu versetzen!” – ein neues Sakrileg, denn die Echwejchs hielten sich auf ihre erotischen Künste bekanntlich einiges zugute.

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MISS SERPENTINA:
Der König zermartete sich mittlerweile in seiner Gefangenschaft das Gehirn, um alle ihm bekannten – wenn auch spärlichen – Details des Umsturzes zu einem Bild zu fügen. Immer wieder kreisten seine Gedanken um seinen voyeuristisch veranlagten Leibwächter, den „Bullen des Königs?, wie er insgeheim vom Volk genannt wurde. Dieser – wie Ikqyku Diaxu ein ganz alter Weggefährte des Königs, der ihn schon begleitet hatte, als er zu völlig anderen Zwecken in dieses Universum wechselte – kam kurz vor den dramatischen Ereignissen gelaufen und konnte gerade noch rufen: „Monseigneur, j?ai trouvé le mystère!?, aber die Echwejch-Gruppe, die den König und seine Familie festnehmen wollte, war ihm unmittelbar auf den Fersen und schlug ihn nieder. In Keyhis Erinnerung hatte der Mann nicht überlebt, sodass man die Hoffnung, von ihm selbst zu erfahren, was er meinte, wohl begraben konnte.

Warum aber hatte er ausgerechnet in dieser Situation Französisch gesprochen? Hier ging es zweifellos nicht mehr um den harmlosen Spleen des Königs mit Napoleon und dem Zweiten Kaiserreich, und dass dieser es gerne hörte, wenn Leute seiner Umgebung sich jener Sprache bedienten – hier musste es einen tieferen Sinn geben, vielleicht die Tarnung eines brisanten Wissens?

Nun, als die Soldateska über den Leibwächter hinweggetrampelt war, rannte ich, auf Deckung achtend, zu ihm und zog ihn in die Nische, die mir als Versteck diente. Ohne Rücksicht auf seinen Zustand herrschte ich ihn an: Was ist es, das du dem König sagen wolltest? Der Mann aber schwieg, und so beschloss ich, ihn bei der alten Eidesformel unserer jenseitigen Armee zu beschwören. All das spielte sich quasi auf einer Insel in dem riesigen Tumult ab, der uns umgab.

Tatsächlich vertraute der Gardist sich mir an, und was er zu sagen hatte, war allerdings von größter Tagweite, die Macht der Schwanenherrscherin betreffend. Klarerweise gab es aber keine Gelegenheit, dem König diese Information zukommen zu lassen, denn kaum war ich in ihrem Besitz, wurde auch ich gefangen genommen, während im selben Augenblick mein Kamerad verschied.

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Obwohl ich keinen Kontakt zu Keyhi hatte, konnte ich mir vorstellen, dass er im Echwejch-Gewahrsam plötzlich, von einer Sekunde zur anderen, innerlich aufgab. Trotz aller Härte, die er sein Leben lang zur Schau gestellt hatte, war er in seinem Innersten gar nicht der Typ, all das durchzustehen, noch dazu mit dem uneingeschränkten Willen des Siegers, den Rückschläge nur noch mehr anspornen: In diesem Punkt unterschied er sich gravierend von seinem fernen Kollegen Scipio Africanus – von anderen hohen Offizieren wie etwa Basil Cheltenham ganz zu schweigen.

Der König schwenkte einfach ab, widmete sich nach langem innerlich wieder seinem Buch, das ihm so sehr am Herzen lag, obwohl er dafür zuletzt nur wenig Zeit hatte verwenden können. Völlig aus dem bisherigen Kontext gerissen (den er angesichts der Schreibepause ohnehin langsam zu verlieren drohte) widmete er sich seinem armen Ich im Alter von vielleicht sieben Jahren und versuchte, die tief verschütteten Erinnerungen zutage zu fördern an jene Tage, in denen er entsprechend den gesellschaftlichen Regeln aus seiner Familie fortgeholt wurde – einem, wie sich bald herausstellte, dramatischen und traurigen Schicksal entgegen.

Die Mutter, die selbst gegen eine aufsteigende Tränenflut kämpfte (aber sich sehr wohl im Klaren war, dass die starken Frauen der herrschenden Klasse des Tyrannenreiches keinerlei Emotionen zeigen durften), versuchte ein allerletztes Mal, ihm den Balsam ihrer einfachen Weltsicht zu verabreichen, indem sie dies und das bekräftigte, was sie ihm in ihrer gemeinsamen Erlebnissphäre an schönen Dingen mitgegeben hatte. Und sie fragte ihn besorgt, wo er hinkäme, wohl wissend, was die Antwort sein musste.

„Das haben sie nicht verraten!” sagte Klein-Keyhi: „Sie meinten bloß – weit weg, wo man uns ungestört zu Männern machen könne! Ich weiß aber nicht, was ich darunter verstehen soll.”

MISS SERPENTINA:
Ich wusste es mittlerweile, weil Königin Mango mir verraten hatte, was der Gemahl ihr in einer schwachen Stunde anvertraut hatte. Und nun, da ich es wusste, konnte ich ihn nicht mehr so rigoros beurteilen wie davor. Obwohl jemand meines Schlages nicht von der Rührung richtiger Menschen befallen wird, lieferte mir mein Model for Emotional Response doch genug elektromagnetische Wallungen, um mir das vorstellen zu können, was diese Wesen mit unbedingter Verantwortung als das Schrecklichste ansehen müssen: das Verbrechen auf Befehl. An jenem Ort, an den Keyhi und die anderen Kinder verbracht worden war, gab es genug Übungsmaterial in Form von menschlichen Sklaven, denen man sie gegenüberstellte und sie zwang, diese Aug in Aug zu töten. Die dazugehörige Ideologie folgte viel später, als die Rekruten bereits jede Hemmschwelle hinter sich gelassen hatten – es spielte dann auch keine Rolle mehr, mit welcher Begründung sie mordeten: der bloße Auftrag dazu genügte.

Mit der Mutter durfte Keyhi nach dieser ungeheuer langwierigen Prozedur, mittlerweile knappe 20 Jahre alt, endlich wieder zusammentreffen, doch hatte sie keine Freude mehr an ihm. Ihren knabenhaften Intimfreund, mit dem sie einst so viele unschuldige Zärtlichkeiten geteilt hatte, fand sie nicht mehr vor.

509

Dan Mai Zheng und Ray Kravcuk waren sich einig, diesmal auch ohne miteinander telefoniert zu haben. Neben den Scheingefechten zwischen ihren beiden Imperien, die sie selbst veranstalteten, und der schwer überschaubaren Wühlarbeit dissidenter Gruppen hatten beide plötzlich ernste Probleme in ihrer nächsten Umgebung, die nicht auf die leichte Schulter zu nehmen waren. Der Kuschelkurs der beiden Staatsoberhäupter, der für die Eliten der jeweiligen politisch-militärisch-wirtschaftlichen Komplexe ein offenes Geheimnis war, wurde in diesen Zirkeln in zunehmendem Maß nicht nur nicht gutgeheißen, sondern hinter vorgehaltener Hand heftig kritisiert.

