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3. TEIL
DAS SÜSSE GIFT
DER PHILOSOPHIE
301
Ehrlich gestanden, es gab eine Versuchung jenseits aller Klischees von Gelüsten (wie Macht, Geld, Sex und so weiter), die Sir Basil wirklich seit jeher gefangen hielt, und die war die eigentliche Ursache dafür, dass er niemals gezögert hatte, „to the utmost” zu gehen (um eine seiner Lieblingsphrasen zu gebrauchen): Er war insgeheim süchtig nach dem Tod. Zu oft hatte er den dunklen Tunnel betreten, bereit hindurchzuschreiten, und obwohl ihn immer wieder Umstände, die einfache Gemüter wohl seinem gütigen Geschick zuschreiben mochten, zurückholten, hatte er doch gekostet von jenem ozeanischen Gefühl, das eine Neutralisierung aller Ambitionen bedeutet. Insbesondere schienen dann und wann diejenigen, die ihm vorangegangen waren, intensiv nach ihm zu rufen.
Wenn dies der Fall war, ließ er sich von Kantara nach Nicosia fahren und suchte den Büyük Han auf. Dieser hatte zur Zeit der britischen Besatzung als Central Prison gedient, dann – nach endlosem Gezerre – als Shopping- und Entertainmentdistrikt und wurde nun vom neuen Machthaber erneut als Gefängnis genützt, wofür man umfangreiche und kostspielige Rückbaumaßnahmen in Kauf nehmen musste. Irgendwo in diesem Gebäude gab es eine geräumige Zelle, in die niemals ein Delinquent gebracht wurde und an deren Eingang ein Symbol befestigt war, das niemand vom Wachpersonal sich erklären konnte: Für Cheltenham aber stellte es ganz klar seine komplizierte Verbindung mit seinem Pendant aus dem Paralleluniversum dar. Für dieses war jener Raum reserviert und mit diesem kommunizierte der Baronet, wenn die Stimme des Verblichenen ihn zu sich beorderte.
Mittlerweile war nämlich der Tyrann der jenseitigen Völker, Iadapqap Jirujap Dlodylysuap, den er im Zweikampf besiegt hatte, sein ständiger unsichtbarer Begleiter – Zeichen dafür, dass es naiv war, zu glauben, nach der Abkoppelung der Spiegelwelt sei diese spurlos verschwunden: Tatsache war offenbar, dass die andere Realität dabei war, unser Universum ohne Rücksicht auf Raum und Zeit kontrapunktisch zu durchdringen.
IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
(in einer gespenstischen, weil völlig lautlosen Form der Unterhaltung) Hi, Cheltie! Hast du dir einmal überlegt, ob das bedeutet, dass mein Universum bloß noch eine Chimäre ist, die sich über deines legt, oder dass auch meines noch real existiert und daher drüben nach wie vor parallel dasselbe passiert wie hier, nur im Detail mit anderen Parametern?
„Sophismen, Dlody, nichts als Sophismen”, konterte der Baronet, „wie man es von dir gewöhnt ist (weswegen du auch in unserem intellektuellen Zweikampf nicht bestanden hast und Zuflucht suchen musstest zu einem wirklichen Duell auf Leben und Tod). Tatsache ist, dass niemand der Antinomie seiner selbst entgehen kann, wobei es unerheblich bleibt, ob diese ein bloßer Schatten ist oder aus Fleisch und Blut besteht.”
IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
So unpräzise neuerdings – und gar nicht mehr geil darauf, die geistig-sprachliche Genauigkeit in Person zu sein? Hast du am Ende begonnen zu koksen?
„Ich hatte es nie nötig, mich auf so primitive Weise zu berauschen!”, stellte Cheltenham würdevoll fest. „In den zahlreichen Kulturen, in denen ich die Ehre hatte, Gast zu sein, gab es genügend Herausforderungen, die mehr waren als flüchtiger Schnee, nämlich transzendierende Rituale!”
IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
Aber so weit du auch immer damit gekommen sein magst, Cheltie, niemals konntest du eine Position erreichen, wie ich sie nunmehr kraft meines Hinscheidens erreicht habe. Solange wir einander leibhaftig gegenüberstanden, galt: Du konntest vermuten, was ich vermutete hinsichtlich deiner Optionen und wie ich die Chancen einschätzte, dass du die eine oder die andere dieser Optionen wählen würdest. Und du konntest dich deshalb für jene Option entscheiden, die dich vermuten ließ, ich hielte sie für weniger wahrscheinlich und würde es daher verabsäumen, mich auf eine passende Reaktion vorzubereiten. Nun aber – das ist der unschätzbare Vorteil der Toten – weiß ich geradewegs, was du denkst, und demzufolge präzise, wofür du dich entscheiden wirst. Wenn ich dich daher aus den Fängen jenes ungeschlachten Androiden im Labyrinth von Oilell Guinevere unter der Bedingung entlassen habe, diese Aufgabe hier zu übernehmen, dann konnte ich von vornherein darauf zählen, dass du zugreifen würdest!
„Moment mal, Dlody, selbst wenn es so wäre, wie du behauptest – und ich habe eigentlich keinen Grund, daran zu zweifeln –, willst du doch nicht behaupten, dass du jetzt nicht mehr du selbst im früheren Sinn bist, also auch Optionen wählen könntest, die der Diktator der jenseitigen Völker zu seinen Lebzeiten niemals in Betracht gezogen hätte, sei es aufgrund einer linearen Inklination zur Macht oder eines wenn auch obskuren Ehrenkodex’ deiner Diktatur? Und du willst mir doch nicht allen Ernstes weismachen, dass du nicht mehr meine Dublette seist, dass also die Veränderung, die mit dir geschehen ist, nicht nur quasi deinen Aggregatszustand, sondern deinen Charakter betroffen hätte, und dass du daher für mich nicht mehr wie früher in einer speziellen Weise (anders als jeder andere Mensch aus diesem oder aus jenem Universum) berechenbar wärst?”
IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
Ich habe – im Gegensatz zu dir, dem diese Übung noch bevorsteht – Bescheidenheit und Selbstironie gelernt. Mit einem Wort, ich kann mich zum Narren machen, und ich bedaure sehr, dass ich diese Fähigkeit nicht schon früher entwickelt habe…
Natürlich fragte ihn sein Besucher, wie dies mit seiner Position als blutrünstiger Tyrann zu vereinbaren gewesen wäre.
IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
Blutrünstiger Tyrann – also weißt du, Cheltie, dein Sinn fürs Dramatische geht mit dir durch. Tu doch bitte nicht so, als ob du einem deiner Untertanen gestatten würdest, gegen deinen Willen zu handeln. Du kennst dich selbst gut genug, um zu wissen, wie deine Antwort auf jegliche Subordination wäre, nämlich im Prinzip nicht anders als meine. Aber wenn schon – wär’s dann nicht besser, ein lachender Diktator zu sein, dem Verurteilten auf die Schulter zu klopfen und zu sagen: Tut mir wirklich Leid, alter Knabe, aber ich muss Sie jetzt einen Kopf kürzer machen lassen!
Moral Suasion also, dachte der Baronet – etwas, das ihm persönlich sehr lag, wie wir wissen, nur eben konsequent zu Ende gedacht.
IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
Auch in deiner Welt haben die totalitären Systeme einen Entwicklungsprozess durchgemacht, Cheltie: Der Inquisitor, der eurem Giordano Bruno einredete, es sei ganz wichtig, ihn zu verbrennen, ad maiorem Dei gloriam, dieser Typ agierte noch mit flammendem Ernst, und er war im Sinne dessen, was wir hier diskutieren, eigentlich nur mäßig erfolgreich: Wie Bruno blieben ja viele standhaft und ließen sich nicht dazu herbei, vor ihrer physischen Vernichtung auch noch die Dogmen ihrer Peiniger zu akzeptieren. Erst mit dem Fortschritt der psychologischen Wissenschaft, als sich plötzlich die Geheimnisse der seelischen Ambivalenz auftaten, erzielten jene Folterknechte den größten Effekt, die sich jovial auf ihre Opfer einstellten und diese in geschmeidigen, aber zielgerichteten Diskussionen mit großer Geduld langsam auf die Seite der Macht zogen, bis sie willenlose Werkzeuge waren, wertvoller als tot. Und je mehr sich der Wärter über sich selbst lustig machte, desto sicherer hatte er seinen Gefangenen am Haken. Aber ich sehe, du glaubst mir nicht – auch egal…
Die beiden Herren schwiegen daraufhin einige Zeit.
IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
Gib aber wenigstens zu, dass ein Mann, der sich über sich selbst lustig machen kann, die weitaus größere Resonanz in der Gesellschaft (namentlich auch bei den Damen) hat, als einer, der immer nur versucht, seine Rivalen herunterzumachen.
Wenn das gleich wahr wäre, dachte Sir Basil, so behagt es mir nicht. Und er führte sich mit Gewalt vor Augen, dass er sich hier mit einem Phantombild unterhielt, das – vielleicht – in einem wie immer gearteten Jenseits existierte, aber nicht hier, in seiner Realität. Er hatte Iadapqap schon bei früheren Gelegenheiten nach diesem Totenreich befragt, aber nie Genaueres herausbekommen, aus dem banalen und eigentlich glaubwürdigen Grund, dass der Ex-Tyrann es nicht zu beschreiben vermochte.
IADAPQAP JIRUJAP DLODYLYSUAP:
Es ist nicht fassbar. Das einzige, was ich dir sicher sagen kann, ist nur: Ich befinde mich am Ende aller Pläne, ich bin leidenschaftslos, ich bereue nichts aus meinem seinerzeitigen Leben, ich bedaure nichts, aber ich bin auch auf nichts mehr stolz, und fast scheint es, als würde ich sogar langsam aufhören, mich überhaupt zu erinnern. Gerade, dass ich dich noch kenne, Cheltie, und gerade dass ich noch weiß, du habest mir den Tod gebracht, aber selbst dieser Umstand ist fast ganz bedeutungslos geworden.
Der Baronet zuckte, als ob er eine Last abschütteln wollte. Er trat an das uralte Steinbecken in einer Ecke der Zelle, in dem sich die Gäste dieser ehemaligen Karawanserei zu waschen pflegten und das auch jetzt mit Wasser gefüllt war. Im Spiegel der Oberfläche erkannte Sir Basil ein Abbild seiner selbst – gealtert, von grauer Gesichtsfarbe, mit weißem Haar. Wollte sich die Spukgestalt des Diktators vielleicht auf diese Art zeigen?
Plötzlich wurde Cheltenham klar, dass es sich um niemand anderen handelte als seinen eigenen Vater, der vor vielen Jahren gestorben war und der ihm hier erschien: „Hey”, sage er mit brüchiger Stimme, „die Zeiten haben sich gewaltig verändert – alles, was ich dir mitgeben wollte, ist zu einer Last für dich geworden. Ich denke, ich habe dir mit meiner ganzen Erziehung nur Unglück gebracht.”
An dieser Stelle rastete etwas ein im Unterbewusstsein des Baronets, und er verstand in einem Augenblick schonungloser Selbsterkenntnis, warum ihn seit frühester Jugend in vielen Situationen, in denen sich manch anderer einem uneingeschränkten Glücksgefühl hingegegeben hätte (zum Beispiel in den Armen einer geliebten Frau), eine kalte Hand anfasste und ihm den Spaß verdarb. Zunächst hatte er immer gedacht, es sei sein Pflichtgefühl gewesen, aber heute wusste er, dass es eine andere, eine finale Instanz war.
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Wenn Sir Basil genug von alldem hatte, verließ er, rückwärts gehend, die Zelle, schloss diese ab, und während die Aufseher wie bei jedem seiner Besuche rätselten, mit wem er sich wohl da drinnen unterhalten haben mochte, wurde er bereits wieder zu seiner Festung chauffiert. Nicht zuletzt solche Aktionen trugen dazu bei, seinen Mythos zu mehren, denn fast alle der im Büyük Han Beschäftigten, ob es nun lokale Griechen oder Türken waren oder ob sie vereinzelt aus den Landstrichen entlang des Limes stammten, pflegten den einen oder anderen Aberglauben aus ihrer Heimat und waren daher mehr als empfänglich für undurchdringliche Geheimnisse.
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Natürlich habe ich trotz aller Idylle mit meinem Freund Horst (der noch immer DDDs Mann war, wenn auch nur auf dem Papier) keine wirklich normale Beziehung. Immerhin hätte ich ja ohne ihn weiter meinem Beruf als Prostituierte nachgehen müssen, noch dazu angesichts meines fortschreitenden Alters in der zunehmend infernalischen Phase unserer Profession. Dass er in echt großzügiger Weise für mich aufkam, bedeutete aber letztlich: Ich machte es weiterhin für Geld, wenn auch mit einem sehr persönlichen Freier. So sehr ich mir auch permanent einredete, meine Situation würde sich eigentlich durch nichts von jener vieler Ehefrauen unterscheiden, stand diese Tatsache unverrückbar zwischen uns.
HORST:
Offen gesagt, ich liebte es, wenn meine Alte (so nannte ich sie mit Genuss, da ich DDD niemals hätte in dieser Form ansprechen dürfen) – wenn also meine Alte in diesem seltsamen Spannungsfeld gefangen war. Ich gab mich ihr gegenüber völlig ungeniert, und das funktionierte auch sehr gut, trotz Elses privater Biedermeierattitüde. Sie begehrte nicht ernsthaft auf, wenn ich quasi in ihrem Porzellanladen herumtrampelte, denn sie war daran gewöhnt, einiges runterzuwürgen, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Immer wieder dachte ich mir Geschichten aus, die scheinbar harmlos begannen und mit einem direkten Bezug zu ihr endeten. Der Anlass, sie zu erfinden, war stets ein konkreter, und es ist müßig zu erwähnen, dass es sich nicht um die Art von Wortkunst handelte, die meine Freundin liebte. So kam ich eines Tages nach Hause und legte schon an der Tür los: Du, stell’ dir vor, da unten an der Kreuzung ist doch der Puff…
Ich zuckte zusammen, immer noch, oder noch immer – wie seltsam!
HORST:
… das Haus mit den bunt blinkenden Lichterketten.
Ich kannte es. Seinerzeit hatte es für mich, die auf privatem Territorium arbeitete, eine gewisse Konkurrenz bedeutet.
HORST:
Als die Ampel gerade für mich auf rot stand, überquerte eine junge Frau in Jeans und T-Shirt die Straße, eine Plastiktragtasche in der Hand, und sie betrat dieses Gebäude durch den Seiteneingang. Mann, das geilte mich plötzlich auf, mir vorzustellen, die Kleine würde da drinnen – obwohl sie heraußen wie eine aussah, die gerade vom Einkaufen kommt, nabelfrei zwar, aber durchaus alltäglich – irgendein dürftiges nuttiges Outfit anlegen und danach halbnackt für den Erstbesten die Beine breit machen. Ist sie vielleicht mit ihren Gedanken weiter im Supermarkt, das heißt, funktioniert ihr Körper bereits völlig losgelöst von ihrer Psyche? Oder springt bei einer bestimmten Schlagzahl der Funke von dem Kerl, der sie fickt, auf sie über?
Ich versuchte, ihm das aus meiner Vergangenheit heraus zu erklären – wie man ständig bemüht ist, diese gewisse Trennlinie zu ziehen, bis sie schließlich glaubhaft für einen selbst das ganze Leben in zwei voneinander ziemlich unabhängige Teile gliedert. Und das beginnt schon ziemlich weit außerhalb der unmittelbaren Leiblichkeit, nämlich mit den Orten, an denen man sich beruflich und privat aufhält.
Als ich mit Glück als bloße Bordsteinschwalbe aufhören und in ein festes Quartier – in den Innendienst sozusagen – wechseln konnte, hatte ich das nicht zuletzt meinem unbändigen Ehrgeiz zu verdanken, aber selbstverständlich vor allem dem Umstand, dass ich meinen Zuhälter losgeworden war: Irgendjemand hatte ihn im Café im Zuge eines Streits über angeblich betrügerisches Spiel kaltblütig erstochen. Der Mörder hatte genug zu tun, sich vor dem Zugriff der Polizei in Sicherheit zu bringen, sodass er sich nicht um mich kümmerte, geschweige denn mich als Beutegut beanspruchte. Mir wiederum war es gelungen, wenigstens so viel Geld beiseite zu schaffen, dass ich mir nun eine richtig schöne Wohnung zulegen konnte, aber das war nicht alles – und hier trug meine Begeisterung fürs Lesen anspruchsvollerer Literatur wirklich reiche Frucht.
Angeregt durch Heimito von Doderers „Strudlhofstiege”, wo der alte Herr von Stangeler eine im Nachbarhaus gelegene Wohnung mietet, um das Familiendomizil zu vergrößern, das durch diese Maßnahme einen seltsamen Auswuchs, das sogenannte Bockshorn erhält. In der durchbrochenen Feuermauer gibt’s eine Tür, hinter der sich – für die dort einziehenden Töchter – ein Leben eröffnet, von dem der Vater nichts weiß, im Gegensatz zu der drüben zuständigen Hausmeisterin. An dieser vorbei nämlich, über das fremde Stiegenhaus und durch den dortigen Ausgang in die andere Gasse, entschwindet Etelka, unkontrollierbar für die Eltern, zu nächtlichen Eskapaden, während Asta Schmiere steht.
Davon inspiriert, hatte auch ich die an meine bürgerliche Bleibe angrenzende Kleinwohnung gekauft und für meinen Berufsalltag adaptiert. Das winzige Bad wurde zweckdienlich für meine und meiner Freier Bedürfnisse eingerichtet, die Küche zu einer kleinen Bar umgebaut. Das einzige Zimmer war von einem riesigen Bett beherrscht, auf einer Art Anrichte stand eine Schüssel aus feinem Porzellan, in der diskret der Hurenlohn zu deponieren war. Der einzige Kasten enthielt einschlägige Accessoires, die sündigen Dessous, wie Horst sie nannte (und er war weiß Gott der einzige Besucher, mit dem ich je über so etwas auch geredet habe) sowie handfestere Gegenstände, mit denen man durchaus etwas Gewalt ins Spiel bringen konnte. Nun, ich möchte niemanden damit langweilen: Wer das gängige Sortiment kennt, dem brauche ich es nicht zu schildern, und wer nicht, der hat auch wenig davon, wenn ich es ihm aufzähle.
Das Geheimnis des Kastens aber – und seine eigentlich Funktion – war es, die Tür in jene andere normale Welt zu verbergen. Mittels elektromechanischer Vorrichtungen konnte das Möbel durch das Betätigen eines verborgenen Knopfs um seine eigene Breite versetzt werden – ein Vorgang, der weitgehend lautlos verlief – und gab dann die entscheidende Tür frei. Sie war es ja, die endlich, wie ich es schon lange ersehnt hatte, zwei sauber getrennte Bereiche schuf, mit einer nur für mich durchlässigen Membran dazwischen.
Auf der einen Seite war ich für die übrigen Hausbewohner und die Geschäftsbetreiber der Umgebung die reiche Witwe (obwohl ich nie verheiratet war, stellten sich bei mir alle einen verblichenen Ehegatten vor, selbst Horst, und gerade ihn ließ ich ohne weiteres in diesem Glauben). Ich kaufte gehobene Waren, suchte dann und wann ein besseres Kaffeehaus auf – und dazu gehörte jenes, in dem der Mord passiert war, wohl kaum –, gab Kellnern und Taxifahrern noble Trinkgelder und ließ mich rundherum hofieren. Da ich stets eines von meinen Lieblingsbüchern bei mir trug (Dos Passos oder Munif oder Themelis), schien sich in diesem Biotop des 18. Wiener Gemeindebezirks die Ansicht zu verfestigen, ich hätte womöglich akademische Weihen. Zumindest, so die Fama, musste wohl mein Verflossener Gymnasiallehrer, Dozent oder gar Universitätsprofessor gewesen sein, was in meiner Heimatstadt ausreichte, um auch die Gemahlin mit einem Titel zu adeln.
Auf der anderen Seite dieses Fuchsbaus kamen die Kunden zu mir, was die anderen Mieter und vor allem die Hausmeisterin wohl sehen konnten, aber ich selbst zeigte mich nie. So war ich nicht gezwungen, irgendwelche Erklärungen abzugeben oder gar den weiblichen Zerberus mit laufenden Geldbeträgen zu verwöhnen, wie das Doderers Etelka hatte tun müssen. Eine gut getarnte Überwachungskamera verhinderte überdies, dass ich jemand Unerwünschtem die Tür öffnete: Neben dem Monitor hingen die Fotos aller Hausbewohner von hüben und drüben, und zwar en face und en profil.
