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1999 Zusätzliche Leseprobe

SONDERKAPITEL: MEIN ATLANTIS

Als der Telekommunikator zu ticken beginnt, löse ich mich (schade drum – Jessica wird mich dafür nicht gerade loben) von meiner Geliebten, hechte zum Gerät, das bereits einen langen bedruckten Streifen ausgestoßen hat. Jessica lacht (ein nackter Mann am Telekommunikator – gut, dass die Bildverbindung nicht eingeschaltet ist). Dabei müsste sie doch diesen Anblick (die Nacktheit in der alltäglichen Praxis des Soziasmus) gewöhnt sein: in unserer unverklemmten Gesellschaft, die den Produzenten und den Philosophen die Artisten gleichberechtigt an die Seite stellt.

Der Bericht: zehn Stunden aus der Zukunft wird gemeldet, dass unser Planet zerstört wird. Ich selbst werde das aus den Trümmern gefunkt haben, und die Nachricht ist zu uns in die Gegenwart zurückgekommen. Was tun? Sich anziehen oder lieber weitermachen, wenn es noch geht? Sicher geht es noch: wie überhaupt eine Artistin sehr anregend für einen Philosophen ist, besonders eine so hervorragende wie Jessica –

– natürlich, wenn ich ehrlich bin, muss ein Artist hervorragend sein (in unserer Gesellschaft mit ihren soziastischen Idealen): sonst darf er diesen Beruf ebensowenig ausüben wie ein Produzent, der nicht hervorragend ist als Produzent, oder ein Philosoph, der nicht hervorragend ist als Philosoph (und wir lenken bekanntlich den Staat oder je-denfalls das, was von ihm übrig geblieben ist: nach den Prinzipien der Soziastik).

Jessicas Spezialität zum Beispiel ist die sogenannte Brücke: sie steht dabei auf allen Vieren, stoffarm bekleidet, die höchste Stelle dieser gymnastischen Figur bildet der mit einem glitzernden Stein geschmückte Nabel, die Spitzen des herabhängenden Haars berühren den Boden (das Parkett des Lokals, wenn die Vorstellung öffentlich ist, oder den Teppich meines Zimmers, wenn die Nummer bei mir daheim abgezogen wird). Jessica blickt dabei – die Dinge sind insgesamt für sie auf den Kopf gestellt – in eine Richtung, aus der sie niemanden herankommen sieht. Die Leute aus dem Publikum treten nämlich von der anderen Seite zu ihr hin, der erste knüpft den Kostümteil auf, der Jessicas Scham bedeckt, der nächste die spärlichen Reste. Die Zuschauer berühren nun (während die Artistin sich nicht bewegen darf – das ist eben Körperbeherrschung), was sie interessiert: keineswegs nur Männer, sondern natürlich ebensoviele Frauen –

– zärtlich geht es zu: Jessica schwillt dabei an, ein weiblicher Cherub, der von göttlichem Leben durchdrungen wird (eine fast unmerkliche willkürliche Bewegung? – nein, dazu ist sie eine zu hervorragende Artistin). Sind Besucher aus anderen Galaxien unter den Zuschau-ern/Berührern (man kennt sie sofort, besonders dann, wenn sie von verklemmten Sternen kommen), darf Jessica – während die Lippen ihres Schosses unwillkürliche Signale geben – ausnahmsweise auch sprechen, ihnen von unserer soziastischen Gesellschaft erzählen: wobei sie normalerweise ihre Zuhörer nicht sieht, weil alle lieber auf der anderen Seite der Brückenfigur stehen. Sie gibt allerdings nicht (wie es die fremden Zuschauer erwarten) irgendwelche Fertigteile einer Ideologie wieder, sondern spricht philosophierend über unsere Gesellschaft: in der die Artisten danach streben, zugleich Philosophen / zugleich Produzenten zu sein: wie auch die Produzenten zugleich Artisten / zugleich Philosophen werden wollen: wie auch die Philosophen trachten, zugleich Produzenten / zugleich Artisten zu sein sollen.