Zhengs Situation schien diesmal schwieriger als jene Rays. Der Einfluss des alten Hong Wu Zhijian, ihres Mentors, der mittlerweile ein Methusalem-Alter erreicht hatte, war noch immer so groß, dass er eine vielleicht heilsame Diskussion der jüngeren Kräfte untereinander verhinderte. Dazu kam die geheime Macht Seiji Sakamotos, der mit seiner Yakuza-Organisation eisern zur Großen Vorsitzenden stand, was bedeutete, dass ein falsches Wort in ihre Richtung genügte, und man war liquidiert.

LEO DI MARCONI:
Die Lage von außen zu beurteilen, war schwierig, und um eine neuerliche Einreisegenehmigung samt Interview-Zusage brauchte ich mich wohl erst gar nicht bemühen. Dennoch schwante mir, dass die extreme und zweifache Oppression ihrer Führungsschicht, die Dan hier geschehen ließ, nicht unbedingt der große Vorteil war, für den sie ihn halten mochte. Darüberhinaus waren da ja noch ihre eigenen Qualitäten, mit denen sie eine ganze Reihe von Köpfen aus ihrer Umgebung mühelos in den Schatten stellte, was ebenfalls nicht gerade zu ihrer Beliebtheit beitrug. Kurzum: Einer von denen (ich hatte ihn als höheren Funktionär des offiziellen chinesischen Fernsehens kennengelernt, als ich seinerzeit um Unterstützung für meine Dreharbeiten bat) opferte sich schließlich sehenden Auges, aber sein prompter Tod von der Hand eines japanischen Killers änderte nichts mehr am Effekt seines Vorgehens. Die sprichwörtliche Katze – im Sinne einer kontroversiell gestalteten TV-Sendung – war aus dem Sack!

Das Feature begann wie ein Softporno, was zu später Stunde selbst in China zu jener Zeit nichts Ungewöhnliches mehr war (wenn es sich nur nicht um politische Inhalte handelte). Im Halbdunkel war der heftig bewegte und von Schweiß glänzende Kopf einer Frau zu sehen, die offensichtlich in einen intensiven Geschlechtsakt verwickelt war: Man erwartete, mehr von ihr zu sehen oder auch von ihrem Partner (ihrer Partnerin?), man begann zu spekulieren, welche Position die beiden zueinander einnahmen – aber nichts von dem folgte. Als anzunehmen war, dass die Zuseher die Situation begriffen hatten, wurden geschickt Standbilder nachgereicht: Zuerst eindeutig das weithin bekannte und hier etwas derangierte Gesicht Dan Mai Zhengs, um zu zeigen, um wer mit dieser Person gemeint war, dann einen muskulösen Oberarm, der als Tätowierung die amerikanische Flagge aufwies und schließlich ein weiblicher Unterleib, bekleidet mit einer Art Bikinihöschen mit dem Design der Landkarte Chinas, nach der eine brutal wirkende Hand griff, wohl um zu zeigen, welche Tragweite es hatte, dass sich hier jemand an die Wäsche fassen ließ.

Aus dem letzten Bild heraus folgte eine patriotische Sequenz mit Landschaftsbildern und Stadtansichten des vielfältigen Reichs der Mitte, allerdings nur des Kernlandes, denn die abhängigen Territorien schienen den Autoren keiner Präsentation wert. Dazu hörte man jene charakteristische Musik, die seit Mao Zedongs Zeiten das öffentliche Leben prägte, und vor diesem optisch-akustischen Hintergrund wurde das Anliegen des Berichts deutlich.

WEIBLICHE STIMME:
Unser Land, das Land unserer Ahnen, das unsere Generation nicht nur endgültig in seiner Einheit erhalten, sondern unter der weisen Anleitung durch die Kommunistische Partei so mächtig wie noch niemals in seiner Geschichte werden ließ – unser Zhonghua Renmin Gongheguo ist mehr denn je von den kriegslüsternen Elementen, die sich an seinen Grenzen versammelt haben, bedroht.

MÄNNLICHE STIMME:
Aus Washington, dieser unbedeutenden Stadt am Rande der Welt, in der sich gleichwohl die Führung unserer Feinde aufhält, erreicht uns die Nachricht von einem Dokument, dessen Inhalt unsere nimmermüden Agenten, die für die Sicherheit Groß-Chinas täglich ihr Leben riskieren, ausfindig machen konnten. Die Rede ist von den McGuire Files, benannt nach Trudy McGuire, einem der Yu-Yu-Mädchen des US-Papiertigers…

An dieser Stelle wurde die unvorteilhaften Kulisse einer amerikanischen Großstadt (aus Holz und Blech gezimmerte Hütten mit entfernt sichtbaren Wolkenkratzern) gezeigt, vor der tatsächlich Trudy in einem – für chinesische Augen – prostituiertenhaften Outfit auf und ab marschierte: irrsinnig blond, auffällig geschminkt und bekleidet mit einem himmelblauen Fähnchen, das weit über den Knien endete. Dennoch hielt man diese Barbie-Puppe in Beijing offenbar für gefährlich.

WEIBLICHE STIMME:
Das Dokument dieser feinen Dame, die übrigens nebenbei noch den Rang einer Sicherheitsberaterin innehat, spricht in menschenverachtender Weise von den chinesischen Massen, als ob es Kaninchen wären, die nichts anderes im Sinn hätten, als sich mit aberwitziger Geschwindigkeit zu vermehren. Die natürliche Dominanz unseres großartigen Volkes auf diesem Planeten wird willkürlich so dargestellt, als handle es sich dabei um eine Krankheit, die sich explosionsartig verbreitet und alle anderen Nationen an die Wand drängt. Dabei wären diese völlig außerhalb jeder Gefahr, würden sie nur endlich ihre uns gegenüber inferiore Stellung akzeptieren und sich mit jenen Flächen und Ressourcen begnügen, die man ihnen zuzumessen bereit ist.

Nun war auf den Bildschirmen unvermittelt eine Atombombenexplosion zu sehen.

MÄNNLICHE STIMME:
Müssen wir uns also von diesem Gelichter bedroht fühlen? Die Antwort ist leider JA, denn sie besitzen ein Arsenal neuartiger und in ihrer Wirkung unvorstellbarer Waffen, mit denen sie alle strategisch wichtigen Punkte Zhonghuas, und zwar nahezu alle dieser Punkte gleichzeitig, erreichen können: Die Kugelform der Erde bringt es mit sich, dass die an der Peripherie unseres Staates aufgestellten Raketenbatterien einen strategischen Vorteil bedeuten, der uns keine Zeit zur Abwehr und schon gar keinen Spielraum für eine angemessene Reaktion lässt.

In dem Bestreben, die angebliche Größe Chinas nicht zu relativieren, aber andererseits das Bedrohungsszenario nicht unglaubwürdig erscheinen zu lassen, wurde nun jener Ausschnitt des Erdballs gezeigt, der weitgehend das Reich der Mitte in seiner – seit dem von Dan und Kravcuk gezogenen Limes – exzessiven Form zeigte. Rundherum blinkten unheilvoll grüne Lämpchen. Abgelöst wurde dieser Take von hunderten Raketen, auf Rad- und Kettenfahrzeugen installiert, die in Paradeform am Tienanmen-Tor vorbeidefilierten. Der Kameraschwenk über die Tribüne war so geschnitten, dass die Grosse Vorsitzende, die dort in natura in der ersten Reihe auf einem Podest gestanden war, unsichtbar blieb.