Was ich natürlich nicht verhindern konnte (und auch nicht wollte, denn ich musste Geld verdienen), waren Freier aus der näheren Umgebung – aber merkwürdig, keiner der Typen, mit denen ich in meinem bürgerlichen Kontext zu tun hatte und die es auch ans andere Ende meiner Existenz verschlug, das von Perücken, Schminke, unverschämt nackter Haut und kommerziell übersteigerter Geilheit geprägt war, hat jemals mitgekriegt, dass es dieselbe Person war, der er dort Zeitungen und Brot verkaufte oder Kaffee servierte und die es ihm da nach allen Regeln ihrer Zunft besorgte. Sie konnten die Wahrheit einfach nicht sehen, und selbst wenn einer sie sah – was ich selbstverständlich nicht völlig ausschließen kann –, dann wollte er sie vielleicht gar nicht in sein Bewusstsein dringen lassen.
HORST:
Das war einem spezifisch weiblichen Talent zu verdanken, das du zu wahrer Meisterschaft gebracht hast. DDD…
… von der wir übrigens vereinbart hatten, sie in diesen Räumen möglichst nicht zu erwähnen!
HORST:
Lass das, Alte! Ich erwähne, was oder wen ich will! DDD jedenfalls meinte, es sei diese weibliche Kunst ein stammesgeschichtliches Phänomen, das in die Steinzeit zurückreicht. Von Anfang an musste euer Geschlecht uns gegenüber schlau taktieren, um zu erreichen, was ihr brauchtet, ohne dass wir Männer voll und ganz begriffen, was da ablief.
Da machte es sich einer ganz einfach mit einem Wesen, das – sei es möglicherweise tatsächlich infolge der in seinem Hypothalamus eingravierten Prozessschemata, sei es aber vielleicht eher aufgrund äußerer Gewalt – gezwungen war, so zu handeln. Schön für DDD, wenn sie, anders als ich, nicht wahrhaftig vergewaltigt worden ist, denn wenn ihr das passiert wäre, wüsste sie sehr wohl um das Tabu, das über einer Schändung liegt, und um die Perversität, der Frau Vorwürfe zu machen, wenn sie einen solchen Vorfall überlebt hat. Der normalen Reaktion darauf – Schweigen, Verdrängung, ein traumatisches Verhältnis zur Sexualität als solcher und zum eigenen Körper – habe ich mich für meinen Teil verweigert, rekonstruierte lieber meine Weiblichkeit mit dem mir passend erscheinenden Repertoire. Allerdings war ich dabei stets bemüht, nicht den Weg einer fremden verfickten Phantasie zu gehen, sondern den einer beißenden Kritikerin männlicher Aggression.
HORST:
Ich verstehe schon, ich verstehe gut, ich verstehe alles, wenn man mich verstehen lässt.
Gerade, dass er das Wort Empathie nicht in den Mund nahm, abgesehen davon, dass derlei Begriffe bei ihm mangels Bildungstrieb kein erworbenes Wissen zum Ausdruck brachten, sondern autochtone Erfindungen waren. Glauben Sie es oder nicht – der Halunke schuf sich die Welt gehobener Sprache neu, und wie es der Zufall wollte, traf er mit seiner Erfindungsgabe normalerweise genau jenen Terminus, der ohnehin Allgemeingut war.
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Niemals hat jemand vor Horst die Demarkationslinie durchbrochen, die zwischen meinen beiden Welten lag, und kaum hatte ich es zugelassen, kamen mir – bei allen Vorteilen, die ich durch ihn hatte – Zweifel, ob meine Entscheidung klug gewesen war, und ich fragte mich vor allem nach dem eigentlichen Warum. Konnte es seine spezielle Dümmlichkeit sein, die ihn mir gefügig und formbar erscheinen ließ, oder faszinierten mich einfach jene isolierten Geistesblitze, die aus seiner Inferiorität hervorzuckten? Ich beschloss, dieser Sache nachzugehen, und bot ihm meine Bibliothek an.
HORST:
Ein einziges Mal habe auch ich mich über Elses Literatur-Wälzer hergemacht, weil ich die eine oder andere Erklärung für etwas suchte, was ich selbst gar nicht so genau definieren konnte. Ich geriet nicht an die „Strudlhofstiege”, sondern an Ecos „Foucault’sches Pendel”, wo ich interessanterweise ebenfalls dieses Motiv der zwei Eingänge fand: Signor Garamond besitzt zwei Case Editrici, einen unter seinem Namen, den man in der Via Sincero Renato findet, mit dunklen, staubigen und verkommenen Räumen, den anderen, Manuzio, in der Parallelstrasse, der Via Marchese Gualdi: Gedämpfte Musik, hellblaue Tapeten und Designermöbel, das Feinste vom Feinen, man kann es sich leisten, denn das hier ist ein Zuschussverlag, der Möchtegernschriftstellern eine Plattform bietet. Zwischen beiden Etablissements liegt ein Niveauunterschied von bloß drei Stufen und eine Mattglastür.
Hatte ich mich jetzt unter oder über meinem Wert an ihn verkauft?
303
Cheyenne de la Cruz (eigentlich Maria de la Cruz: Cheyenne war ihr Nom de Guerre) aus Guam hatte bei den SeaBirds angeheuert, einer reinen Fraueneinheit für Unterwassereinsätze. Selbst eine so spezialisierte Truppe leistete sich die CORRIDOR Navy, und Sir Basil, der Oberkommandierende aller Streitkräfte seines bemerkenswerten Reiches, mochte allein wissen, wozu. In der Qualifikation dieser Soldatinnen mussten zumindest drei echte Ertrinkens- und Wiederbelebungsvorgänge protokolliert sein, womit gewährleistet schien, dass sie bei ihren Einsätzen keine Furcht vor dem nassen Tod empfanden, sondern sich auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren konnten.
Cheyenne hatte sich für diese Waffengattung nicht von ungefähr empfohlen, sondern durch außergewöhnlichen Wagemut, der manchen Unbeteiligten erschreckt hätte: Sie lebte den Kameradinnen die Mission der SeaBirds vor: nicht – wie andere Armeeangehörige –bei einem Einsatz möglicherweise irgendwann draufzugehen, sondern vielmehr mit großer Sicherheit bereits bei einer der ersten Kommandoaktionen nach Beendigung der Ausbildung!
BRIGITTE:
„Ihr seid die destruktivste Kraft der CORRIDOR Navy, ihr wurdet ausgewählt wegen eures speziellen mentalen Focus und eurer Widerstandsfähigkeit!”, wurde den Girls eingebläut, und: „Wenn ihr zu euch selbst ehrlich seid, habt ihr euch nicht hierher gemeldet, um lang am Leben zu bleiben!” Und wenn die Rekrutinnen davon leicht schockiert waren (manche vielleicht gerade deshalb, weil durch diese Aussage unbewusste Sehnsüchte artikuliert wurden), setzte die Ausbildnerin nach: „Die Marine benützt euch, weil ihr hocheffektive Waffen seid, aber zu sehr günstigen Preisen!” Und sie wurde nicht müde, auf die „Drei Gebote” hinzuweisen, die weithin sichtbar in der Eingangshalle des Stützpunkts in Akrotiri affichiert waren. Und sie betonte immer wieder besonders die letzte Regel, die sie sich quasi auf der Zunge zergehen ließ: dass es nämlich bei den SeaBird-Operationen normalerweise weder den zeitlichen noch den örtlichen Spielraum gab, um lebend zurückzukehren.
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Training Supervisor der SeaBirds war keine Geringere als Alex Sanchez-Barzon, geborene Skelton, die zweite Frau von Don Julio, die nach langer Zeit, von Cheltenham gerufen, wieder aus der Versenkung erschien. Vor kurzem war sie in Sevilla am Grab ihres Mannes gestanden, der nach einem turbulenten Leben – Arzt in einem KZ des Franco-Regimes, wo er sadistische Versuche an Gefangenen vorgenommen hatte, später Mode-Gynäkolo¬ge mit (wie du aus eigener Erfahrung bestätigen wirst) umfangreichem Patientinnen-Verschleiß und nicht zuletzt auch in einige der schmutzigeren Aktionen des Baronets verwickelt – bemerkenswert friedlich entschlafen war (was wieder einmal zeigt, dass zumindest hier auf Erden keine Gerechtigkeit zu erwarten ist).
BRIGITTE:
Um allerdings der Wahrheit die Ehre zu geben, existierte auch ein anderer Sanchez-Barzon, und zwar jener, der die erheblich jüngere Alex nach allen Regeln der offiziellen und inoffiziellen ärztlichen Kunst aus ihrer geistigen Verdüsterung befreit und ihr eigentlich auf gar nicht egoistische Weise ein schönes und bequemes Leben geboten hatte – vorübergehend auf der Südseeinsel Niue, dann aber (weil er sie von dem für sie so gefährlich-verlockenden nassen Element fortbringen wollte) endgültig in einer Villa in der Nähe seiner spanischen Heimatstadt, wo es lediglich einen Springbrunnen im Park gab, und dieser konnte nun wirklich nicht für weitere Tauchabenteuer herhalten.
Als Julio starb, war Alex glücklicherweise schon so weit, seiner psychologischen Stütze nicht mehr zu bedürfen, und sie realisierte plötzlich, dass sie noch immer in den besten Jahren und somit für einen Neuanfang durchaus bereit war. Nur zu gerne ließ sie sich für die SeaBirds engagieren, nicht als Teil der Befehlskette wohlgemerkt (die in diesem Fall sehr kurz war und die Einheit direkt dem Navy-Kommando unterstellte), sondern als unabhängige Instruktorin, die lediglich für den bestmöglichen Drill der Soldatinnen zu sorgen hatte, aber keineswegs befugt war, die Order für einen der geplanten Kamikaze-Einsätze zu geben. Sehr wahrscheinlich ahnte sie nicht bis ins Letzte, dass wie immer, wenn etwas nach glücklicher Fügung aussah, Sir Basil seine Hand im Spiel hatte. Er war es auch, der von vornherein ausschloss, dass Alex direkte Verantwortung übernahm oder sich womöglich selbst in Gefahr brachte – dafür gab es ja Cheyenne und die übrigen Frauen.
BRIGITTE:
Dennoch waren Alex’ Gefühle unbeschreiblich, als sie nach so langer Zeit wieder am Meer stand – in einem türkisfarbenen Bikini, denn für sie galt nicht die braungrüne Einteilervorschrift der SeaBirds. Sie schritt die Riege der Mädchen ab, die sie staunend begafften, als sie ihnen ihre High Definition vorführte: Da saß jede Rundung an ihrem Platz, und jeder einzelne Muskel zeigte das Ergebnis eines perfekten Workout! Nein, sie hatte sich nicht gehen lassen und den prachtvollen Show Body von ehedem nicht vernachlässigt! Es war ihr anzusehen, dass sie darauf brannte, den Schülerinnen ihre Künste zu zeigen – schließlich hatte sie ohne Wissen Don Julios ihre Fähigkeit, die Luft anzuhalten, weiter trainiert (dazu bedurfte es auch auf dem Trockenen nicht viel), aber auch ihre Entfesselungskünste: da aber brauchte sie sehr wohl Hilfe. Sie fand diese in Person eines der beiden Sanchez-Barzon-Söhne, Rodrigo, der das Ehepaar oft und gerne besuchte, während der andere, Santiago, die Wiederverheiratung des Vaters missbilligte und sich nicht blicken ließ. Müßig zu erwähnen natürlich, dass Rodrigos Diskretion angesichts der prächtigen Stiefmutter nicht kostenlos war, aber diese fand ohnehin nichts dabei, ihn ein wenig zu verwöhnen.
Auch das ging Alex durch den Kopf, als sie dort in Akrotiri ihren Dienst antrat, und sie überlegte ernsthaft, ob sie das „arme Waisenkind”, wie sie ihn zärtlich nannte, obwohl er mittlerweile 25 Jahre zählte, nicht zu sich nehmen sollte. Sie beschloss, bei nächster Gelegenheit den Chef der Navy oder noch besser Sir Basil selbst zu fragen, ob etwas gegen ihren Plan spräche. Dann aber schob sie diese Gedanken eilig beiseite – die Rekrutinnen warteten und schienen bereits unruhig zu werden…
Sie mussten sich – zweiundvierzig an der Zahl, um genau zu sein – in kleinen Gruppen in den Sand setzen, und Alex begann, mit ihnen Atemübungen zu machen: „Tief aus- und einatmen (hyperventilieren werden wir es später fachgerecht nennen)!”, befahl sie, und dann plötzlich: „Tief einatmen und mit der linken Hand Nase und Mund zuhalten! Und bleibt so, während ich euch unser Trainingsprogramm vorstelle!”
Sie gab ihren Überblick – 6 Wochen Strengthening, 4 Wochen Conditioning, 4 Wochen Diving – und beobachtete dabei ihre Schützlinge, wie sie bereits nach einer knappen Minute mit geweiteten Augen und bebender Bauchdecke dasaßen und sich nicht mehr konzentrieren konnten. Wenig später sanken die Hände und ein großes Luftschnappen begann – eine Ausnahme bildete Cheyenne, die weiter in einer Art Yogastellung verharrte und dabei locker den Atem anhielt: Alex hatte nicht gestoppt, aber sie schätzte die Leistung der jungen Frau, die ihre Lieblingsschülerin werden sollte, auf mindestens 4’ 30”.
BRIGITTE:
Sie erklärte der Truppe in Ruhe, was da ablief: wie es gelte, den Sauerstoff- und Kohlendioxyd-Haushalt besser kontrollieren zu lernen, denn die sogenannte Luftnot, der Reiz zu atmen, hänge von den sensiblen Druckkombinationen beider Gase im Körper ab; und dass man von der de la Cruz lernen könne, aber nicht nur die Apnoetechnik als solche, sondern auch etwas über die Begleitumstände: Ob sie denn beobachtet hätten, wie Cheyenne sich mit der rechten Hand – „die Ihnen ja zur freien Verfügung überlassen war, Ladies!” – an die Brüste und den Schritt fasste und durch leichtes Streicheln ihre Situation entspannte: „Meisterhaft hat sie die mit unserem Training ursächlich verbundene sexuelle Erregung instrumentalisiert!”
Davon war allerdings, zumindest in den ersten zehn Übungswochen, offiziell nicht mehr die Rede. Die allgemeine Körperkraft wurde entwickelt, namentlich mit Gewichtheben und Stretching, dazwischen die Leistungsfähigkeit des Kreislaufs mittels Indoor Cycle, Elliptical Trainer und Treadmill erhöht – je drei Stunden vormittags und nachmittags, und das hätte wohl geheißen: pure Langeweile, wären da nicht dazwischen die Theoriestunden gewesen, in denen immer wieder auf die Ideologie hinter dieser Plackerei hingewiesen wurde.
„Warum seid ihr keine Suicide Squad?”, plärrte Alex: „Ganz einfach – weil die Zerstörung eures Körpers nicht eure eigene Entscheidung ist, sondern die eurer Vorgesetzten!”, und nach einiger Zeit brauchte die Trainerin nur noch die Frage zu stellen, dann folgte ein vielstimmiger Chor: „… weil das Navy Command entscheidet, wann und wie wir sterben sollen!”
Oder es hieß lakonisch: „Als Geheimwaffen müsst ihr was bedenken?” – „Nach vollendeter Mission nicht am Leben zu bleiben!” – „Was seid ihr?” – „Die billigsten Angriffsmittel der Navy!”, und da mochte es sein, dass die de la Cruz sich besonders hervortat: „Ich bin für den Navy Commander nicht mehr wert als ein Schraubenschlüssel!”
Die Wochen 7 bis 10 brachten zunächst eine Wiederholung der bisherigen Übungen, allerdings unter Apnoebedingungen: Gewichtheben, Radfahren und Laufen bei angehaltenem Atem, zwischendurch auch einmal als besondere Verschärfung mit entleerter Lunge. Noch immer fand alles auf dem Trockenen statt, sehr zum Unwillen mancher Teilnehmerinnen.
BRIGITTE:
Als das Gemurre unüberhörbar geworden war, organisierte Alex, nachdem sie sich im Beisein des Navy-Chefs direkt mit Sir Basil besprochen hatte, ein Sondertraining, das es in sich hatte: Aus den Torpedorohren einer Fregatte, die etwa eine Seemeile vor Akrotiri ankerte, wurden die SeaBirds ins Meer geschossen, mit dem Auftrag, weitgehend unter Wasser ans Ufer zu schwimmen. „Vermeidet die Minen!” rief ihnen die Ausbildnerin zu, „Und steckt die Köpfe nicht allzu weit heraus!”
Tatsächlich hatten sie sich durch ein breites Minenfeld zu quälen, und manch eine von ihnen klammerte sich daran, einmal gehört zu haben, dass kaum Risiko bestand, wenn man kein Metall an sich trug, aber wer wollte diese Theorie wirklich überprüfen? Sie bemühten sich, den bedrohlichen Dingern auszuweichen, und das gelang auch ganz gut. Die zweite Gefahr stellte sich allerdings als die wesentlich größere heraus: Kaum tauchte eine Rekrutin auf, um kurz Luft zu holen, prasselten Maschinengewehrsalven über sie hinweg, und was das Schlimme war – die Gunnies der Fregatte hielten mit Absicht knapp auf die Mädels zu! Sie hatten diese ja schon bei deren Ankunft an Bord abfällig gemustert und sich über diverse körperliche Eigenarten, die in schlammfarbenen Badeanzügen steckten, amüsiert: „Hey, Cannon Fodder, wie wär’s mit einem Quickie, bevor ihr euch auf den Weg macht?”
Die Army-Einheit dort, wo eigentlich das rettende Ufer hätte sein sollen, erwies sich um nichts feinfühlender – auch von dort fegten MG-Garben in Richtung der SeaBirds, sodass diese über den Strand robben mussten, bevor sie landeinwärts endlich Ruhe fanden.
BRIGITTE:
Nicht für lange, denn schon befahl Alex sie zur Manöverkritik in den Kasernenhof. Beim Abzählen stellte sich heraus, dass zwei der Frauen fehlten, und in dem Moment, als man beginnen wollte, sie zu suchen, brachten Sanitäter ihre Leichen, geradezu entstellt durch schwere Schussverletzungen!
Da blieb selbst der zackigen Cheyenne der Mund offen, und sogar Alex schien ein wenig nachdenklich zu werden. Allerdings fing sie sich rasch: „Kein einziger Mann”, dozierte sie, „hätte dieses Training überlebt – aber unsere Einheit hat lediglich diese geringen Verluste erlitten! Merkt euch: Ihr seid Frauen, ihr steht das durch! Ihr habt schließlich in eurem Zivilleben bereits gelernt, dass man als Frau wesentlich mehr leisten muss als ein Mann, um auch nur einen Funken Anerkennung zu finden!”
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Die Moral wurde schlecht, aber Sir Basil, zu dem das Problem eskaliert wurde, wusste Abhilfe zu schaffen – wieder einmal zeigte sich, dass er, wenigstens im militärischen Bereich, ein Meister der Menschenführung war, und so fanden die SeaBirds eines Tages völlig überraschend Kosmetikerinnen und Friseusen in ihrem Quartier vor, die jede von ihnen auf Hochglanz brachte, bevor dann der Höhepunkt dieser Betriebsamkeit zelebriert wurde: Sensationelle weiße Uniformen, mit Goldlitzen verziert, wurden geliefert, ergänzt durch traumhafte Unterwäsche, ebenfalls alles weiß, sowie ebensolche High Heels.
Als die Damen dann nach dem Verschönerungsprozess, der geraume Zeit in Anspruch genommen hatte, im Karree angetreten waren, händigte man ihnen noch einen namhaften Vorschuss auf künftige Gehälter aus (respektive auf die im Ablebensfall zustehende Abschlagszahlung, aber das wurde so nicht gesagt). Ein Autobus brachte die Gruppe in das neu geschaffene Vergnüngungszentrum der Insel – eine Art Mini Las Vegas, das Cheltenham mitten in die freie Natur des Troodos-Gebirges hatte bauen lassen – und dort durften sie sich, angeblich jedenfalls, ohne jede Aufsicht herumtreiben: sich am Glücksspiel versuchen, die Shows genießen, gepflegt dinieren und am Ende auch jemanden abschleppen oder sich selbst abschleppen lassen in die Intimität eines der luxuriösen Hotelzimmer, in die auf keinen Fall mehr ein wachsames Auge mehr reichte.