Und so lasse ich – da mir Jessica die Brücke als Privatvorstellung zeigt (lockerer noch als vor Pub-likum: von vornherein nackt: mehr kronenförmig: weiter geöffnet: sich umwendend, ob ich, für sie auf den Kopf gestellt, auf sie zukomme) – den Telekommunikator weiterticken, trete an sie heran (lockerer als ein Zuschauer: ich habe nichts mehr aufzuknüpfen, brauche nichts mehr zum Anschwellen bringen), fasse sie an den Hüften und dringe in sie ein –

– zärtlich muss es zugehen, be-schleunigend und verzögernd, da ich (wenn auch nicht so hervorra-gend, um vor Publikum auftreten zu können) die Körperbeherrschung eines Artisten besitze, geschult auch durch die philosophischen Übungen, die den Gefühlsäusserungen die Flüchtigkeit nehmen. Nicht aber den Gefühlen selbst: sie sind wandelbar, ändern ihr Objekt: jetzt Jessica, später vielleicht eine Produzentin (obwohl ich zu den Artistinnen tendiere), ein anderes Mal vielleicht eine Philosophin (obwohl das für einen Philosophen leicht langweilig werden kann).

Bei aufgespanntem Körper besitzt Jessica (das ist das eigentlich Artistische an ihr) die Fähigkeit der Telepathie: weiß also im konkreten Fall bereits, was der Telekommunikator berichtet (der ohnehin in unserer Gesellschaft nicht viel mehr ist als ein schönes Spielzeug). Zusammensinkend, Arme und Beine um mich schlingend, fragt sie mich, was die Botschaft zu bedeuten habe, doch ich tue ihre Frage mit einer Handbewegung ab: jetzt nicht, nicht noch einmal unterbrochen werden, nicht noch einmal auf-tauchen, sondern tiefer versinken, sich umschließen lassen, in die Mitte des artistischen Be-wusstseins vordringen, eigenes Philosophisches an den Rand schieben –

– zärtlich muss es zugehen, das ist das Wesentliche. Denn keinem der Philosophen, die den Staat (oder was davon übrig ist) lenken sollen, wird es einfallen, einen Mann aus der Umarmung mit einer Frau zu reissen: um irgendeiner anderen Beschäftigung willen. Etwas zu organisieren, die Ergebnisse philosophischer Betrachtung in die Tat umzusetzen, ist ja nur Spiel (austauschbar), weniger wichtig als eine Handlung im Sinne der (obgleich hochentwickelten) Instinkte. Unser Vorsprung ge-genüber einfacheren Organismen (der im wesentlichen aus einer ständigen Bereitschaft zur körperlichen Vereinigung besteht) bewirkt naturgemäss häufigere Sexualkontakte, als sie im Dämmer der Arterhaltung auftreten müssten (es macht Spass, mit einem Wort) –

– und natürlich sind das, wenn ich ehrlich bin, nur jene philosophischen Randgebiete, die man als erste sieht, wenn man von außen an mich herankommt, während mein Inneres, auf Jessicas Kern zutreibend, unsagbar bleibt: ausgedrückt höchstens durch die antwortenden Bewegungen, den fast schmerzerfüllten Blick, den sie auf mich richtet.

Danach lacht Jessica entspannt, ich küsse sie, sie küsst mich, aber das ist zu wenig, um mein Hochgefühl zu beschreiben: ich springe auf, imitiere dilettantisch ihre Brückenfigur, und Carlos, der offenbar bereits längere Zeit dasteht und darauf wartet, dass ich wieder ansprechbar bin, meint, es würde sich kaum lohnen, sich eine öffentliche Vorstellung meiner artistischen Fähigkeiten anzusehen (ich behaupte immer, dass Telepathie nicht meine Stärke ist). Nachdem also Carlos ausgiebig mein auf– und abwogendes Hinterteil betrachtet hat (während ich über Jessica war), danach auch mein Vorderteil (als höchste Erhebung der Brücke, ohne dass telepathische Erkenntnisse entspringen), findet er es an der Zeit, über den Bericht zu philosophieren: auch sein Telekommunikator hat meine Botschaft aus der Zukunft empfangen (Jessica schmollt grundlos: ich unterhalte mich mit ihm, aber ich möchte keinesfalls mit ihm schlafen).

Zweifellos müssen wir die Mel-dung sehr skeptisch betrachten: auch Jessica hat ja (während sie sich kronenförmig aufspannte) nur erkannt, was das Gerät ausstiess, nicht aber, ob die Nachricht real ist. Genausogut kann es sein, dass ich zehn Stunden später in einen Zustand gekommen sein werde, der mich solches senden lassen wird. Carlos fragt sich, ob es eine Botschaft aus meinem Inneren ist. Will er mich verführen? Die Kenntnis vom eigenen Inneren bedeutet schließlich nicht selten einen neuen Beruf, neue Partner, ein neues Leben. Vielleicht sollte ich Artist werden, sage ich. Jessica und Carlos lachen, ich selbst komme in Hochstimmung: Harmonie zwischen Frau und Freund bedeutet in unserer Gesellschaft Freiheit (noch immer kann man gehen, wohin man will).