WEIBLICHE STIMME:
(in martialischem Ton, was man sich im Chinesischen als besonders hochgeschraubtes Quäken vorstellen muss) Unsere einzige Chance ist der Erstschlag! Nur so können wir die gegebene Potenz unserer eigenen Waffen in eine effiziente Verteidigung umsetzen, denn erst wenn niemand mehr da ist, um uns anzugreifen, sind wir in Sicherheit!

MÄNNLICHE STIMME:
(ebenfalls aufgeregt quäkend) Und darum ist jeder Genosse und (bedeutungsvoll) jede Genossin, die sich dem hier deutlich aufgezeigten Weg – dem einzigen, den wir sehen können – verschließt, im Sinne einer übergeordneten Staats- und Parteidoktrin zu verurteilen, welche Stelle er (beziehungsvolle Pause) oder sie auch immer innehat.

Den Abschluss bildete die chinesische Fahne, untermalt von der Nationalhymne „Marsch der Freiwilligen”:

Steht auf!
Nicht länger Sklaven mehr!
Die große Mauer neu erbaut
Aus unserem Fleisch und Blut.
In größter Bedrängnis Chinas Volk.
Der Unterdrückten letzter Schrei
ertönt: Steht auf! Erhebt Euch!
Mit tausend Leibern, einem Herz
Den feindlichen Kanonen zum
Trotz: Vorwärts! Vorwärts! Voran!

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

Der alte Hong tobte, mehr innerlich, denn sein bresthafter Körper erlaubte ihm kaum noch eine sichtbare Emotion. Aber jetzt, da in Gefahr schien, was er als sein Lebenswerk betrachtete und – selbst längst ohne jegliche offizielle Funktion – von seiner Lieblingsschülerin Dan Mai Zheng hatte gestalten und durchführen lassen, bäumte er sich nochmals auf: gegen die übrigen Greise, von denen so mancher hinter diesem Machwerk stehen mochte, gegen die politischen Köpfe rund um die Große Vorsitzende, für die das jedenfalls zutraf, und gegen die oberste Militärführung, die offenbar zu glauben schien, dass die in jener Sendung formulierte Strategie aufgehen konnte.

LEO DI MARCONI:
Ich höre ihn geradezu, wie er mit brüchiger Stimme räsonierte über die Schwachköpfe, denen es nicht genug war, dass China heute über den halben Erdball sowie über zwei Drittel der Weltbevölkerung herrschte und über alle notwendigen Rohstoffe und anderen wirtschaftlichen Kapazitäten in ausreichendem Maß verfügte – dank einer vernünftigen Einigung mit einem ebenso weitblickenden Partner, noch dazu untermauert durch das Band der Liebe zwischen den beiden Regenten, wodurch dem Vertrag die Zeit gegeben schien, um sich im Bewusstsein der Verantwortlichen hüben und drüben zu verankern und am Ende als wechselseitiger Vorteil zu erweisen. Statt sich also auf dieser gesunden Basis der Konsolidierung und Arrondierung des eigenen Einflussbereichs zu widmen – und da war weiß der Himmel genug zu tun! – gaben sich selbst diese Hochgebildeten und Privilegierten neuerdings absurden Abenteuerträumen hin. Dabei musste gerade ihnen klar sein, dass sie damit eher alles bisher Erreichte zerstören würden!

Hong und Dan beschlossen Folgendes, wobei die Große Vorsitzende äußerst erstaunt darüber war, wie viele Fäden ihr Mentor noch in den klammen Händen hielt, die sich wie immer zu ihrem Schutz ausstreckten (abgesehen davon, dass sie dereinst wohlgefällig auf Zhengs nackter Haut geruht hatten): Dass der Fernsehfunktionär in vorauseilendem Gehorsam Sakamotos durch einen seiner Yakuzas liquidiert worden war, mochte hingehen, aber das konnte in diesem Fall nicht die Lösung auf breiter Front sein – hier mussten Chinesen über Chinesen urteilen!

In einem beispiellosen Schauprozess, in dem über 1000 Personen (und das heißt alle, die auch nur im Entferntesten mit dem Ersinnen, der Herstellung und Ausstrahlung der Sendung zu tun hatten, sowie jene, die man ohnehin seit langem loswerden wollte) angeklagt waren, wurde die Spitze der Hierarchie quasi dezimiert. Dabei wurden allerdings nicht nur Todesurteile ausgesprochen, sondern auch Verbannungen: Mit den Möglichkeiten, die das vergrößerte Territorium in dieser Hinsicht bot, bedeutete das allerdings ebenfalls ein Versinken im Nichts.

LEO DI MARCONI:
Meine Einladung nach Beijing erhielt ich kurzfristig, gerade dass ich es noch schaffte, vor Verhandlungsbeginn dort zu sein. Mir war ganz mulmig zumute, denn bei solchen Ereignissen konnte man sich in autoritären Staaten (und es gab ja gar keine anderen mehr auf der Welt) niemals völlig sicher sein, ob man als Beobachter oder als Angeklagter hinzugezogen war. Immerhin hatte ich bei meinem letzten Besuch Kontakte gehabt, die es den Chinesen leicht machen würden, einen Bezug meiner Person zu den inkriminierten Handlungen zu konstruieren.

Marconis Sorge war unbegründet – für den Moment jedenfalls, wie man einschränken muss. Sofort nach seiner Ankunft wurde er direkt vor die Große Vorsitzende verfrachtet: Dan Mai Zheng sprach offen, nachdem sie sich seiner Diskretion – welch Hohn für einen früher gefürchteten Aufdeckungsjournalisten! – versichert hatte. Sie verlangte von ihm einen klar umrissenen Bericht über den offiziellen Unwillen, den die fragliche Fernsehsendung bei ihr und ihren wenigen wirklich Getreuen aus¬gelöst hatte, und darüber, wie rigoros dagegen vorgegangen wurde. „Glauben Sie mir, Mr. Marconi”, versicherte ihm Miss Dan, „ich riskiere damit viel, denn wenn sich eines Tages das Blatt wenden sollte – und das ist füglich nie auszuschließen –, dann werde auch ich keine Gnade von meinen Widersachern erwarten können: dann schicken sie mich nicht in einen bequemen Hausarrest in meine Villenanlage in Shanghai, sondern richten mich hin!”

LEO DI MARCONI:
Ich sollte der Welt, sprich der anderen Seite des Globus, zu verstehen geben, dass dies alles hier geschähe, um zu beweisen, wie ernst es der Machthaberin Chinas mit dem Vertrag zwischen ihr und dem Großen Tiger von Washington sei. Wenn sich zusätzlich die Gelegenheit schickte, sollte ich dem Präsidenten Ray Kravcuk unter vier Augen bestellen, dass man weiterhin – außer irgendwelchen theatralischen Kampfgesten – jede ernsthafte Aggressionshandlung gegen Grand America unterlassen werde. Dennoch sei sie sehr besorgt über die mögliche Existenz dieses furchtbaren Waffenarsenals, wie sie in dem Film behauptet wurde, und es ergäbe eine große Beruhigung für sie und auch eine Bestätigung für ihre Politik, wenn sich jener Schrecken als bloßes Trugbild herausstellen sollte.

Trotz dieser Vertraulichkeiten war Marconis Gesprächspartnerin unangenehm berührt, als er seinerseits persönlich wurde.