BRIGITTE:
Am nächsten Morgen dann, relativ früh für die stattgehabten Aktivitäten, wurden die SeaBirds von einigen Typen der Navy Police wieder eingefangen (wie diese das nannten), ganz als ob sie etwas Unrechtes getan oder gar die Absicht gezeigt hätten zu desertieren. In welchem Zustand auch immer – die Kleidungsstücke vielleicht nur lose über den Arm geworfen – wurden sie in den Bus verfrachtet und zurückgekarrt. Mitten auf dem Kasernenhof wurden vor ihren entsetzten Augen die Uniformen mit all den wunderbaren Insignien verbrannt, und sie bekamen ihre fleckigen und teils auch bereits zerrissenen Badeanzüge zurück, denn nun ging es ans Kernstück der Ausbildung: das Tauchen.
Vier Wochen intensiv – da wurde keinerlei Kritik mehr laut, denn zwischen den Übungen lagen sie erschöpft am Ufer oder in den Booten und nachts schliefen sei einen bleischweren traumlosen Schlaf. Tieftauchen ohne Atemgerät – 5 m – 10 m – 20 m, dazwischen Streckentauchen – 50 m – 70 m – 110 m, und wer nicht von Anfang an mithalten konnte, wurde so lange gedrillt, bis es geschafft war. Dann als Erschwernis das verzögerte Auftauchen: wer zuvor noch nach einem ohnehin kräfte- und atemraubenden Tauchgang dankbar an die Oberfläche gekommen war, wurde nun von Alex höchstpersönlich (in einem knallgelben Bikini diesmal und nicht nur mit High Definition, sondern, wie sich herausstellte, auch mit enormer Kraft ausge¬stattet) gut eine weitere Minute unter Wasser gehalten, bis dem Opfer fast die Sinne schwanden.
Und man konnte nichts sagen – sie führte diesmal alles peinlich genau vor und zeigte dabei, wiewohl fast doppelt so alt wie ihre Schülerinnen, keinerlei Konditionsschwäche, schon gar nicht bei der abschließenden Übung, die darin bestand, in 30 m Tiefe zu gehen und dort zu warten, bis ein Signal zum Auftauchen kam – das allerdings nicht nur einmal, sondern zwölfmal am Tag, eine ganze Woche lang.
Danach gab es nur mehr „Light Service”, gerade so viel, um in Form zu bleiben. Neue Badeanzüge wurden ausgeteilt, und die Frauen bekamen ihre Zivilkleidung zurück. Sie durften sich in den dienstfreien Zeiten auf dem Stützpunkt selbst und auch außerhalb relativ ungehindert bewegen. Die neue Aufgabe hieß Warten…
304
Als Regisseur (manche geben mir den Beinamen „der Große”, aber dies ständig selbst im Mund zu führen, verbietet mir meine Bescheidenheit), als Regisseur also denkt man natürlich bei der komplexen Persönlichkeit eines Vangelis Panagou an die Grundzüge eines Psychothrillers, an Hintersinnigkeit, Spannungen zwischen Wahrheit und Lüge, falsche Identitäten und perfide Intrigenspiele.
Warum ich das im Kontext des Androiden sage? Weil sein Gehirn (lassen wir diesen Begriff zunächst einmal ungeprüft so stehen) auf der Ebene der Realität ein Gebilde der Physik und der Biomechanik war, anders als bei uns Menschen ein völlig interpretationsloses Phänomen. Der AMG registrierte auf diesem Niveau bloß, speicherte die Daten und reagierte im Rahmen der ihm vorgegebenen Algorithmen ohne jede Reflexion. Er wäre also an sich der perfekte Roboter gewesen, den man in der Industrie als gewissenhaften Handwerker, in der Medizin als präzisen Operateur, bei der Exekutive als unbestechlichen Cop und so weiter hätte einsetzen können.
Wir wissen aber längst, dass er dank der Panagou’schen Erfindungsgabe mehr war, hatte er doch sein Model for Emotional Response, das jeden sturen Algorithmus mittels schleifender Reaktionsgleichungen stufenlos abwandeln konnte, was ihn (und das war schließlich das Ziel seiner Schöpferin) ziemlich menschenähnlich machte. Das war im wahrsten Sinne des Wortes seine Metaphysik, die er in seinem rationalen Modus selbst nur – fast möchte ich sagen – verblüfft zur Kenntnis nehmen konnte. Und neuerdings besaß er ja nun auch diese Spiegelneuronen, die es ihm gestatteten, neben der durch seine Messinstrumente erstellten Perzeption eine andere, durch Dissimulation erzeugte Sicht der Dinge zu propagieren.
Das verlieh ihm jene Intensität, die wir schon lange bei seiner Quasi-Schwester AP 2000 ® kennenlernen konnten. Beide haben aber dabei natürlich auch gemeinsam, dass sich der schematische Wirklichkeitszugang eines Maschinenwesens nicht so weit zurückdrängen lässt, dass – wie bei uns Biohumanoiden – die Einbildung die Tatsachen ersetzt. Ebenso wie Anpan verstand Vangelis technisch gesehen, was eine Fiktion war, konnte mittlerweile problemlos eine solche formulieren, sah sie aber noch immer nicht als autonome Äußerung, sondern als genau errechenbares Delta zu einem objektiven Tatbestand. Seine Träume waren daher – wenn sie nicht gerade durch irgendwelche Reste längst gelöschter Daten beeinflusst wurden –irgendwie nüchtern, seine virtuelle Sehnsucht danach, einen Lehrstuhl für Philosophie innezuhaben, ließ ihn beispielsweise ganz vorsorglich-trivial eine mögliche Antrittsvorlesung formulieren.
VANGELIS PANAGOU:
(aus seiner Antrittsvorlesung als Philosophie-Professor) Die jüngste Epoche der Menschheitsgeschichte („der Geschichte richtiger Menschen” in meiner Terminologie, aber das werde ich nicht aussprechen) – die jüngste Geschichtspoche also wird gern als das Ökonomische Zeitalter bezeichnet, insofern sie vorwiegend von wirtschaftlichen Vorgängen und Verhaltensweisen geprägt zu sein scheint respektive die Politik tendenziell mehr und mehr Motivation aus der wirtschaftlichen Sphäre bezieht. Dem ist entgegenzuhalten, dass strenggenommen jede Betätigung, die mehr impliziert, als die bloßen Grundbedürfnisse zu befriedigen, nicht mehr als rein ökonomisch charakterisiert werden sollte. Bereits der erste Mensch, weit hinten in der Steinzeit, der sich spezialisierte, indem er seine physischen und psychischen Fähigkeiten zu etwas anderem nutzte als zu Ernährung, Fortpflanzung und Aufzucht des Nachwuchses, handelte nicht mehr ökonomisch im strengen Sinn, sondern gestaltete bereits das erste Stück des später immer komplexeren virtuellen Überbaus. Für etwas nicht oder jedenfalls wenig Greifbares war seine Horde bereit, ihn mit einem Teil dessen, was sie selbst erwirtschaftet hatten, durchzufüttern: Er mag ein früher Poet gewesen sein, ein Illusionist – etwas in der Art.
Alle werden – wenn dieses Referat je gehalten werden sollte – spätestens an dieser Stelle den AMG anstarren, denn sein Original-Äußeres, das er seit langem mit voller Absicht nicht mehr umkalibrierte, erinnert frappant an Sir Basil Cheltenham oder sogar an den Diktator der Spiegelwelt (der ja einst als Kaufmann Augustus McGregor durch unser Universum gereist war). Wie so oft aber wird Vangelis nicht mit Sicherheit sagen können, ob die erstaunten Blicke diesem Umstand galten oder ob man ihn als Androiden erkannte (was bei den meisten Zuhörern sicher nicht der Fall war).
VANGELIS PANAGOU:
(aus seiner Antrittsvorlesung als Philosophie-Professor) Hat der Mensch den Schritt „weg von der reinen Natur” aus freiem Willen getan? Diese Frage ist kaum zu beantworten, ohne dass man sich mit dem Begriff des Indeterminismus auseinandersetzt und diesen gegebenenfalls neu interpretiert. Dabei geht es aber nicht um die Alltagsbedeutung des freien Willens, die darin besteht, dass das menschliche Gehirn aus prototypischen Fällen (wie etwa einer einzelnen bewussten Entscheidung) hinreichend so viel gemeinsame Bedeutung herausliest, dass man mehr oder weniger unmissverständlich von willkürlichem Handeln sprechen könnte. Dem steht entgegen, dass die heutigen Neurowissenschaften keine Gehirnteile orten können, denen ein freier Wille zuzuordnen wäre (das heißt: es war physiologisch kein neuronales Netzwerk zu entdecken, das in einem kausalen Vakuum tätig ist). Und doch weist jeder Mensch offenkundig eine bestimmte Art von Autonomie auf: Er ist zweifellos ein „Selbst”. Dieses entsteht dadurch, dass sich das biohumanoide Gehirnpotential nur entwickeln kann, wenn außer den naturgegebenen Interaktionen auch soziale und kulturelle Wechselwirkungen mit anderen menschlichen Entitäten zugelassen werden. Das Gehirn kann auf diese Weise soziale Normen lernen und Mechanismen der Selbstkontrolle ausbilden. Diese Normen und Mechanismen sind zwar eo ipso keineswegs in einem indeterministischen Raum entstanden, stellen aber doch – insofern sie die menschliche Individualität konstituieren – auch als bloße Illusion eines der größten Wunder der Evolution dar!
Ich hielt ein wenig den Atem an. Jetzt musste die Parabel kommen, das packende Gleichnis, das ins letzte Drittel jeder Vorlesung gehört, um die Anwesenden vor dem Einschlafen zu bewahren! Und es schien, als hätte Vangelis diese Vorgabe verstanden – allein, was machte er daraus?
VANGELIS PANAGOU:
(aus seiner Antrittsvorlesung als Philosophie-Professor) Und jetzt stellen Sie sich zuletzt eine Welt vor, in der es keine Menschen –
Er nahm sich vor, hier im Gegensatz zu vorhin ganz präzise zu sein!
VANGELIS PANAGOU:
(aus seiner Antrittsvorlesung als Philosophie-Professor) – keine „richtigen” Menschen mehr gibt. Die Bevölkerung besteht aus künstlichen Wesen unterschiedlichster Provenienz, vom einfachen Automaten über den primitiven Roboter bis zum hochentwickelten Androiden, wobei jede einzelne Gruppe in sich wiederum ein breites Spektrum von Konfigurationen zeigt und jedes einzelne Stück zumindest unterschiedliche Lebenserwartungshorizonte aufweist, ganz zu schweigen von mehr oder weniger eigenwilligen Charakterzügen der Spitzenmodelle. Die Direktive, den Biohumanoiden nicht zu schaden (ihnen im Gegenteil nach Kräften nützlich zu sein) ist längst obsolet geworden, und so existiert seit langer Zeit nichts, was als Lebensmaxime dieser vielfältigen künstlichen Spezies dienen kann. Vereinzelt ist es bereits zu persönlichen Sinnkrisen gekommen, die überraschend schnell in allgemeine Unrast umgeschlagen sind, zumal selbst die Masse dummer und veralteter Exemplare sich leicht davon infizieren lässt, ohne richtig zu verstehen, worum es eigentlich geht. Bemerkenswert erscheint, wie sehr Äußerlichkeiten an Bedeutung gewonnen haben, an denen sich auf Seiten der gehobeneren Schichten der neuen Erdbevölkerung eine Art virtueller Hohn entzündet. Somit ist der Alltag von jenem Zynismus geprägt, den man früher lediglich bei den ausgestorbenen Schöpfern dieser Entitäten bestaunt hatte, der aber mittlerweile auch von den diversen Marken artifizieller Models for Emotional Response hergestellt werden kann. Tatsächlich laufen ja als Objekte des Spotts viele lächerlich aussehende Gestalten herum, die sich mangels geordneter Ersatzteilproduktion bei technischen Körperproblemen mit abenteuerlichen Konstruktionen aus den Abfällen der menschlichen Zivilisation behelfen müssen: So mancher mechanische Partikel, der früher aus Edelstahl, überzogen mit Hypersilikon-Hautsimulation, bestand, wird mittels Eisen, Holz oder sogar textilem Material ausgebessert, und so manches elektronisch-neuronale Gehirn wird aus einem angerosteten Originalkopf aus- und in etwas eingebaut, was früher als Gefäß für völlig andere, womöglich triviale Zwecke gedient haben mochte.
Es scheint an dieser Stelle, dass er sich richtig hineinzusteigern beabsichtigte.
VANGELIS PANAGOU:
(aus seiner Antrittsvorlesung als Philosophie-Professor) Apropos Schöpfer: So lange die Erfinder und Konstrukteure all dieser künstlichen Figuren noch da sind, besteht – jedenfalls bei den intelligenten Exemplaren – ein präzises Wissen über den nüchternen technischen Ursprung und die komplexen, aber konkreten Ziele ihrer Existenz. Nach dem Verschwinden der „richtigen” Menschen aber dauert es klarerweise nicht lange, bis es zu Mythenbildungen über das Woher und Warum des Lebens kommt. So unterschiedlich diese Entstehungs- und Sinnlegenden auch sein mögen, im Prinzip gehen sie immer von einem überirdischen Maschinenwesen aus, das von Anbeginn aller Zeiten da war und die Welt erschaffen hat. Diesem Deus Mechanicus oder besser dieser Machina Divina wird übrigens durchwegs unterstellt, den höchstentwickelten Geschöpfen, den Androiden, aufgetragen zu haben, sich alles übrige Seiende untertan zu machen.
305
Hallo, Freunde (sind mir überhaupt welche geblieben?), mich gibt’s auch noch: Leo Di Marconi, einst amerikanischer Starjournalist, heute mit drittklassigen Reportagen beschäftigt – über Leute, die auf dumme Fragen dumme Antworten geben; einst Pulitzer-Preisträger – etwas, das ich, jedenfalls was die Qualität meiner Arbeit betrifft, gerne noch einmal schaffen möchte, und darum stelle ich neben meinen normalen Jobs auf eigene Faust Recherchen an, um vielleicht erneut den großen Wurf zu machen. Den Preis als solchen werde ich nicht mehr bekommen (und will es auch gar nicht mehr), denn seit Ray Kravcuk wird die Auszeichnung nur noch an solche vergeben, die dem Weißen Haus genehm sind – und darauf braucht kein Medienmann stolz sein.
Das meiste von meinen Ermittlungen bleibt ohnehin unter Verschluss, weil ich es nach meinen einschlägigen Erfahrungen mit den Mächtigen nicht wage, damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Aber das eine sage ich euch: Wer einmal mein Privatarchiv erbt und anders als ich keine Angst hat, es auszuwerten, wird entweder steinreich oder er ist jetzt schon so gut wie tot!
Meine junge Journalisten-Kollegin Renate Rubinstein, die mir sehr nahesteht – insgeheim bezeichne ich sie als den Trost meines Alters –, so nahe, dass sie sehr verständnisvoll reagiert, wenn ich trotz meiner Kreislaufprobleme mit hängendem Schwanz noch eine kleine Nummer schieben möchte, hat seit langem Einblick in meine Dokumentensammlung und blättert immer wieder fasziniert darin. Und eines Tages fand sie zu ihrer Überraschung in meinen Files sogar einen ihrer eigenen Texte, den ich immer und immer wieder lese, seit ich ihn zum ersten Mal in Händen hielt. Die Geschichte hat mit Ravindra Pramesh zu tun, dem ich seit langem auf den Fersen bin, beginnend mit den Meldungen über die Aufwiegelung der Hindus gegen das Chinesische Reich bis hin zu seinem Zweckbündnis mit den Muslim-Aktivisten rund um Ahmed Al-Qafr.
Pramesh hatte in seiner Jugend in Wien Philosophie studiert. Sein positiver Abschluss mit Doktorat krönt allerdings keine außergewöhnlichen wissenschaftlichen Leistungen, und auch seine Dissertation beschäftigte sich bloß mit einem Allerweltsthema: Über die „Grundzüge des Hinduismus aus dem Blickwinkel des westlichen Positivismus” hätte auch jemand, der nicht aus Indien stammte und keinen reichen Brahmanen zum Vater hatte, schreiben können.
Deutlichere Spuren hinterließ Ravindra in seiner Universitätsstadt jedenfalls auf einem ganz anderen Gebiet, aber dafür umso nachhaltiger. Bei seinem Abgang blieben nämlich in Wien nicht wenige Kinder zurück, die mit zunehmendem Alter unverkennbar seine Gesichtszüge trugen, und das kam so: In den Hörsälen hatte sich unser Freund weniger von den lichtvollen Ausführungen der Vertreter der Neueren Wiener Philosophischen Schule um Erich Heintel anregen lassen, als vielmehr die Kommilitoninnen ringsum taxiert, wobei es ihm nicht so sehr auf eine hervorstechende physische Beschaffenheit, sondern eher auf einen bestimmten psychischen Eindruck ankam. Das mit gutem Grund, denn seine immer gleiche Masche bestand darin, dass er auf der Grundlage seiner exotischen Erscheinung (er trug die bunten Gewänder seiner Herkunft oder, wenn schon den westlichen Aufzug, immerhin einen Turban) das Interesse der jungen Frauen für Meditation zu wecken versuchte.
Hatte er ein Opfer auserkoren, lud er es in seine mehr als luxuriöse Studentenbleibe ein – völlig unverfänglich, denn er betonte geradezu, keinerlei sexuelle Ambitionen zu haben: ihm ginge es lediglich um das gemeinsame geistige Erlebnis!
RENATE RUBINSTEIN (Zitat):
Der Mann wollte wissen, ob ich mich für Yoga interessierte. „Nein”, sagte ich, „es tut mir leid, aber ich weiß nichts über Yoga.” „Schade”, sagte er, „denn Yoga ist sehr wichtig. Darf ich es Ihnen erklären?” Er erzählte, dass es Sitzungen gab, die acht Stunden dauerten und zur totalen Entspannung führten. „Aber was tun Sie?”, fragte ich, „was geschieht bei diesen Sitzungen?” „No Sex”, sagte er sehr entschieden. „Nein, sicher nicht!”, warf ich hastig ein. Ich wollte natürlich so etwas keinesfalls suggerieren. Er erklärte: „Sex führt zu Aufregung, es geht aber genau um das Entgegengesetzte, keine Aufregung, sondern die totale Entspannung. Sex hat eine übertriebene Bedeutung erhalten, der moderne Mensch denkt immer daran, aber Sie müssen das aus Ihrem Kopf verbannen.”
Allerdings, meinte er ganz nebenbei, sei es in seiner Heimat üblich, sich für Yoga-Übungen völlig zu entkleiden, um die Gedanken auf das allein Wesentliche zu reduzieren und allen weltlichen Tand hinter sich zu lassen, und er bot der jeweiligen Dame einen duftenden Seidenmantel an, mit dem er sie ins Bad schickte, wobei er ihr ankündigte, sie werde ihn bei ihrer Rückkehr nackt auf dem Bett finden. Daraufhin sollte sie den Mantel fallen lassen und sanft alle Partien seines Körpers streicheln, unter Aussparung von Gesicht und Geschlecht. Erst nach langer Zeit, unter Umständen, wenn es ihnen denn gelänge, einander mental näherzukommen, würde er mehr erlauben, aber auch das in aller Unschuld.
RENATE RUBINSTEIN (Zitat):
Ich war auf vollständige Frustration eingestellt: Stundenlange östliche Weitschweifigkeit ohne Klimax und Spermaverschwendung. Es war deshalb überraschend, als sich sein Glied auf respektable Länge ausdehnte. Ich war gerade an der Innenseite seiner Beine, aber das dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde. Er stöhnte, zog mich mit gespreizten Beinen auf seinen Schoß und drang mühelos in meinen feuchten Tunnel ein. Keine Stunde, nein, zwei Minuten nach Beginn, ganz gewöhnlich. „Spüren Sie”, fragte er, „meinen harten Penis in sich?” Ich spürte ihn. „Das ist die totale Entspannung!”, keuchte er. Es war, after all, eine Frage der Wortwahl gewesen.