Und dann wird es wieder Zeit für Jessica. Ich begleite sie zu ihrer nächsten öffentlichen Vorstellung (Carlos schließt sich ebenfalls an): das ist wichtig, damit man als Philosoph nicht den Bezug zur Realität verliert. Ich sehe zu, wie sie auf dem Parkett des Lokals ihre Brückenfigur aufspannt (ihre Glanznummer, aus langdauernden Meditationsübungen entwickelt): aber instinktiv nicht ganz so offen, nicht so von vornherein entblösst wie bei mir daheim, nicht ganz so kronenförmig. Immerhin nimmt die Schaustellung ihren Lauf, Jessica wird enthüllt und betastet, zärtliche Frauen und Männer (auch Carlos geht nach vorn), viele von anderen Galaxien (man erkennt sie sofort, besonders die von den verklemmten Sternen). Jessica sieht, während sie unter den Berührungen unwillkürlich anschwillt, nicht, wer sie mit Augen und Fingern untersucht, denn aus der Richtung, in die sie blickt, kommt niemand. Diesmal benützt sie die Möglichkeit zu sprechen (natürlich nicht mit ideologisierten Sprachgebilden, sondern philosophierend über unsere Gesellschaft): Soziastik bedeutet Versenkung in die Ge-meinschaft als solche, Abgleiten auf die Basis, auf der einander alle Lebewesen entsprechen (wo alle einander gleich sind, kein Spielraum für Chauvinismus bleibt). Art / Rasse / Geschlecht / Beruf / individuelle Strebungen sind für uns nichts als Spiel (grenzenlos austauschbar ohne spezifischen Wert). Wir sind so weit, die einzelnen Atome dorthin zu stellen, wo wir sie haben wollen (ich merke auf: empfindet Jessica doch willkürliche Lust, wenn sie betrachtet, betastet wird, anschwellend?): unauf-haltsames Aufsaugen der Zärtlichkeit –

– denn zärtlich muss es zugehen (viele Frauen sind dabei), wenn die Zuschauer durch Enthüllung und Berührung von Jessicas Körper die philosophischen Gebilde in sich aufnehmen (verstört sind allenfalls die Besucher von anderen Galaxien). Als die Zuschauer, von angenehmen Gedanken und Gefühlen umgaukelt, wieder abrücken, hin und her gehen, Jessicas Figur näher und ferner umkreisen, tritt ein Mann, der bisher sitzen geblieben ist, hervor (Jessica muss in diesem Moment bereits wissen, wer es ist, da sie bei aufgespanntem Körper die Fähigkeit der Telepathie besitzt). Aus dem breiten Riemen, mit dem sein roher Fellumhang gegürtet ist, zieht der Mann seine Peitsche und führt einige furchtbare Schläge: Jessicas Körper ist plötzlich von blutigen Striemen überzogen, Gewalt dringt in unser soziastisches System ein (Carlos und ich treten den Fremden in den Bauch, sodass er sich krümmt, hinfällt und ausgestreckt liegt).

Das ist Kersin vom Planeten Arisa, ruft einer aus dem Publi-kum (ernüchtert aufwachend aus angenehmen Gedanken und Träumen): dort machen sie es so, das zählt zu den gehobenen Vergnügungen jener Welt. Die anwesenden Philosophen (auch Carlos: er liebt sie also wirklich) sind ratlos. Sanktionen drängen sich auf: Strafen für einen Tatbestand, den es bei uns nicht gibt: wie soll man mit Kersin verfahren (neben den mittlerweile Jessica gesunken ist: das Opfer einträchtig neben den Missetäter).

Die Steintafel, die in jedem Gebäude als Verbindung zum Orakel in eine ostwärts gerichtete Wand eingelassen ist, wird aktiviert. Sie beginnt zu vibrieren und gibt ein summendes Geräusch von sich, erst leise, dann immer lauter:

Aber es materialisiert sich keine Botschaft. Das heißt, dass die Botschaft längst in uns ist …

(aus dem gleichnamigen Roman)