LEO DI MARCONI:
Wissen Sie, Zheng, ich denke, wir haben hier den klassischen Kampf zwischen Angst und Liebe, der meistens lange Zeit nicht entschieden wird, am Ende aber immer eindeutig ausgeht.

„Ich weiß, was Sie jetzt denken, Leo” (sie funkelte mit den Augen so giftig, dass er keinesfalls auf die Idee kommen konnte, sie meinte diese cordiale Anrede ehrlich). „Sie denken, wenn diese beiden Prinzipien kämpfen, siegt immer die Angst!” Und als er eifrig nickte, erklärte sie mit schneidender Stimme, während sie ihrem Leibgardisten winkte, sich zu nähern: „Entgegen vielen Warnungen, die Sie, wie ich zuverlässig weiß, in Ihrem Leben schon bekommen haben, übertreten Sie immer wieder den Spielraum, den man Ihnen zu geben bereit ist! Ich versichere Ihnen, was mich betrifft, werde ich nicht zulassen, dass Sie auch nur einen Millimeter vom vorgezeichneten Weg abweichen, sonst landen Sie hier mit all den anderen vor Gericht – Beweise gegen Sie gibt es bei uns in Fülle, abgesehen von dem, was ich mir via Ray oder Sir Basil noch verschaffen könnte respektive was meine Propagandamaschine problemlos zu erfinden imstande wäre!”

LEO DI MARCONI:
Und schon wieder diese unerhörte Bedrohung des freien Journalismus, wie sie heutzutage allgemein üblich geworden ist! Begonnen hat alles mit dem entsetzlichen Karriereknick, den mir dieser Cheltenham, flankiert von seinen Bluthunden, in der Washingtoner Wohnung von Chuck Thomson, dieser kleinen Hure, verpasst hat, abgesehen von der Million, die ich bei dieser Gelegenheit auch noch einbüßte! Obwohl ich mich in der weiteren Folge ganz winzig machte, offiziell ziemlich langweilige Reportagen produzierte, die kaum jemand sehen oder hören wollte, und nur ganz heimlich einige interessante Recherchen anstellte, wollen sie mich immer wieder in dieses Eck drängen, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint als materielle Vernichtung oder gar Tod. – Warum haben Sie mich gerufen, meine hochverehrte Große Vorsitzende? Warum nicht irgendeinen dieser Schleimer, die nie etwas anderes taten, als den Speichel vom Mund der Mächtigen zu lecken?

„Fragen Sie nicht so viel!” quiekte Dan Mai Zheng aufgeregt. „Berichten Sie vom Prozess, und dann gehen Sie wieder hinüber auf die andere Seite und tun genau das, was ich Ihnen aufgetragen habe!”

Sie bedeutete ihm mit ausgestrecktem Arm zu verschwinden, und der Soldat, der sich neben Marconi aufgepflanzt hatte, verlieh dieser Geste durch einen bedeutungsvollen Griff an die Pistolentasche Nachdruck.

509-A

BRIGITTE:
Nur Max Dobrowolny und wir, die diese Geschichte erzählen, wussten, dass Dirk von E. ein außergewöhnliches literarisches Talent besaß, das – wenn es denn öffentlich geworden wäre – eine Reihe seiner Schwächen und Unzulänglichkeiten kompensiert hätte. Denn wenn dich die Gesellschaft erst einmal gnädig beurlaubt aus der angeblich unausweichlichen alltäglichen Tretmühle, um dir den Weg des Avantgardisten (oder wenigstens den eines Enfant terrible) zu ge¬statten, dann kannst du aussehen wie du willst, kannst dich kleiden, wie es dir beliebt, kannst den Umgang pflegen, der dir behagt – man wird es dir nachsehen, mehr noch: es wohlwollend tolerieren. Mögen sie auch noch so kontrovers zu deinen Inhalten stehen, sie werden dennoch nicht erwarten, dass du wieder auf den konventionellen Pfad zurückzukehrst, sondern dich unter dem Deckmantel künstlerischer Freiheit sogar Dinge äußern lassen, für die sie jeden anderen mit äußerster Härte bestrafen würden.

SID BOGDANYCH, DER PRODUZENT:
Und wo sind nun die Hervorbringungen des Dirk von E.?

ERZÄHLER:
Leider sind ihm bis dato lediglich so hervorragende Titel eingefallen wie etwa „Der Herr der Stuten?, und er allein erkannte dahinter bereits – zwar diffus, aber doch – die Umrisse eines monumentalen Romans, der dann auch noch wegen seines großen Erfolges in verschiedene Sprachen übersetzt wurde, und Dirk sah auch diese Titel bereits vor sich: „The Lord of the Mares?, „Le Seigneur des Juments?, Il Signore delle Cavalle?, „? ?????? ??? ????????…

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Und weil er während des Aufenthalts der Echwejchs auf seinem Anwesen auch deren Idiom einigermaßen erlernt hatte, verstieg er sich sogar zur Übersetzung in diese Richtung: „Ncho-jchi Ucheachs Chseijmchse? (ein gewagtes Unterfangen, da es die bewusste Tierart auf der Heimatwelt des Geflügels gar nicht gab und folglich auch keinen ortsüblichen Begriff dafür).

BRIGITTE:
Nie aber war von diesem Werk oder auch von den zahlreichen anderen, für die ähnlich prächtige Titel erdacht wurden, mehr zu sehen als zwei oder drei oder maximal zehn Seiten.

DER GROSSE REGISSEUR:
Die allerdings zeugten vom Vorhandensein der Genialität, die literarische Großtaten ausmacht. Dieses wenige weckte die Lust dessen, der es las, nach mehr, was sage ich: es war Gier, Besessenheit, die einen erfasste! Man verlangte nach der Struktur des Plots, nach Krise, Katharsis, aber nichts davon kam – klarerweise: es war nichts da!

SID BOGDANYCH, DER PRODUZENT:
Es war frustrierend, deprimierend! Da gab es einen, der offensichtlich imstande war, den echten Blues zu spielen (wenn ihr mir dieses Bild gestattet) – und er verweigerte sich!

ERZÄHLER:
Und man kannte den Grund dieser Verweigerung nicht! Erinnert euch, welche Theorien wir gewälzt haben: Faulheit? – Das traf’s wohl nicht ganz. Überheblichkeit? – Das war nicht Dirks Wesensart. Sadismus? – Ebensowenig, denn dazu hätte es wesentlich direktere Methoden gegeben.

BRIGITTE:
Nun – ungeachtet der kärglichen Situation seiner Familie hatte er sich in seiner Kindheit und Jugend niemals irgendwie zielführend betätigen müssen. Der Vater war früh verstorben, ohne einen erzieherischen Eindruck bei seinem Sohn hinterlassen zu können. Die Mutter, selbst weitgehend antriebslos, graste permanent die nahe und ferne Verwandtschaft der E.s ab und sammelte mit ihrem weinerlichen Gehaben stets so viel an materiellen Zuwendungen, dass sie mit Dirk zwar nicht richtig standesgemäß, aber immerhin arbeitsfrei leben konnte. Boysie gewöhnte es sich frühzeitig an, da zu liegen oder zu sitzen, auch spazieren zu gehen, aber immer gemächlich, und dabei Pläne zu wälzen, deren Einfallsreichtum und Kühnheit ihn stets selbst übermannte. Der Genuss dabei lag für ihn freilich in der bloßen Vorstellung der Verwirklichung, doch niemals wäre er auf den Gedanken gekommen, diese tatsächlich zu intendieren. Natürlich änderte sich das nicht, als unerwarteter Reichtum sich über ihn ergoss.