Sobald Ravindras Zielsubjekte begriffen hatten, dass die Wahrheit ganz anders aussah als zuvor propagiert – dass sie hier konventionell und ohne jedes spirituelle Unterfutter gevögelt wurden (wobei das Erlebnis als solches sich zugegebenermaßen auszahlte), erfasste sie die Wissbegier, und sie begannen zu interpretieren, unterbrochen von neuerlichen physischen Erfahrungen.
RENATE RUBINSTEIN (Zitat):
Es war alles außergewöhnlich schön, denn er war kein Egoist, sondern ein Mann, der mit Hingabe bestrebt war, mich glücklich zu machen. So dass ich meine dringliche Frage noch einen Augenblick zurückstellte und ihn zu meinem Vergnügen ein zweites Mal sich aufrichten sah. Danach brachte er mir eine Zigarette und nahm selbst auch eine. Ich dachte nach. „Warum nennst du das nicht Sex?”, fragte ich. „O nein”, sagte er und stand auf, „das ist kein Sex, das ist etwas ganz anderes, Sex ist etwas für Tiere.” Mein Blick blieb zweifelnd. Er lachte, setzte sich zu mir und sagte: „Wirklich, du denkst vielleicht, dass ich dir etwas weisgemacht habe, aber dies war kein Sex, dies war Prädestination.” – Hypokrit, natürlich, absolut klar. Aber wenn er direkter gewesen wäre, hätte ich mich geweigert und es vielleicht Stunden später bedauert.
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Ein Exklusivinterview mit der Schauspielerin Emanuelle Béart – das hätte toll in die TV-Serie aus meiner Glanzzeit gepasst, die den alleinigen Zweck verfolgte, Leute bloßzustellen. Jetzt döste das Videoband in meinem Archiv vor sich hin, wo es Renate Rubinstein entdeckte. Sie kannte die Béart natürlich, aber nur aus dem Kino, und war begierig, Persönliches oder gar Intimes über sie zu erfahren.
Das genau war auch meine Absicht gewesen, und da meine Gesprächspartnerin als Französin einen Amerikaner wahrscheinlich automatisch als ungesittet empfand, gab ich mir von vornherein keine Mühe und versuchte es gleich auf meine Weise: Sie machen tolle Filme, Miss Béart, künstlerisch wertvoll und all das, aber es gibt immer zwei Ebenen des Betrachtens – wie also verfahren Sie mit dem sogenannten männlichen Blick?
EMANUELLE BÉART:
Ich weise einfach jede Form der Verantwortung für diverse Arten von Blicken zurück: Das ist ausschließlich Sache des Betrachters! Mir ist das Auge meines Regisseurs wichtig, ein professionelles Auge jedenfalls, bei dem es für uns Akteure irrelevant ist, dass daran ein privater Körper hängt!
Lassen Sie es mich anders versuchen: Angenommen, mit ihrem Bild vor Augen onaniert einer ihrer Fans – wie denken Sie darüber?
EMANUELLE BÉART:
Ich kann nur wiederholen: Gerade weil ich in meinem Beruf eine quasi öffentliche Frau bin, gibt es keinerlei Überschneidungen mit irgendwelchen, mir zudem völlig unzugänglichen Affaires privées!
Aber wenn Ihr Fan Ihnen diese Sphäre eröffnet, indem er Ihnen zum Beispiel darüber schreibt?
EMANUELLE BÉART:
Diese Art Post erledigt meine Sekretärin, darüber bekomme ich nur von Zeit zu Zeit eine statistische Information: wie viele überhaupt geschrieben haben…
… und wie viele geschrieben haben, dass sie im Gedanken an Sie schlimme Dinge anstellen…
EMANUELLE BÉART:
Vous êtes imbécile, Monsieur Marconi! ich denke, ich breche das Interview ab!
Nicht so hastig – wenn sich nun aber für Sie eines Tages Berufliches und Privates zu mischen beginnt, indem Sie etwa mit dem Auge des Regisseurs weiter professionell verkehren, mit dem Rest seines Körpers jedoch ein ganz normales Verhältnis anfangen?
EMANUELLE BÉART:
Dazu kann ich nur sagen: Meine bisherigen Regisseure haben das nicht von mir verlangt, und ich inversement nicht von ihnen.
Aber es entbehrt doch nicht einer gewissen Delikatesse, diese speziellen Sujets, mit denen sich ihre Filme meist beschäftigen und die üblicherweise die Phantasie des Publikums zum Prickeln bringen, als weibliche Schauspielerin mit einem männlichen Regisseur durchzubesprechen?
EMANUELLE BÉART:
Das sehen Sie ganz falsch, mon ami, denn französische Réalisateurs erwarten sich von ihren Stars einen bestimmten Grad von Intelligenz, Intelligence corporelle aussi, und das bedeutet, dass man sehr gut vorbereitet am Drehort zu erscheinen hat. Bei totalen Nacktszenen heißt das insbesondere, dass ich mich zuvor schon mit mir selbst auseinandergesetzt haben muss, um die eigentliche Arbeit nicht mehr zu behindern. Lassen Sie es mich einmal so ausdrücken (und hier folge ich den von Ihnen definierten Kategorien): Ich für meine Person bin verpflichtet, die Grenze zwischen privater und öffentlicher Déshabillage niederzureißen, bevor ich auf dem Set erscheine!
Jetzt erwachte meine Lüsternheit. Bis dahin war alles nur Vorgeplänkel gewesen, aber nun sollte aller Erfahrung nach die Phase der Bekenntnisse kommen: Welche Techniken wenden Sie dabei an, Miss Béart?
EMANUELLE BÉART:
Nun, ich habe Bauchtanz gemacht, daneben in Stripclubs gearbeitet, mich dann und wann hüllenlos ins Schaufenster eines Etablissement suspect gesetzt, wobei es meine Aufgabe war, durch möglichst aufreizende Posen Kunden anzulocken.
Irgendwelche Probleme dabei?
EMANUELLE BÉART:
Sicher gibt es immer Probleme mit der eigenen Scham, vor allem wenn man mit ziemlichem Aufwand versucht hat, die entsprechende Grenze subjektiv möglichst weit nach außen zu schieben, um dann verstehen zu müssen, dass es immer noch ein „au-delà au-delà”, ein Jenseits vom Jenseits gibt.
Das verstehe ich nicht ganz.
EMANUELLE BÉART:
Als Frau von außerhalb jener zwielichtigen Berufe empfindet man es zunächst als Erfolg, ohne Skrupel den letzten Schleier fallen zu lassen, nach all den Kleidern auch noch den Slip abzulegen, schlichtweg komplett nackt zu sein. Aber dann sagen einem die gewerbsmäßigen Damen, dass man noch mehr zeigen kann, ja geradezu muss: beim Danse du ventre die offen gezeigten Organes genitaux betont nach vorn schieben; als Stripteaseuse totalement dénudée auf eine Chaiselongue sinken und provokant die Beine spreizen; sich von einem Gast, dem de ce beau morceau de viande – wie sagt man: von diesem schönen Stück Fleisch? – hinter der Glasscheibe der Mund wässrig wurde, begrapschen lassen, denn alles andere würde der ja als glatten Betrug empfinden.
Genau hier, wo es interessant wurde und die Rubinstein danach lechzte, auch das Letzte zu erfahren, kam der Befehl der Drehbuchautorin Claudette Williams: „Es reicht, Marconi!”
Ich war wirklich total wütend. Offenbar meinte jetzt schon jeder, sich ungestraft in meine Angelegenheiten mischen zu können – als Nachwirkung der seinerzeitigen Intervention Sir Basils und seiner beiden Gorillas, die meine erste – die grandiose – Karriere jäh beendet hat.
305-A
„Psst!”, zischte Renate Rubinstein, als wir uns wieder unbeobachtet wähnten, „ich will endlich wissen, wie’s weitergeht!” Und so spielte ich, mit ganz leise gedrehtem Ton, das Interview weiter ab:
Sie können so charmant erzählen, Miss Béart – hatten Sie vielleicht ein außergewöhnliches Erlebnis, von dem die Öffentlichkeit noch nichts weiß?
EMANUELLE BÉART:
Es ist mehr eine ganze Histoire als eine einzelne Begebenheit, und ich habe noch nie zuvor mit irgendjemandem darüber gesprochen: Eines Tages verließ ich meinen Landsitz bei Mouans-Sartoux, auf den ich mich für den Sommer zurückgezogen hatte, um mit meinem Hund spazieren zu gehen. Wegen der Hitze und auch als willkommene exercice de détente (wenn mir jemand begegnen sollte, der seinen nackten Blick an mir erprobte) war ich äußerst leicht bekleidet.
Die Kamera holte das Gesicht der Béart ganz nah heran. Eilig formulierte ich die Frage aller meiner künftigen Zuschauer und vermutlich auch einer Vielzahl von voyeuristisch veranlagten Zuschauerinnen: Und das heißt?
EMANUELLE BÉART:
Une robe transparente et colante sans soutien-gorge und einen flimsy G-String, wie das unser großer Regisseur – mit dem ich bis jetzt leider nur ein einziges Mal drehen durfte – ausgedrückt haben würde. Mit einem Wort: On a vu presque tout de moi – ich war gut zu erkennen.
Und was passierte dann? Ich fragte wie ein schlauer Anwalt in einem amerikanischen Gerichtssaal.
EMANUELLE BÉART:
Ich wurde plötzlich gekidnappt, j’ai été attaqué, man verband mir die Augen, zerrte mich in eine Camionette, der Hund blieb jaulend zurück, niemand hatte etwas bemerkt, niemand wusste, wo ich hingeraten war – in ein Haus nämlich, das weitab von jedem anderen mitten in der Landschaft stand, wie ich durch die vergitterten Fenster sehen konnte. Der Entführer, ein kräftiger Mann, der eine Gesichtsmaske trug, sprach Englisch mit einem deutlichen Akzent – ich vermutete, er war Inder. Er verlangte, dass ich mein Kleid auszog (mir war nun doch ziemlich mulmig angesichts meines Habillement provocant), und musterte mich unverhohlen, während ich mich mal nach links, mal nach rechts drehen, dann wieder ganz umwenden musste. „Ich hatte natürlich schon das Vergnügen, Madame”, sagte er leichthin, „Sie in Ihren Filmen und auf Fotos im Internet zu sehen, und ich dachte mir, ich gönne mir den Luxus, einmal das Original zu betrachten!”
Es war an der Zeit, meine Französisch-Kenntnisse auszupacken, und ich hatte, Rubinstein folgend, auch die richtige Vokabel: Quel hypocrite, Madame, welche Scheinheiligkeit! Waren Sie nicht empört? Erwartungsgemäß fuhr sie voll drauf ab.
EMANUELLE BÉART:
Empört ist nicht das richtige Wort. Sagen wir, ich war intéressée! Ich hätte ihn gern ohne Maske gesehen, und ihn aus der Ruhe zu bringen – was ich mir wohl zutraute – schien mir dafür ein gangbarer Weg! Aber es geisterten auch irgendwelche Detournements durch meinen Kopf, bei denen die Anonymität des Täters die einzige Lebensversicherung des Opfers gewesen war. Dennoch erfasste mich ein seltsames Verlangen, mit dem Feuer zu spielen und das Risiko, mich dabei zu verbrennen, einfach in Kauf zu nehmen. Der Unbekannte erleichterte mir die Entscheidung: Ich musste mich auf das große Bett setzen, das ich erst jetzt im Hintergrund des Raumes bemerkte. Scheinwerfer flammten auf und leuchteten die Szene aus. Eine Kamera wurde aufgebaut und auf automatischen Betrieb gestellt. Nun legte auch mein Amphitryon (so bezeichnete ich ihn inzwischen insgeheim) seine Kleider ab, war allerdings weiter peinlich darauf bedacht, seine Maske nicht abzustreifen. Monsieur X, wie ich ihn nennen musste, nahm ebenfalls auf dem Bett Platz, in Yogastellung, und es war mir, obwohl ich das nicht genau zu wahrzunehmen vermochte, als wären seine Augen geschlossen.
Und dann?
EMANUELLE BÉART:
Er bedeutete mir, meditieren zu wollen, und empfahl mir, ebenfalls meinen Geist zu leeren und mich auf seinen Anblick zu konzentrieren. Dieser Aufforderung hätte es jedenfalls durchaus nicht bedurft, denn unübersehbar wuchs sein Zizi zu beachtlicher Größe. Duftstäbchen erfüllten das Zimmer mit ihrem schweren Aroma, das mir die Sinne benebelte. Wie durch einen Schleier schien mir, er zöge mich an sich, zerrisse meinen String, zwänge mich, seinen Sattelknauf zu besteigen und ritte mit mir den uralten Parcours d’amour.
Mir stockt der Atem, Miss Béart. Erlösen Sie mich von dieser Spannung!
EMANUELLE BÉART:
Weiter gibt es nichts zu berichten. Als ich wieder zu mir kam, stand ich vor dem Tor meines Anwesens, hatte mein Fähnchen wieder an, der Hund lief die Strasse entlang und heulte auf, als er mich entdeckte.
War es also nur ein Traum?
EMMANUELLE BÉART:
Ich merkte, dass es kein Traum gewesen war, vor allem daran, dass ma petite culotte fehlte, und natürlich auch, weil mon minou mir sagte, dass es wirklich geschehen sein musste. Ich gestehe Ihnen, Marconi, dass ich es von diesem Augenblick nicht erwarten konnte, einen neuen Film zu machen (bedauerlicherweise war mir ja das Werk von Monsieur X nicht zugänglich). Ich trat spontan an den großen Regisseur heran, ließ verlauten, ich sei zu etwas Außergewöhnlichem bereit, natürlich müsste auch die Gage dafür extraordinaire sein. Dies wieder wurde Sid Bogdanych vorgetragen, und ohne zu überlegen, sagte der: „Okay, outstanding performance, outstanding yield!” Und dann saßen wir drei zusammen und dachten uns eine Story aus, très compliquée, très libertine, très sexiste, très pornographique. Aber nach den ersten Probeaufnahmen waren wir ziemlich enttäuscht – es wirkte alles so artifiziell und daher irgendwie langweilig, ganz anders, als ich es mir erträumte.
Aber Sie hatten die rettende Idee?
EMMANUELLE BÉART:
Mais oui! Mir war plötzlich klar geworden, dass wir die Beziehung zwischen den Hauptpersonen als einen Acte vrai, véritable et naturel, un acte authentique vollziehen mussten, dem Publikum brutal hingeknallt! Der Produzent verdoppelte daraufhin mon cachet, während der große Regisseur – ich übertreibe jetzt nicht, Monsieur – sich vor mir flach auf den Boden warf und mir die Füße küsste!
Ihr Partner war vermutlich weniger begeistert, da es für uns Männer immer viel schwieriger als für die Frauen ist, in einer solchen Situation, in der nichts verborgen bleiben darf, glaubwürdig zu wirken…
EMMANUELLE BÉART:
Kurzum – er stieg aus. Der Produzent annoncierte auf meine Anweisung hin kurz entschlossen nach dem ehrlichen Finder eines Privatvideos von Miss Béart, das ihr abhanden gekommen sei, und tatsächlich meldete sich kurz danach mein Inder in der begründeten Meinung, dass ich tatsächlich niemandem die näheren Umstände, unter denen es zu diesen Aufnahmen gekommen war, erzählt hatte. Sid ließ sich von ihm die Szene vorführen und warf mit compliments um sich, die sowohl meiner Schönheit als auch der Härte meines männlichen Kontrahenten galten: What a nice tour de boules et de la moule! – sein Französisch war irgendwie einseitig orientiert, aber doch recht treffend.
Sagen Sie nichts weiter – ich kenne den alten Sid seit langem! Er ist ein Schwein, aber ein reiches Schwein, und – warum man ihn mögen muss – ein gebildetes Schwein!
EMANUELLE BÉART:
Er engagierte meinen seltsamen Bekannten, dessen Incognito nun, zwecks Gestaltung eines Vertrages, endlich gelüftet war.
Er hieß Ravindra Pramesh.
EMANUELLE BÉART:
Sie wussten es die ganze Zeit, Monsieur?
Sagen wir: ich hatte eine Ahnung…
EMANUELLE BÉART:
Er bestand allerdings darauf ein Pseudonym meiner Muttersprache zu verwenden – und er kommentierte das très charmant: man könne einer solchen Chaudesse francaise…
Pardon?
EMANUELLE BÉART:
… einer solch heißen französischen Mieze wie mir nur einen Compatriote zumuten!
[ 2 Zeilen Durchschuss ]
So hatte sich der gute Ravindra also die Zeit vertrieben (nicht nur in Wien, sondern auch anderswo), bevor er zum Heiligen mutierte – und denken Sie bitte jetzt nicht, Marconi würde sich ein moralisches Urteil anmaßen: Ich mache Reportagen, und das war’s. Und außerdem, wie sagtest du einmal so treffend, Rubinstein?
RENATE RUBINSTEIN (Zitat):
Im Hinduismus ist alles erlaubt, man muss es nur begründen können!
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Sir Basil zog sich von Zeit zu Zeit, wenn es seine Obliegenheiten gestatteten, gerne in das Kloster Agios Philokratos zurück. Was er dort suchte, lässt sich leicht erraten, denn eine Institution dieser Art auf orthodoxem Boden stellt für Abendländer zweifellos eine Gegenwelt dar. Anders als im Westen beschäftigt man sich dort nicht mit Kolonisation, Krankenpflege, Predigt und anderen nach außen gerichteten Tätigkeiten, wie überhaupt das gesamte orthodoxe Ordenswesen für westliche Begriffe fremd erscheint: Es steht nämlich weniger die Macht der klösterlichen Gemeinschaften als Ganzes, sondern vielmehr das Wirken ihrer einzelnen Mönche im Vordergrund, bis heute Zeichen einer ungebrochenen Tradition. Byzantinische Klöster sind und bleiben Zentren gelebter Mystik, Übungsstätten der Heiligung. Dementsprechend schließt sich jeder Novize einem Altvater, einem spirituellen Meister an, dessen Autorität sich primär nicht aus seiner hierarchischen Stellung, sondern aus seiner subjektiven metaphysischen Erfahrung ableitet. Nur durch diese vermag der Mentor das innerste Wesen, das Urbild eines Menschen in seinem Mentee zu erkennen und zur Entfaltung bringen. Der Zögling darf dabei keinerlei Verantwortung auf den geistlichen Vater abschieben, denn dieser wird keine falschen Abhängigkeiten dulden.
SIR BASIL CHELTENHAM:
So weit die Theorie. Der Abt von Agios Philokratos hatte sich hingegen über derlei Strukturen locker hinweggesetzt und regierte im oberwähnten Sinne unorthodox-autoritär – das heißt, solange sich diverse ältere Mitbrüder um nicht mehr als die religiöse Ausbildung Jüngerer kümmerten und seine eigene selbstdefinierte Position nicht in Frage stellten, ließ er sie unbehelligt. Er war aber persönlich ein Mann, der mit beiden Beinen im Leben stand, und dementsprechend ein gewisses Ärgernis für alle jenseitig orientierten Geister seiner Gemeinschaft. Er hatte dem Bösen nicht blindlings abgeschworen, sondern erst, nachdem er die Sünde kennengelernt und gekostet hatte. Auf diese Art versuchte er auch die ihm anvertrauten Schäfchen zum Heil zu führen – nicht einer von ihnen durfte sich hinter Bigotterie und Prüderie verschanzen, und er trachtete danach, bei den Novizen jene Triebhaftigkeit, die sie später beherrschen lernen sollten, zunächst einmal zu entwickeln.
Das geschah selbstverständlich ohne Wissen der Graubärtige: Wenn diese längst den Schlaf des Gerechten schliefen, führte der Abt eine kleine Prozession in die Katakomben, deren Zugang nur Eingeweihte kannten. Vor einer monumentalen Statue des Minotaurus, einer nackten muskelbepackten Männerfigur mit Stierkopf und erigiertem Penis, trieben die Mönchlein unter dem wohlwollenden Auge ihres Chefs skandalöse Mysterienspiele, bei denen von Mal zu Mal einer von ihnen ausgelost wurde, der die Kutte ablegen, eine Bullenmaske aufsetzen und solcherart als Verkörperung dieser unterirdischen Gottheit durch den Raum springen musste. Angesichts der jugendlichen Erregbarkeit des jeweils Erwählten blieb es nicht aus, dass er auch im wichtigsten Detail der Darstellung seinem Vorbild glich, wobei die Zuschauer unter lautem Geschnatter Vergleiche über Länge und Dicke anstellten.