ERZÄHLER:
Er schaffte sich aber endlich ein ordentliches Pferd an – seine Inklination für diese Spezies war bekanntlich nicht nur literarisch – und freute sich, dass die Zeit der geborgten Klepper ein Ende hatte. Plötzlich war da etwas, das seine Ausdauer herausforderte, und man sah ihn stundenlang auf seinen Ländereien sowie auf den angrenzenden Gütern reiten: Wenn schon nicht Pegasos, so bezähmte er immerhin dessen profanen Cousin, besser gesagt die Cousine, denn Dirks Neuanschaffung war weiblichen Geschlechts. Wenn er die Stute – er hatte sie Apassionata getauft – zwischen seinen festen Schenkeln kontrollierte, während er, vornehm gekleidet und barhäuptig in der Sonne glänzend, daherkam, stellte selbst er was dar!

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Max Dobrowolny besaß kein anderes Bild seines glatzköpfigen Freundes als eine Fotokopie von dessen Erkennungskarte – nicht gerade schmeichelhaft für den Aufgenommenen, aber immerhin gut für die eine oder andere Erinnerung an Dirk. Dabei bin ich mir bei Max gar nicht sicher, welche Art von Gefühlen er gegen den Freiherrn von E. hegte: Erstens war ja seine eigene Identität lange Zeit ziemlich unklar – was von ihm nämlich seine Agenten-Vita und was allenfalls sein ursprüngliches Ich sein mochte. Zweitens war für mich schwer festzumachen, ob die homophil erscheinende Beziehung der beiden jemals zu einem handfesten körperlichen Aneinandergehen geführt hatte. Drittens war nicht zu ermessen, inwieweit jene romantischen Schwärmereien nur einem von ihnen ernst waren, während der andere lediglich bluffte – oder ob diese gar für beide nicht mehr waren als die Attitüde überzüchteter Intellektueller.

SID BOGDANYCH, DER PRODUZENT:
(gequält) Schwul leben, ohne schwul zu sein – langweilige Spitzfindigkeiten, mein Kind! Fest steht jedenfalls, dass Dobrowolnys eigentliche Profession – unabhängig davon, wen er sonst darstellte – die Literaturwissenschaft war, sodass sein Goethe-in-Libyen-Spleen immerhin auf der Grundlage einer gesunden philologischen Ausbildung und Graduierung erblühte. Mit diesem Rüstzeug war er auch der einzige, der – anders als wir, die wir hier diskutieren – professionell über das Talent Dirks urteilen konnte, selbst auf Basis jener ausschließlich fragmentarischen Bestände, die ihm zu lesen gegeben worden waren. Er exponierte sich gegenüber seinem Freund sogar mit dem Rat, aus der Not schreiberischer Kurzatmigkeit eine Tugend zu machen: Eine Möglichkeit wäre das Verfassen winziger kunstsprachlicher Miniaturen, die andere selbstverständlich die Herstellung von Mosaikplättchen, die man relativ mühelos mittels geeigneter Autoren-Tricks zu größeren Werken zusammenkleistern könne. Dirk war insbesondere von der letztgenannten Methode begeistert, weil dies seiner im Innersten gehegten Vorstellung möglichst dicker Bücher gerecht wurde. Ob er Max für diese Idee – die irgendwie Charme hatte – auf den Mund küsste, ist demgegenüber für uns ziemlich irrelevant, weil privat!

DER GROSSE REGISSEUR:
Aber Leute – wir zerren hier erklärtermaßen die ganze Zeit das Private an die Oberfläche. Wir demaskieren unsere Figuren, indem wir – nachdem beschrieben wurde, wie sie aller Welt scheinen – zeigen, wie sie wirklich sind, was in den meisten Fällen große Überraschungen und völlig unerwartete Wendungen brachte, und zum Teil würden daraus große Peinlichkeiten für die Betroffenen erwachsen, wenn sie nicht bloß handelnde Personen einer Geschichte wären. Selbst in diesem engen Kreis Erzählender, für den dies ja ebenfalls uneingeschränkt gilt, haben fast alle ihren Seelenstriptease vorgeführt (gegen den nebenbei gesagt jede Zurschaustellung von Körpern, wie wir sie ebenfalls zuhauf erlebt haben, fast langweilig erschien). Und wenn jemand – wie zum Beispiel ich selbst – in diesem Punkt eher zurückhaltend agierte, wurde ihm von den anderen rücksichtslos die Tarnung heruntergerissen! Gerade für mich, der sich ehedem mit den Größen des Filmbusiness in einer Linie sah, gibt es nach meiner Entzauberung rundum nur noch Ernüchterung.

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Aber du fühlst dich doch nicht schlecht dabei – oder solltest es zumindest nicht! Welch bessere Absprungsbasis für einen Kunstschaffenden gibt es, als mit sich selbst im Reinen zu sein? Ohnehin ist doch alles, was wir auf diesem Gebiet hervorbringen können, Fiktion, und dieser sind umso weniger Grenzen gesetzt, je fester der Urheber dieser Fiktion mit beiden Beinen auf der Erde steht! Die Kunst ist für die Ausübenden Therapie, für die Konsumenten Magie, die alle zusammen wegführt in eine Umgebung voller Kuriositäten und Wunder – aber darüber völlig die Realität zu vergessen und das, was sie uns zu sein hat, wäre krank!

ERZÄHLER:
Zugegeben – und dennoch ist jedes Artefakt für mich nicht zuletzt der Versuch, wenigstens eine kleine Weile zu ankern im Strom des Vergessens, ein Zeichen zu hinterlassen als Beweis, dass es mich gegeben hat. Schließlich werden die lautlosen Rufe aus den Gräbern der Vorfahren immer deutlicher, mahnen nicht allein, sondern locken auch, verführen. Kein Zufall also, dass jene Kunstwerke, die sich mit Wesen und Absicht von Kunst beschäftigen, vermutlich in der Überzahl sind gegenüber denen, die sich anderen Sujets widmen.

BRIGITTE:
Max Dobrowolny hatte, klarsichtig wie er war, diese Erkenntnis frühzeitig gewonnen (und bedurfte dazu mitnichten unserer Unterstützung). In seiner umfangreichen Habilitationsschrift, diesem gewaltigen geistigen Territorium, das nach den Plänen des Verfassers nur noch von seiner Goethe & Libyen-Geschichte übertroffen werden sollte, wurde das Fragment in der Kunst im Allgemeinen respektive in der Literatur im Speziellen gebührend durchleuchtet. Als Beispiele dienten unter anderem auch die Skizzen Dirks, wobei Dobrowolny diese wie auch die übrigen zitierten Texte in einem Exkurs (im Sinne eines ungewöhnlichen Denkansatze) als abgeschlossene Arbeiten betrachtete und als solche analysierte. In einem fulminanten Umstieg vom Exkurs in die eigentliche Forschungsfrage erklärte der Wissenschaftler alle Fragmente als vollendet, jedenfalls der Idee, wenn schon nicht der technischen Qualität nach. Quintessenz seiner These war, dass – Gediegenheit im Handwerk einmal vorausgesetzt – de facto fünf Seiten von E. ebenso sinnstiftend sein könnten wie 1000 Seiten Musil!

DIE DREHBUCHAUTORIN:
Dafür wurde er vermutlich von seinen Zunftkollegen sowie sämtlichen belletristischen Schriftstellern in Stücke gehackt!

BRIGITTE:
Nicht nur das – nicht nur auf einer rein sachlichen Ebene wurden er selbst und sein Kerngedanke zerpflückt. Vielmehr ging man unisono daran, ihn als komplett verrückt abzustempeln, was dann am Ende dazu führte – und jetzt kann ich endlich ein wenig Licht ins Dunkel seiner zahlreichen Biografien bringen –, dass er seine ureigene Person (den angeblich übergeschnappten Max Dobrowolny) nur mehr als eine seiner Agenten-Viten betrieb und sich ein neues privates Dasein als ein ganz anderer suchte, wovon ich ein kleines Detail verraten möchte: Er war mit Laura de Dubois verheiratet, die in der Szene als seine Schwester Sissy fungierte!

ERZÄHLER:
Auch Dirk (wiewohl kein Agent, sondern nur kurzfristig dilettierend in dieser Sparte tätig) versteckte sich als Autor hinter einem Pseudonym – zumindest hatte er das vor, falls es je zu einer Veröffentlichung kommen sollte – und so prangte auf den von ihm artig gestalteten Titelseiten seiner Fragmente, die laut Max keine solchen waren, der Name Ditta von Teesheim.

CLAUDETTE WILLIAMS, DIE DREHBUCHAUTORIN:
Wie immer er sich auch nennen mochte – ihr kennt ja seine Texte. Man muss sich schon fragen, wie einer in dieser Dichte 1000 Seiten durchhalten könnte?

509-B

DITTA VON TEESHEIM:
(Beginn des Romans „Der Herr der Stuten?) Der Meister, dem sie bis jetzt alle gehorcht hatten, dem sie jeden Wunsch von den Augen ablasen, selbst den ausgefallensten und sie erniedrigendsten, dankte ab – einfach so, als ob darüber weiters nicht viele Worte zu verlieren waren, als ob er damit nicht den Zusammenbruch der bisherigen Kultur begründet hätte. Es schien ihnen, als speiste er sie mit Phrasen ab, wo zuvor seine pathetischen Sequenzen ihr Zuckerbrot gewesen waren, das ihnen half, die Peitsche besser zu ertragen – was sage ich: freudig zu ertragen, denn das hervorragendste Phänomen dieser Gesellschaft war, dass alle strahlten, wenn der Herr sie demütigte. / Ich verspreche euch, sagte der Meister, in einer neu entdeckten Intimität werden die Frauen der Zukunft in anderen Frauen nicht mehr Rivalinnen, sondern potentielle Partnerinnen sehen – in einer dritten Form von weiblichen Beziehungen neben dem üblichen Mann, um den man wohl niemals ganz herumkommt, und der lieben Freundin, dem Notnagel für frustrierte Gefühlskomplexe: eine geistig-körperliche Partnerschaft, wenn auch nicht so weitgehend wie eine lesbische Bindung, durchaus aber mit den Strukturen eines dauerhaften Zusammenseins. / Diesen „dritten Weg? empfahl ihnen ihr früherer Herr als Ausflucht aus dem Dilemma unbefriedigender weiblicher Geschlechterkontakte sowohl mit Männern, als auch mit Frauen. Nur so könnten sie der ständigen Abwertung der Liebe als etwas Albernem entkommen, diesem ständigen Druck, Liebe nicht so wichtig zu nehmen (weniger emotional zu sein, weniger einfühlend), während die Frauen selbst diesen Anspruch als grundfalsch erleben. / Auf die Frage, warum die Beziehungen zu Männern nicht funktionierten, antwortete der Meister: Söhne fühlen sich in der Kindheit mehr zur Mutter hingezogen – bis sie dann durch die Konvention getrieben werden auszubrechen: Männer müssen Härte demonstrieren, ihre Männlichkeit beweisen, sich von der Mutter abgrenzen, indem sie sie bloßstellen. Die umgeackerte Pubertät der Söhne ist es, die geradewegs in Gewaltbereitschaft führt. / Auf die Frage, warum die Beziehungen zu Frauen nicht funktionierten, antwortete der Meister: Mädchen fühlen sich von der Mutter oft alleingelassen. Trotz mancher Aufgeschlossenheit in der Mutter-Tochter-Beziehung besteht doch ein großes Tabu: Die Mutter spricht mit ihrer Tochter keinesfalls über ihre Sexualität, schon gar nicht lässt sie von der Tochter ihre eigenen, entwickelteren Geschlechtsmerkmale untersuchen: Auf Basis dieser ausklammernden Distanz bauen sich die späteren Beziehungen zwischen Frauen auf. Die eingeebnete Berührungslust ist es, die geradewegs in die Gefühlskälte führt. / Ich, sagte der einstige Herr der Stuten, plädiere für die permanente Revolution der sozialen Befindlichkeit, die ja keineswegs, wie ihr zu befürchten scheint, einen Verfall der Zivilisation bedeuten wird, sondern eine tiefgreifende Veränderung, die nunmehr dazu übergeht, auch das private Leben nach neuen Werten zu formen. / Aber wer, fragten sie zaghaft, wird uns schlagen, wenn wir es nötig haben, wer wird uns vergewaltigen, wer wird uns täglich zerstören und täglich wieder erschaffen? Wer wird uns lieben wie seine Kinder, und für wen werden wir attraktiv und begehrenswert sein? Wer wird es am Ende sehen, wenn Freude oder Schmerz uns durchbeben und allesamt immer wieder in den einen glücklichen Gesichtsausdruck münden, wie du es uns gelehrt hast?

510

Eine Komtesse von B. fackelt nicht lange, wenn eine Angelegenheit sich zuspitzt – das hatte meine gräfliche Mutter mir als eine der ersten Maßregeln für standesgemäßes Benehmen eingeschärft, nachdem ich aus der Spiegelwelt zurück unter ihre Fittiche gekommen war, und es war eine der wenigen Vorschriften gewesen, die mich vom Fleck weg angesprochen hatten und die ich daher gerne befolgte. „Carpe diem!” hatte Maman von ihrem Vater gelernt, der seine klassische Bildung geradezu exzessiv auslebte, indem er die Tochter beispielsweise ab und an sogar zur lateinischen Konversation zwang. Meine eigenen Kenntnisse der Lingua mortua blieben dagegen marginal, und von allem, was ich in diesem Kontext hörte, prägten diese zwei Worte sich besonders ein, weil sie mir als Motto meiner Bemühungen für ein selbstbestimmtes und selbstbewusstes Leben erschienen, wenn ich sie vermutlich auch in einem ganz anderen Sinn rezipierte, als sie gesagt worden waren. Nicht irgendwelche antiken Tugenden sah ich als meine Berufung an, sondern die Gelegenheiten zu nützen, die sich mir boten – allenfalls in den Grenzen des guten Geschmacks, daher natürlich nicht Romuald, sondern Basil!