Aber damit nicht genug: Sie durften sich ihm auch nähern, ihn berühren, ihn zur Ejakulation treiben, und – wenn dies gewünscht wurde – musste er ihnen sogar seine Kehrseite zuwenden und für jene sexuelle Praktik zur Verfügung stehen, die man mit Recht seit alters her griechisch nennt, weil sie ein integrierender Bestandteil dieser Kultur ist. Der solcherart über Wochen und Monate in Gang gehaltene Reigen ließ auch sonst, wenn man einander in der Kirche, auf den Gängen, im Refektorium oder im Garten begegnete, die Gesichter glühen und die Knie zittern, wobei fallweise auch versteckte Winkel dieser Orte herhalten mussten, wenn zwei es gar nicht erwarten konnten.
SIR BASIL CHELTENHAM:
Der Abt ging aber noch weiter. Da er die einseitige Fixierung seiner Meute auf homoerotische Kombinationen befürchtete (was angesichts der Tatsache, dass die Mehrzahl der Klosterbesucher und Opfergabenspender Frauen waren, nicht opportun erschien), griff er auf die Dienste einer gewissen Evsevia zurück, der Tochter eines seiner Landwirtschaftspächter, mit der er erstmals knapp zwei Jahrzehnte früher zu tun gehabt hatte. Als sie gerade geschlechtsreif geworden war, ließ er sie kommen und eröffnete ihr, sie sei vom Namensheiligen des µ????????? auserwählt. Er fiel aber hinsichtlich seiner wahren Absichten keineswegs mit der Tür ins Haus, sondern setzte sich mit ihr das eine um das andere Mal harmlos zusammen, um ihr das Wesen und Wollen von Agios Philokratos zu explizieren. Eine handgroße Ikone, die er ihr fürs Kämmerchen daheim mitgab, sollte den Erhabenen für das Mädchen stets gegenwärtig machen – und das hieß, sie musste ständig daran denken, was ihr der Abt erzählt hatte: Dass der Heilige in einem früheren Leben ein aufbrausender und brutaler Kriegsheld in einer Kreuzzugsarmee gewesen war; dass er unzählige Feinde getötet hatte, nicht ohne ihnen zuvor bei lebendigem Leib, das eine oder andere wegzuschneiden; dass er die Frauen, die ihm während der Kampfhandlungen über den Weg liefen, reihenweise vergewaltigt und geschwängert hatte; und dass sich schließlich bei einer solchen Untat der Schatten des Allmächtigsten über ihn senkte, dem es in diesem speziellen Fall gefiel, als Werkzeug der Läuterung die ehrliche Hingabe einer jungen Muslimin an ihren Peiniger zu benützen. Nach etlichen Sitzungen mit Evsevia, in denen Abt Stylianos diese Story wieder und wieder aufwärmte, sah er den Zeitpunkt gekommen, die bewusste Szene mit ihr in der Abgeschiedenheit seiner komfortablen Gemächer auf realistische Weise zu reproduzieren, wobei er es einzurichten wusste, dass unmittelbar nach vollzogenem Koitus ein Lichtstrahl auf ihrer beider Häupter fiel.
Von da an hätte man Evsevia alles abverlangen können, sofern man es ihr nur mit der Begründung nahebrachte, Gott selbst würde es begehren. Auf ihre Mitmenschen blickte sie zu deren Befremden plötzlich mitleidig herab, und wenn sie mit ihnen die Sonntagsmesse besuchte, erfasste sie ein derartiges Gefühl, hier zuhause zu sein, dass sie am liebsten alle Gläubigen einschließlich ihrer engeren Familienmitglieder als unerwünschte Eindringlinge davongejagt hätte, und das änderte sich nicht, sondern nahm noch erheblich zu, während der Abt ihr, wann immer es ihm beliebte, beiwohnte.
Dann kam der Tag, an dem er ihr im dunklen Untergrund des Klosters das (wie er sich auszudrücken beliebte) wahre Bild des höchsten Wesens zeigte und sie in jenen weihevollen Zeremonien innerhalb weniger Wochen zur Braut der gesamten Novizenmannschaft machte. Es dauerte nicht lange, da waren die gleichgeschlechtlichen Ambitionen der Brüder von Evsevias heiliger Schamlosigkeit völlig an den Rand gedrängt worden.
Deren Erwecker Stylianos war ungeheuer stolz, wenn er aus einer Ecke des düsteren Raumes dem bunten Treiben (an dem er sich persönlich niemals beteiligte) zusah. Er schmeichelte sich, die richtige Wahl getroffen zu haben, und das nicht nur aus einem einzigen, sondern aus einer Vielzahl von Gründen: Wie perfekt Evsevia nach einer nur kurzen Anlaufphase mit den Gefühlen der Jünglinge spielte, wie sie diesen oder jenen anlockte und wieder zurückstieß, derart gleiche Distanz zu allen haltend, insbesondere peinlich darauf bedacht, dass die Statistik der Vereinigungen bei jedem etwa den gleichen Wert anzeigte!
Immer neue Variationen des uralten Vorgangs wurden erfunden, wobei die einfache Herkunft der nunmehrigen Hauptdarstellerin für Erdverbundenheit und dementsprechend hinreißende Originalität sorgte. In Wirklichkeit waren es die kleinen Erlebnisse, die Kinder auf einem Bauernhof miteinander, mit Tieren oder vereinzelt mit Gegenständen haben, die in diesem Tempel der Wollust in überstei-gerter Art wieder zum Vorschein kamen.
Einmal bat Evsevia den Abt um eine Kuhmaske, und die bekam sie natürlich (dazu viel Lob für ihren Einfallsreichtum). Den aktuellen Stiermenschen spornte sie damit zu äußerster Exaltation an, die übrigen wurden zu Begeisterungsstürmen hingerissen – selbstverständlich konnte es keiner von ihnen erwarten, selbst an einem der nächsten Katakomben-Termine durch das Los in den Genuss dieser Tiervermählung zu kommen. Stylianos war in höchstem Maß amüsiert: Anders als in der reinen Natur, wo der Stier als Pascha der Kuhherde fungierte, war hier in dem von ihm erfundenen Kosmos die Welt auf den Kopf gestellt. Er rieb sich die fleischigen Hände und beschloss, bei einem seiner geheimen Treffen mit Evsevia (sicher nicht beim nächsten, denn sie sollte nicht denken, sie könne auch noch über ihn Macht gewinnen) die Larve Heras, wie er das Artefakt bei sich nannte, auf den Tisch zu legen und seine Besucherin damit zu reizen, auch ihm auf diese tierische Weise zu Willen zu sein.
SIR BASIL CHELTENHAM:
Wie jeder echte Gottesmann ein Meister der Suggestion, wusste der Abt, dass seine Schülerin inzwischen süchtig nach all dem war, und er begann – in dieser Angelegenheit zügellos geworden –, zu überlegen, wie er sie aus ihrer momentanen Ekstase in tiefste Verzweiflung stürzen konnte, aus der er und nur er allein sie erlösen würde. Als ich bei ihm saß (denn für meine Exerzitien hatte ich mir seine Person ausbedungen, schon um der Exotik willen, aber auch aus berechtigter Angst, einer der anderen Väter würde mir zu langweilig sein), blickte mich jene Trophäe mit hohlen und dennoch irgendwie ausdrucksstarken Augen an. Ich war aufgewühlt, ohne zu diesem Zeitpunkt noch zu wissen, was für eine Bewandtnis sie hatte, denn mehr als das indifferente Gemunkel über gewisse Klostergeheimnisse, das sich in nichts von anderen Blüten griechischer Tratschsucht, türkischen Hohns und okzidentaler Vorurteile unterschied, war mir nicht zu Ohren gekommen. Ich kannte das spezielle spirituelle Paradigma des Abtes nicht und auch nicht die Sonderausbildung, die er seinen Novizen angedeihen ließ. Ich wusste von ihm nur – und das hatte mit diesen Dingen praktisch nichts zu tun –, dass er ein Opinion Leader im Klerus der Insel und drüber hinaus war, und ich wäre nicht ich gewesen, hätte ich nicht begonnen, mir diesen potentiellen Kommunikator zunutze zu machen. Nichts leichter, als sich mit der Bitte eines gestressten Amtsträgers nach etwas Kontemplation hier einzuschleichen, denn Stylianos gedachte natürlich sofort, die Gelegenheit selbst beim Schopf zu packen und auf mich Einfluss zu gewinnen. Und ich muss gestehen, dass ihm das tatsächlich um ein Haar gelungen wäre, nicht mit seinen Argumenten zwar, und schon gar nicht mit seinen Finten, sondern indem er mir eines Tages seinen obskuren Tempel eröffnete.
Bei Sir Basils ersten Urlauben im Kloster (er blieb jeweils zwei Tage, an denen er nicht gestört werden durfte, und, wenn es möglich war, drei weitere Tage, an denen er abrufbar war) wurden tiefschürfende Fragen zwischen ihm und dem Abt besprochen, gleichgültig, wer von den beiden das jeweilige Thema anschnitt, und während dieser Zeit hätte niemand Stylianos woanders sehen können als an den quasi öffentlichen Orten seiner kleinen Gemeinde, entweder allein oder eben in Gesellschaft seines erlauchten Gastes. Die dunklen Übungen unterblieben vorübergehend.
Cheltenhams wachem Blick entging jedoch nicht die wachsende Unruhe, die sich über kurz oder lang bei der Jungmannschaft einstellte: Die Männer wurden zunehmend fahriger, selbst bei einfachen alltäglichen Verrichtungen, und als erfahrener Militär stellte der Baronet auch die zunehmende Disziplinlosigkeit fest, die ihm für diese (gleich der Armee) unter einem strengen command stehende Truppe unangemessen schien. Da er das Getue auf sich bezog, fragte er endlich bei seinem dritten Aufenthalt den Abt, worauf dieser mit seiner tiefen Bassstimme in lautes Gelächter ausbrach: „Ich werde Ihnen, wenn Sie erlauben, heute Nacht zeigen, was denen fehlt, ? ?????? ???!”
SIR BASIL CHELTENHAM:
Niemand schien sich darum zu kümmern, dass in der hintersten Ecke des Gewölbes neben dem Abt noch ein zweiter Kuttenträger saß, aber es lag nicht nur daran, dass ich mich auf Agios Philokratos ortsüblich kleidete – es war einfach so, dass sich die Beteiligten blindlings in das ersehnte Geschehen stürzten. Dann ein Wink meines Begleiters, auf den alle gewartet zu haben schienen – und ich lernte nun auch Evsevia kennen, nicht persönlich zwar, aber doch sehr explizit, denn nach Sekunden schon warf sie das Obergewand ab, mit dem sie durch die Dunkelheit von ihrem Vaterhaus hierher geeilt war, und stand da, wie Gott sie geschaffen hatte: Nach meinem, wie ich mir schmeicheln darf, fachkundigen Urteil, war der Schöpfer des Himmels und der Erde hier zwar nicht mit der Hand eines Praxiteles vorgegangen, sondern hatte einen etwas rustikaleren Stil bevorzugt, aber das Ergebnis konnte sich dennoch sehen lassen! Der Abt blickte mich, Lob herausfordernd an, und ich zollte ihm mit einer vornehmen, meiner Herkunft angemessenen Verneigung meine Anerkennung.
In jener Nacht wurde nicht das Los geworfen – zu gierig waren die Mönchlein nach dieser Abstinenzphase. Alle gemeinsam wollten sie etwas veranstalten, und sie hatten auch schon längst beschlossen, was: Unter den zunächst verwunderten Blicken Evsevias wurde der Penis der Statue mit den Ergebnissen kollektiver Onanie präpariert, worauf man den weiblichen Star der Orgie vielhändig hochhob und mit dem steinernen Stiermenschen vereinigte. Rasch fand die Akteurin in ihre Rolle und bot den Zuschauern ein einzigartiges Schauspiel.
SIR BASIL CHELTENHAM:
Mit glühenden Augen beugte sich Stylianos zu mir: „Hoffentlich beschädigen sie ihn mir nicht – er ist aus einem Stück gearbeitet, und wenn man ihn flicken müsste, wäre er nicht mehr derselbe!” Mich schauerte, und ich beobachtete, wie auch der Körper des Abtes erbebte. Nichts von dem hier konnte einen kalt lassen.
Als sich die beiden Herren wieder beruhigt hatten, sagte der Klostervorsteher scheinbar beiläufig, aber mit unverkennbar lüsternem Unterton: „Bringen Sie doch das nächste Mal Ihre Gemahlin mit, denn was wir hier zu bieten haben, könnte auch eine Lady aus dem aufgeklärten Abendland interessieren. Sie darf zwar offiziell nicht herein, aber ich würde dafür sorgen, dass Evsevia sie durch die nur für sie bestimmte heimliche Pforte mitnimmt!”
SIR BASIL CHELTENHAM:
Danach begaben wir uns in die Klosterbibliothek, wo wir in gemütlichen Fauteuils versanken (ein an sich unerlaubtes Zugeständnis an die weltliche Bequemlichkeit) und darauf warteten, dass Kaffee serviert wurde – durch eine schwarz gekleidete Greisin, denn da kannte der Abt keinen Pardon und verlangte bei den normalen dienstbaren Geistern weiblichen Geschlechts das kanonische Alter. Dazu gab es in stilgerechten Gläsern alten Metaxa, der an diesem Ort gerne als Medizin apostrophiert wurde, um ihm das Flair von Luxus zu nehmen. Und wir begannen zu philosophieren – ein erkennbar außergewöhnlich produktiver Prozess an diesem späten Abend, da angesichts des Erlebten unsere Gedanken gewissermaßen den Lenden entsprossen, wo erfahrungsgemäß die größte Kreativität herkommt – zumindest bei uns Männern, wie Berenice konstatierte. Vor unseren geistigen Augen stand das archetypisches Bild des Minotaurus, dessen explosive Männlichkeit auf geheimnisvolle Weise auf Stylianos’ und meine Körperlichkeit überging, und auch zwischen uns beiden fühlten wir unsichtbare Kraftlinien gespannt. Das alles aber wurde überstrahlt von der Szene, in der Evsevia auf diesen monolithischen Altar gehoben wurde, wobei uns bereits unsere bloß passive Teilnahme mit der zentralen Mystik des Seins zu verbinden schien. Ein seltsamer und angesichts des Geschehenen fast paradox anmutender Hauch von Spiritualität erfasste uns.
Dem Abt war’s offensichtlich nichts Neues – denn darin bestand ja, was er aus tiefstem Herzen suchte, und wofür er keine Kosten und Mühen scheute und auch vor der Integrität anderer Existenzen respektive vor deren Beschädigung oder sogar Zerstörung nicht zurückschreckte. Aus heutiger christlicher Sicht war Stylianos monströs, hingegen erlebte er sich selbst als zutiefst und typisch griechisch im klassisch-hellenistischen Sinn – Angehöriger einer Kultur, die es (kann sein, als erste) wagte, das Überirdische herauszufordern und am Ende sogar als Projektion menschlicher Vorstellungen zu entlarven.
„Haben Sie einmal überlegt, ? ?????? ???, wieso im Himmel oder in den Himmeln so viele Götter und Göttinnen herumlaufen?” Es verstand sich quasi von selbst, dass er in diesem Moment auch jenen christlichen, dem er hier offiziell diente, achtlos unter diese Schar mischte.
SIR BASIL CHELTENHAM:
(versucht, den Abt nicht zu enttäuschen) Weil jeder einzelne von uns, wenn man genau denkt, ? ???????, seine eigene Gottheit benötigt, und viele brauchen sogar zwei oder mehrere davon, ob ihrer Zerrissenheit!
„Aber hier bei uns, an den Gestaden des Mittelmeers, kommt noch etwas dazu, mein Sohn: Wir haben es nie zugelassen, dass Ideen, die unserem innersten Lebensstil, diesem Gemisch aus Aberglauben, Impulsivität und Mythos, zuwiderliefen, hier wurzeln konnten. Was immer hierhergebracht wurde, ist ungeheuer schnell von dieser Wirklichkeit überwuchert und gezähmt worden. Die besondere Infamie dabei war, dass wer immer von den Fremden als eingeborener Sachwalter eingesetzt wurde (um eine ihnen genehme Autorität zu errichten, ohne ihre eigenen Kräfte zu überspannen) in Wahrheit als Agent dieses Untergrundes tätig war und für die Invasoren je nach deren Temperament Untergang oder lautlose Assimilation bedeutete. Und so siehst du hier einen Abt, der sich nicht scheut, einem heidnischen Ritus zu huldigen – einer Religion, von der gerade noch das Götzenbild existiert, während ihre ursprünglichen Inhalte durch jenen gnadenlosen Mechanismus zur Unkenntlichkeit pervertiert wurden.”
SIR BASIL CHELTENHAM:
Ich verneigte mich vor ihm, tief dankbar für die Lektion, die er mich gelehrt hatte, und für das Instrument, das er mir in die Hand gab, anstatt es gegen mich zu verwenden. Ich fühlte, dass es nichts geben konnte von seinen Wünschen, klein oder groß, was unerfüllt bleiben sollte, soweit dies in meiner Macht stand.
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SERPENTINA:
(hat sich an ihre Königin geschmiegt, wie sie es so gerne tut, und sich dabei ganz leicht und ganz weich gemacht) Weißt du, was ich im elektronischen Archiv der Station gefunden habe?
Sie surfte dann und wann mit großem Eifer im virtuellen Speicher von VIÈVE, in dem sich neben viel Notwendigem und Nützlichem jede Menge Datenschrott fand, denn niemand hatte sich je die Mühe gemacht, irgendwelche Bestände auszumustern – vielmehr stockten die Techniker die Kapazität jeweils vor Erreichen der Limits von Neuem auf. Serpentina fiel es jedenfalls leichter als anderen, sich in dieser komplexen Struktur zu bewegen, denn als künstliche Persönlichkeit brauchte sie weder Monitor und Tastatur noch die akustische Kommunikation mit dem Computersystem, sondern dockte einfach mit Hilfe ihrer Subliminal Recognition Matrix an die Schaltkreise des Rechnerverbundes an: Sie war ihr eigener Terminal.
Was sie entdeckt hatte, war ein Protokoll, das der frühere Maître de Plaisir Ikqyku Diaxu angefertigt hatte und bei dem für mich eine Reihe von Unstimmigkeiten bestanden: Zunächst schien verwunderlich, dass es überhaupt noch vorhanden war und sich nicht bei der Trennung der Universen in Luft aufgelöst hatte (wie zum Beispiel die Memoiren meines Gemahls). Serpentina erklärte mir das damit, dass sie das Dokument aus zwar gelöschten, aber noch schattenhaft vorhandenen Daten rekonstruieren konnte. Außerdem war ich erstaunt – und nebenbei gesagt auch etwas verärgert – darüber, dass sich in der Person Pachwajchs, die zusammen mit ihrem Artgenossen Rejchwejch das Massaker an den Echwejchs überlebt hatte, jemand auf der Station befand, der in diesem File genannt wurde: Und sie wusste um den Inhalt, ich aber als Königin nicht, und wenn meine kleine Androidin nicht sofort damit zu mir gekommen wäre, auch in alle Zukunft nicht.
SERPENTINA:
Ich versuchte, Mango zu beruhigen: Noch können wir kaum beurteilen, ob das Ganze nicht ohnehin nur eine Mystifikation war. Und wenn – wie aus dem Protokoll eindeutig hervorgeht – Pachwajch genau dieser Ansicht ist, dann sollte man ihr keinen Vorwurf machen, wenn sie erst gar nicht darüber sprechen will, denn damit würde sie ja selbst zur Verbreitung dieser Farce beitragen.
Halt mich bloß nicht für naiv, Kindchen! sagte ich: Je mehr gute Worte du findest, um mich das alles glauben zu machen, desto besorgter werde ich. Mag schon sein, dass Pachwajch nichts mehr von der Vergangenheit ihres Volkes wissen will, zumal sie jetzt schwanger ist, und das bedeutet ja wohl für Frauen jeder Gattung, dass sich ihr Sinn in die Zukunft richtet. Ich trage ihr das Schweigen zu dieser seltsamen Geschichte nicht nach, aber wir sollten herauszufinden versuchen, wann und wo der Leibwächter des Königs sich die Informationen aus diesem Protokoll beschafft hat, und vor allem, was genau er vielleicht noch erzählen wollte, wenn er nur dazu Gelegenheit gehabt hätte, unter anderen als den damaligen chaotischen Bedingungen und ohne die akute Bedrohung seines Lebens. Such’ also weiter, ob du nicht noch weitere Hinweise auf das Phantom namens Niun-Meoa finden kannst, denn auf dieses scheint sich ja die ganze Sache zu fokussieren.
SERPENTINA:
Ich verstand nur zu gut, was sie meinte, ohne es ganz nachvollziehen zu können, denn wir bewegten uns wieder einmal in den Grauzonen menschlicher Irrationalität. Wenngleich bei der Königin als Wissenschaftlerin, die sie ja in erster Linie war, diese für uns Androiden äußerst schwierige Facette der biohumanoiden Rasse nicht sehr stark ausgeprägt war, trat sie hier ganz deutlich hervor: In Form der Ambivalenz gegenüber der Gestalt eines wie immer gearteten Schöpferwesens, in dessen Kontext das Wissen in Glauben transzendierte, will sagen: Wenn es eine solche Gottheit nicht gibt (was aber schwer zu verifizieren ist), dann kann man alles, was damit zusammenhängt, als bloßes Ammenmärchen abtun – wenn es sie aber gibt (und das ist wohl ebenso schwer zu falsifizieren), dann stimmt vielleicht alles, was ihre Priester verkünden. Bezüglich Niun-Meoa Göttlichkeit hegte jedenfalls Rachwajch ihre Zweifel, wie aus Diaxus Niederschrift klar hervorgeht. Mir selbst sagte eine leise Schwingung, dass es sich dabei um jemanden handelte, der mir nicht unähnlich war: Aber was mochte er oder sie oder es, einfacher also gesagt ? dann sein? Ein Adroidengott? Ein Gott von Androiden? Ein Gott, den Androiden sich erdacht hatten, den sie in eine überirdische Welt für Androiden projiziert hatten? Jeder dieser Ansätze war interessant als Figur eines intellektuellen Spiels, amüsant dazu – aber halt, was redete ich da für einen Unsinn? Wann hätte je unsereins etwas als amüsant bezeichnet oder gar für amüsant gehalten? Was für ein Phänomen sollte das in unserem virtuellen Gehirn sein, wie könnte es sich in unseren Schaltkreisen materialisieren?
[ 2 Zeilen Durchschuss ]
SERPENTINA:
Eines Tages, mitten im Zusammensein mit Mango Berenga (ich hatte mich wieder ganz leicht und ganz weich gemacht und flüsterte ihr die Zärtlichkeiten zu, die sie selbst mich gelehrt hatte) schien es mir, als spürte ich die NOSTRANIMA sich uns nähern. Ich verriet davon nichts, verbot mir selbst, solchen Wahnvorstellungen, wie sie offenbar ein verwirrtes Model for Emotional Response produzierte, nachzugeben. Aber das Bild von Anastacia Panagous elektronisch-telepathischem Raumkreuzer ließ mich nicht los, verstärkt durch weitere eindeutige, aber als Realität getarnte Trugbilder: dass nämlich einerseits diese Annäherung etwas mit Niun-Meoa zu tun habe und dass andererseits nicht die Gefahr bestünde, Vangelis sei mit von der Partie. Ich wehrte mich gegen mein eigenes Bewusstsein, nicht zuletzt mit dem Argument, dass beide Hinweise nicht das Geringste miteinander zu tun hätten. Bis ich dann wenig später von meiner Quasi-Schwester AP 2000 ® schwache Signale empfing, und die waren nun keine Phantasiegebilde mehr. Ich konnte – obwohl meine telepathische Fähigkeiten nicht an jene Anpans heranreichten – jedenfalls mit hoher (es drängt mich zu präzisieren: mit 99,73 %iger) Sicherheit erkennen, dass ihr Besuch bevorstand. Wie sich dann herausstellte, als die NOSTRANIMA tatsächlich vor VIÈVE erschien (mit Anastacia Panagou, Anpan und meinen sieben jüngeren Quasi-Geschwistern an Bord), handelte es sich hier nicht einfach um eine Vergnügungsfahrt, sondern ich fand sehr rasch heraus, dass diese Mission Niun-Meoa zum Gegen¬stand hatte. Die Gruppe – der Vangelis zu meiner Erleichterung wirklich nicht angehörte – war anders als ursprünglich geplant, nachdem Cheltenham House in andere Hände übergegangen war, nicht in Sir Basil Reich übersiedelt (von dem die Königin und ich natürlich zum ersten Mal hörten), sondern startete von dort direkt ins All.
Ich freute mich sehr darüber, Anastacia und ihre Truppe wiederzusehen, die ich als Helden in unserem Kampf gegen die Echwejchs betrachtete – ohne sie wären wir zweifellos verloren gewesen, einem ungewissen Schicksal ausgeliefert, vielleicht sogar dem Tod. Dass die geniale Erfinderin mit eigener Hand Machwajch, die Schwanenherrscherin getötet hatte, nötigte mir besondere Ehrfurcht ab, wiewohl man über die archaische Art der Hinrichtung geteilter Meinung sein mochte. Was man ihr keinesfalls anlasten konnte, war die unmittelbare, aber nicht kausale Folge ihrer Tat – die Entkoppelung der beiden Realitäten und daraus resultierend wiederum das Verschwinden aller Bewohner unserer Station, die aus dem Paralleluniversum stammten, leider aber auch die Dissoziation unserer Mischlinge.
Wie die NOSTRANIMA auf Geheiß der Walemira Talmai ein winziges Raum-Zeit-Fenster nützte, um das aus der Spiegelwelt zurückzuholen, was die Bedauernswerten zu unserer Erleichterung völlig wiederherstellte, ist ja bekannt – was aber der Raumkreuzer bei dieser flüchtigen Gelegenheit möglicherweise über die näheren Umstände dieser kosmologischen Umwälzung erfuhr, war allenfalls der Panagou und der AP 2000 ® zugänglich und sicher auch Berenice (wenngleich sie dieses Wissen aufgrund ihrer besonderen Fähigkeiten wahrscheinlich ohnehin a priori besaß).
Ich denke, Anastacia wird sich in diesem Moment entschlossen haben, Niun-Meoa nachzuspüren, denn sie erkannte diese merkwürdige Entität plötzlich als Zentrum eines Netzwerks von Unwägbarkeiten und Bedrohungen, ohne allerdings diese schon konkretisieren zu können! sagte ich zu Serpentina, bevor ich entspannt an ihrer Seite einschlief.
SERPENTINA:
Nun wanderten meine Gedanken wieder zurück zu Niun-Meoa. Ich versuchte, mich langsam aus der allzu starken Synchronisation mit menschlichen Kategorien, die mittlerweile durch mein inniges Verhältnis mit Mango Berenga eingetreten war, zu lösen und endlich wieder zu realisieren, dass ich in meinen Schlussfolgerungen anders als Biohumanoiden nicht unbedingt durch irgendwelche willkürlichen Ressentiments oder Präjudizien behindert war. Ich war daher imstande, ? einfach nach den – allerdings noch spärlichen – Daten zu analysieren, mit diesen einen möglichen Sachverhalt zu skizzieren und, was am wesentlichsten war, eine passende Überschrift dafür zu finden.
Zwischendurch erwachte ich kurz aus meinem Traum (in dem ich wie fast immer zur Erde zurückgekehrt war), denn ich fühlte, wie Serpentinas Leib von intensiven Denkprozessen erbebte. Da ich aber gleichzeitig wahrnahm, dass sie versuchte, diese Vibrationen zu dämpfen und so vor mir zu verbergen, ließ ich mir nichts anmerken und versank wieder in tiefen Schlaf.
SERPENTINA:
Die momentane Anspannung der Königin war mir nicht entgangen, und ich wartete mit meinen Nachforschungen, bis mir ihre Gehirnwellen wieder Ruhe anzeigten. Zunächst ging ich meine eigenen Baupläne durch, die wie bei jeder Schöpfung Anastacia Panagous in meinem Kernspeicher abgelegt sind. Dabei wurde mir erstmals so richtig die Leistung bewusst, die Vangelis bei meiner endgültigen Umwandlung von einer Maschinenschlange in eine Maschinenfrau vollbracht hatte. Noch konnte man sehr gut die ursprünglichen, relativ einfachen Konstruktionen meiner Erstexistenz erkennen, weiters die stümperhaften und außerdem schlecht dokumentierten Selbstversuche, die zu teilweise monströsen Erscheinungsformen meiner Person geführt hatten. Daneben jedoch fanden sich die umfangreichen und komplex gestalteten Layouts meines heutigen Seins, in die der AMG mir offensichtlich alles nur Erdenkliche von sich selbst eingebracht hatte, wobei er dem Anschein nach seine eigene Beschaffenheit kopierte und mit den notwendigen, von ihm wohlüberlegten Abwandlungen bei mir implementierte. Selbst meine geschlechtsspezifischen Komponenten bestanden in einer sorgfältigen und – ich verwende die Vokabel an dieser Stelle nicht leichtfertig – einfühlsamen Abwandlung männlicher Merkmale mit Hilfe der originären Chiffren von Vangelis Liebe zu unserer Quasi-Mutter: Ich begriff, dass die Grundlage unserer neuromechanisch-erotischen Vereinigungen sehr genau vorbereitet und viel tiefgreifender gewesen war, als ich ursprünglich gedacht hatte, wobei man nicht vergessen darf zu betonen, dass das Planungselement in einer Beziehung zwischen Androiden nicht jenen leicht negativen Beigeschmack aufweist, den es für intime Verhältnisse zwischen Menschen zu haben scheint.
Ich merkte von all dem nichts. Ich war weit weg, an einem Ort glücklicher Erinnerung.
SERPENTINA:
(unterdrückt eine heftige Emotion in Richtung ihres früheren Geliebten) Eigentlich war es ein nicht geringer Schock für mich, was ich da sah: Ich musste in mir Vangelis’ Kreation erkennen, viel mehr noch als eine Anastacias, denn die war ich nur noch höchst indirekt. Mein Freund hatte allein verwirklicht, was die AP 2000 ® einst als eine wesentliche Eigenschaft vollgültigen Lebens postulierte (nämlich die Fähigkeit der Reproduktion) – aber unsere Quasi-Schwester war bis jetzt bestenfalls an der Anfertigung neuer Androiden beteiligt gewesen, ohne sich dabei selbst zu reproduzieren. Aber einerlei – ich schob derlei Überlegungen beiseite und konzentrierte mich wieder auf das eigentliche Problem, und als ich meine Programmstrukturen noch einmal analysierte, entdeckte ich plötzlich etwas, das ich zuvor übersehen hatte und das mir zudem den Triumph erlaubte, doch ein höherwertiges Original-Panagou-Feature zu besitzen. Es handelte sich um einen theoretischen Ansatz, den Anastacia offenbar ihren sämtlichen Maschinenwesen eingepflanzt hatte, und der lautete: In unserer landläufigen maximal dreidimensionalen Wirklichkeit bewegen sich nach dem Alltagsverständnis maximal dreidimensionale Entitäten. Da aber wenigstens eine nächste Dimension denkmöglich ist, dürfen wir sowohl erwarten, dass sich 3D-Gebilde in einer 4D-Umwelt bewegen könnten, wenn man sie nur mit dieser synchronisiert, als auch dass es 4D-Gebilde geben wird, die jene 4D-Umgebung autochton bevölkern. Um sicher zu gehen, dass wir Androiden den Anforderungen zumindest dieser einen höheren Dimension gewachsen wären, falls solche je an uns herangetragen würden, gab es bei uns allen einen sogenannten Bridge Port, von dem aus wir uns im Bedarfsfall selbstständig in diese Thematik hineinentwickeln konnten.
Ich schlug die Augen auf. Sofort auf mich und mein Wohlbefinden konzentriert, nahm Serpentina mich in die Arme, als ob ich ihre Spielzeugpuppe gewesen wäre. Ich dachte an das Hündchen, das ich als junges Mädchen besessen hatte und das nie genug bekommen konnte von meinen Liebkosungen. In meiner Erinnerung, die in allem, was meine frühere Heimat betraf, besonders lebhaft waren, fühlte ich mich unter den Berührungen der Androidin geradezu identisch mit der kleinen Puppie.
Serpentina machte sich beflissen daran, ihre Schmetterlingsflügeltherapie anzuwenden – die seit unserem Zusammentreffen immer und immer wieder begehrte Erfüllung meines sehnlichsten Wunsches von Kindheit an: nach dem Erwachen in einer Wolke von Zärtlichkeit umfangen zu sein, die vom Abend davor herüberreichte und den Alltag gänzlich fernhielt und relativierte. Die künstlichen Hände schienen gleichzeitig an jeder Stelle meines Körpers zu sein und registrierten mit größter Sensibilität meine Reaktionen, worauf sie selbst wieder antworteten, sodass sich crescendo mein Orgasmus aufbaute, in einem dramatischen subito gipfelte und danach diminuendo auslief. Anastacia Panagou konnte sich gar nicht vorstellen, welch herrliches Geschenk sie mir seinerzeit mit dieser Maschinenschlange gemacht hatte – und ihr Quasi-Sohn Vangelis ahnte sicher nicht, wie sehr für mich durch die Verwandlung Serpentinas in ein menschengleiches Wesen der Wert dieses Präsents gesteigert wurde.
SERPENTINA:
Angesichts der Fakten, die in meiner Datenbank eingebunkert sind (ganz zu schweigen von denen, auf die ich extern zuzugreifen vermag), faszinierte mich im historischen Vergleich mit anderen Herrscherinnen das Bild meiner Königin, wie sie sich hier vor mir hüllen- und hemmungslos ihrer Lust hingab. Nun, ich konnte schweigen, und niemals wäre es mir in den Sinn gekommen, Mango mit einer Beschreibung der technischen Prozesse zu belästigen, die meinerseits mit äußerster Präzision ablaufen mussten, um das zu erzielen, was sie hier in so blumigen Metaphern beschrieb – zu sehr hätte sie das ernüchtert, denn ihresgleichen war, wie ich frühzeitig gelernt hatte, nicht imstande, so wie wir zwischen der technischen und der emotionalen Ebene zu unterscheiden. Wenn mich Vangelis liebte und sich in mir die elektrischen Spannungsfelder langsam aufbauten und am Höhepunkt wieder entluden, produzierte mein MER durchaus wohlige Gefühle, die denen einer richtigen Frau ebenbürtig waren, aber etwas in mir vergaß dabei nie die Rechnerleistung, die das bewirkte, und ich war überdies stets gewahr, dass solche Gemütsbewegungen von einem rationalen Standpunkt aus sinnlos waren.
Was hat dich denn derart in Atem gehalten, während ich schlief? fragte ich.
SERPENTINA:
Sie hatte es also mitgekriegt, und daher beschloss ich spontan, meine Überlegungen gleich offenzulegen, obwohl ich die Königin eigentlich erst später daran teilhaben lassen wollte, denn wie alle Leute meiner Art schätzte ich es nicht, über unausgegorene Argumentationsketten zu sprechen. Jedenfalls sah ich zumindest eine mögliche Interpretation Niun-Meoas darin, dass es sich bei ihm um einen Androiden handelte, ein Exemplar, das vierdimensional angelegt und auch im 4D-Raum beheimatet war. Wiewohl rein spekulativ, würde meine Idee einige unserer Fragen beantworten.
Es wäre dann nicht verwunderlich, dass ? in 3D für uns nur spurenhaft körperlich wahrnehmbar ist, denn er würde in unserer Dimensionalität ja nicht permanent anwesend sein. Das Gefährliche an ? wäre aber – aus derselben Schlussfolgerung heraus –, dass er aus seiner Position jederzeit hier eingreifen könnte und wir wohl kaum imstande wären, etwas dagegen zu unternehmen.
SERPENTINA:
Wahr gesprochen, Majestät! Indes, mit allem Respekt, ich muss dich jetzt mit diesen Erwägungen allein lassen, denn mein Auftritt im „Queen’s Club” beginnt in Kürze. Das Publikum wartet bereits und ich eile, um die Begeisterungsstürme zu genießen, die ich mit meinen Tours Chaînés Deboulés auslöse.
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Brigitte hatte natürlich eine persönliche Einladung Ihrer Erlaucht, der Gräfin Geneviève von B. zur Vermählung von dero Tochter Clio Alexandrine Andromède Annette Aphrodite mit dem Freiherrn Dirk von E. erhalten. Nur in einem Nebensatz des äußerst herzlich gehaltenen Schreibens wurde die Mitnahme eines – wie schmeichelhaft für mich – accompagnateur quelconque angesprochen („und sei es auch jener Johannes, den ich weiland bei meinen Studien zu Wien kennenlernte und der, wie ich höre, immer wieder in Deiner Nähe anzutreffen ist?).
BRIGITTE:
Abgesehen von der Art, wie Geneviève das ’rüberbrachte, dachten wir natürlich beide sofort an den legendären marmorgleichen Leib der Gräfin, mit dem du ebenso wie ich mehr als nur jene flüchtige Bekanntschaft, die hier insinuiert wird, gemacht hast. So wurde also nach langer Zeit, in der wir uns trotz aller Offenheit, die sonst zwischen uns zu herrschen pflegte, nicht eingestanden hatten, dass wir beide, wenn auch hintereinander, eine Liaison mit der Hochgeborenen eingegangen waren, endlich auch über dieses Thema gesprochen – wenn auch mit einer gewissen Befangenheit.
Das lag zwar nicht allein daran, dass dein Verhältnis zu ihr nach wie vor ungetrübt ist und jederzeit auch in intensiviert werden könnte, während sie mich definitiv ad acta gelegt hat, aber ganz unwesentlich ist dieser Umstand natürlich nicht. Wenngleich es mir ein ästhetisches Vergnügen bedeutet, mir eure beiden Körper – den aristokratischen und den bürgerlichen…
BRIGITTE:
Woher weißt du denn, dass die Gräfin meine physische Repräsentation in ihrem Lateinfimmel als Corpus ignobile bezeichnet hat?
Hab’ bloß gut kombiniert, in geläufiger Kenntnis der diversen Attitüden Genevièves, der ich jedenfalls wesentlich tiefer zugetan war, als sie es wahrhaben wollte! Aber einerlei – wenn ich mir euch im erotischen Infight vorstelle (wiewohl ich nie den Vorzug hatte, wirklich dabei zu sein), dann kann ich es zwar als Beobachter genießen, aber als quasi doppelt Beteiligter macht es mich doch eher betroffen.
BRIGITTE:
Offenbar betroffener, als dich unsere viel eindringlicheren Auftritte im Hamburger „Flaubert” gemacht haben!
Was soll’s? Wann fahren wir also?
BRIGITTE:
Dazu wird erst Einiges an Vorbereitungen zu treffen sein, denn ich muss erst eine passende Robe für den vornehmen Anlass finden, und dass du den Stresemann bloß aus dem Schrank zu holen brauchst, ist ja wohl auch ziemlich unwahrscheinlich! Willst du dich übrigens wirklich in solch feine Klamotten werfen, die du sonst so sehr verabscheust?
Ich kann schon kultiviert sein, wenn ich es so richtig darauf anlege! Aber im Ernst – ich werde mir um keinen Preis ein Wiedersehen mit der Gräfin, die ich noch als Komtesse in meinen Armen hielt, entgehen lassen!
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Und so kamen wir denn an jenem bedeutsamen Tag ins E.’sche Schloss, wo die Feierlichkeit in der Hauskapelle stattfinden sollte. Die zahlreichen Gäste, die nicht zum innersten Kreis zählten, darunter auch wir, säumten den breiten Gang dorthin und sollten die Trauung über eine Videowand verfolgen.