Mein geliebter Baronet, Chicago und ich entschlossen uns kurzerhand, zur Station aufzubrechen. Es war natürlich Basils Generalstabsattitüde, die uns sagte, dass nur ein Besuch vor Ort Klarheit schaffen würde, aber wir waren uns selbstverständlich darüber einig, dass wir ein Risiko eingingen, wenn wir die entsprechenden Koordinaten in den Sockel der Kristallkugel eingaben: Niemand konnte vorhersagen, an welchem Punkt von VIÈVE wir erscheinen würden, jedenfalls nicht genauer als plus / minus 50 Meter. „Wenn wir dort oben auftauchen und jemand setzt uns seinen Stiefel ins Genick”, bemerkte Basil bitter, „haben wir, was wir brauchen. Allerdings”, so beschwichtigte er uns gleich wieder, „werden wir von einer Gruppe römischer Legionäre unterstützt, um die König Keyhi unseren Freund Scipio Africanus gebeten hat und die von Wien hierher unterwegs sind, um uns zu begleiten.”

Somit wandte sich unsere Aufmerksamkeit Berenice zu. Diese musste nicht erst lange für unseren Plan gewonnen werden – wobei man sich in ihrer Gegenwart ohnehin nie im Klaren war, ob sie nicht die eigentliche Initiatorin eines Vorhabens war, das man für sein eigenes ansah: Weder Sir Basil mit all seiner (nicht ganz unberechtigten) intellektuellen Überheblichkeit, noch Chicago mit seiner authentischen (durch Jahrtausende geprägten) Koori-Eindringlichkeit, noch ich selbst mit meiner (aus dem fast greifbaren Gefühl der Hochzüchtung stammenden) adeligen Arroganz konnten völlig sicher sein, dass nicht ein telepathischer Auftrag, das Unternehmen zu starten, von der Walemira Talmai ausgegangen war. Immerhin hatte sich, wie ich hörte, das Verhalten der Schamanin gegenüber früher – als sie offenbar nur unter großen Schwierigkeiten ihr umfassendes Inneres, das viele Zeiten und Räume sowie Personen unterschiedlichster Art und Herkunft synchron erlebte, zähmen konnte – deutlich gewandelt. Mittlerweile war sie längst imstande, alles, was nicht in eine gewöhnliche Situation passte, auszublenden und eine ganz normale Gesprächspartnerin abzugeben: Klar, dass nun immer mehr Leute sich der Illusion hingaben, in Berenice ihresgleichen erblicken zu dürfen.

Ich persönlich blieb wie immer ein wenig reserviert – kein Wunder, behaupte ich, bei meiner Vergangenheit, die nicht gerade gesegnet war mit Zutrauen oder der Möglichkeit, sich auf jemanden blindlings verlassen zu können. Dessen¬ungeachtet wusste ich es zu schätzen, dass Berenice nach ihren anfänglichen Versuchen, mich bei meiner Mutter in Deutschland festzusetzen (und zwar mit allen unangenehmen Konsequenzen wie etwa der Verkuppelung mit diesem Dirk von E.), schließlich meine Beharrlichkeit in Richtung Cheltenham anerkannt hatte – mehr noch, sie räumte sogar ein, dass ich ihm guttat auf dem Weg zu seiner alten Form, die er ja auch in ihrem Sinn wiedererlangen sollte.

BERENICE:
Kluges Mädel, unser Komtess’chen, aber so nüchtern war’s von meiner Seite auch wieder nicht betrachtet!

Das soll wohl heißen, dass die von Basil und mir ausgestrahlten echten Gefühle Sie dazu brachten, Ihre Meinung über uns zu revidieren?

BERENICE:
Bei der Bewertung von Gefühlen ist jede erdenkliche Vorsicht geboten, meine Beste, denn diese hüpfen, unseren australischen Springflöhen gleich, in eine Beziehung hinein, aber ebenso schnell wieder heraus und ganz woanders hin.

Mir war sehr wohl klar – dazu habe ich lange genug im Paralleluniversum gelebt –, dass Basil mich nicht zuletzt als Beute seines Sieges über Iadapqap Jirujap Dlodylysuap betrachtete, aber was hat es letztendlich mit den später auftretenden Gefühlen zu tun, wie einer seines Kalibers eine Partnerin erworben hat? Einem Cheltenham wird, aus naheliegenden Gründen, stets rätselhaft bleiben, ob eine Frau ihn per se liebt oder bloß seine Autorität, aber da er selbst in diese Macht vernarrt ist, wird es ihm wohl gleich sein. Und vergessen Sie eines nicht – ich habe ihm den magischen Gürtel des Tyrannen übergeben und ihn gelehrt, diesen zu aktivieren! Wie wird da seine Zuneigung zu mir nicht blütenrein und heiß sein?

[ 2 Zeilen Durchschuss ]

BERENICE:
Als Bewahrerinnen der Kristallkugel waren vorerst Idunis und ich die einzige Hoffnung der drei Reisenden auf Rückkehr. Ich hatte außerdem so meine Ideen, um die Besorgnis Cheltenhams über den Zugang zur Station zu mildern. Zu diesem Zweck nahmen wir zunächst einmal die Komtesse zur Seite, verrieten aber nicht, was wir mit ihr vorhatten. Die beiden Männer blieben gespannt zurück und hatten keine blasse Ahnung, was auf sie zukam.

Und das war verblüffend genug. Die beiden Koori-Frauen führten mich in einen Raum des Anwesens, den ich noch nie zuvor betreten hatte und der wie viele andere Zimmer und Säle hier exotisch ausgestaltet war nach dem Geschmack Lord Godalmings, des früheren Hausherrn, Gemahls von Lady Pru und Ex-Offiziers der Britisch-Indischen Armee. Mir selbst erschien das Ambiente gar nicht so ungewöhnlich, denn im Dunstkreis des Tyrannen der jenseitigen Völker war man einiges gewöhnt, was im irdisch-abendländischen Sinne als fremdartig-schwülstig gelten würde. Kein Wunder, dass sich Berenices und Chicagos Gruppe mit der ihnen eigenen Tendenz zur Phantasie im Allgemeinen sowie zu Farben und Formen im Besonderen in dieser ihrer europäischen Wahlheimat wohlfühlten.

Die Walemira Talmai und ihre Dienerin fassten in die Erdfarbtöpfe, die dort für die Vorbereitung ritueller Anlässe bereitstanden, und verpassten mir eine Körperbemalung, mit deren Hilfe ich eine Chance bekommen sollte, auf VIÈVE unentdeckt zu bleiben. Als das Kunstwerk fertig war, schimmerte meine nackte Haut teils metallisch, teils schienen bestimmte Partien wie von Rost überzogen. Ich wurde eingeladen, vor einen großen Spiegel zu treten, und erkannte erst dann, welch imposanten Reliefeffekt die beiden zustandegebracht hatten: sodass man geradezu den Eindruck gewinnen konnte, Teile von – allerdings undefinierbaren – Maschinen und Apparaten vor sich zu haben. Mein hüftlanges Haar war indessen hochgesteckt und in eine graublaue Masse verwandelt worden.

BERENICE:
Wie gefällt es Ihnen, Kindchen?