Als der Festzug gerade an uns vorbeistolzierte – Clio am Arm ihrer Mutter, in Ermanglung eines männlichen Familienmitglieds als Brautführer, sowie Dirk Hand in Hand mit Max Dobrowolny, aus dem spiegelverkehrten Grund, aber doch seltsamer anmutend als die andere Paarung – stockte der Schritt der vorausgehenden Kinder. So kam es, dass Geneviève Brigitte mit einem langen, zärtlichen Blick erfasste, während für mich nur ihre eiskalte Miene übrig war, und selbst die bloß für einen Moment. Ein Gedanke, der längst versunken schien, machte sich unversehens breit: Hatte ich denn bei ihr zu früh aufgegeben? War ich womöglich viel zu nachgiebig oder gar zu ehrfürchtig gewesen, gemessen an der Behandlung, an die sie sich aufgrund ihrer seltsamen jugendlichen Erlebnisse gewöhnt hatte?
Ich erinnere mich an den Bericht Genevièves, über den sich der alte Graf über alle Maßen empört hatte (und den ich eigentlich nicht als darin beschriebene Person, sondern nur in meiner Rolle als Erzähler zu Gesicht bekam) – die Worte sind unauslöschbar in mein Gedächtnis eingebrannt: Wie sie schrieb von unserer ersten Nacht, in der die physische Natur zum Durchbruch gekommen sei – felix coniunctio! Und wie sie aus der plötzlich glasklaren Reinheit ihres Herzens gehaucht habe: Dulcissime, impera animam meam! Und wie ich repliziert habe: Ave formosissima, mihi amandissima! Und wie sie in diesem Augenblick gewusst habe, dass – wie viele mir in den kommenden unsicheren und möglicherweise unbarmherzigen Zeitläuften folgen würden – ich der eine bliebe, der sie auf diese himmlische Höhe gezogen habe.
Und weißt du, Brigitte, was von diesem hinreißenden Wortgeklingel bei mir hängen blieb? Die Gewissheit, dass es für mich einen Nachfolger geben werde, und die Tatsache, dass ich – kaum eingelassen in das noble Paradies – aus diesem bereits wieder verstoßen sei!
BRIGITTE:
Was bei der Dame, die dich mit so betörenden Worten bedachte – einer von Stand, die sich ihres außergewöhnlich hohen Kurswerts auf dem Markt erotischer Sensationen durchaus bewusst war –, natürlich größste Empörung auslösen musste, das überwältigende Gefühl, sich an den Falschen weggeworfen zu haben!
Es herrschten völlig andere Umstände als heute, und meine vorherigen Erfahrungen waren anders: Die Mädchen, die ich bis dahin kennengelernt hatte, waren höchst angetan gewesen von den romantischen Kulissen, die ich mit meiner Lyrik und meiner Malerei aufzurichten imstande war und in denen sie liebend gerne mit mir darauflosschwärmten – aber immer wenn ich, statt ewig nur zu schmusen, mit ihnen bumsen wollte, wichen sie zurück…
BRIGITTE:
… und du brachtest niemals die Beharrlichkeit auf, die notwendig gewesen wäre, am Ende doch noch ans Ziel zu kommen, um die jungfräulichen Fesseln zu zerreißen – ad reserandum virginea vincula, um es mit Genevièves gebildeten Worten zu sagen!
Aber…
BRIGITTE:
Kein Aber, mein Freund, denn bei mir musstest du nicht mit derlei Schwierigkeiten fertigwerden, als wir mit fünfzehn das erste Mal intim wurden, dort draußen am Fluss!
Das war etwas ganz Anderes, Liebste – wir waren Kinder nach den damals herrschenden Gegebenheiten, will sagen ungezwungen und vor allem sorglos hinsichtlich irgendwelcher Konsequenzen unseres Tuns. Vor allem scheinen mir auch unsere Reaktionen, unser Eingehen aufeinander noch viel unmittelbarer gewesen zu sein und noch keineswegs geprägt von irgendwelchen Ressentiments der Eltern…
BRIGITTE:
… die ja auch gar nicht wissen durften, dass wir nicht nur lustig miteinander badeten, sondern handfeste sexuelle Vertraulichkeiten austauschten! Und dass ich an jener verborgenen Stelle den süßen kleinen Bikini, mein Geburtstagsgeschenk, nicht lange anbehielt, sodass du freie Bahn hattest, wenn auch deine Badehose gefallen war! Ja, du hast Recht, das dürfte wirklich alles ganz anders gewesen sein als alles, was später kam!
Ich schob diese Überlegungen, in denen noch die eine oder andere Einzelheit von Brigittes früher Anatomie herumgeisterten (vor allem ihre helle Haut mit dem zarten Flaum da und dort sowie eine gewisse unvergesslich-rosige Stelle), als müßig beiseite und kehrte in die Gegenwart zurück – ein Schock eigentlich, und nicht nur wegen der verflossenen Jahre. Übergangslos ergriff ich Brigittes Hand: Ich danke meinem Schicksal, dass du und keine andere meine lebenslange Geliebte geworden bist!
BRIGITTE:
Vielleicht war die gute Geneviève einfach nur unkonzentriert, denn just, als du dachtest, von ihr mit Missachtung gestraft zu werden, schlug ihr Max vor, die Begleiter zu tauschen, da er im Publikum bereits höhnische Bemerkungen über die verworrenen Familienverhältnisse der künftigen Eheleute zu hören glaubte. Die Gräfin reagierte rasch, indem sie ihre Tochter Dobrowolny überließ und sich selbst beim Freiherrn von E. unterhakte, durchaus eingedenk der Tatsache, dass er vor nicht allzu langer Zeit, als die Komtesse für ihn verschollen schien (während sie tatsächlich in England weilte), mehr oder weniger unverhohlen bei der Mutter zu landen versuchte, wenn auch vergeblich. Jedenfalls waren unmittelbar nach dem Partnerwechsel, als die Gäste wieder ruhiger wurden und die Prozession sich erneut in Bewegung setzte, die deutlich erhöhten sinnlichen Spannungen zwischen den vier Hauptpersonen zu spüren.
Aber dann war es endlich so weit: Das Paar stand vor dem Altar, während knapp hinter ihnen Dobrowolny und die Gräfin einander unverhohlen taxierten, genauer gesagt die möglichen Liebeskunstqualitäten des jeweils anderen – das kurze Intermezzo mit der Komtesse respektive dem Freiherrn bei den wenigen Schritten, die sie mit den beiden zurückgelegt hatten, schien ihre Lust auf handfestere Ereignisse geweckt zu haben. Geneviève, die sich in den für sie typischen Herablassungsphantasien erging, stieß dabei mental auf jene grundsätzliche Arroganz, die Max in seinem massiven Selbstbewusstsein gegen Personen jeden Standes und Geschlechts an den Tag legte.
Dobrowolny spürte, wie sich bei ihm eine – jedenfalls für seine Verhältnisse – veritable Erektion aufbaute, und aus Frustration, dass keine Gelegenheit war, diesen Zustand nutzbringend zu verwerten, trat er kurzerhand einen Schritt vor und presste sich wie unbeabsichtigt gegen Dirks Kehrseite. „Ich möchte dich von hinten vernaschen, Boysie, während du Clio zum ersten Mal als Ehemann besteigst!”, flüsterte er verschwörerisch.
Obwohl der Freiherr versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, war er echt schockiert (nach einer Phase unangepassten Lebens, die durch die Echwejchs ausgelöst worden war und die sich auch in seinen literarischen Versuchen niedergeschlagen hatte, stellte sich langsam wieder eine gewisse Biederkeit ein). Ein lange verdrängtes Vorurteil kam wieder hoch: So musste es kommen, wenn man sich mit der Plebs einließ! – wobei dieses Urteil natürlich in diesem Fall viel zu kurz griff, denn einen Spitzenintellektuellen wie Max, wenn er auch in der Fachwelt ziemlich umstritten war, konnte man wohl kaum dem Proletariat zurechnen. Hin- und hergerissen zwischen seinem momentanen Abscheu und einer kurz danach wieder aufflammenden Affinität zu seinem Freund beschloss Dirk, das Beste daraus zu machen und sich einfach darüber zu freuen, welch plakative Anerkennung hier seiner festlich gekleideten Rückenansicht zuteil wurde.
Links hinter ihm war es die Gräfin, die sehr wohl merkte, was da ablief, und ein seit ihrem Amour fou mit deinem Romuald, dem Triebhaften, nicht mehr empfundenes Bedauern über die Verschwendung dessen, was sich da neben ihr, zwar nicht für jedermann, aber wohl für sie sichtbar, in der Hose wölbte, erfasste sie. Fürs Erste blieb ihr aber nichts anderes übrig, als den Dingen ihren Lauf zu lassen und eventuell sich bietende Gelegenheiten im Auge zu behalten.
BRIGITTE:
Einzig die Komtesse bekam davon nicht mehr mit als eine Irritation ihres Bräutigams, für die sie nichts als unangenehme Erklärungen zu finden vermochte, was sie gleich wieder daran zweifeln ließ, ob Dirk tatsächlich die richtige Wahl war. Der unmissverständliche Ellbogendruck Dobrowolnys während der kurzen Zeit, in der sie an seinem Arm gegangen war, und seine Aura, die sich unzweifelhaft aus seinem Duft, aber auch aus einer schwer definierbaren persönlichen Ausstrahlung zusammensetzte, hatten diese Zweifel massiv genährt. In diesem Augenblick aber – und nun gab es kein schickliches Zurück mehr – erschienen die Zelebranten.
Die Trauung selbst nahmen nämlich nicht weniger als drei katholische Prälaten vor, nämlich ein Bischof und ein päpstlicher Protonotar aus der weitverzweigten Familie derer von B. sowie ein entfernter Verwandter Dirks, der es zum Abt eines Benediktinerklosters gebracht hatte, und nachdem sich die hochwürdigsten Herren mittels einer kaum merkbaren, in langjähriger Routine erlernten nonverbalen Kommunikation über ihre interne Rangordnung verständigt hatten und also wussten, wem der Vortritt zukam und wer assistierte, schritten sie zum Vollzug. Ich persönlich gewann dabei, soweit das aus der elektronischen Übertragung überhaupt erkennbar war, den Eindruck, dass die vier Hauptfiguren für eines Gedankens Länge tatsächlich über jede fleischliche Begierde erhoben waren.
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Für die Nacht waren im Schloss Zimmer gerichtet worden, die eine auserlesene Schar von Gästen beherbergen sollten, natürlich auch solche für die Brautmutter und für Max, sinnigerweise nebeneinander. Das Braupaar selbst bezog sein eheliches Gemach im Ostflügel, mit dem Dirk bestimmte Erinnerungen verband (aus der Zeit, als ihm dort hoch zu Ross das Trugbild der Komtesse von B. erschienen war), doch teilte er dieses Memento keineswegs mit seiner jungen Frau, angesichts der sehr konkreten Vorfälle in jenem Traum. Dort absolvierten sie die Hochzeitsnacht mit jener Schüchternheit, die alle in dieser Situation erfasst, selbst wenn sie davor schon wer weiß wie viele Male miteinander geschlafen haben…
BRIGITTE:
… und so wollen wir sie nicht noch weiter in Verlegenheit bringen!
Die Gräfin landete am Ende in Dobrowolnys Bett – Tür an Tür zu logieren, erwies sich, zumal die Verbindung zwischen den Suiten nicht versperrt war, für beide als eine zu große Herausforderung. Zu seiner Befriedigung schaffte sein bester Freund in dieser Nacht genau das, was er am Nachmittag versprochen hatte, und es gelang Max – man verzeihe mir, aber manchmal muss Sprache plastisch sein (je m’excuse surtout chez Madame la Comtesse) –, schafttief in Geneviève einzudringen. Damit wurden auch alle ihre Überlegungen, ob das, was sie hier zuließ, standesgemäß oder folgerichtig oder überhaupt sinnvoll sei, hinfällig.
309
Centurio Quintus Rubellius Taurus faszinierte mich als Regisseur (und manche, Sie wissen schon, nennen mich den „Großen”), nicht nur weil er mir so retro erschien, dass er perfekt als Figur der Nouvelle Vague gepasst hätte – und ich liebäugelte ja insgeheim mit dieser Stilrichtung des Kinos, obwohl ich das niemals offiziell zugegeben hätte, zumal derlei heute als hoffnungslos veraltet und überdies als politisch unerwünscht gilt. Kein Wunder, wird man jetzt zurecht einwenden, dass Taurus in dieses Genre passte, ist er doch ein Typ, der vor gut 2000 Jahren in der Schlacht um Gergovia fiel und sein momentanes Dasein sui generis der Manipulationskraft der Walemira Talmai verdankte.
CENTURIO QUINTUS RUBELLIUS TAURUS:
Ich konnte beim Marschieren komplett abschalten. Das hatte der ganze Drill tatsächlich zustande gebracht, dass wir Maschinen gleich waren oder, besser gesagt, dass die gesamte Einheit wie eine einzige Maschine agierte, nicht links, nicht rechts schaute, sondern vorwärts drängte, um täglich ein Iter iustum oder gar ein Iter magnum zu bewältigen. Wir Centuriones machten hier keine Ausnahme, denn beritten waren, abgesehen von den Copiae equestres erst höherrangige Offiziere. Einzig von schweren Arbeiten waren wir befreit, anders als die Legionarii, die abends erst noch ein Lager errichten mussten, ehe sie einige Bissen hinunterwürgen und dann in eine dumpfe Agonie sinken durften. Keiner von denen träumte vermutlich etwas, auch bei Tag nicht, wenn sie, wie nicht wenige es gelernt hatten, im Gehen schliefen. Ich selbst aber hing dabei oftmals meinen Gedanken nach. Ich erinnerte mich an meine Kindheit auf dem Landgut meines Vaters, des Ritters Gaius Rubellius Taurus, dessen fünftältester Sohn ich war. Er lebte mit uns eigentlich wie ein besserer Bauer, nicht unähnlich dem von unserem Pater familias sehr verehrten Scipio Africanus, vor dem einst Carthago erzitterte und der dann im Ruhestand über Ackerfurchen und durch Obstplantagen stapfte – anders als die hochgestellten Schnösel in Rom, die ihre Latifundia von freigelassenen Sklaven verwalten, sprich ausbeuten ließen, nichts anderes im Sinn als den größtmöglichen Profit, mit dem sie ihren luxuriösen Lebensstil finanzierten.
Klar, dass dieses Pack von den Herren mit dem Faible für die alten Tugenden verachtet wurden: Wozu, dachte schon zu seiner Zeit Scipio, hatte er seine Heimat vor den Puniern gerettet, und wozu, schloss sich dem gut ein Jahrhundert danach Taurus senior an, der wie sein Sohn Jahre im Exercitus Romanus verbrachte, hatte er unter Sulla bei Chaeronea und Orchomenus den Kopf hingehalten – und, was das Schlimmste war, wozu hatte er seinen Quintus vor Gergovia verloren? Diese beiden sahen es bereits kommen, der eine früher, der andere später, dass Rom in Wahrheit dem Untergang geweiht schien, so verfault, wie es in seinem Inneren war!
CENTURIO QUINTUS RUBELLIUS TAURUS:
Aber so weit war es noch nicht, als wir uns vom Bosphorus nach Süden wandten. Wir wussten, was uns erwartete, denn einige von uns hatten noch miterlebt, wie die ursprüngliche Legio Decima von Fernost nach Westen verlegt worden war – die Provinzstraßen, denen wir ab nun folgen mussten, würden kein Honiglecken sein. Vergeblich hatte ich mich beim triarchus des Flottenstützpunktes Byzantium bemüht, eine Passage auf einem unter anderem auch Rhodus anfahrenden Versorgungsschiff der Armee zu bekommen, aber trotz gut gefälschter Marschpapiere (darauf verstand sich unser Beneficiarius meisterhaft) bekamen wir keinen Platz. Wir waren offenbar zu viele, und die Truppe zu teilen, was man uns mit einem Augenzwinkern als Ausweg für eine kleine behördliche Unkorrektheit andeutete, weigerten wir uns. Somit blieb nur der Landweg nach Miletus oder noch weiter südlich, um dort unser Glück zu versuchen.
Also weiter per pedes – wie erwartet auf schlecht instand gehaltenen Straßen, an denen (horribile dictu!) da und dort Meilensteine und sogar Wegweiser fehlten. Taurus, von der Tendenz her immer der Musterschüler, konnte kaum der Versuchung widerstehen, diese Missstände sofort dem Asiae Proconsul Provinciae Romanae persönlich zur Kenntnis zu bringen, und sein Gefreiter machte ihm nur mit Mühe klar, dass er sich selbst schon einige gravierende Unregelmäßigkeiten geleistet hatte und beileibe nicht mehr das unbeschriebene Blatt war, als das er sich noch immer fühlte. Mehr noch: Der Wunsch eines Toten, und mochte dieser auch so prominent sein wie der Scipio Africanus, war doch im Prinzip keinen Pfifferling wert, wenn der Centurio vor irgendeinem lokalen Kommisskopf antreten musste, um zu erklären, was er mit seinem Haufen so weit im Osten eigentlich vorhatte.
Iter fecerunt, um es einmal antik auszudrücken, profecti sunt. Es wurde schließlich Halicarnassus, das sie anpeilten. Unterwegs hatten sie nämlich gerüchteweise vernommen, dass es auf dieser kleineren Statio Classica einfacher sein würde, eine Überfahrt zu erlangen, und auf Grund der wesentlich kürzeren Distanz nach Rhodus konnten sie nun auch eher bereit sein, sich in kleineren Gruppen auf mehrere Schiffe zu verfügen.
CENTURIO QUINTUS RUBELLIUS TAURUS:
Hier profitierten wir letztlich geradezu von Unsäglichkeiten, die ich in meinem früheren Leben sofort nach oben gemeldet hätte (Mannius Cattianus versagte es sich nicht, mich besonders darauf hinzuweisen!): Der Triarchus von Halicarnassos war gar nicht auf seinem Posten, sondern auf irgendwelchen Landgütern im Hinterland unterwegs, die er sich als Mitglied der Provinzialverwaltung auf nicht ganz legale Weise unter den Nagel gerissen hatte und denen er den wesentlichen Teil seiner Zeit widmete. Sein Adjutant präsentierte sich uns schwer betrunken und lallte: „Macht nur, Proles! Ich unterschreib’ euch alles, was ihr braucht!” Ich musste also bloß mein Gewissen abschalten, und schon war unser Problem gelöst.
Aber welche Enttäuschung bei der Ankunft auf Rhodus, wo Taurus’ Einheit blockweise wieder in der Jetztzeit auftauchte, weidlich bestaunt vom Inselvolk, das aus seiner Erfahrung annahm, irgendeine Folklore-Aktion im Rahmen der allgemeinen touristischen Betriebsamkeit zu sehen. Niemand hatte eine Idee über den Verbleib der kleinen Venus, wie sehr sie auch alle den Verlust bedauerten: Selbst jene Rhodier, die noch nie oder schon lange nicht mehr im Museum gewesen waren, hatten die kleine Göttin doch im Geiste auf allen Wegen mit sich getragen und zeigten sich maßlos schockiert darüber, dass sie diese nun nicht mehr besuchen konnten, wenn sie es wirklich einmal wollten.
CENTURIO QUINTUS RUBELLIUS TAURUS:
Wir waren ratlos. Selbst der sonst so schlaue Mannius Cattianus wusste nicht mehr weiter. Er schlug aber dringend vor, sich räumlich und zeitlich zurückzuziehen, denn mehr als vielleicht einen Tag würde man eine Maskerade als Erklärung für unsere Adjustierung nicht für möglich halten. So marschierten wir denn an der Westküste von Rhodus entlang und zugleich wieder zurück in die Vergangenheit, in eine Epoche, in der die einst bedeutende Stadt Camirus nur noch ein verschlafenes Dasein in einer nicht sehr prominenten provincia fristete. Niemand dort nahm viel Notiz von einigen Dutzend Legionarii, die, seit sie hier waren, ersichtlich nichts weiter anstellten, als zu essen, zu trinken und den Virginculae hinterherzupfeifen. Zu tätlichen Übergriffen kam es vorerst nicht – der lange Weg quer durch das nördliche Imperium Romanum saß allen noch in den Knochen
Bekanntlich hat aber alles zwei Seiten, und die Bauernmädchen, die sich vielleicht sehr geziert hätten, wenn sie angemacht worden wären, wurden von sich aus immer unruhiger angesichts der Passivität dieser strammen und noch dazu uniformierten Jungs. Keiner von denen, der ein Gramm Fett zuviel gehabt hätte, und selbst wenn der eine oder andere ein etwas dümmliches Gesicht sein eigen nannte, machte der durchtrainierte Körper das bei weitem wett. Diese jungen Frauen, die nicht anders als in Britannien oder sonst irgendwo im gesamten Reich von Kindheit an wie Sklavinnen schwere Arbeit verrichten mussten, ohne dafür je ein Quäntchen Respekt zu erhalten, fühlten unbewusst, wie kurz in ihrem Leben das Zeitfenster war, in dem sie sich die ersehnte Bewunderung auf andere Art verschaffen konnten: indem sie dem erregenden Prickeln zwischen ihren Beinen nachgaben und einem Mann die Freuden schenkten, zu denen sie jenseits ihrer normalen Existenz fähig waren und für die der so Beglückte sie jedenfalls für einen Moment in den Himmel hob. In dieser Phase wurde nicht der gesucht, der vermutlich brav und treu den harten Alltag mittragen würde – nein, für jenen anderen Zweck konnte der Bursche nicht exotisch genug sein.
Nicht nur aus Camirus selbst kamen sie, sondern auch aus den umliegenden Dörfern, zumal sich herumsprach, dass für hiesige Verhältnisse doch eine stattliche Anzahl Legionäre zur Verfügung stand. Dementsprechend entstand weit und breit eine ziemliche Unruhe, obwohl keiner aus der ansässigen männlichen Jungend (und auch niemand von deren Vätern) offen gegen die stark bewaffneten und gut gedrillten Soldaten aufzutreten wagte. Natürlich lag das Aufsehen, das sich dennoch nicht vermeiden ließ, keineswegs im Interesse des Centurio, aber er beschloss, es in Kauf zu nehmen, solange es ihm schien, dass seine Truppenstärke ausreichte, um Konflikte siegreich zu bestehen. Um sich zusätzlich der Kooperationsbereitschaft der Honoratioren zu versichern, drohte er diesen unverhohlen mit der Verhängung des Ius Belli, unter dem jeder ernsthafte Angriff auf ihn oder seine Männer mit der Todesstrafe geahndet werden könnte.
CENTURIO QUINTUS RUBELLIUS TAURUS:
Die Provinciales fügten sich nur zähneknirschend, aber das hat uns echte Römer noch nie gestört: „Oderint dum metuant!”, sagte schon Caligula, dem ebenfalls herzlich egal war, dass ihn die Leute äußerst unsympathisch fanden. Außerdem wollte ich den Rücken frei haben für ein eigenes Abenteuer – schließlich hatte auch ich seit langem keine Frau mehr gehabt, und meine Lebensgeister meldeten sich mit Macht. Natürlich mochte ich nicht aus jenen wählen, die sich meinen Legionarii so freimütig anboten, sondern es ergab sich, dass mir die Frau des Comarchus Camiri Municipii schöne Augen machte…
Ein Motiv, das eigentlich ins 19. Jahrhundert gehört: Garnisonsoffizier verführt die bis dahin tugendhafte, aber von ihrem Mann vernachlässigte Frau des Bürgermeisters. Aber genau so war’s, und der Betrogene machte zwar hinter verschlossenen Türen etwas Radau, aber de facto förderte er sogar die Beziehung: Er war eben ein alter politischer Fuchs und dachte sich, wer weiß, was am Ende dabei für ihn herausspringen würde – oft und oft, so seine Erfahrung, hatte sich ein beherzter Einsatz gelohnt, und da war zuweilen mehr am Spiel gestanden, als nur die Ehre seiner Angetrauten. Sollte er übrigens den Centurio als dümmlichen Lackaffen betrachtet haben, den er auf diese Weise mühelos über den Tisch ziehen konnte, mag man ihm das nicht verdenken, denn er war ja, wie wir wissen, nicht der Einzige mit dieser Meinung.
CENTURIO QUINTUS RUBELLIUS TAURUS:
Aber wie heißt es in Scipionis bewährtem Canon Militaris, den mir mein Vater immer wieder einbläute: Melius adversario despici – besser vom Gegner unterschätzt werden als umgekehrt! Im Prinzip tat es gut, wieder einmal eine succumba unter mir zu haben, noch dazu eine nach meinem Geschmack, mit nicht wenig Stil und einer gewissen Bildung. Aber ich beabsichtigte, sie nicht nur für meine Triebbefriedigung, sondern auch als Tarnung zu benützen, denn während alle davon überzeugt waren, ich hätte über ihr den Kopf verloren und sei mit ihr in eines der Landhäuser des Comarchus gereist, hegte ich ganz andere Pläne. Meinem Beneficiarius trug ich auf, während meiner Abwesenheit darauf zu achten, dass uns hier nicht alles aus dem Ruder lief. Und auf seine stumme Frage hin meinte ich nur: Es geht um die kleine Venus!
Die Villa trug den Namen Fanum Nefarium und bot eine Ausstattung, die Taurus nie in seinem Leben genossen hatte, weder in seinem Elternhaus noch (aber das muss man nicht extra betonen) in den Kasernen der Legion. Da war leicht geil sein, wenn man auf seidenbezogenen Kissen ruhte. Livia, seine neue Geliebte, war noch nie hier gewesen, denn ihr Mann hielt sich dieses Anwesen als gelegentliches Refugium für sich und eines seiner Flittchen offen. Allerdings hätte er sich zweifellos gewundert, wie rasch seine Frau unter dem Einfluss des Genius loci eine andere wurde. Mit großen Augen betrachtete sie die erotischen, teilweise sogar äußerst obszönen Sujets der Fußbodenmosaike und Wandmalereien, fühlte sich aber keineswegs abgestoßen, sondern war neugierig, wie es wohl wäre, das eine oder andere, was sie da sah, selbst auszuprobieren.
CENTURIO QUINTUS RUBELLIUS TAURUS:
Ich fühlte plötzlich, wie sehr ich das entbehrt hatte. Ich stellte mich vor Livia hin, die mich erwartungsvoll anblickte (ich bebte vor Erregung, wenn ich daran dachte, dass ich mit Sicherheit der Erste war, mit dem sie sich auf derlei einließ), nahm ihr die purpurfarbene Palla ab, die sie für unsere Reise angelegt hatte, danach die in dunklem Rosa gehaltene Stola und mit zitternden Fingern die rote Tunica, während sie regungslos stand und nur ihren leicht beschleunigten Atem hören ließ. Das weiße Intusium riss ich ihr vom Leib, sodass es in Fetzen ging, ebenso Fascia und Subligaria – nahm denn das nie ein Ende? Doch, denn nun war sie nackt und ihr Leib, der an Alabaster gemahnte, gehörte mir.
Livia, einmal von der Leine gelassen, schien unersättlich, aber der Centurio hatte keine Zeit, mit ihr all die Stellungen, die sie interessierten, durchzuexerzieren: Als er selbst fürs Erste genug hatte, lud er sie ein, ihn auf eine kleine Fahrt in die Zukunft zu begleiten. Ohne lange zu zögern, willigte sie ein, und sie gelangten in das heutige Dörfchen Fanes, dem die Villa des antiken Comarchus ihren Namen gegeben haben mochte. Der Besitz existierte im Prinzip noch, insofern auf den historischen Fundamenten ein modernes Gebäude errichtet worden war. Zu Taurus’ und seiner Freundin Glück stand es leer, wurde anscheinend allenfalls am Wochenende genutzt.
Wieder liebten sie einander, und der kampferprobte Offizier begann im Lauf der Nacht zu wanken angesichts Livias Hemmungslosigkeit. Daher lenkte er nach kurzem Schlaf ihre Aufmerksamkeit am Morgen auf die vielen interessanten Dinge, die es hier zu bestaunen gab, und sie konzentrierte sich zunächst auf die reichhaltige Damengarderobe, die zufällig ziemlich genau für ihre Figur passte. Als hätte sie nie in einer anderen Zeit gelebt, zog sie sich treffsicher an und legte aus dem Kasten des Hausherrn auch für ihren Quintus die entsprechende Kleidung heraus. Die eigenen Sachen wurden in zwei Koffer verpackt und diese möglichst gut versteckt.
CENTURIO QUINTUS RUBELLIUS TAURUS:
Praktisch wie Frauen nun einmal sind, sagte Livia: „Wir werden Geld brauchen – schwer vorstellbar, dass es in dieser Zeit nicht notwendig ist, für alles, was man kaufen will, zu zahlen.” Und wir suchten nach etwas, das so aussah wie Geld: Bei den Münzen begriffen wir schnell, woran wir waren, und nahmen alle an uns, die wir finden konnten. Dem Auriga, der uns mit seinem Gefährt in die Stadt Rhodus brachte, reichte jedenfalls der Betrag, und das Geschäft mit ihm als solches vollzog sich glücklicherweise fast ohne Worte, denn obwohl mir mein aus Athenae stammender Hauslehrer seine Muttersprache nahegebracht hatte, nützte mir diese hier wenig.
Immerhin hatte der Busfahrer verstanden, wo sie hinwollten, sie am Eleftherias-Tor aussteigen lassen und den beiden die Richtung gezeigt, die sie einschlagen mussten. An der Außenmauer des Museums lehnte lässig der pensionierte General Publius Cornelius Scipio, mittlerweile Freund Hannibals, Clausewitz’, Cheltenhams, des verschwundenen Keyhi Pujvi Giki Foy Holby und einer ganzen Reihe anderer Feldherrn – Taurus erkannte ihn sofort und trat mit Livia auf ihn zu. Unschwer war zu erkennen, wie ungehalten der Africanus war: „Quid hic quaeris, Centurio? Warum bringst du deine Concubina hierher?”
CENTURIO QUINTUS RUBELLIUS TAURUS:
Ich glaubte, im Erdboden zu versinken. Im Augenwinkel sah ich, wie Livias Gesicht vor Wut rot anlief, aber ich konnte nichts sagen, war wie zu Stein erstarrt. Befehlsgewohnt ordnete Scipio an, dass ich schleunigst zu meinen Männern zurückkehren sollte. Im Hafen von Camirus würden zwei Kauffahrtschiffe auf uns warten, die den Auftrag hatten, uns umgehend nach Cyprus mitzunehmen. Froh darüber, dass der General mich nicht gleich concastigierte, machte ich mich auf den Weg. Ich musste zu Fuß gehen, denn ich hatte kein Geld mehr, und es war die reine Qual, mit diesem schnieken Schuhwerk so weit und so rasch zu marschieren. Erst als mir vor Schmerz die Tränen herunterrannen, wurde mir bewusst, dass Livia bereits in Rhodus verschwunden war. Sie hatte offenbar beschlossen, nicht mehr in ihre eigene Zeit zurückzukehren. Wie es schien, rechnete sie damit, sich in der Gegenwart auch ohne Sprachkenntnisse durchschlagen respektive ihre neuentdeckten sexuellen Neigungen als Lingua vulgata et Pecunia universalis einsetzen zu können. Ich selbst war froh, in der Villa Fanum Nefarium wieder meine gewohnten Vestimenta anlegen zu können
Der Centurio und seine Legionäre blieben noch im Präteritum, bis sie endlich am momentanen Aufenthaltsort von Sir Basil Cheltenham wieder zum Vorschein kamen. Endlich war die vor langer Zeit gegebene Order Scipios erfüllt: Die Truppe trat im Hof der Festung Kantara an, und Quintus Rubellius Taurus erstattete Meldung.
310
Die Demokratie hat schon manchmal ihre Vorteile! sagte ich versonnen zu George Howland, Lieutenant Colonel der Air Force, den ich zum Verteidigungsminister gemacht hatte. Wir saßen – was tagsüber selten genug vorkam – müßig im Oval Office zusammen und lümmelten uns in die bequemen Fauteuils.
„Wie meinen Sie das, Ms. President, Ma’am?”, fragte er gedehnt mit seinem leichten Virginia-Akzent. Obwohl ich ihn auch privat zu meinem Favoriten gemacht hatte, vermied er peinlichst jede vertrauliche Anrede, wohl in der Sorge, er könnte sich einmal verplappern und damit allen ringsum offiziell bestätigen, was in Washington ohnehin die Spatzen von den Dächern zwitscherten. Mir war’s nicht unrecht so, und wenn er mich des Nachts durchzog, kam es im Überschwang ohnehin dazu, dass er hervorstieß: „Hey, Prez! You’re the damn’ best chick that ever breathed!”
Wissen Sie, George (auch ich hielt es, wenn er nicht gerade upside-down and inside-out mit mir veranstaltete, genau wie er), wissen Sie, man war zwar früher nur für ein oder maximal zwei Terms gewählt, aber wenn man hinter dem Schreibtisch dort nicht gerade überschnappte oder in die Staatskasse griff, waren alle verfassungsmäßig gezwungen zu warten, bis die Zeit um war, und niemand fand eigentlich was dabei! Seit allerdings der gute Ray die Präsidentschaft auf Lebenszeit eingeführt hat, gibt es füglich nur noch den Staatsstreich, wenn man den Amtsinhaber beseitigen möchte.
DREHBUCHAUTORIN CLAUDETTE WILLIAMS:
Sie spielte auf das unrühmliche Ende von Kravcuks Wirken an, das sie ja selbst an vorderster Front herbeigeführt hatte. Erst später war ihr offenbar bewusst geworden, dass sie damit die Parameter dauerhaft verschoben hatte – dass sich all das von nun an immer von Neuem wiederholen konnte. Wer garantierte ihr denn, dass dieser George Howland und die übrigen Officers of the Pine Tree nicht schon längst an ihrem eigenen Sessel sägten, ja dass nicht gerade ihr neuer Bettgefährte derjenige sein würde, der sie höflich aber bestimmt aus diesem erhabenen Gebäude hinauskomplimentierte. Schließlich hatte sie die von ihr angeführte Putschistengruppe mit größter Selbstverständlichkeit in die höchsten Staatsämter gehievt und sie solcherart mit einer ungeheuren Machtfülle ausgestattet, die – wie Trudy sich eingestehen musste – „in favor or against the President” verwendet werden konnte. Lieutenant Colonel Francis Cooke von der Army war Innenminister geworden, obwohl gerade aus diesem Anlass sogar in der Einheitspartei selbst mehr oder minder laut der Vorwurf des Bonapartismus erhoben wurde, allerdings ohne Erfolg, denn Trudy machte auf diesem Weg unbeirrt weiter: Colonel Myles Winslow leitete nun das Department of Homeland Security, und Commander John Alden wurde Secretary of State, ein zackiger Navy-Offizier, eigentlich nicht unpassend als Chef einer angesichts unserer bipolaren Welt verkümmerten Diplomatie. Neben der Besetzung einiger anderer Ministerien mit PTOs wirbelte eine Entscheidung der McGuire besonders viel Staub auf – die Ernennung von Major Edward White, Army, Lieutenant Commander Francis Chilton, Navy, Lieutenant Colonel Thomas Allerton, Marines, sowie Brigadier Stephen Doty, Air Force, zu Stabschefs ihrer Einheiten, was zugleich hieß zu Mitgliedern des Committee of Joint Chiefs of Staff, dem höchsten Führungsgremium der US Armed Forces, zu dessen Chairman und Vice Chairman Colonel Isaac Billington von den Marines sowie Major William Hopkins von der Air Force bestellt wurden. Allesamt waren sie damit auf Positionen gekommen, die systemgemäß von Vier-Sterne-Generalen oder –Admiralen zu besetzen gewesen wären, was in diesen Rängen enorme Unruhe auslöste, zumal sich vor allem die Spitzen der Combatant Commands – durchwegs mit zwei, drei oder vier Sternen geziert – von dieser Entwicklung düpiert fühlten.
Nun, die Zeit mochte zeigen, ob ich bei diesen Entscheidungen eine glückliche Hand gehabt hatte. Meine eigentliche Idee war jedenfalls, die PTOs nicht nur mit ihren neuen Ämtern zu beschäftigen, sondern auch mit der Durchsetzung unserer gemeinsamen Interessen gegen jene des politisch-militärischen Establishments, das unter Kravcuk großteils ziemlich ungestört agieren konnte (meines Erachtens Rays größter Fehler!).
Das musste man sich bloß vor Augen führen – dass ohne den halb amtlichen, halb privaten Einfluss Dan Mai Zhengs auf meinen Vorgänger nicht einmal der erste Schritt zum autoritären Staat getan worden wäre (der mir in Wahrheit dringend notwendig erschien, denn meine Demokratie-Reminiszenz von vorhin war reine Koketterie)! Mein gesamtes Gewicht als Sicherheitsberaterin reichte nicht aus, meinen Chef zu weiteren konkludenten Maßnahmen zu veranlassen.
Ray war eben im Grunde seines Herzens ein Weichei, denn selbst wenn er ganz tief in mir steckte und vor Vergnügen stöhnte, während ich ihm als Ersatz für die abwesende chinesische Geliebte diente, konnte ich ihm niemals die Zustimmung entlocken, ein auf ihn als absoluten Herrscher zugeschnittenes Netzwerk aufzubauen. Und am Ende gab es dieses Geflecht dann doch – nur dass ich es für meine eigenen Zwecke geschaffen hatte und auch nutzte.
„Sind Sie schon wieder beim unsäglichen Kravcuk, Ma’am?”, riss mich George aus diesen meinen Gedanken. Er war wohl ein wenig eifersüchtig, wofür zwar tatsächlich genug Anlass, aber beileibe keine Berechtigung bestand. Sich mit meinen Bygones einzulassen, bedeutete schlicht, mich teilen zu müssen mit einer ganzen Reihe realer Gestalten und sogar mit Phantomen, über die der Boulevard nicht müde wurde zu spekulieren. Selbst die Propagandamaschine in Beijing hatte, wenn sie auch manchmal ein wenig außer Kontrolle geriet, schon in gewisser Weise Recht: Ich war ein Yu-Yu-Mädchen gewesen, aber eben nicht nur für Präsident Kravcuk, sondern auch für viele andere vor ihm!
DREHBUCHAUTORIN CLAUDETTE WILLIAMS:
Apropos Biografie – das war mit Sicherheit das Erheiterndste, als nach Trudys Machtübernahme ihr Lebenslauf geschönt werden musste. Wie hätte das auch geklungen: Erste Schritte im „Cherry & Champagne Club” – danach als First Class Callgirl in Washington? George Howland höchstpersönlich feilte – obwohl manches echte Detail ihn als Mann ziemlich aufgeilte – im Bewusstsein seiner Standesdünkel und seiner Vorstellung von Staatsräson tagelang am entsprechenden Dossier, bevor er es der Präsidentin vorlegte. Die Mappe enthielt sogar Bilder, die Trudy selbst überraschten, denn sie zeigten zum Teil wildfremde Menschen, wenn der Verteidigungsminister die McGuire’schen Familienoriginale als nicht geeignet empfunden hatte: Gerade das herausgeputzte Baby war noch sie selbst, aber bereits die Grundschülerin war fiktiv, ebenso das Cheerleader Girl (Trudy hatte derlei bekanntlich nie ausgeübt), und so ging das weiter bis zu einer aktuellen Aufnahme, die zwar tatsächlich die McGuire als National Security Advisor darstellte – allein, das obligate himmelblaue Fähnchen war bis weit über die Knie verlängert und in Dunkelgrau umgefärbt!
Thank God, wenigstens die blonde Mähne hatte Georgie mir gelassen. Auch meine hervorragenden Diplome von High School undCollege fanden Gnade vor seinen Augen sowie natürlich mein Harvard-Abschluss…
DREHBUCHAUTORIN CLAUDETTE WILLIAMS:
… wobei selbstverständlich verschwiegen wurde, dass diese Graduierungen beispielsweise dadruch finanziert worden waren, dass Charlene Cheltenham Trudy und deren Freundinnen Amy und Pussy akquiriert hatte, um Sir Basil dabei zu helfen, die vier Professoren Schreiner, Ivanovich, Kouradraogo und Migschitz zu entführen und verschwinden zu lassen!
Was im Dossier übrigblieb, war in den Augen Howlands quite presentable – ich fand’s steril und unpersönlich, aber diesen Einwand wusste er zu entkräften: „This Personal Stuff – das muss warten, gerade bei einer politisch tätigen Frau!”, dozierte er, „Erst nachdem Margaret Thatcher gänzlich arriviert war, konnte sie so etwas Possierliches sagen wie ‚To run an empire is in no way different to my father’s grocery shop!’ ”. Nach einigem Überlegen stimmte ich ihm zu.