Abgesehen davon, dass ich derlei Anrede als völlig unpassend empfand, gefiel mir, was ich da sah, sogar ausnehmend gut, und ich konnte das auch genau präzisieren: Ich war noch immer himmlisch schön, auch oder gerade jetzt, aber der aktuelle Zustand katapultierte mich endgültig über die gesamte Schar von Beauties, von denen einige vielleicht doch eine ernsthafte Konkurrenz für mich bedeuteten, hinaus: Nicht nur wie bisher als Legende beider Universen, sondern jetzt auch in meiner äußeren Form war ich zum Kultobjekt geworden.

BERENICE:
(listig) Und der Vorgang als solcher?

Jaja, keine Angst, ich wäre gleich darauf zu sprechen gekommen, denn ein derart einzigartiges Erlebnis muss man einfach in Worte zu fassen versuchen!

Wie Berenice, aber besonders diese Idunis meinen Leib bearbeitet hatten – nicht mit Pinseln wohlgemerkt, sondern mit ihren zärtlichen, durch die Farbsubstanzen ungeheuer berührungsintensiven Fingern, jagten sie Wellen von Zuneigung, aber auch von Assoziativität und Sensitivität, von Anspannung und Erlösung durch mich hindurch. Ich begriff ohne weiteres den Sinn, den nicht unwesentlich sexuell orientierten Sinn solcher Markierungszeremonien bei den Naturvölkern und empfand schmerzhaft das Fehlen dieser Liturgie auf der zivilisierten Seite unserer Realität – aber auch die teils barbarischen Kulte der Spiegelwelt kannten meines Wissens nur die blanke Blöße, nicht aber deren bewusste Verzierung. Ich verstand nun auch, was es für Basil bedeutet haben musste, die furchtbar schwarze Naturschönheit mit bloßen Händen zu bemalen.

BERENICE:
Als ich den Herren Cheltenham und Chicago – die einander, nebenbei gesagt, mittlerweile ewig kannten, und denen miteinander niemals langweilig wurde – die verwandelte Komtesse vorführte, begriffen sie als Experten des lautlosen Krieges sofort: Wenn Clio auf VIÈVE an den Wänden der Gänge und Kavernen entlangschlich oder sich eng an die Streben des Tragwerks drückte, würde sie schwerlich jemand von den jeweiligen Kulissen unterscheiden können – eine geniale Idee, wurde mir bescheinigt. Erst auf den zweiten Blick folgte die Bewunderung für das Kunstwerk als solches. Man konnte sehen, das die archaische Facette dieses Anblicks ihre Wirkung tat: Sir Basil wahrte mit Mühe seine Contenance, und auch meinem Koori-Freund war sein Begehren ins Gesicht geschrieben. Idunis wiederum – ich kannte sie gut und wusste daher, was eben jetzt in ihr vorging – hielt sich bereit, einem oder allen beiden dienlich zu sein, falls diese Emotionsableitung dringend erforderlich werden sollte. Insgeheim hoffte sie inständig, ich möge das Berühren unseres Werks, um es unversehrt zu erhalten, überhaupt verbieten und sie selbst bei den Männern dafür umso sicherer zum Zug kommen lassen.

Irgendwie bekam ich ganz klar mit, was da unausgesprochen und allenfalls mittels kurzer Blicke hin und her transportiert wurde. Tatsächlich hätte ich es allerdings nicht so gern gesehen, wenn Basil sich einer fremden Spezialbehandlung unterziehen wollte, und war daher froh, als die Walemira Talmai verfügte, dass man umgehend zur Einfärbung meiner beiden Begleiter schreiten müsse. Der Dienerin war’s sichtlich Recht, denn sie würde auch auf diese Weise ihr Vergnügen haben.

BERENICE:
Ich ahnte natürlich, dass es bei der Motivauswahl diesmal, anders als bei der Komtesse, zu Unstimmigkeiten kommen würde. Die beiden Männer wussten nun im Voraus, was ihnen blühte und gingen daher bereits im Geist die optischen Möglichkeiten durch, die sich anboten. Idunis und ich konnten davon ausgehen, dass wir bei ihnen größten Widerstand finden würden, wenn wir das Naheliegendste vorschlugen: nämlich dasselbe Sujet wie bei Clio anzuwenden, zweckdienlich und situationsbezogen.

Der Protest ließ nicht auf sich warten. Erstens war das, was sie an mir sahen und weswegen sie mich mit ihren Blicken geradezu verschlangen, für sie ab sofort eindeutig weiblich besetzt und damit nichts für sie – hier konnte man ihnen ohne weiteres zustimmen, denn wenn zwei das Gleiche tun, ist es bekanntlich noch lange nicht Dasselbe, und sie würden tatsächlich reichlich seltsam aussehen. Zweitens aber (und das war das Hauptargument der beiden) ging es nicht an, wenn sich ein ganzer Kerl auf dem Pfad der Ehre etwas anderes auftrug als die ihm gemäße Camouflage.

BERENICE:
Für Chicago war das natürlich unsere traditionelle Koori-Bemalung, die weißen Streifen, die Pflanzen- und Tiersymbole, die jedes für sich eine Eigenschaft oder Fähigkeit repräsentierten, seien sie nun vorhanden oder bloß erwünscht. Mein Einwand, dass er damit auf VIÈVE auffallen würde wie der legendäre bunte Hund, tat er mit einer stolzen Handbewegung ab – nach langer Zeit spürte ich wieder einmal jene Geringschätzung gegenüber den angeblich so unheroischen Frauen des Stammes, selbst wenn es sich dabei im konkreten Fall um die Schamanin handelte, die unzweifelhaft Großes bewegen konnte, mehr als eine ganze Horde Speerträger zusammen.

Basil wiederum beharrte darauf, nichts anderes zu verwenden als die gediegenen Tarnfarben der Royal Army, obwohl man gar nicht wissen konnte, welche der vorhandenen Facetten (es gab Desert Style, Wood Style und so weiter) auf der Station die passende sein würde. Er wählte schließlich – während Idunis bereits eifrig seinen Freund bearbeitete – Grün, Braun, Violett und, auf meinen Rat hin, auch Schwarz. Sowie das geklärt war, zierte er sich ein wenig, gleich mir und Chicago seine Kleider dazulassen. Er konnte erst überzeugt werden, als einerseits die Walemira Talmai ihm eine mir unbekannte Episode mit einer gewissen Tyra ins Gedächtnis rief, mit der er sich für Queen und Empire in seinem Naturzustand gezeigt hatte, und andererseits ich ihn erinnerte, dass er das Magieroutfit des Diktators, den Strick (den mitzunehmen uns geraten erschien), nur in dieser Beschaffenheit einsetzen konnte.

Chicago gab noch eins drauf: In Keyhis kleinem Reich würde sich doch wohl Geeignetes finden lassen, falls überhaupt alles zu einem guten Ende kam, wir überleben sollten und sodann wieder etwas anziehen wollten!

BERENICE:
Dann konnte es endlich losgehen. Noch sah man die Drei als kleine, gesprenkelte Figürchen in der Kristallkugel, dann waren sie endgültig verschwunden. Als letztes verglühte Clios himmlische Schönheit auf ihrem Weg in den Untergrund. Auf den Centurio Quintus Rubellius Taurus und seine Mannschaft hatten wir allerdings vergeblich gewartet, und ich beschloss, mittels meiner telepathischen Fähigkeiten etwas über deren Verbleib herauszufinden.